Zerrissene Wege - Georg Kietzke - E-Book

Zerrissene Wege E-Book

Georg Kietzke

4,7

Beschreibung

Während der Nazizeit wächst Inge in Ostbrandenburg, als Älteste von vier Geschwistern und Tochter eines Kommunisten, zwischen Armut und Familienpflichten auf. Gesellschaftlich fühlt sich das Mädchen isoliert. Nur bei der Großmutter findet sie Wärme und erfährt bald Anerkennung im Sport. Der Krieg kommt, der Vater fällt, sie müssen fliehen. Nach endlosen Strapazen zerbricht ihre Mutter. Erst nach dem Krieg gewinnt Inge neue Hoffnung, als die Schule beginnt. Über Umwege wird sie Lehrerin. Doch bald wird ihr Bekenntnis zur DDR in Frage gestellt und sie soll sich verantworten. Inge flieht in den Westen, wo sie auf alte und neue Probleme stößt. Der Hilferuf ihrer Geschwister und eine Liebe lassen sie zurückkehren. Dafür zahlt sie einen Preis, der sie an den Rand des Abgrunds führt. Sie überlebt, macht aber erst nach Jahrzehnten eine schreckliche Entdeckung.

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Geschichte und Figuren in diesem Roman basieren auf realen Begebenheiten, es handelt sich jedoch ausdrücklich nicht um eine faktisch korrekte Biografie. Ich habe mir im Dienst literarischer Wahrhaftigkeit die Freiheit genommen, Figuren, Orte und Ereignisse zu erfinden.

Autor: Georg Kietzke

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

2. Teil

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Epilog

Prolog

Das Los der Verlierer ( Rossberg, Ostbrandenburg, Herbst 1933)

„Schlaf, Kindlein, schlaf! Der Vater hütet die Schaf. Die Mutter schüttelt´s Bäumelein …“ Mathilde sang leise weiter, bis sie verstummte.

Auch im Kinderbett blieb es still. Inge hatte das Köpfchen zur Seite gedreht blinzelte und kämpfte noch immer gegen die Schwere der Augenlider, die sich schlossen und immer wieder aufflackerten. Als wäre sie unersättlich, saugte und schmatzte sie an ihrem Daumen,

„Willst du schon gehen?“ Verwundert sah Mathilde ihre Mutter an.

Emma hatte sich die graue Wollstrickjacke übergeworfen und knotete das Kopftuch unter dem Kinn zusammen. „Ich komme morgen wieder“, flüsterte sie und sah zu den Weidenkörben, in denen sich die Wäsche der letzten Tage türmte. „Morgen wird uns die Sonne nicht im Stich lassen.“ „Woher willst du das wissen?“

„Ich weiß es eben.“ Emma schmunzelte, schlich zur Tür, öffnete sie und hielt Ausschau. Der Herbstwind verhüllte die Felder mit Staub und wirbelte Strohhalme durch die Luft, während sich am Himmel eine graue Masse zusammengeballt hatte, die bis zum Horizont reichte, wo sich Regenstreifen abzeichneten.

„Ich muss mich beeilen“, flüsterte Emma. „Bis morgen.“ Sie ging hinaus und folgte der Straße, die vom

„Diestelgrund“ zur Landarbeitersiedlung führte. Mathilde warf ihrer Mutter einen letzten Blick hinterher, bevor sie die Tür schloss und den Riegel vorschob. Dann ging sie zum Kinderbett, in dem Inge lag und schlief. Ein Bild des Friedens.

Doch gleich kehrte die Angst wieder zurück, die wie ein Gespenst auftauchte, wenn sie alleine war, immer dann, wenn sie um Günter bangte. Wann würde er zurückkommen? Sie wusste es nicht.

Sie dachte an den Tag zurück, als sie ihn vor der Tür gefunden hatte, zusammengeschlagen und blutverschmiert, nach einer Schlägerei mit den Nazis, die er hasste, und die er mit allen Mitteln bekämpfte.

Es war kurz nach der Hochzeit, und sie war gerade schwanger, keine geeignete Zeit, in der man Kinder in die Welt setzte. Doch wann würde das alles zu Ende sein?

Und wie würde das Ende aussehen? Dabei hatte sie sich ihren Traum vom Glück ganz anders vorgestellt.

Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als ein Auto vor dem Blockhaus hielt. Günter? Nein, das konnte er nicht sein.

Eine Männerstimme fluchte. Stiefelsohlen stampften die Haustreppe hoch.

Mathilde schluckte, spürte die Enge im Hals, wie von einer Schlinge zugezogen. Ihr Herz raste und ihr Bauch presste sich wie ein Schutzschild zusammen.

„Aufmachen!“ Fäuste hämmerten gegen die Tür. „Sofort aufmachen!“

Sekunden lähmten sie. „Sofort!“ rief sie, rannte zur Tür und schob den Riegel zurück.

Drei SA-Leute drangen ein. „Wo ist er?“, brüllte einer von ihnen, stieß sie zur Seite und stemmte seine Fäuste in die Hüften. Seine Augen suchten das Zimmer genau ab.

Mathilde schluckte. „Wer?“

Die Ohrfeige klatschte, dröhnte im Kopf und brannte in ihrem Gesicht.

„Dein roter Mann“, schrie er. „Wo steckt das Kommunistenschwein?“

Sie schwieg. Nie würde sie Günter verraten, selbst wenn sie wüsste, wo er sich gerade aufhielt.

„Los Männer!“, rief einer von ihnen. „Irgendetwas werden wir schon finden.“ Voll Wut begannen die Drei, das Zimmer auf den Kopf zu stellen. Schranktüren knallten, Wäsche wurde herausgerissen und durchgewühlt. Bücher wurden durchgeblättert und achtlos in die Ecke geworfen.

