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Die Magie von Geschichten zieht sich wie ein roter Faden durch Neil Gaimans Werk. So auch durch diese Kollektion von Erzählungen und Gedichten, in der ein mysteriöser Zirkus sein Publikum in Angst und Schrecken versetzt, Sherlock Holmes in einem seltsam verzerrten viktorianischen England einen royalen Mord aufklären muss oder eine Gruppe von Feinschmeckern nach der letzten ungekosteten Gaumenfreude forscht. Neil Gaimans erzählerisches Genie und sein beängstigend unterhaltsamer Sinn für schwarzen Humor machen diese Sammlung zu einer Geschenkbox voller Zauber.
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Seitenzahl: 532
Die Magie von Geschichten zieht sich wie ein roter Faden durch Neil Gaimans Werk. So auch durch diese Kollektion von Erzählungen und Gedichten, in der ein mysteriöser Zirkus sein Publikum in Angst und Schrecken versetzt, Sherlock Holmes in einem seltsam verzerrten viktorianischen England einen royalen Mord aufklären muss oder eine Gruppe von Feinschmeckern nach der letzten ungekosteten Gaumenfreude forscht. Neil Gaimans erzählerisches Genie und sein beängstigend unterhaltsamer Sinn für schwarzen Humor machen diese Sammlung zu einer Geschenkbox voller Zauber.
Neil Gaiman hat über 20 Bücher geschrieben und ist mit jedem namhaften Preis ausgezeichnet worden, der in der englischen und amerikanischen Literatur- und Comicszene existiert. Geboren und aufgewachsen ist er in England. Inzwischen lebt er in Cambridge, Massachusetts, und träumt von einer unendlichen Bibliothek.
NEIL GAIMAN
ZERBRECHLICHE
DINGE
GESCHICHTEN UND WUNDER
Übersetzung aus dem Englischen von Ruggero Leò, Hannes Riffel, Sara Riffel, Dietmar Schmidt und Karsten Singelmann
BASTEI ENTERTAINMENT
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Einige der Geschichten sind erstmals 2010 erschienen bei Klett-Cotta, Stuttgart.
Wir danken Klett-Cotta für die Genehmigung, die Übersetzung verwenden zu dürfen.
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Fragile Things: Short Fictions and Wonders«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2006 by Neil Gaiman
Published by Arrangement with Neil Gaiman
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Hanka Leò, Berlin
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
Einband-/Umschlagmotiv: © PLANET365 / Thinkstock
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-7189-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Ray Bradbury, Harlan Ellison und Robert Sheckley,Meister ihres Fachs
Ins Deutsche übertragen von Ruggero Leò
»Ich glaube … ich würde mich lieber an ein Leben erinnern, das ich mit zerbrechlichen Dingen vergeudet habe, statt damit, moralische Verpflichtungen zu meiden.« Diese Worte kamen mir in einem Traum, und nach dem Aufwachen schrieb ich sie auf, ohne zu wissen, was sie bedeuteten oder auf wen sie zutrafen.
Vor etwa acht Jahren wollte ich die in diesem Buch vereinten Erzählungen und Fantasien eigentlich als Kurzgeschichtensammlung herausgeben. Sie sollte den Titel Diese Leute sollten doch wissen, wer wir sind, und merken, dass wir hier sind! tragen, nach der Sprechblase eines Little-Nemo-Comicstrips aus einer Sonntagszeitung (es gibt eine wunderschöne nachkolorierte Fassung der Seite in Art Spiegelmans Buch Im Schatten keiner Türme). Jede Geschichte sollte ihren eigenen zwielichtigen, unzuverlässigen Erzähler haben, der uns seinen Lebensweg schildert, uns mitteilt, wer er ist und dass er in vergangenen Tagen ebenfalls hier war. Ein Dutzend Menschen, ein Dutzend Geschichten. Das war die Idee. Dann kam mir das Leben dazwischen und machte sie zunichte, denn ich schrieb die Kurzgeschichten, die in dieser Ausgabe vereint sind und von denen jede ihre passende Erzählform erhielt. Manche beleuchten Lebensgeschichten aus der Ich-Perspektive, andere hingegen tun das nicht. Eine Geschichte weigerte sich, Gestalt anzunehmen, bis ich beschloss, die Monate des Jahres zum Erzähler zu küren, andere wiederum nahmen kleine, effiziente Eingriffe an der Identität des Erzählers vor, sodass ich sie schließlich in der dritten Person verfassen musste.
Am Ende vereinte ich das Material für die vorliegende Ausgabe und rätselte darüber, wie ich das Werk nennen sollte, nun, da der ursprüngliche Titel nicht mehr passend erschien. Zu diesem Zeitpunkt kam die CDAs Smart As We Are von One Ring Zero heraus, auf der die Band die Zeilen singt, die ich aus meinem Traum mitgebracht hatte, und ich fragte mich, was ich wohl mit »zerbrechlichen Dingen« gemeint hatte.
Und dann kam es mir wie ein toller Titel für ein Buch mit Kurzgeschichten vor. Immerhin gibt es so viele zerbrechliche Dinge. Menschen zerbrechen nur allzu leicht, und das gilt auch für Träume und Herzen.
Diese Erzählung schrieb ich für die Anthologie Schatten über Baker Street, die mein Freund Michael Reaves mit John Pelan herausgab. Michaels Anweisung lautete: »Ich will eine Geschichte, in der Sherlock Holmes in die Welt von H. P. Lovecraft eintaucht.« Ich willigte zwar ein, ein Abenteuer beizusteuern, hegte jedoch den Verdacht, dass das Setting wenig verheißungsvoll war: Immerhin ist die Welt von Sherlock Holmes höchst rational und ergötzt sich am Lösen von Rätseln, wohingegen Lovecrafts literarische Schöpfung das gänzlich Irrationale in den Vordergrund rückt, eine Welt, in der Geheimnisse zwingend nötig sind, damit die Menschheit nicht den Verstand verliert. Wenn ich eine Geschichte schreiben wollte, die diese beiden Elemente vereint, musste ich einen spannenden Ansatz finden, der sowohl Lovecraft als auch Sir Arthur Conan Doyle gerecht würde.
Als Junge begeisterten mich die Wold-Newton-Geschichten von Philip José Farmer, in denen er Dutzende verschiedene Romanfiguren in eine stimmige Welt setzt. Mit großem Vergnügen beobachtete ich, wie meine Freunde Kim Newman und Alan Moore ihre eigenen Welten in der Tradition von Wold Newton schufen, der eine in den Anno-Dracula-Romanen,der andere mit seiner Liga der außergewöhnlichen Gentlemen. Es sah aus, als würde es Spaß machen. Ich fragte mich, ob ich mich an so etwas versuchen sollte.
Als ich die ersten Zeilen schrieb, hatte ich die Zutaten der Geschichte im Hinterkopf bereits auf eine Weise kombiniert, die mir besser gefiel als zunächst erhofft. (Ein Buch zu schreiben lässt sich in vielerlei Hinsicht mit Backen vergleichen. Manchmal geht der Kuchen nicht auf, ganz gleich was du tust, und ab und zu ist er viel köstlicher als in deinen kühnsten Träumen.)
Eine Studie in Smaragdgrün gewann im August 2004 den Hugo Award in der Kategorie »Beste Kurzgeschichte«, worauf ich bis heute sehr stolz bin. Zudem spielte die Geschichte eine tragende Rolle dabei, dass ich mich im Jahr darauf auf geheimnisvolle Weise in der Literaturgesellschaft der Baker Street Irregulars wiederfand.
Kein bemerkenswertes Gedicht, wirklich nicht, aber es macht großen Spaß, es laut vorzulesen.
Geschrieben für Peter Straub, Mitherausgeber der bemerkenswerten Conjunctions-Ausgabe. Das Ganze nahm einige Jahre zuvor seinen Anfang, auf einer Convention in Madison, Wisconsin, auf der Harlan Ellison mich bat, mit ihm eine Kurzgeschichte zu schreiben. Wir saßen hinter einer Seilabsperrung, Harlan an seiner Schreibmaschine, ich an meinem Laptop. Ehe wir uns ans Werk machten, musste Harlan ein Vorwort vollenden, und während er dies tat, verfasste ich die ersten Zeilen für Oktober hat den Vorsitz und zeigte sie ihm. »Nö. Liest sich wie eine Neil-Gaiman-Story«, sagte er. (Also legte ich sie beiseite und schrieb eine neue Geschichte, an der Harlan und ich seither immer wieder arbeiten. Jedes Mal, wenn wir uns treffen und daran feilen, wird sie bizarrerweise kürzer.) So hatte ich also einen unvollendeten Text auf der Festplatte. Einige Jahre später lud mich Peter ein, für Conjunctions zu schreiben. Ich wollte eine Geschichte über einen toten und einen lebenden Jungen erzählen, als eine Art Trockenübung für ein Kinderbuch, das mir vorschwebte (es heißt Das Graveyard-Buch, und ich arbeite gerade daran). Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, wie die Geschichte funktionierte, und als sie fertig war, widmete ich sie Ray Bradbury, der sie viel besser hinbekommen hätte als ich.