Geschirr zersplitterte auf den Dielen.

Inge wachte auf und weinte.

Einer der SA-Leute stellte sich vor das Kinderbett und griente. „Stopf deinem Balg das Maul.“ Er hob die Hand, als ob er hineingreifen wollte. „Sonst klatsche ich deine Brut an die Wand und schmiere damit unser Zeichen an die Tür.“

Mathilde zersprang das Herz. „Bitte nicht“, bettelt sie, beugte sich über Inge und riss sie an sich. „Ich weiß wirklich nicht, wo mein Mann ist.“

Inge schrie, konnte nicht mehr aufhören, schrie immer lauter, als wenn sie die Störenfriede verjagen wollte.

„Das hält ja keine Sau hier aus“, brüllte einer der Männer.

„Kommt! Das reicht für heute.“

Während zwei von ihnen das Zimmer verließen, blieb der Letzte vor Mathilde stehen und kniff die Augen zusammen. „Irgendwann kriegen wir ihn“, zischte er, „verlass dich drauf.“ Dann folgte er den anderen.

Mathilde schaukelte Inge in ihren Armen, die immer noch brüllte

„Schlaf, Kindlein, schlaf! …“, sang sie schluchzend.

Allmählich verebbte Inges Geschrei zu einem Wimmern, das immer leiser wurde, bis es verstummte.

Mathilde legte ihre Tochter in die Wiege zurück, bettete sie, wischte sich die Tränen von der Wange und sah nach unten.

Einige Fotos lagen verstreut vor ihren Füßen. Sie sammelte die Bilder auf, setzte sich an den Tisch und betrachtete sie nacheinander. Es waren die letzten Fotos mit ihrer Schwester Frieda, und die ersten mit Günter.

… drei Jahre zuvor (Rossberg, Sommer 1930)

Die Sonne schob die Wolkendecke zur Seite, blendete Mathildes Gesicht, sodass sie ihre Augen zusammenkneifen musste. Vor ihr verblasste der Gehweg, der zunehmend steiler wurde. Sie umklammerte den Griff der Deichsel, beugte sich vor und spannte ihre Arme an, bis die Räder des Handwagens über das Pflaster knirschten.

Vor ihr schallte Gelächter. Doch gegen die Strahlen der Sonne konnte sie nichts ausrichten. Stattdessen drehte sie sich um und sah auf das letzte Wäschepaket, das auf der Ladefläche lag. Ihre Schwester schob von hinten, hielt den Kopf gesenkt, dass Mathilde nur den Scheitel erkannte, der sich wie eine weiße Linie durch das rotblonde Haar zog.

Wieder erschallte eine Lachsalve. Dieses Mal blieb Mathilde stehen, schlug die Deichsel ein und überschattete ihre Augen.

Unter der Kastanie am Pferdemarkt, die sich mit ihren Ästen, wie ein Schirm ausbreitete, hatte sich eine kleine Menschengruppe versammelt.

„Warum bleibst du stehen?“, rief Frieda. Sie hatte sich aufgerichtet und hielt ihre Hände in die Hüften gestemmt.

Verärgert pustete sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Da läuft irgend so ein Spektakel“, murmelte Mathilde.

„Neugierige Gans. Aber für einen kleinen Abstecher haben wir noch etwas Zeit. Hauptsache der Pastor bekommt sein Paket. Also los!“ Frieda stemmte ihre Armen gegen den Wagen.

Sie fuhren weiter, den Lachsalven entgegen, dazwischen Wortfetzen, die immer deutlicher wurden.

In luftiger Sommerbekleidung hörten eine Schar von Männer und Frauen einem Redner zu, der sie zu belustigen schien.

Über die Köpfe hinweg erkannte Mathilde einen Mann, der mit seinen Armen fuchtelte und mit süddeutschem Dialekt sprach, eine Stimme, die sie irgendwann einmal gehört hatte. „Schandvertrag von Versailles … die deutsche Ehre ist besudelt. Deutschland muss seine Feinde vernichten.“ Plötzlich fiel es ihr ein. Im Radio hatte sie ihn gehört. Es war Adolf Hitler. Natürlich. Aber Hitler in Rossberg? Unvorstellbar!

Mathilde kletterte auf die Wagenfläche und blickte über die Köpfe hinweg.

Er trug ein gestutztes Oberlippenbärtchen und bei jeder Bewegung rutschte ihm das streng gescheitelte Haar vor die Augen.

Mathilde stutzte und auf einmal musste sie lachen. Das war doch nicht Hitler. Den hatte sie schon auf Plakaten und in Zeitungen gesehen. Das musste einer von diesen Darstellern sein, die in letzter Zeit in Rossberg auftraten und Witze über die Politik machten.

Der Redner ballte die Hände zu Fäusten, presste sie an die Brust und wenn er sprach, flog etwas Spucke aus dem Mund. „ .. Juden, Kommunisten und Plutokraten sind Geschwüre im deutschen Volk!“ Er riss sich den Oberlippenbart ab und klebte es auf die Kinnspitze.

„Deutschland ist zu klein“, brüllte er.

Mathilde kicherte. Es sah einfach zu komisch aus.

„Komm da runter!“, rief Frieda, „Wir müssen das letzte Paket abgeben.“

Mathilde verstand nicht, warum ihre Schwester es auf einmal so eilig hatte. Doch sie gehorchte. „Du hast doch selber gesagt …“

„Das finde ich gar nicht lustig. Siegfried ist überzeugter Nationalsozialist“, zischte Frieda, „also komm runter!“

Mathilde gehorchte. Sie sprang von der Ladefläche und griff nach der Deichsel. „Was geht mich dein Mann, mit seiner bescheuerten Politik an“, murrte sie. Wütend zog sie mit ihrer Schwester den Wagen vom Markt, bis hinter ihnen das Gelächter verstummte.

Irgendwann erreichten sie die Schatten der Lindenallee, gesäumt von Bürgerhäusern und Villen, in deren Vorgärten Sommerblumen und Sträucher mit ihrer Blütenpracht wetteiferten.

Endlich. Zwischen Wacholderbäumen duckte sich das Schieferdach des Pfarrhauses, ein Backsteingebäude mit schmalen Fenstern und verschlossenen Vorhänge, als wäre es unbewohnt.

Trotzdem griff Mathilde nach dem Wäschepaket. Es quietschte als Frieda das Tor öffnete und mit ihr das Grundstück betrat.

Ein Rosenparadies empfing sie, das in gelber und roter Pracht leuchtete und wie eine Parfümerie roch, die Schmetterlinge, Bienen und allerlei Getier anzog.

An der Giebelseite befand sich der Hauseingang, wo Frieda an einer Schnur zog, bis eine Innenglocke schellte.

Sie warteten und warteten. Doch die Tür blieb verschlossen.

Als Frieda noch einmal klingeln wollte, hob Mathilde die Hand. Sie hatte sich nicht getäuscht. Schritte näherten sich, leise und unauffällig, wie von einem Kind, das niemanden hineinlassen durfte und trotzdem zur Tür ging, weil es die Neugier nicht zähmen konnte.

„Ja bitte?“, flüsterte eine Stimme.

„Wir bringen die Wäsche für den Pastor“, sagte Frieda.

Ein Schlüssel rasselte, das Schloss klackte, ein Riegel schob sich zurück.

Frau Volkert, die Haushälterin, stand in der Tür und hustete. Ein Kopftuch umrahmte ihr Gesicht, das von Blässe überzogen war. Augen mit roten Rändern blickten wie durch einen Schleier. „Pastor Sonneburg hat sich etwas hingelegt, ich glaube, er wird krank.“ Sie griff in ihre Kitteltasche, zog eine Geldbörse heraus, Münzen klimperten. „Der Rest ist für euch.“

Die Haushälterin wollte die Tür schließen, zögerte, als wenn ihr noch etwas eingefallen war. „Bestellt eurem Vater einen Gruß vom Pastor. Er möchte bitte morgen den Gottesdienst übernehmen.“ Lautlos zog sie die Tür zu.

Die Mädchen schlenderten zur Straße zurück. Mathilde fühlte sich vom letzten Wäschepaket befreit, sog den Rosenduft ein und dachte an die Leckerei, die sie sich beim Bäcker kaufen würden. Plötzlich schreckte sie auf, als eine Trillerpfeife die Stille zerriss. Stiefelsohlen hallten auf sie zu. Drei Braunhemden stürmten heran, liefen vorbei, blieben stehen und sahen sich um, als hätten sie sich verlaufen.

Mathilde spürte wie das Herz in ihrer Brust dröhnte, als wolle es sich losreißen. Sie griff nach Friedas Arm.

„Dieses Mal darf er uns nicht entwischen“, rief einer der Männer. Er rang nach Luft, nahm die Mütze ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.

„Herrmann, Jochen, da lang!“ Er zeigte auf die nächste Einmündung. Während die beiden losliefen, drehte sich der SA-Mann zu den Mädchen. „He, ihr Zwei! Habt ihr hier einen Kerl langlaufen sehen? Mittelgroß, kräftig und dunkle Haare.“

„Wenn Sie was von uns wollen, dürfen Sie auch grüßen“, rief Frieda. „Und überhaupt, was wollen Sie von dem?“

Er musterte sie und grinste. „Also, guten Tag die Damen. Wir suchen einen roten Aufwiegler, der sich hier herumtreibt.“

Frieda zuckte die Schultern. „Tut uns leid. Aber wir haben hier niemanden gesehen.“

„Schade.“ Er setzte die Mütze auf und tippte sich gegen den Schirm. „Wirklich schade.“ Dann ließ er sie stehen und lief den anderen hinterher.

„Denen ist doch nichts heilig, so mitten am Tag, Leute zu jagen“, schimpfte Mathilde. „Ich hoffe, dass Siegfried nicht so einer ist.“

Sie zuckte zusammen, als es hinter ihr raschelte.

Einer der Wacholderbäume bog seine Äste auseinander, und junger Mann kletterte aus dem grünen Nadelkleid.

„Tut mir leid, dass ich euch erschreckt habe. Leider konnte ich kein besseres Versteck finden.“

Mathilde wirkte wie erstarrt. Die Beschreibung des SA-Mannes passte auf diesen Mann. Dann stutzte sie. Das war doch der Hitlerdarsteller vom Pferdemarkt, über den sie sich so amüsiert hatte. „Wir…ich“, stotterte sie. Die Röte schoss ihr ins Gesicht.

„Wir haben niemanden gesehen, wenn uns jemand fragt“, sagte Frieda, „Aber jetzt wäre es besser, wenn Sie verschwinden.“

Er bedankte sich, lächelte und eilte davon.

Endlich schien Mathilde ihre Worte wieder gefunden zu haben. „Warum willst du ihn nicht verraten?“, fragte sie.

Frieda lachte. „Du hättest dich mal sehen sollen. Das kann ich dir doch nicht antun.“ Sie griff zur Wagendeichsel.

„Komm, nach Hause. Vater werden wir erst gar nichts erzählen.“

… vier Monate später

Die Städter winkten dem bunt geschmückten Pferdewagen hinterher, auf dem junge Leute saßen und Volkslieder sangen. Zum Erntedankfest hatten sie ihre Feierstimmung durch Rossberg getragen.