2003 gewann sie den Locus Award in der Kategorie »Beste Kurzgeschichte«.
Nahm ihren Anfang mit der Anfrage zweier Herausgeberinnen – den beiden Nancys Kilpatrick und Holder –, die etwas im »Gothic«-Stil für ihre Anthologie Outsiders haben wollten. Die Geschichte von Blaubart in all seinen Varianten ist für mich das, was »Gothic« am nächsten kommt, daher schrieb ich ein Blaubart-Gedicht, das in dem fast leeren Haus spielte, in dem ich gerade wohnte. Grausfährlich ist das, was Humpty Dumpty ein »Kofferwort« nannte, denn es umfasst die Bedeutungsebenen von grausig bis gefährlich.
Ich begann diese Geschichte mit Bleistift zu schreiben, in einer windigen Winternacht im Warteraum zwischen den Gleisen fünf und sechs am Bahnhof East Croydon, kurz vor meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag. Als sie fertig war, tippte ich sie ab und zeigte sie einigen Redakteuren, die ich kannte. Einer davon schnaubte und meinte, das sei nicht sein Ding, und er glaube auch nicht, dass es überhaupt jemandes Ding wäre. Ein anderer las sie, sah mich mitleidig an und sagte, sie würde wohl niemals gedruckt werden, und zwar weil sie drolliger Unfug sei. Ich legte sie beiseite und war froh, dass mir die öffentliche Blamage erspart blieb und nicht noch mehr Leute sie lesen und scheußlich finden würden.
Die Geschichte blieb ungelesen, wanderte im Laufe von zwanzig Jahren vom Ordner in einen Karton, in eine Lagerkiste, vom Büro zum Keller und schließlich auf den Dachboden, und immer, wenn ich an sie dachte, war ich erleichtert, dass sie nie gedruckt worden war. Eines Tages bat man mich um einen Beitrag für eine Anthologie namens Gothic!, und mir fiel das Manuskript auf dem Dachboden ein. Ich ging hoch und suchte es. Vielleicht enthielt es ja etwas, was ich retten könnte.
Ich las die Verbotenen Bräute und musste lächeln. Ich kam zu dem Schluss, dass die Geschichte wirklich ziemlich lustig war – und auch klug. Eine hübsche kleine Erzählung. Bei den meisten holprigen Stellen handelte es sich um typische Anfängerfehler, die sich allesamt leicht beheben ließen. Ich packte den Computer aus und schrieb eine zweite Fassung der Geschichte, zwanzig Jahre nach der ersten, kürzte den Titel auf seine gegenwärtige Form und schickte sie an den Herausgeber. Ein Rezensent hielt sie für drolligen Unfug, doch das war anscheinend eine Einzelmeinung, denn Verbotene Bräute erschien in einigen Anthologien, die die besten Geschichten des Jahres enthielten, und wurde 2005 bei den Locus Awards zur besten Kurzgeschichte gewählt.
Ich weiß nicht genau, was wir daraus lernen können. Vielleicht zeigst du manchmal deine Geschichten einfach den falschen Leuten, und vielleicht sind Geschmäcker einfach verschieden. Von Zeit zu Zeit frage ich mich, was sonst noch in den Kisten auf dem Speicher schlummert.
Zu der einen Geschichte hat mich eine Statue von Lisa Snellings-Clark inspiriert: Sie stellt einen Mann dar, der einen Kontrabass hält, genau wie ich als Kind; die andere verfasste ich für eine Anthologie mit wahren Geistergeschichten. Die meisten Autoren schrieben erfreulichere Geschichten als ich, obwohl meine den unerfreulichen Vorteil hat, absolut wahr zu sein. Beide Geschichten wurden erstmals 2002 von NESFA Press veröffentlicht, in Adventurers in the Dream Trade, einem Sammelsurium von Vorworten, Kurztexten und dergleichen.
Michael Chabon gab ein Buch mit Genretexten heraus, um zu zeigen, wie viel Freude Geschichten bereiten können, und um Geld für »826 Valencia« zu sammeln, eine Organisation, die Kinder fürs Schreiben begeistern will. (Das Buch erschien unter dem Titel Mc Sweeney’s Mammoth Treasury of Thrilling Tales.) Er fragte mich, ob ich eine Geschichte beisteuern würde, und ich erkundigte mich, ob ihm noch ein spezielles Genre fehle. Es gab eins; er wollte eine Geistergeschichte in der Tradition von M. R. James.
Also machte ich mich daran, eine richtige Geistergeschichte zu schreiben, doch das Ergebnis zeugt viel mehr von meiner Liebe für die Strange Stories von Robert Aickman als für die von James (außerdem stellte sich heraus, dass es auch eine Club-Geschichte ist, sodass er zwei Genres zum Preis von einem bekam). Zur Sperrstunde erschien in einigen Anthologien, die die besten Geschichten des Jahres sammelten, und erhielt den Locus Award für die beste Kurzgeschichte 2004.
Alle Schauplätze der Erzählung sind echt, allerdings habe ich manche Namen geändert. So hieß etwa der Diogenes-Club eigentlich Troy-Club und lag in der Hanway Street. Manche Figuren und Ereignisse beruhen ebenfalls auf Tatsachen und sind wahrer, als man vermuten würde. Während ich diese Zeilen hier verfasse, frage ich mich, ob das kleine Theater, das auf Besucher wartete, noch existiert oder ob es abgerissen wurde und inzwischen Häuser auf dem Grundstück stehen. Ich gebe zu, ich verspüre kein Verlangen, mich persönlich davon zu überzeugen.
Ein Wilder Mann ist eine Figur des Volksglaubens. Das Gedicht schrieb ich für die Anthologie The Green Man von Terri Windling und Ellen Datlow.
2002 verfasste ich vier Kurzgeschichten, und diese war vermutlich die beste von ihnen, auch wenn sie keinen Preis gewann. Ich schrieb sie für die Anthologie mit dem Titel Mojo: Conjure Stories, die meine Freundin Nalo Hopkinson herausgab.
Ich weiß nicht mehr, wo ich war oder zu welchem Zeitpunkt mir die Idee für diese kleine Möbius-Geschichte kam. Ich entsinne mich, wie ich den ersten Entwurf skizzierte und die erste Zeile formulierte, woraufhin ich mich fragte, ob die Idee wirklich von mir stammte. Sie erinnerte mich vage an eine Geschichte, die ich als Junge gelesen hatte, vielleicht von Fredric Brown oder Henry Kuttner? Es kam mir vor, als habe jemand anders die Idee gehabt, sie war zu elegant, zu ausgefallen und vollständig, und das weckte mein Misstrauen.
Etwa ein Jahr später langweilte ich mich im Flugzeug und stieß auf meine Notizen zu der Geschichte, und da ich meine Zeitschrift ausgelesen hatte, schrieb ich sie einfach nieder; sie war fertig, ehe der Flieger landete. Dann rief ich eine Handvoll fachkundiger Freunde an, las sie ihnen vor und fragte, ob sie ihnen bekannt vorkäme, ob einer von ihnen sie schon einmal gelesen habe. Sie verneinten die Frage. Normalerweise schreibe ich Kurzgeschichten auf Anfrage, und nun hatte ich zum ersten Mal im Leben eine, auf die niemand wartete. Ich schickte sie Gordon Van Gelder, der für das Magazine of Fantasy and Science Fiction arbeitete. Er stimmte der Veröffentlichung zu und gab ihr einen anderen Titel, womit ich kein Problem hatte. (Ich hatte sie Afterlife genannt.)
Ich arbeite oft im Flugzeug. Als ich mit American Gods begann, schrieb ich auf dem Flug nach New York eine Geschichte und war mir sicher, sie in den Roman einbauen zu können, doch letztlich passte sie nicht so recht hinein. Am Ende, als der Roman ohne die Geschichte fertiggestellt war, verwendete ich sie für eine Weihnachtskarte, verschickte und vergaß sie. Hill House Press, die extrem schöne limitierte Ausgaben meiner Werke herausgeben, nutzte den Text einige Jahre später für eine eigene Weihnachtskarte, die an ihre Abonnenten ging.
Sie hatte nie einen Titel. Nennen wir sie
DER KARTOGRAF
Am besten erklärt man eine Geschichte, indem man sie erzählt. Verstehst du? Die beste Methode, eine Geschichte zu erklären – ob sich selbst oder der Welt –, besteht darin, sie zu erzählen. Das ist Balanceakt und Traum zugleich. Je genauer die Karte, desto besser gibt sie das Gelände wieder. Die akkuratesten Karten sind das Gelände selbst und als solche makellos genau und völlig nutzlos.
Die Geschichte ist die Karte, die wiederum das Gelände ist.
Das musst du dir merken.
Vor fast zweitausend Jahren gab es in China einen Kaiser, der von der Vorstellung besessen war, sein Reich zu kartografieren. Er ließ ein Miniaturmodell von China bauen auf einer Insel, die auf seinen Befehl hin in einem See im kaiserlichen Territorium aufgeschüttet worden war, was nicht nur sehr viel Geld, sondern auch so manches Leben gekostet hatte (denn das Wasser war tief und kalt). Auf dieser Insel hatte jeder Berg die Größe eines Maulwurfshügels, und jeder Fluss glich einem winzigen Rinnsal. Es kostete den Kaiser eine halbe Stunde, um seine Insel einmal zu umrunden.