Nun lag das Städtchen hinter ihnen. Sie schaukelten über den Feldweg zur großen Dorfwiese, wo an diesem Nachmittag das Fest der Siedler gefeiert wurde.

Mathilde roch die Pferde, hörte die Hufeisen klappern und spürte das Rumpeln der Räder. Neben ihr lachten Mädchen und Jungen, die sich lustige Neuigkeiten aus der Siedlung erzählten.

Als es über ihr krakeelte, sah sie zum Himmel, wo Wildgänse in Keilformation Richtung Süden zogen.

Sehnsüchtig sah Mathilde ihnen hinterher und spürte den Wunsch nach endloser Freiheit, in der es keine Grenzen gab. Dann fiel ihr Günter ein, mit dem sie sich heute treffen wollte.

Nach ihrer ersten Begegnung am Pfarrhaus hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt, als ob es Vorsehung war. Sie trafen sich heimlich, bis ihr Vater dahinterkam.

Als Diakon duldete er es nicht, dass sie sich mit einem Kommunisten einließ. Diese gottlose Brut wolle die Welt auf den Kopf stellen und gehörte in die Hölle. Bibelzitate hagelten auf sie ein, doch für Ohrfeigen war sie schon zu groß. Zum Glück hatte ihre Mutter mehr Verständnis, hielt sich aber zurück, wenn der Vater in der Nähe war.

Mathilde schreckte aus ihren Gedanken, als es hinter ihr klingelte.

Eine Radkolonne aus Rossberg näherte sich dem Pferdegespann und holte sie ein. Ein Klingelkonzert, begleitet von Pfiffen und Jubelrufen zog an ihnen vorbei.

„Eure Gäule schlafen bald ein“, rief der Bursche am Ende.

Er winkte ihnen zu und trat kräftig in die Pedalen, um Anschluss zu halten.

Musikfetzen, zerrissen von Windböen, wehten ihnen entgegen, eine Polka, zu der sie den Takt auf den Bretterboden stampften.

„Wir sind gleich da!“ Frieda zeigte auf den Erntekranz.

„Sieh mal!“

Ein Ährenring schaukelte auf einem meterhohen Pfahl, der die Festwiese überragte, wie der Mast eines Großseglers, geschmückt mit roten, gelben und grünen Bändern, die im Wind wirbelten.

Der Kutscher riss an den Zügeln. „Brrrr …“

Endlich blieben die Pferde stehen, schnaubten und schüttelten ihre Mähnen, als hätten sie diesen Moment herbeigesehnt.

Menschen irrten durch den Trubel, Stimmengewirr zwischen Verkaufsständen, auf denen sich Kürbisse, Äpfel und Birnen türmten.

Mathilde kletterte mit Frieda vom Wagen und drängte sich in die Masse. Sie liefen an Bauern, Landarbeitern und Städtern vorbei, die an grob gezimmerten Tischen saßen, mit Gläsern klirrten, lachten, redeten, aßen und sich zu prosteten.

Qualm nebelte aus den Türritzen eines Lehmofens, und der Geruch von Broten kroch ihr in die Nase. Ofenbraun, mit gebrochener Kruste, reihten sie sich auf der Auslage, darüber Brezeln, auf eine Schnur gefädelt, mit süßlichem Geruch, der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Mathilde suchte nach dem Geldstück, ging an den Stand und zeigte auf die Schnur. Die Kruste platzte, als sie das Gebäck auseinanderbrach.

Ihre Schwester griff nach einer Hälfte, biss hinein und genüsslich verschloss sie ihre Augen.

Die Musik brach ab. „Liebe Besucher und Gäste aus Fern und Nah!“, schallte eine Männerstimme durch die Menge.

Mathilde reckte sich. Umjubelt von den Zuhörern, erkannte sie einen Mann, der auf einem Fass stand und winkte. „Heute ist der Tag, an dem wir uns bei den vielen Erntehelfern bedanken möchten“, begann er seine Rede.

„Gemeinsam wollen wir heute feiern und …“

Seine weiteren Worte rauschten an Mathilde vorbei. In Gedanken war sie schon wieder bei Günter, den sie nirgends entdecken konnte.

Erst am Ende der Ansprache hörte sie wieder dem Redner zu. Er eröffnete eine Tombola, wobei er Lose für wenig Geld anbot. Der Hauptgewinn war ein Kalb. Angepflockt stand es neben einem Pfahl und wartete auf seinen neuen Besitzer.

„Siegfried!“, rief Frieda.

Erst jetzt erkannte Mathilde ihren Schwager in seiner SA-Uniform, der nur wenige Meter vor ihnen stand und sie begrüßte.

„Wolltest du nicht zu einem Einsatz?“, fragte ihn Frieda.

Sie verzog das Gesicht. „Meine Eltern kommen vielleicht auch hierher und dann dieser Aufzug. Muss das sein?“

„Geht nicht anders“, fuhr ihr Siegfried dazwischen. „Ich warte hier auf ein paar Kameraden, und dann hauen wir ab.“ Er wandte sich zu Mathilde. „Was man von dir so hört … “ Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube, wir müssen mehr auf dich aufpassen.“

„Das kann ich schon ganz alleine“, sagte sie. Die Anwesenheit ihres Schwagers bereitete ihr ein mulmiges Gefühl im Bauch. „Ich lass euch mal alleine, vielleicht sehen wir uns noch.“

Mathilde suchte die Menschenmenge ab. Es war doch keine gute Idee, sich hier und heute mit Günther zu treffen. So schnell wie möglich, musste sie ihn ausfindig machen. Hastig sah sie sich um, entdeckte eine Leiter, die an einer Weide lehnte.

Von oben hielt sie Ausschau. Während die Festwiese mit Menschen überfüllt war, dehnte sich ein Stoppelfeld auf der anderen Seite aus, auf dem ein paar Kinder ihre Drachen in den Himmel steigen ließen.

Auf dem Feldweg kam eine Gruppe Erwachsener in ihre Richtung, die aussahen, als kämen sie gerade aus der Kirche. Noch waren sie weit entfernt. Mathilde erschrak, als sie das schwarze Gewand ihres Vaters erkannte.

„Seit wann klettern junge Damen auf Bäume?“, rief jemand. Unter der Weide stand ein junger Mann, hielt sein Fahrrad, blickte nach oben und lachte sie an.

Günter, schoss es ihr durch den Kopf. In Knickerbockern und Schiebermütze hätte sie ihn fast nicht erkannt. Doch das Abzeichen auf dem Kragen ließ trotz der Entfernung keine Zweifel aufkommen. Es war der rote Stern, mit dem Hammer und der Sichel.

Teil 1

1. Kapitel

Zu Hause (Frühsommer 1938)

Die Sonne strahlte über Rossberg, als wolle sie hier für einige Stunden verweilen, um den Frauen zuzusehen, die weit vor den Stadtmauern ihre Wäsche reinigten. Sie standen am Bachufer, spülten ihre Wäsche, wrangen sie aus und mühten sich, diese über gespannte Leinen zu hängen. Klatschnass und schwer tropfte es herunter.

Einige Meter entfernt stieß der Maiwind in trockene Laken, blies sie wie Segel auf, wobei ein intensiver Seifengeruch verströmte.

Gleich an der Holzbrücke saß Inge neben ihrer Großmutter auf einer Decke und spielte an ihren blonden Zöpfchen.

„Sieh mal“, rief sie und streckte den Arm aus. Eine Meise hatte sich auf dem Wäschepfahl niedergelassen und zwitscherte ununterbrochen ihr Lied. Sehnsüchtig hörte Inge zu. Wie gerne hätte sie einmal mit dem Vogel getauscht, wäre überall hingeflogen, hoch bis zum Himmel, über die Wolken und hätte auf die Erde hinuntergesehen, auf all die vielen Häuser und Menschen.

„Tscht.“ Mit einer Handbewegung verscheuchte ihre Großmutter den kleinen Gesellen. „Hast du gesehen? Beinahe hätte der noch auf die Wäsche gekeckert.“

„Schade, er war doch so lustig“, murmelte Inge.

Eine Haarsträhne tänzelte vor dem Gesicht ihrer Großmutter, die ihre Enkelin mit leuchtenden Augen ansah und dabei lächelte, sodass die vielen kleinen Fältchen in ihrem Gesicht verblassten. Sie schlang ihren Arm um Inge, wie ein Schal, der sich um den kleinen Körper schmiegte. „Komm! Die Wäsche ist trocken.“

Bettlaken und Bezüge, Hosen, Kleider und Strümpfe wurden abgenommen, sortiert und zusammengelegt. Auf jedem Päckchen wurde ein Zettel angeklammert auf dem Namen standen.

Inge formte den Mund. Das A konnte sie schon lesen und das O.

„Was steht da Oma?“, fragte sie und zeigte auf einen der Zettel.

Ihre Großmutter nahm die Klammer aus dem Mund. „Das heißt Anton. Wenn du im Herbst zur Schule kommst, kannst du es bald alleine lesen.“

Inge freute sich. Schule. Endlich Schule. Dann würde sie kein kleines Mädchen mehr sein. Dann würde sie lesen und schreiben lernen, so wie es die Erwachsenen konnten.

Vielleicht würde sie irgendwann eines der dicken Bücher lesen können, die zu Hause im Regal standen und ihrem Vati gehörten. Inge schluckte. Vati.

„Was ist mit dir?“, fragte ihre Großmutter „Der Fritz hat gesagt, dass Vati etwas Schlimmes getan hat und darum im Gefängnis sitzt.“

Mit Schwung legte die Großmutter das letzte Wäschepaket in den Handwagen. „Ach der Fritz ist doch ein Quatschkopf, der will dich nur ärgern.“ Sie streichelte ihr über den Kopf.

Inge nickte. Der Fritz war wirklich nur ein Quatschkopf.

„Weißt du, dass ich auch schon einmal eingesperrt wurde?“

„Du?“, ungläubig sah Inge ihre Großmutter an. Das konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen. „Aber Oma …“

„Es war der gleiche Wäscheplatz damals.“ Ihre Großmutter zeigte auf die andere Bachseite. „Ich war so jung wie Mutti und früher haben wir die Wäsche zum Trocknen auf der Wiese ausgebreitet.“ „Aber dafür wird man doch nicht eingesperrt“, wunderte sich Inge.

Ihre Großmutter lachte. „Dafür nicht. Eine andere Waschfrau hat sich mit mir um den Trockenplatz gestritten, obwohl ich zuerst da war.“

„Wie schlimm habt ihr euch gestritten?“

„Wir haben uns an den Haaren gezogen, wie Mädchen das manchmal tun. Dann sind wir hingefallen und haben uns wie Bengels gekloppt.“

Inge staunte. Das konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen. „Habt ihr euch denn wieder vertragen?“

„Ach was.“ Ihre Großmutter winkte ab. „Die anderen Frauen kamen dazu und haben uns angefeuert. Dann waren irgendwann die Gendarmen da, haben mich einfach mitgenommen und eine Nacht lang im Spindhaus eingesperrt.“

„Das ist ja gemein“, rief Inge. „Dürfen die das so einfach?“

„Mit uns dürfen die das“, murmelte die Großmutter.