Jeden Morgen, im fahlen Licht vor Sonnenaufgang, wateten und schwammen hundert Männer zur Insel und reparierten sorgsam alle Schäden, die das Modell durch Wetter, Wildvögel oder den See genommen hatte; zudem entfernten oder passten sie Abschnitte an, die im echten China durch Überschwemmungen, Erdbeben oder Erdrutsche verwüstet worden waren, um die Miniatur stets so aktuell wie möglich zu halten.
Der Kaiser war damit zufrieden, doch nach fast einem Jahr gefiel ihm seine Insel immer weniger, und so schmiedete er vor dem Einschlafen Pläne für eine neue Karte, die sein Herrschaftsgebiet im Maßstab eins zu hundert darstellen sollte. Jede Hütte, jedes Haus und jede Halle, jeder Baum, Hügel und jedes wilde Tier sollte genau ein Hundertstel so groß wie im echten Leben nachgestellt werden.
Das war ein großer Plan, der die kaiserliche Reichskasse fast alle Steuereinnahmen kosten würde. Man brauchte dazu mehr Arbeiter, als man sich vorzustellen vermochte, Leute zum Kartografieren, Leute zum Vermessen, Gutachter, Volkszähler und Maler; man suchte Modellbauer, Töpfer, Bauarbeiter und Handwerker. Sechshundert professionelle Träumer wären vonnöten, um die Natur der Dinge zu offenbaren, die sich unter den Baumwurzeln, in den tiefsten Berghöhlen und in den Fluten des Meeres verbargen, denn wenn die Karte irgendeinen Nutzen haben sollte, musste sie das sichtbare Kaiserreich ebenso abbilden wie das unsichtbare.
So war der Plan des Kaisers.
Sein Minister zur Rechten bemängelte dies, als sie eines Nachts durch den Palastgarten flanierten, unter einem großen, goldenen Mond.
»Ihr müsst wissen, Kaiserliche Hoheit«, sagte der Minister zur Rechten, »Euer Vorhaben ist …« Ihn verließ der Mut, und er stockte. Ein bleicher Karpfen durchbrach die Wasseroberfläche, wodurch die Reflexion des goldenen Mondes in hundert tanzende Fragmente zersprang, ein jedes von ihnen ein eigener winziger Mond, die alle zu einem goldenen Kreis reflektierten Lichts auf dem Wasser verschmolzen, das die Farbe des Nachthimmels aufwies, ein so leuchtendes Lila, dass man es nie mit Schwarz hätte verwechseln können.
»Unmöglich?«, fragte der Kaiser sanft. Wenn Kaiser und Könige besonders sanft reden, sind sie am gefährlichsten.
»Nichts, was der Kaiser sich wünscht, könnte man je als unmöglich erachten«, sagte der Minister zur Rechten. »Gleichwohl wird es ein kostspieliges Unterfangen. Mit dem Bau dieser Karte leert Ihr die kaiserliche Schatzkammer. Städte und Bauernhöfe müssten weichen, um das nötige Land dafür bereitzustellen. Auf diese Weise hinterlasst Ihr Euren Erben ein Land, das sich aufgrund des Geldmangels nicht mehr regieren ließe. Ich verstieße gegen meine Pflicht als Euer Berater, würde ich Euch nicht davor warnen.«
»Vielleicht habt Ihr recht«, erwiderte der Kaiser. »Vielleicht. Aber falls ich auf Euch höre und meine Weltkarte verwerfe, mein Vorhaben aufgebe, würde das mein Dasein und meinen Geist quälen, es würde mir den Geschmack des Essens und des Weines im Munde vergällen.«
Dann stockte er. Weit entfernt in den Gärten hörten sie eine Nachtigall singen.
»Aber dieses Kartenland ist erst der Anfang«, bekannte der Kaiser. »Denn noch während wir es errichten, wird mich wieder die Sehnsucht packen und dazu antreiben, mein wahres Meisterwerk zu planen.«
»Und wie sieht das aus?«, fragte der Kanzler zur Rechten in mildem Ton.
»Eine Karte der Kaiserlichen Reiche«, antwortete der Kaiser, »die jedes Haus in Originalgröße wiedergibt und jeden Berg durch einen Berg darstellt, auf der jeder Baum so hoch ist wie ein Baum, ein Fluss so lang wie ein Fluss und ein Mensch so groß wie ein Mensch.«
Der Kanzler zur Rechten verneigte sich tief im Mondlicht, und auf dem Rückweg zum kaiserlichen Palast hielt er respektvoll einige Schritte Abstand zum Herrscher und war tief in Gedanken versunken.
Laut den Geschichtsbüchern starb der Kaiser im Schlaf, und das stimmt auch so weit – gleichwohl könnte man anmerken, dass sein Tod nicht ganz von selbst eintrat; und sein ältester Sohn, der den Kaiserthron erbte, interessierte sich kaum für Karten oder Kartografie.
Die Insel im See wurde zu einer Zuflucht für allerlei Arten von Wild- und Wasservögeln, und kein Mensch verscheuchte sie je. Sie pickten die Erdberge ab, um sich daraus Nester zu bauen, und der See trug den Strand der Insel ab, bis sie mit der Zeit verschwunden und vergessen war und nur noch der See übrig blieb.
Die Karte war fort, ebenso der Kartograf, doch das Land lebte weiter.
Diese Geschichte erblickte mit dem Untertitel »Eine Liebesgeschichte« das Licht der Welt, als Comic, zumindest teilweise. Ich schrieb sie für Oscar Zárates Noir-Sammlung It’s Dark in London, illustriert von Warren Pleece. Warren hat fantastische Arbeit geleistet, aber ich war nicht zufrieden mit der Geschichte und fragte mich, wie der Mann, der sich selbst Smith nannte, zu dem geworden war, was er war. Al Sarrantonio bat mich um einen Beitrag für seine 999-Anthologie, und ich fand es interessant, Mr Smith, Mr Alice und ihre Geschichte noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Die beiden tauchen auch in einer anderen Geschichte dieser Sammlung auf.
Ich glaube, es gibt noch mehr Geschichten über den unangenehmen Mr Smith zu erzählen, vor allem die, in der er und Mr Alice am Scheideweg stehen.
Diese Geschichte kam zustande, weil mich jemand bat, eine Geschichte zu dem Gemälde von Frank Frazetta zu schreiben, auf dem eine wilde Frau von zwei Tigern flankiert ist. Mir fiel keine ein, also erzählte ich stattdessen, was Miss Finch widerfuhr.
… ist eigentlich eine Zeile aus zwölf sehr kurzen Geschichten für Tori Amos’ CDStrange Little Girls. Inspiriert von Cindy Sherman und den Liedern des Albums, schuf Tori eine Persönlichkeit für jeden Song, und ich schrieb eine entsprechende Geschichte dazu. Sie wurden nie zusammengefasst, nur im Tour-Buch veröffentlicht, und einige Zeilen der Geschichten sind überall im CD-Booklet verstreut.
Lisa Snellings-Clark ist eine Plastikerin und Künstlerin, deren Arbeit ich schon seit Jahren schätze. Das Buch mit dem Titel Strange Attraction basiert auf einem Riesenrad, das Lisa geschaffen hat. Viele tolle Autoren schrieben Geschichten über die Insassen in den Wagen, und man bat mich, eine zu ersinnen, die um den Ticketverkäufer kreiste, einen grinsenden Harlekin.
Also schrieb ich sie.
Im Großen und Ganzen schreiben sich Geschichten nicht von selbst, doch bei dieser weiß ich nur noch, wie ich auf den ersten Satz kam. Danach war der Schreibprozess eher so, als hätte mir jemand diktiert, wie Harlekin fröhlich durch den Valentinstag tanzt und tollt.
Harlekin ist eine Trickster-Figur der Commedia dell’arte, ein unsichtbarer Schelm mit Maske, magischem Stab und kariertem Kostüm. Er liebt Kolumbine und verfolgt sie in jeder Aufführung, wobei er auf klassische Figuren wie den Doktor und den Clown stößt und jede Person manipuliert, der er begegnet.
Goldlöckchen und die drei Bären ist eine Geschichte des Poeten Robert Southey. Eigentlich ist das nicht ganz zutreffend – in seiner Version trifft eine alte Frau auf die drei Bären. Form und Handlung der Erzählung war dieselbe, aber den Leuten war klar, dass sie um ein kleines Mädchen kreisen sollte statt um eine alte Frau, und bei ihren Nacherzählungen tauschten sie die Figuren aus.
Natürlich sind Märchen übertragbar. Man fängt sie sich ein oder wird von ihnen infiziert. Wir teilen sie mit jenen, die vor uns auf dieser Welt wandelten. (Wenn ich meinen Kindern Geschichten erzähle, die mir schon meine Eltern und Großeltern erzählt haben, gibt mir das das Gefühl, Teil von etwas Besonderem und Seltsamem zu sein, zum kontinuierlichen Strom des Lebens selbst zu gehören.) Meine Tochter Maddy war zwei, als ich das Gedicht für sie schrieb. Jetzt ist sie elf, und wir erfreuen uns noch immer gemeinsam an Geschichten, aus Fernsehsendungen oder Filmen. Wir lesen die gleichen Bücher und tauschen uns darüber aus, aber ich lese sie ihr nicht mehr vor, und selbst das war ein armseliger Ersatz dafür, Geschichten für sie selbst zu erfinden.
Ich glaube, wir schulden es einander, uns Geschichten zu erzählen. Und das kommt einem Credo, zu dem ich mich jetzt und in Zukunft bekenne, wohl am nächsten.
Der vom Hotel verständigte Arzt teilte mir mit, warum mein Hals so wehtat, warum ich mich übergeben musste und unter Schmerzen und Verwirrung litt: Ich hatte die Grippe. Er erstellte eine Liste mit Schmerzmitteln und Muskelrelaxanzien, die mir seiner Meinung nach Linderung verschaffen würden. Ich wählte ein Schmerzmittel aus und wankte in mein Hotelzimmer zurück, wo ich gleich einschlief, unfähig zu denken oder den Kopf zu heben. Am dritten Tag rief mich mein Hausarzt an, den meine Assistentin Lorraine alarmiert hatte. »Ich erstelle ungern Diagnosen am Telefon, aber Sie haben Meningitis«, sagte er, und er hatte recht.
Es dauerte noch einige Monate, bis ich genug bei Sinnen war, um wieder zu schreiben, und diese Geschichte war mein erster Versuch, etwas Fiktives zu Papier zu bringen. Es kam mir vor, als müsste ich das Laufen neu erlernen. Ich verfasste den Text für Al Sarrantonios’ Flights, eine Anthologie mit Fantasygeschichten.
Als Junge las ich die Narnia-Bücher Hunderte Male, und später, als Erwachsener, las ich sie meinen Kindern zweimal vor. In den Romanen steckt so viel, was ich mag, aber jedes Mal erschien mir die Art, wie Susan aus der Handlung gestrichen wurde, höchst problematisch und irritierend. Ich nehme an, ich wollte eine Geschichte schreiben, die ebenso problematisch und nicht minder irritierend war, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel, um auf die bemerkenswerte Macht von Kinderliteratur aufmerksam zu machen.
Meine letzte Anthologie Die Messerkönigin enthält zwar einige Gedichte, sollte aber ursprünglich nur aus Prosatexten bestehen. Letztlich entschied ich mich, doch Gedichte einzufügen, vor allem weil ich dieses hier so mag. Falls du zu den Leuten gehörst, die keine Gedichte mögen, tröstet dich vielleicht die Tatsache, dass sie – wie diese Einführung – kostenlos sind. Du müsstest für das Buch dasselbe ausgeben, ob sie nun enthalten sind oder nicht, und niemand zahlt mir einen Zuschlag für sie. Manchmal ist es nett, ein Buch zur Hand zu nehmen, etwas Kurzes zu lesen und es wieder wegzulegen, genau wie es mitunter interessant ist, ein wenig über den Hintergrund der Geschichte zu erfahren, ohne sie dafür kennen zu müssen. (Und auch wenn ich quälend glückliche Wochen damit zubrachte, die Reihenfolge der Texte für diese Ausgabe festzulegen, wie ich sie am besten anordnen und sortieren sollte, kannst – und solltest – du sie in jeder beliebigen Abfolge lesen, die dir gefällt.)
Dieses Gedicht ist im wörtlichen Sinne eine Gebrauchsanweisung für Märchen, für den Fall, dass du dich in einem wiederfindest.
Man bat mich, eine Geschichte für eine Anthologie zu schreiben, die um Gargoyles kreiste, und als die Deadline nahte, stellte ich fest, dass mir keine Idee kommen wollte.
Gargoyles, so dachte ich, setzte man auf Kirchen und Kathedralen, zu deren Schutz. Ich fragte mich, ob ein Gargoyle auch etwas anderes bewachen könnte. Zum Beispiel ein Herz …
Ich habe diese Geschichte nun erstmals seit acht Jahren gelesen, und die Sexszene hat mich ein wenig überrascht, aber das liegt vermutlich daran, dass ich mit dem Text generell unzufrieden bin.
Diesen seltsamen kurzen Monolog schrieb ich für eine Fotografie, auf der ein Strumpfäffchen zu sehen ist. Sie befindet sich in einem Buch mit zweihundert Fotos von Sockenaffen, gemacht von Fotograf Arne Svenson, und trägt den wenig überraschenden Titel Sock Monkeys. Das Strumpfäffchen auf dem Bild, das man mir gab, sah aus, als hätte es eher ein hartes Leben gehabt, aber ein interessantes.
Eine langjährige Freundin von mir hatte gerade angefangen, für die satirische Weekly World News zu schreiben, und es bereitete mir viel Freude, mir Geschichten für sie auszudenken. Ich fragte mich, ob es irgendwo dort draußen jemanden gab, der eine Art von Weekly-World-News-Leben führte. In Sock Monkeys erschien meine Erzählung als Prosatext, aber mir gefällt sie besser mit Zeilenumbrüchen. Ich bezweifle nicht, dass sie, genug Alkohol und einen wohlwollenden Zuhörer vorausgesetzt, endlos weitergehen könnte. (Gelegentlich fragen Leute über meine Website an, ob sie den Text oder andere Werke von mir für Castings verwenden dürfen. Ich habe nichts dagegen.)
Noch sieben Geschichten müssen für die großen Arkana verfasst werden, und ich habe dem Künstler Rick Berry versprochen, dass ich sie eines Tages schreibe, und dann kann er sie malen.
Diese Geschichte stammt aus einem Albtraum, den ich hatte, als ich in den Zwanzigern war.
Ich liebe Träume. Ich weiß genug über sie, um zu wissen, dass Traumlogik nicht mit narrativer Logik gleichzusetzen ist und dass man einen Traum nur selten in eine Geschichte umwandeln kann: Erwacht man aus Träumen, verwandelt sich Gold in Laub und Seide in Spinnweben.
Trotzdem kann man manche Dinge von dort mitbringen: die Atmosphäre, Momente, Leute, ein Thema. Aus meinem Albtraum hingegen brachte ich zum ersten und einzigen Mal eine ganze Geschichte mit.
Ich schrieb sie zunächst als Comic, illustriert von dem vielseitig talentierten Mark Buckingham, und später versuchte ich, sie mir als Entwurf für einen pornografischen Horrorfilm vorzustellen, den ich nie drehen würde (eine Erzählung mit dem Titel »Gefressen: Szenen eines Films«). Vor einigen Jahren fragte mich dann der Herausgeber Steve Jones, ob ich eine zu Unrecht vergessene Geschichte aus meinem Fundus zum Leben erwecken wolle, für seine Anthologie Keep Out the Night. Mir fiel diese Geschichte ein, und ich krempelte die Ärmel hoch und begann zu tippen.
Schopf-Tintlinge sind in der Tat köstliche Pilze, aber sie zerfließen nach dem Pflücken allmählich zu einer unangenehmen, schwarzen, tintigen Substanz, daher sieht man sie nie im Gemüseregal.
Man bat mich, einen Eintrag für ein Buch über erfundene Krankheiten zu verfassen (The Thackery T. Lambshead Pocket Guide to Eccentric and Discredited Diseases, herausgegeben von Jeff VanderMeer und Mark Roberts). Mir gefiel die Idee, eine Krankheit zu erfinden, die dazu führt, dass man Krankheiten erfindet. Ich schrieb sie mithilfe eines Computerprogramms aus grauer Vorzeit namens Babble und eines verstaubten Lederbands mit Ratschlägen für den Hausarzt.
Mein Versuch, das allerletzte Buch der Bibel zu schreiben.
Und was die Namensgebung von Tieren anbelangt, kann ich nur sagen, wie sehr es mich freute zu entdecken, dass das Wort »Yeti« wörtlich übersetzt offenbar »das Ding da drüben« bedeutet.
»Rasch, kühner Himalaja-Führer, was ist das für ein Ding da drüben?«
»Yeti.«
»Verstehe.«
»Sie wollen eine Geschichte von dir«, sagte mein Agent vor einigen Jahren. »Sie erscheint auf der Website eines Films, der bald herauskommt. Er heißt Matrix. Sie schicken dir ein Skript.« Ich las interessiert das Drehbuch und schrieb diese Geschichte, die etwa eine Woche ehe der Film anlief auf der Website erschien und dort bis heute steht.
Der Text entstand vor einigen Jahren für das Scarlet’s-Walk-Tourbuch meiner Freundin Tori Amos, und es freute mich sehr, als man ihn für eine Anthologie mit den besten Geschichten des Jahres aufgriff. Er ist vage von der Musik auf Scarlet’s Walk inspiriert. Ich wollte etwas über Identität und Reisen und Amerika schreiben, wie ein winziges Begleitbuch zu American Gods, in dem alles, einschließlich jeder Art von Auflösung, knapp außer Reichweite bleibt.