Plötzlich leuchteten ihre Augen auf. „Weißt du, was ich gemacht habe?“ Sie strich über die Decke, die sie über die Wäschepakete gelegt hatte.

Gebannt sah Inge ihre Großmutter an. „Was denn?“

„Als sie mich entlassen wollten, habe ich mir diese Decke um den Bauch gewickelt und mitgenommen.“

„Aber so etwas darf man doch nicht, Oma. “ Ihre Großmutter lachte. „Na und? Dürfen die mich so einfach einsperren?“ Sie griff zur Deichsel und zog, bis der Wäschewagen über den sandigen Weg rollte, der über Felder, direkt nach Rossberg führte.

Butterblumen blühten am Rand in strahlendem Gelb, neben Sträuchern und Bäumen, die sich mit sattem Blattgrün bedeckten. Lila blühte der Flieder mit seinem lockenden Geruch, dem Schmetterlinge entgegen torkelten und sich auf den traubenförmigen Blütenständen niederließen. Die Luft war von Vogelgezwitscher erfüllt, als würde heute ein Wettkampf der Melodien stattfinden.

Hinter der Anhöhe blieb ihre Großmutter stehen. „Ist das nicht schön?“

Inge schaute über eine weiße Blütenpracht, die das ganze Feld bedeckte. Frauen knieten in Abständen neben Körben und schnitten Blumen ab.

Sie bückte sich, pflückte einen Stiel und betrachtete die winzigen Schellen. „Was sind das für Blumen, Oma?“, fragte sie.

„Das sind Maiglöckchen.“

Inge sah die vielen Körbe, die am Feldrand standen, angefüllt mit diesen lustigen Blumen. „So viele, Oma“, staunte sie. „Wer will die denn alle haben?“ Ihre Großmutter lachte und streichelte ihr über den Kopf.

„Keiner, Kind. Aus denen wird Parfüm gemacht.“

„Parfüm?“ Inge dachte an das kleine Fläschchen, das ihre Mutti manchmal in der Schublade unter dem Spiegel versteckte. Aber heimlich hatte sie schon daran geschnuppert. Das roch toll.

„Oma, wie wird denn daraus Parfüm gemacht?“

„Aber Kind, das wird doch nicht hier gemacht. Die Blumen werden auf Schiffen nach Amerika gebracht und da werden sie in einer Fabrik verarbeitet.“

„Amerika?“ Inge riss die Augen auf. „So weit weg?“

„Ja Kind.“ Ihre Großmutter lachte. „So weit.“

Inge dachte an Amerika, jenes Land, das hinter einem großen Ozean lag, wo die Häuser in den Himmel wuchsen.

Rossberg lag vor ihnen. Die Mauer schlängelte sich vor dem Städtchen, wie ein Steingürtel, aus dem Türme emporwuchsen, die wie Wächter nach allen Seiten schauten. Dahinter Ziegeldächer von Häuserreihen, die nahtlos ineinander übergingen, zwischen denen die Baumkronen der Linden grünten. In mattem Türkis leuchtete das Blechdach der Jacobikirche, deren Spitze, wie ein Riesendorn, die Stadt überragte.

Mit dem Wäschewagen rumpelten sie über das Kopfsteinpflaster der Langen Straße. Manchmal klapperten Pferdefuhrwerke an ihnen vorbei; manchmal knatterten Autos in beide Richtungen und hinterließen stinkende Auspuffgase.

Am Marktplatz waren heute einige Stände aufgebaut, wo die Händler Milch, Eier, Käse und sogar Fische aus der Oder anboten.

Doch sie hatten wenig Zeit und blieben nicht einmal stehen.

Erst später hielten sie vor einer Haustür, hinter der ihre Großmutter mit einem der Wäschepakete verschwand.

Inge wartete. Gegenüber sah sie das Schaufernster von „Kaisers neueste Moden“, hinter denen sich Puppen in eleganten Kleidern zur Schau stellten. Ihre Mutti trug auch so ein Kleid, so eins mit buntem Blumenmuster, das sie aber nur im Sommer und zu Festtagen anzog. Dazu setzte sie einen hellen Hut mit Krempe auf.

Vor dem Lebensmittelgeschäft „Max Relling“ wusch jemand die Zacken eines weißen Sterns von der Scheibe.

Ein Wort, in großen Buchstaben, stand darunter, was sie noch nicht lesen konnte.

Endlich kam ihre Großmutter aus der Haustür.

Inge zeigte auf die andere Straßenseite. „Oma was steht da?“

„Da steht ‚Jude‘. Komm Kind!“

Inge wusste, dass die Nazis keine Juden mochten und sie schlecht behandelten. Sie fand das gemein. Die Juden haben uns nichts getan, hatte ihre Mutter einmal gesagt.

Manchmal ging sie zu ihnen in den Laden und ließ den Einkauf anschreiben, wenn das Geld zu knapp war.

Ein paar Straßen weiter blieben sie wieder stehen. Hier wohnte Tante Frieda. Inge hatte ihre Tante schon lange nicht mehr gesehen.

Ihre Oma griff wieder ein Wäschepaket, öffnete die Haustür und hielt sie auf. Inge zögerte. Mutti hatte sich mit Tante Frieda gestritten und seitdem nicht mehr besucht. Es war irgendetwas mit Vati und Onkel Siegfried.

„Was ist?“, fragte ihre Großmutter. „Deine Tante hat heute Geburtstag und möchte dich auch mal wiedersehen.“

„Oma? Warum hat Tante Frieda keine Kinder?“

Erstaunt sah ihre Großmutter sie an. „Weil …weil nicht alle Frauen Kinder bekommen können. Das verstehst du noch nicht. Komm Kind!“ Inge folgte ihr bis zur Wohnungstür, wo sie stehen blieben und klingelten. Inge stutzte, als ihre Tante öffnete.