Der Prozess, eine Geschichte zu schreiben, fasziniert mich ebenso wie das Ergebnis. Diese zum Beispiel kam als zweimalig gescheiterter Versuch zur Welt, den Urlaubsbericht eines Touristen zu verfassen, der die Erde besucht. Sie entstand für die in Kürze erscheinende Anthologie mit dem Titel The Starry Rift des australischen Kritikers und Herausgebers Jonathan Strahan. (Diese Story ist nicht darin enthalten; sie erscheint erstmals im vorliegenden Buch. Für Jonathans Sammlung steuere ich eine andere Geschichte bei, hoffe ich.) Die Erzählung, die ich ursprünglich im Sinn hatte, funktionierte nicht; ich hatte nur ein paar Fragmente, die zu nichts führten. Verzweifelt erklärte ich Jonathan in diversen E-Mails, dass er keine Geschichte bekommen würde, jedenfalls nicht von mir, und er antwortete, er hätte gerade die exzellente Story einer Autorin hereinbekommen, die ich bewundere, und sie hätte den Text in vierundzwanzig Stunden geschrieben.
Verärgert nahm ich einen Stift und ein leeres Notizbuch zur Hand und ging zum Pavillon am Ende des Gartens, wo ich im Laufe des Nachmittags diese Geschichte schrieb. Einige Wochen später las ich sie erstmals laut auf einer Benefizveranstaltung vor, im legendären CBGB. Das war die beste Gelegenheit, um eine Geschichte über Punk und 1977 vorzulesen, und das machte mich sehr froh.
In einem New Yorker Hotelzimmer verfasst, in der Woche, in der ich das Hörbuch meines Romans Sternwanderer einlas. Ich wartete gerade auf den Wagen, der mich zur Herausgeberin Rain Graves bringen würde, die mich um ein paar Gedichte für ihre Website www.spiderwords.com gebeten hatte. Es freute mich, dass das Gedicht auch funktionierte, wenn man es einem Publikum vorlas.
Meine älteste Tochter Holly wusste genau, was ich ihr zum achtzehnten Geburtstag schenken sollte. »Ich möchte etwas, das mir niemand sonst je geben kann, Dad. Ich will, dass du mir eine Kurzgeschichte schreibst.« Und weil sie mich so gut kennt, fügte sie hinzu: »Ich weiß, du gibst immer zu spät ab, und ich will dich nicht stressen oder so. Wenn ich sie also bis zu meinem neunzehnten Geburtstag habe, bekommst du keinen Ärger.«
Es gab mal einen Schriftsteller aus Tulsa, Oklahoma (verstorben 2002), der für kurze Zeit die besten Kurzgeschichten der Welt schrieb (Ende der 1960er bis Anfang der 1970er). Sein Name war R. A. Lafferty, und seine Erzählungen passten in keine Schublade, waren schräg und unnachahmlich. Man wusste schon nach dem ersten Satz, dass man eine Lafferty-Geschichte las. Als ich jung war, schrieb ich ihm, und er schrieb mir zurück.
»Sonnenvogel« war mein Versuch, eine Lafferty-Geschichte zu schreiben, und ich habe dabei eine Menge gelernt, vor allem, dass das viel schwerer ist, als man meint. Holly bekam sie erst an ihrem neunzehneinhalbten Geburtstag, als ich gerade mitten im Schreibprozess von Anansi Boys steckte und das Gefühl hatte, verrückt zu werden, wenn ich nicht einen – irgendeinen – Text vollenden würde. Mit ihrer Erlaubnis erschien sie in einem Buch mit extrem langem Titel, der oft verkürzt wird auf Noisy Outlaws, Unfriendly Blobs, and Some Other Things That Aren’t As Scary. Sämtliche Einnahmen gingen an das Literaturprogramm 826 NYC.
Auch wenn du das vorliegende Werk schon besitzt, möchtest du vielleicht eine Ausgabe des Buchs mit dem extrem langen Titel haben, denn es enthält Clement Freuds Geschichte Grimpel.
Eine Sache verblüfft mich (und ich verwende hier »verblüffen« im Sinne von »zutiefst irritieren«). Manche akademischen Werke über Volks- und andere Märchen – die ich früher gelegentlich las – behaupten, dass niemand diese Märchen verfasst habe. Sie gehen sogar so weit, die Suche nach einem Autor bei Volksmärchen als abwegig zu bezeichnen. Diese Art von Büchern oder Artikeln vermitteln den Eindruck, man sei zufällig auf all diese Geschichten gestoßen oder habe sie in veränderter Form weitergetragen, und jedes Mal denke ich: Stimmt, aber sie alle stammen von irgendwo, aus jemandes Kopf. Denn Geschichten fangen im Kopf an, sie sind weder Artefakte noch Naturphänomene.
Eines der Lehrbücher behauptete sogar, jedes Märchen, in dem eine Figur einschläft, sei auf einen Traum zurückzuführen, den jemand nach dem Erwachen erzählt habe, jemand mit primitivem Denken, der Träume nicht von der Wirklichkeit unterscheiden konnte, und so seien unsere Märchen entstanden – eine Theorie, die von vorn bis hinten löchrig wirkt, denn Geschichten, die überleben und weitererzählt werden, besitzen eine narrative Logik, keine Traumlogik.
Geschichten stammen von Leuten, die sie erfinden. Wenn sie funktionieren, werden sie weitererzählt. Allein darin liegt die Magie.
Die Erzählerin Scheherazade ist erfunden, ebenso ihre Schwester und der mörderische König, den die beiden jede Nacht besänftigen müssen. Tausendundeine Nacht ist ein fiktives Konstrukt. Es besteht aus Geschichten verschiedener Herkunft, und die Erzählung um Aladin zählt zu den jüngeren Texten, die die Franzosen dem Werk erst vor wenigen Jahrhunderten hinzugefügt haben. Was dem widerspricht, was ich eben über den Ursprung jeder Geschichte behauptete. Und doch. Und trotzdem.
Eine Geschichte, die allein auf meiner Liebe für die abgelegenen Gegenden Schottlands fußt, wo die Knochen der Erde emporragen, der Himmel blassweiß und die Natur so erstaunlich schön und entlegen ist, wie sie es nur sein kann. Ein guter Ort, um sich wieder mit Shadow zu befassen, zwei Jahre nach den Ereignissen in meinem Roman American Gods.
Robert Silverberg bat mich um eine Novelle für seine zweite Legends-Sammlung. Es war ihm gleich, ob ich sie um Niemalsland oder American Gods kreisen lassen würde. Als ich es mit einer Niemalsland-Novelle versuchte, bereitete sie mir handwerkliche Schwierigkeiten (sie heißt »Wie der Marquis seinen Mantel zurückbekam«, und eines Tages vollende ich sie). Ich begann mit »Der Herr des Tals« in einer Wohnung in Notting Hill, wo ich Regie für einen Kurzfilm namens A Short Film About John Bolton führte, und schloss die Geschichte an einem langen, harten Wintertag ab, in der Hütte am See, in der ich auch jetzt diese Einführung tippe. Meine Freundin Iselin Evensen aus Norwegen erzählte mir als Erste Geschichten über die Hulda und korrigierte mein Norwegisch. Wie Baywolf aus Die Messerkönigin ist die Geschichte von Beowulf inspiriert, und während des Schreibens war ich mir sicher, dass das Drehbuch zu Beowulf, das ich für und mit Roger Avary verfasst hatte, niemals umgesetzt werden würde. Natürlich irrte ich mich, und mir gefällt, wie sehr sich Angelina Jolies Interpretation von Grendels Mutter in Robert Zemeckis Film von der Figur unterscheidet, die hier auftaucht.
Ich möchte den Herausgebern der vielen Werke danken, in denen die hier vereinten Geschichten und Gedichte erstmals erschienen sind, und ganz besonders Jennifer Brehl und Jane Morpeth von meinen Verlagen in den USA und Großbritannien für ihre Hilfe und Unterstützung und vor allem ihre Geduld. Überdies danke ich meiner Literaturagentin, der ehrfurchtgebietenden Merrilee Heifetz und ihrer Gang auf der ganzen Welt.
Während ich diese Zeilen verfasse, fällt mir auf: Das Besondere an den meisten Dingen, die wir für zerbrechlich halten, ist, wie zäh sie eigentlich sind. Als Kinder kannten wir Tricks, mit denen wir Eier erscheinen ließen, als wären sie tragender Marmor, und es heißt, der Schlag eines Schmetterlingsflügels am rechten Ort kann jenseits des Ozeans einen Hurrikan auslösen. Herzen können brechen, zugleich aber sind Herzen die stärksten Muskeln, die ein Leben lang ohne nennenswerte Aussetzer schlagen können, siebzigmal pro Minute. Selbst Träume, die zartesten und ungreifbarsten aller Dinge, sind mitunter bemerkenswert schwer totzukriegen.
Geschichten sind, so wie Menschen und Schmetterlinge, Singvogeleier, Herzen und Träume, ebenfalls zerbrechliche Dinge; sie bestehen aus nichts Belastbarem, lediglich aus sechsundzwanzig verschiedenen Buchstaben und einer Handvoll Satzzeichen. Oder sie sind Worte in der Luft, gebildet aus Lauten und Ideen – abstrakt, unsichtbar und nach dem Aussprechen wieder verschwunden –, und was könnte zerbrechlicher sein als das? Doch manche Erzählungen, kurze, schlichte, in denen Leute ein Abenteuer erleben oder Wunder bewirken, Geschichten über Mirakel und Monster, haben die Menschen überlebt, die sie erzählten, und manche davon haben sogar die Länder überdauert, in denen sie erfunden wurden.
Obwohl ich nicht glaube, dass auch nur eine Geschichte des vorliegenden Buchs das schafft, ist es schön, sie in diesem Band zu vereinen, ihnen eine Heimat zu geben, wo sie gelesen werden und in Erinnerung bleiben können. Ich hoffe, sie gefallen euch.
Neil Gaiman
Am ersten Frühlingstag 2006
Ins Deutsche übertragen von Hannes Riffel und Sara Riffel
Frisch von ihrer phantastischen Europa-Tournee zurückgekehrt, woselbst sie verschiedentlich vor den GEKRÖNTENHÄUPTERNEUROPAS auftraten und für ihre glänzenden dramatischen Darbietungen, in denen sie KOMÖDIE und TRAGÖDIE miteinander verschmolzen, mit überschwänglichem Beifall bedacht wurden, möchten die Strand Players kundtun, dass sie im April für eine BEGRENZTESPIELZEIT im Königlichen Hoftheater in der Drury Lane auftreten werden, um ›Tom, mein Bruder und Doppelgänger!‹, ›Der klitzekleinste Veilchenverkäufer‹ und ›Die Großen Alten kommen‹ zu geben (Letzteres ein historisches Epos voll ergötzlichem Prunk); jedes ein ganzes Stück in einem Akt! Eintrittskarten sind ab sofort erhältlich.
Es liegt an der Unermesslichkeit, glaube ich. An der gewaltigen Größe dessen, was tief unter uns liegt. Der Düsterkeit der Träume.
Aber ich schweife ab. Verzeihen Sie. In literarischen Dingen bin ich nicht sehr bewandert.
Ich hielt nach einem Quartier Ausschau. So habe ich ihn kennengelernt. Ich suchte jemanden, der sich die Kosten einer Wohnung mit mir teilt. Vorgestellt wurden wir einander von einem gemeinsamen Bekannten, und zwar in den chemischen Laboratorien von St. Bartholomew. »Wie ich sehe, waren Sie in Afghanistan«, sagte er zu mir, und mir klappte die Kinnlade herunter, und ich riss die Augen auf.
»Erstaunlich«, sagte ich.
»Eigentlich nicht«, sagte der Fremde in dem weißen Laborkittel, mit dem ich mich alsbald anfreunden sollte. »Die Art, wie Sie den Arm halten, verrät mir, dass Sie verwundet wurden, und zwar auf eine ganz spezifische Weise. Sie sind braungebrannt. Ihre Haltung ist die eines Soldaten. Es gibt nur wenige Gegenden im Empire, wo ein Soldat braun werden und, ziehen wir die Natur Ihrer Verletzung und die Traditionen der afghanischen Höhlenbewohner in Betracht, gefoltert werden kann.«
So formuliert, war es natürlich geradezu lächerlich einfach. Aber andererseits war es das dann auch schon vorher. Ich war so tiefbraun wie eine Haselnuss. Und ich war tatsächlich, wie er festgestellt hatte, gefoltert worden.
Die Götter und Menschen Afghanistans waren unzivilisierte Wilde, die keinerlei Neigung verspürten, sich von Whitehall, Berlin oder gar Moskau aus regieren zu lassen, und sie waren nicht im Entferntesten bereit, Vernunft anzunehmen. Ich war dem Xten Regiment zugeteilt und in die Berge geschickt worden. Solange wir auf Wiesen und Weiden fochten, waren wir dem Feind noch gewachsen gewesen. Als die Scharmützel jedoch in den Tiefen der finsteren Höhlen fortgesetzt wurden, verloren wir alsbald den Boden unter den Füßen.
Nie werde ich die spiegelglatte Oberfläche des unterirdischen Sees vergessen und das Ding, das aus seinen Tiefen auftauchte – wie es die Augen öffnete und schloss, und das sirrende Flüstern, das jede seiner Bewegungen begleitete wie das Summen von Fliegen, die größer waren als die Welt!
Dass ich überlebt habe, war ein Wunder, aber ich habe überlebt und bin nach England zurückgekehrt, wenn auch einem Nervenzusammenbruch nahe. Die Stelle, an der sich das ekelhafte Maul festgesaugt hatte, war für immer gezeichnet, eine froschweiße Tätowierung auf der Haut meiner inzwischen verkrüppelten Schulter. Früher war ich ein teuflisch guter Schütze gewesen. Jetzt war mir nichts mehr geblieben außer einer Angst vor der Welt unter der Welt, einer Angst, die fast schon an Panik grenzte und mich, auch wenn meine Pension nicht eben üppig war, veranlasste, lieber ein Sixpencestück für eine Droschke auszugeben, als für einen Penny die Untergrundbahn zu nehmen.
Immerhin, der Nebel und die Finsternis Londons spendeten mir Trost, gaben mir eine Heimat. Mein erstes Quartier hatte ich verloren, weil ich im Schlaf oft schrie. Ich war in Afghanistan gewesen; jetzt war ich nicht mehr dort.
»Ich schreie nachts«, erklärte ich ihm.
»Ich habe mir sagen lassen, dass ich schnarche«, sagte er. »Mein Tagesablauf ist sehr unregelmäßig, und ich missbrauche den Kaminsims hin und wieder als Zielscheibe. Ich werde den Salon benötigen, um Mandanten zu empfangen. Ich bin selbstsüchtig, verschlossen und langweile mich schnell. Ist das ein Problem?«
Ich lächelte, schüttelte den Kopf und reichte ihm die Hand. Die Sache war besiegelt.
Die Räumlichkeiten, die er für uns in der Baker Street gefunden hatte, waren für zwei Junggesellen mehr als auskömmlich. Eingedenk dessen, was mein Freund über seine Verschlossenheit gesagt hatte, verzichtete ich darauf, ihn zu fragen, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Allerdings gab es da vieles, was meine Neugier erregte. Er empfing zu jeder Tages- und Nachtzeit Besucher, wobei ich mich jedes Mal in mein Schlafzimmer zurückzog und darüber nachsann, was sie wohl zu meinem Freund führen mochte: die blasse Frau mit dem einen sämig weißen Auge; der kleine Mann, der wie ein Handlungsreisender aussah; der beleibte Dandy in seiner Samtjacke; und all die anderen. Einige kamen öfter, viele jedoch nur einmal, sprachen mit ihm und gingen wieder, sichtlich bekümmert oder zufrieden.
Er war mir ein Rätsel.
Unsere Hauswirtin pflegte uns ein hervorragendes Frühstück zu richten, und ein solches nahmen wir gerade zu uns, als mein Freund die Glocke läutete, um die gute alte Dame herbeizurufen. »Es wird sich uns noch ein Herr zugesellen, und zwar in ungefähr vier Minuten«, sagte er. »Bitte decken Sie noch einen weiteren Platz am Tisch.«
»Sehr gerne«, erwiderte sie. »Ich werde noch ein paar Würste auf den Grill legen.«
Mein Freund wandte sich wieder der Morgenzeitung zu, während ich mit wachsender Ungeduld auf eine Erklärung wartete. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. »Das verstehe ich nicht. Woher wissen Sie, dass wir in vier Minuten Besuch erhalten werden? Es ist kein Telegramm eingetroffen oder irgendeine Nachricht anderer Art.«
Er schenkte mir die Andeutung eines Lächelns. »Haben Sie nicht vor wenigen Minuten das Klappern eines Einspänners gehört? Er ist langsamer geworden, als er an unserem Haus vorbeifuhr – offenbar hat der Fahrer unsere Tür gesucht. Dann ist er wieder schneller geworden und vorbeigefahren, die Marylebone Road hinauf. Am Bahnhof und vor dem Wachsfigurenkabinett drängen sich die Kutschen, und dahin wird sich jeder begeben, der aussteigen möchte, ohne dabei gesehen zu werden. Zu Fuß sind es von dort nur vier Minuten …«
Er blickte auf seine Taschenuhr, und in dem Moment hörte ich draußen die Treppe knarren.
»Kommen Sie herein, Lestrade«, rief er. »Die Tür ist offen, und Ihre Würstchen sind gleich fertig.«
Ein Mann, der Lestrade sein musste, öffnete die Tür und schloss sie wieder behutsam hinter sich. »Eigentlich sollte ich dankend ablehnen«, ließ er sich vernehmen. »Aber ehrlich gesagt hatte ich heute Morgen noch nicht die Gelegenheit zu frühstücken. Und es wäre mir gewiss ein Vergnügen, einigen dieser Würstchen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.« Er entpuppte sich als ein kleiner Mann, dem ich schon des Öfteren begegnet war. Er wirkte wie ein Handelsreisender, der neuartige Gummiwaren oder Quacksalbermedizin feilbot.