Sie trug Lockenwickler und stand im Bademantel vor ihnen. Irgendwie sah sie ihrer Mutti überhaupt nicht ähnlich, obwohl sie beide Schwestern waren. Sie war viel dünner, hatte rötliche Haare und grüne Augen.

„Ist toll, dass ihr mich besucht. Meine Gäste kommen erst später“, empfing ihre Tante sie. „Kommt rein!“ Sie streichelte Inge über den Kopf. „Geh mal kurz in die Stube. Ich muss mit Oma was besprechen.“

Der Geruch von gebackenem Kuchen lag in der Wohnung.

Während ihre Tante mit der Großmutter in der Küche verschwand, schlich Inge über den Flur mit der Blumentapete und sah in den Spiegel, der über der Kommode hing. Überall roch es nach Bohnerwachs und Politur.

In der Stube setzte sie sich auf das helle Sofa mit den gebogenen Holzbeinen. Auf dem runden Tisch steckte ein bunter Blumenstrauß in einer gläsernen Vase. Daneben ein Bild von Onkel Siegfried. Er trug eine schwarze Uniform mit Schirmmütze und eine Hakenkreuzbinde am Arm.

Onkel Siegfried ist ein Nazi, hatte ihre Mutter einmal gesagt. Die Nazis hätten viele Menschen eingesperrt. Auch ihren Vater.

Aber Inge konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Onkel schlecht zu den Juden oder zu ihrem Vati war. Sie dachte noch an das letzte Jahr, als sie mit Tante Frieda und Onkel Siegfried über den Rummel spaziert waren. Er hatte ihr einen ganzen Strauß Papierblumen geschossen und eine Tafel Schokolade geschenkt.

„Inge! Kannst kommen!“, rief ihre Tante aus der Küche.

Das Kuchenstück protzte mit Streuseln. Daneben ein Glas mit Limonade, in dem feine Bläschen aufstiegen und an der Oberfläche zerplatzten.

Inge bedankte sich. Wann hatte sie schon mal so ein großes Stück Kuchen bekommen? Sie wusste es nicht.

Genussvoll biss sie ab und kaute.

Zum Abschied streichelte Tante Frieda ihr wieder über den Kopf. „Du kommst bald zur Schule. Besuchst du mich dann wieder einmal?“

Inge nickte und gab ihr die Hand.

In der Rothseestraße kamen sie an Inges zukünftiger Schule vorbei, mit einer Treppe, die zu einer riesigen Eingangstür führte. Sie öffnete sich.

Ein älterer Mann kam heraus, stieg mit einem Stock die Stufen hinunter, nickte ihnen zu, und entfernte sich in die andere Richtung.

„Inge, das ist Herr Sägemeier“, flüsterte ihre Großmutter.

„Vielleicht wird er einmal dein Lehrer werden.“

Sie war enttäuscht. Dieser alte Mann sollte ihr Lehrer werden? Das könnte ja ihr Großvater sein.

„Sägemeier legt die Eier, in den Sand, mit Verstand“, schallte es hinter ihnen.

Hatte sie sich verhört? Sie drehte sich um. Ein paar Jungen liefen dem alten Lehrer hinterher. „Sägemeier legt die Eier – in den Sand …“

Doch den alten Mann schien das nicht zu beeindrucken. Er ging einfach weiter, als hätte er keine Ohren.

„Sägemeier legt die Eier …“

Plötzlich drehte sich der Lehrer um und fuchtelte mit dem Stock.

Erschrocken blieben die Jungen stehen, als hätte sie der alte Mann zu Stein verwandelt. Dann ergriffen sie die Flucht.

„So freche Lümmel“, flüsterte die Großmutter. „Wenn die von dieser Schule sind, gibt es noch eine Abreibung.“

„Was für eine Abreibung, Oma?“

„Da gibt es was mit dem Rohrstock, Kind“, flüsterte ihre Großmutter. Falten überzogen ihr Gesicht, das sich gleich wieder glättete, als sie lächelte. „Aber nur bei den frechen Buben.“ Sie zeigte auf den leeren Wäschewagen. „Steig ein! Ich zieh dich.“

Die Mauer des Städtchens lag hinter ihnen. Der Handwagen holperte über das Kopfsteinpflaster und schüttelte Inge durch. Die Abstände der Häuser wurden immer länger und wie gelbe Teppiche breiteten sich die Felder vor ihnen aus, bis die ersten Siedlerkaten in Sicht kamen. Bald würden sie zu Hause sein.

„Grüß Gott, Pastor Sonneburg“, rief die Großmutter.

Inge erkannte den Mann mit dem dicken Bauch, der immer diesen schwarzen Hut aufhatte.

„Grüß Gott, Frau Dornfeld“, grüßte der Pastor. „Ich komme gerade vom Konrad. Der war leider nicht zu Hause.“

„Der ist wegen einer Kindstaufe nach Reppen gefahren“, rief ihre Großmutter. „Kann ich was ausrichten?“

Der Pastor überlegte. „Ja morgen. Da soll er in die Kirche kommen und weissagen.“ Zum Abschied wollte er den Hut heben, besann sich aber, als er Inge erblickte. „Du bist also die Enkelin vom Konrad. Freust du dich auf die Schule?“

Inge nickte.

„Na, dann sei brav und lerne fleißig. Dein Großvater kann dir dabei helfen.“

Ein leichter Schauer lief Inge über den Rücken. Großvater Konrad?

Der war sehr streng, schimpfte viel mit Oma und drohte ständig mit dem lieben Gott. Stumm nahm sie zum Abschied die Hand des Pastors entgegen.