Mein Freund wartete, bis unsere Hauswirtin hinausgegangen war, bevor er sagte: »Ich nehme an, dass es sich um eine Angelegenheit von nationaler Tragweite handelt.«
»Meiner Treu«, erwiderte Lestrade und wurde blass. »Das kann sich doch nicht schon herumgesprochen haben. Bitte sagen Sie mir, dass dem nicht so ist.« Er begann, seinen Teller mit Würstchen, Bücklingsfilet, Reis mit hartgekochten Eiern und Toast zu beladen, wobei seine Hände allerdings ein wenig zitterten.
»Natürlich nicht«, sagte mein Freund. »Aber nach all der Zeit ist mir das Quietschen Ihrer Kutschräder nur zu vertraut: ein unreines Gis über dem hohen C. Und wenn Inspektor Lestrade von Scotland Yard nicht öffentlich dabei gesehen werden will, wie er den Salon des einzigen beratenden Detektivs von London betritt, und trotzdem kommt, sogar ohne gefrühstückt zu haben, dann weiß ich, dass es sich nicht um einen Routinefall handelt. Die Sache hat folglich mit Personen von Stand zu tun und ist eine Angelegenheit von nationaler Tragweite.«
Lestrade tupfte sich mit seiner Serviette Eigelb vom Kinn. Ich starrte ihn an. Er sah nicht so aus, wie ich mir einen Polizeiinspektor vorstellte; allerdings sah mein Freund auch nicht so aus, wie ich mir einen beratenden Detektiv vorstellte – was auch immer das sein mochte.
»Vielleicht sollten wir uns unter vier Augen unterhalten«, sagte Lestrade und blickte kurz zu mir herüber.
Auf dem Gesicht meines Freundes machte sich ein schelmisches Lächeln breit, und sein Kopf bewegte sich auf seinen Schultern hin und her, wie er es zu tun pflegte, wenn er sich einen heimlichen Scherz erlaubte. »Unsinn«, sagte er. »Zwei Köpfe sind besser als einer. Und was zu einem von uns gesagt wird, wird zu uns beiden gesagt.«
»Wenn ich störe …«, sagte ich in schroffem Tonfall, aber er bedeutete mir zu schweigen.
Lestrade zuckte mit den Achseln. »Mir ist das gleich«, sagte er nach kurzem Zögern. »Wenn Sie diesen Fall lösen, behalte ich meine Anstellung; wenn nicht, bin ich sie los. Wenden Sie ruhig Ihre Methoden an, sage ich. Schlimmer kann es nicht mehr kommen.«
»Wenn uns die Geschichte etwas lehrt, dann, dass es immer noch schlimmer kommen kann«, sagte mein Freund. »Wann fahren wir nach Shoreditch?«
Lestrade ließ seine Gabel fallen. »Das ist ja wohl die Höhe!«, rief er ungehalten. »Da machen Sie sich über mich lustig, während Sie bereits alles über die Angelegenheit wissen. Sie sollten sich schämen!«
»Niemand hat mir über die Sache irgendetwas erzählt.
Wenn aber ein Polizeiinspektor meinen Salon betritt und seine Stiefel und seine Hosenbeine frische Schlammspritzer von dieser eigentümlich senfgelben Farbe aufweisen, so ist es gewiss verzeihlich, wenn ich annehme, dass er erst vor Kurzem an den Grabungen in der Hobbs Lane in Shoreditch vorbeikam, dem einzigen Ort in London, an dem sich diese spezielle senffarbene Lehmerde meines Wissens findet.«
Inspektor Lestrade war ganz offensichtlich peinlich berührt. »Wenn Sie es so ausdrücken«, sagte er, »scheint es nur allzu einleuchtend.«
Mein Freund schob den Teller von sich. »Natürlich ist es das«, sagte er ein wenig gereizt.
Wir nahmen eine Kutsche zum East End. Inspektor Lestrade war zur Marylebone Road gelaufen, um seinen Einspänner zu suchen, und ließ uns allein.
»Dann sind Sie also wirklich beratender Detektiv?«, sagte ich.
»Der einzige in London oder vielleicht auf der ganzen Welt«, erwiderte mein Freund. »Ich übernehme keine Fälle. Stattdessen bin ich als Berater tätig. Andere kommen mit ihren unlösbaren Problemen zu mir, beschreiben sie mir, und manchmal kann ich ihnen helfen.«
»Dann sind die Leute, die Sie aufsuchen …«
»In der Regel Polizeibeamte oder selbst Detektive, ja.«
Eigentlich war es ein wunderschöner Morgen, aber was taten wir? Wir ruckelten und zuckelten durch die Ausläufer des Elendsviertels von St. Giles, jenem Labyrinth der Diebe und Halsabschneider, das London entstellt wie ein Krebsgeschwür das Gesicht einer schönen Blumenverkäuferin, und das wenige Licht, das in die Kutsche drang, war trübe und matt.
»Sind Sie sicher, dass Sie mich bei dieser Sache dabeihaben wollen?«
Mein Freund sah mich an, ohne zu blinzeln. »Ich habe so ein Gefühl«, sagte er. »Ich habe so ein Gefühl, dass uns das Schicksal zusammengeführt hat. Wir haben beide für das Gute gekämpft, Seite an Seite, in der Vergangenheit oder in der Zukunft – ich weiß es nicht. Ich bin ein vernünftig denkender Mensch, aber ich habe einen treuen Gefährten schätzen gelernt, und von dem Augenblick, als ich Sie das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass ich Ihnen vertraute wie mir selbst. Ja. Ich möchte Sie dabeihaben.«
Ich errötete oder sagte irgendetwas Belangloses. Zum ersten Mal seit Afghanistan hatte ich das Gefühl, in der Welt etwas wert zu sein.
Viktors ›Vitae‹! Eine elektrische Flüssigkeit! Gebricht es Ihren Gliedmaßen und Unterleibsgefilden an Spannkraft? Blicken Sie sehnsüchtig auf Ihre Jugendzeit zurück? Sind die Freuden des Fleisches für Sie längst begraben und vergessen? Viktors ›Vitae‹ wird mit Leben erfüllen, was Sie längst verloren glaubten: Noch das älteste Schlachtross kann wieder ein stolzer Hengst sein! Viktors ›Vitae‹ ist Ihre Rettung – dank eines alten Familienrezepts und modernster Wissenschaft. Möchten Sie beglaubigte Zeugnisse der Wirkungskraft von Viktors ›Vitae‹ erhalten? Dann schreiben Sie an die V. von F. Handelsgesellschaft, 1b Cheap Street, London.
Unser Ziel war eine billige Pension in Shoreditch. Vor dem Eingang stand ein Polizist. Lestrade grüßte ihn mit Namen und machte Anstalten, das Haus zu betreten. Ich wollte ihm folgen, doch mein Freund ging auf der Schwelle in die Hocke und zog ein Vergrößerungsglas aus der Manteltasche. Er untersuchte den Schlamm auf dem schmiedeeisernen Fußabstreifer, wobei er mit dem Zeigefinger darüberstrich. Erst als er zufrieden war, ließ er uns hineingehen.
Wir stiegen die Treppe hinauf. Es bestand kein Zweifel, in welchem Zimmer das Verbrechen begangen worden war: Zwei stämmige Schutzleute hatten rechts und links der Tür Stellung bezogen.
Lestrade nickte den Männern zu, die beiseitetraten, um uns vorbeizulassen.
Ich bin, wie gesagt, kein berufsmäßiger Schriftsteller, und ich zögere, diesen Ort zu beschreiben. Ich weiß gut, dass meine Worte die Sache nicht richtig treffen. Da ich aber einmal angefangen habe, diese Geschichte zu erzählen, so fürchte ich, dass ich sie auch zu Ende bringen muss. In dem kleinen möblierten Zimmer war ein Mord begangen worden. Die Leiche, oder was von ihr übrig war, lag noch immer auf dem Boden. Ich sah sie, doch im ersten Moment nahm ich sie nicht wahr. Stattdessen sah ich lediglich, was aus dem Hals und der Brust des Opfers herausgespritzt war: Die Farbe des Ausflusses reichte von Gallegrün bis Grasgrün. Der fadenscheinige Teppich und die Tapete waren damit durchtränkt. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, das Werk eines teuflischen Künstlers vor mir zu haben – eines Künstlers, der sich vorgenommen hatte, eine Studie in Smaragdgrün zu kreieren.
Nach einer Zeit, die mir wie hundert Jahre vorkam, senkte ich den Blick und betrachtete den Leichnam, der wie ein Kaninchen auf der Theke eines Metzgers aufgeschlitzt worden war, und versuchte, aus dem, was ich da sah, schlau zu werden.
Ich nahm meinen Hut ab, und mein Freund folgte meinem Beispiel.
Er kniete nieder und untersuchte den Leichnam, wobei er jeden Schnitt und jeden Riss begutachtete. Dann zog er wieder sein Vergrößerungsglas hervor und ging zur Wand hinüber, wo er die Flecken trocknenden Eitersekrets in Augenschein nahm.
»Das haben wir bereits getan«, sagte Inspektor Lestrade.
»Tatsächlich?«, entgegnete mein Freund. »Was halten Sie davon? Ich glaube, dass es sich dabei um ein Wort handelt.«
Lestrade trat an die Seite meines Freundes und hob den Blick. Dort, ein Stück über Lestrades Kopf, stand ein Wort mit grünem Blut in Großbuchstaben auf die verblichene gelbe Tapete geschrieben. »R-A-C-H-E …?«, buchstabierte Lestrade. »Offensichtlich wollte da jemand ›Rachel‹ schreiben, wurde jedoch dabei gestört. Also müssen wir nach einer Frau suchen …«
Mein Freund schwieg. Er schritt zu der Leiche zurück und hob ihre Hände an, erst die eine Hand, dann die andere. Auf den Fingerspitzen fand sich keinerlei Eitersekret. »Ich denke, dass wir mit Sicherheit sagen können, dass dieses Wort nicht von Seiner Königlichen Hoheit geschrieben wurde …«
»Wie zum Teufel kommen Sie …«
»Mein lieber Lestrade, ich bitte Sie. Ein wenig Scharfsinn können Sie mir schon zutrauen. Dieser Leichnam ist ganz offensichtlich nicht der eines Menschen – die Farbe des Blutes, die Anzahl der Gliedmaßen, die Augen, das Gesicht … all diese Dinge verraten königliches Blut. Auch wenn ich nicht zu sagen vermag, welchem Geschlecht er entstammt, so würde ich doch die Vermutung wagen, dass es sich um einen Thronerben handelt … nein, um den jüngeren Bruder eines Thronerben … aus einem der deutschen Fürstentümer.« »Unglaublich.« Lestrade zögerte einen Augenblick, bevor er sagte: »Das ist Prinz Franz Drago von Böhmen. Er hat sich als Gast Ihrer Majestät Viktoria in Albion aufgehalten. Um der Erholung und der Luftveränderung willen …«
»Wegen der Theater, der Huren und der Spieltische, meinen Sie wohl.«
»Wenn Sie das sagen.« Lestrade wirkte verstimmt. »Jedenfalls haben Sie uns mit dieser ›Rachel‹ auf eine vielversprechende Spur gebracht. Obwohl ich nicht bezweifle, dass wir sie auch selbst gefunden hätten.«
»Zweifellos«, sagte mein Freund.
Er unterzog das Zimmer noch einer weiteren Untersuchung, wobei er sich nicht eines beißenden Kommentars enthielt, da die Polizei mit ihren Stiefeln Fußabdrücke verwischt und Gegenstände umgestellt hatte, die es vielleicht erleichtert hätten, die Ereignisse der vergangenen Nacht zu rekonstruieren.
Vor allem schien er sich für einen Schlammfleck zu interessieren, den er hinter der Tür entdeckt hatte.
Neben dem offenen Kamin fand er etwas, das wie Asche oder Schmutz aussah.
»Haben Sie das bemerkt?«, fragte er Lestrade.
»Die Polizei Ihrer Majestät«, erwiderte Lestrade, »gerät für gewöhnlich nicht in helle Aufregung, wenn sie in einem Kamin auf Asche stößt. Denn dort ist sie wohl an ihrem Platze.« Er kicherte über seine eigenen Worte.
Mein Freund nahm ein Quäntchen von der Asche, zerrieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger und roch daran. Schließlich fegte er die Reste zusammen und füllte sie in ein Fläschchen, das er mit einem Korken verschloss und in der Innentasche seines Mantels verschwinden ließ. Er stand auf. »Und der Leichnam?«
»Der Palast wird seine eigenen Leute schicken«, sagte Lestrade.
Mein Freund nickte mir zu, und gemeinsam gingen wir zur Tür. Mein Freund seufzte. »Inspektor. Ihre Suche nach Fräulein Rachel wird sich vielleicht als fruchtlos erweisen. ›Rache‹ ist, unter anderem, ein deutsches Wort. Es heißt so viel wie ›revenge‹. Schauen Sie in Ihrem Wörterbuch nach. Es hat noch andere Bedeutungen.«
Wir gelangten ans untere Ende der Treppe und traten auf die Straße hinaus. »Vor heute Morgen haben Sie noch nie ein Mitglied eines Königshauses gesehen, nicht wahr?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nun, der Anblick kann einen schon aus der Fassung bringen, wenn man nicht darauf vorbereitet ist. Aber werter Freund – Sie zittern ja!«
»Verzeihen Sie. Mir geht es gleich wieder besser.«
»Würde es Ihnen guttun, ein Stück zu Fuß zu gehen?«, fragte er, und ich willigte ein, denn ich wusste, dass ich andernfalls dem Zwang nachgeben würde, laut zu schreien.
»Dann also nach Westen«, sagte mein Freund und deutete auf die dunklen Türme des Palasts. Damit begannen wir unseren Spaziergang.
»Sie sind noch nie«, fuhr mein Freund fort, »einem der gekrönten Häupter Europas persönlich begegnet?« »Nein«, erwiderte ich.
»Ich glaube, ich kann mit Gewissheit sagen, dass sich das nun ändern wird«, erklärte er mir. »Und dieses Mal wird es kein Leichnam sein. Sehr bald.«
»Werter Freund, wie kommen Sie …«
Zur Antwort deutete er auf eine schwarz lackierte Kutsche, die fünfzig Meter vor uns an den Straßenrand gefahren war. Ein Mann mit einem schwarzen Zylinder und in einem langen Mantel stand neben dem Schlag, hielt ihn auf und wartete schweigend. Auf der Kutschtür prangte ein goldenes Wappen – ein Wappen, das jedes Kind in Albion kannte.
»Es gibt Einladungen, die man nicht ablehnt«, sagte mein Freund. Er zog den Hut vor dem Diener, und ich glaube wirklich, dass er lächelte, als er in das kastenförmige Gefährt stieg und sich in die weichen Lederpolster sinken ließ.
Als ich ihn während unserer Fahrt zum Palast ansprechen wollte, legte er einen Finger an die Lippen. Dann schloss er die Augen und schien tief in Gedanken zu versinken. Ich für meinen Teil versuchte mich zu erinnern, was ich über das deutsche Königshaus wusste, doch abgesehen von der Tatsache, dass der königliche Prinzgemahl Albert hieß und aus Deutschland stammte, war das wenig genug.
Ich griff in meine Hosentasche und zog eine Handvoll Münzen hervor – braune und silberne, schwarze und kupfergrüne. Ich starrte das Porträt unserer Königin an, das jeder einzelnen von ihnen aufgeprägt war, und verspürte gleichermaßen patriotischen Stolz wie maßlose Angst. Ich redete mir ein, dass ich einmal ein Soldat gewesen war, der keine Furcht kannte, und ich konnte mich noch an die Zeit erinnern, als das der Wahrheit entsprach. Ich war ein teuflisch guter Schütze gewesen – sogar, wie ich mir schmeichelte, ein recht ordentlicher Scharfschütze –, aber jetzt zitterte meine rechte Hand, als wäre sie gelähmt, die Münzen klapperten und klimperten, und ich empfand nichts als Bedauern.
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Prinzgemahl Albert war ein großer Mann mit einem beeindruckenden Zwirbelbart und schwindender Haarpracht, und es bestand kein Zweifel daran, dass er vollkommen menschlich war. Er empfing uns im Korridor und nickte meinem Freund und mir zu. Weder fragte er nach unseren Namen, noch reichte er uns die Hand.
»Die Königin ist äußerst bestürzt«, sagte er. Er redete mit deutlichem Akzent. Das ›s‹ sprach er wie ein ›z‹ aus: äußerrzzt bezztürzt. »Franz gehörte zu ihren Lieblingen. Sie hat so viele Neffen. Aber er konnte sie stets zum Lachen bringen. Sie werden diejenigen, die das getan haben, finden.«
»Ich werde mein Bestes tun«, sagte mein Freund.
»Ich habe Ihre Monographien gelesen«, sagte Prinz Albert. »Und ich war es, der die Anweisung erteilt hat, Sie zu konsultieren. Ich hoffe, ich habe das Richtige getan.« »Das hoffe ich auch«, sagte mein Freund.
Und dann wurde die große Tür geöffnet, und wir wurden in die Dunkelheit und die Gegenwart der Königin geleitet.
Sie wurde Viktoria genannt, weil sie uns im Kampf besiegt hatte, vor siebenhundert Jahren, und sie wurde Gloriana genannt, weil sie glorreich war, und sie wurde Königin genannt, weil der menschliche Mund nicht so geformt ist, dass er ihren wahren Namen aussprechen könnte. Sie war groß – größer, als ich für möglich gehalten hatte –, und sie kauerte in den Schatten und starrte auf uns hinab, ohne sich zu bewegen.
Diesze Szache musszz aufgeklärt werden. Die Worte kamen aus den Schatten.
»In der Tat, Majestät«, sagte mein Freund.
Ein Arm zuckte herab und deutete auf mich. Tritt vorrr.
Ich wollte dem Befehl Folge leisten. Aber meine Beine verweigerten mir den Dienst.
Da kam mir mein Freund zu Hilfe. Er fasste mich am Ellbogen und führte mich vor Ihre Majestät.
Szoll keine Angszt haben. Wird szich als würdig erweiszen. Wird ein Gefährte szein