Vor ihnen breitete sich die „Wildrose“ aus, eine Siedlung, in der sich die Katen mit ihren niedrigen Dächern und Holzzäunen an den Straßenrand reihten. Dazwischen Gärten, mit sprießendem Grün und üppiger Blütenpracht. Überall summte es.

Unzählige Moosinseln verteilten sich auf dem Strohdach einer Kate, zwischen deren Fachwerken sich kleine Fenster quetschten. Hier wohnten ihre Großeltern.

Ihre Großmutter öffnete das Holztor und ließ den Handwagen stehen. „Bin gleich wieder da“, rief sie und verschwand im Eingang.

Inge kletterte aus dem Wäschewagen, schlich zum Apfelbaum und sah einer Biene bei der Arbeit zu. Emsig krabbelte das Insekt auf einer Blüte umher, als schien sie irgendetwas zu suchen. Inge konnte sich nicht vorstellen, wie diese kleinen Tierchen ganze Gläser voll Honig füllen konnten.

Plötzlich erschrak sie. Etwas Weiches, schmiegte sich an ihre Beine.

Es war der graue Kater der Nachbarn, der sein Fell an ihr rieb und schnurrte, bis Inge ihn endlich streichelte.

Ihre Großmutter kam mit einem Weidenkorb heraus. „Großvater ist noch nicht da“, seufzte sie. „Wahrscheinlich wird noch gefeiert und er kommt erst abends zurück.“

Sie verließen die „Wildrose“, gingen die Siedlerstraße entlang, bis zum Waldrand, da wo der „Diestelgrund“ begann, da wo Inges Zuhause war.

Aus dicken Brettern gezimmert, reihte sich ein Blockhaus neben dem anderen. In jedem wohnten mehrere Familien.

An einer Wasserpumpe bewegte eine Frau den Schwengel, bis Wasser in den Eimer schoss.

Jetzt erkannte Inge ihre Mutter, deren dunkles Haar bis auf die Schultern fiel; daneben Rolf, ihr zweijähriger Bruder, der mit anderen Kindern spielte. Der Bauch ihrer Mutter wölbte sich unter der Schürze. Ihr werdet bald ein neues Geschwisterchen bekommen, hatte sie einmal gesagt.

Inge freute sich. Vielleicht würde es dieses Mal eine Schwester werden.

„Ich habe schon auf euch gewartet“, rief ihre Mutter. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Doch gleich blickte sie wieder traurig, so wie sie es meistens tat. Sie war nicht so wie ihre Oma, die viel öfter lachte, die sie auch mal in die Arme nahm und streichelte, etwas, was Inge oft vermisste.

Im Blockhaus bewohnten sie einen Raum, mit hell gestrichenen Wänden. Er war Küche, Schlafzimmer, Wohnstube und Kinderzimmer zu gleich. In der Mitte ein Tisch mit vier Stühlen; darüber hing die Petroleumlaterne an der Kette. Neben dem Fenster, Fotos von der Familie und von Leuten, die Inge nicht kannte; dazwischen, das Hochzeitsbild ihrer Eltern. Ihre Mutter trug ein helles Kleid und einem Blumenstrauß. Ihr Vater daneben, im dunklen Anzug mit Schlips.

An der Wand, das Bett der Eltern, dahinter das Bett, das sie sich mit Rolf teilte. Gegenüber Regale mit Büchern vollgestopft, die alle ihrem Vater gehörten. Er wusste viel, konnte auf jede ihrer Fragen eine Antwort geben. Ihre Mutti meinte immer, sie wäre noch zu klein und müsse nicht alles wissen.

Jetzt stand ihre Mutter vor dem Fenster, sah nach draußen, als ob sie auf jemanden warten würde, schwieg und rührte sich nicht von der Stelle.

„Er kommt raus“, flüsterte sie, ohne sich umzudrehen. Dann zog sie ein graues Briefkuvert aus der Schürzentasche und hielt es hoch.

Inges Großmutter hatte den Korb gerade auf den Tisch gestellt, verharrte, als sie den Brief sah. „Wann?“

Doch ihre Mutter schwieg, zog ein Tuch aus der Kitteltasche und hielt es sich vor den Mund.

Besuch vom Vater (Sommer 1938)

Obwohl der Sommer zu Ende ging, war dieser Tag so warm und drückend, dass Inge nicht so recht aus der Stube wollte. Sie kniete auf dem Stuhl und sah aus dem Fenster, wo das Blätterdach der Buche reichlich Schatten spendete. Nur die Kiesgrube lag außerhalb und brütete wie ein Backofen.

Sie war ganz alleine. Ihre Mutti war in der „Wildrose“ und half Oma bei der Wäsche. Ihr Vater war mit dem Fahrrad nach Rossberg gefahren. Dort wollte er einen Koffer besorgen und gleich wiederkommen. Heute Abend musste er für längere Zeit fort.

Inge horchte auf. In der Ferne grummelte ein Unwetter, das mit einer Wolkenwand vor die Sonne zog, den Tag verfinsterte und langsam näherkam.

Endlich. Auf der Siedlerstraße entdeckte sie ihren Vater, der in die Pedalen trat, als ob er der anrückenden Gewitterfront entfliehen wollte. Vor dem Lenker war ein riesiger Koffer auf dem Gepäckträger angeseilt. Mit hoch gekrempelten Hemdsärmeln und zerzaustem Haar setzte er zum Endspurt an. Er winkte, als er sie am Fenster entdeckte.

Im Zimmer ließ er den Koffer mit einem Schwung auf dem Bett landen und wollte die Schlösser aufschnappen lassen. Plötzlich verharrte er und drehte sich zu Inge. „Ich habe dir etwas mitgebracht“, flüsterte er geheimnisvoll und ging hinaus. Als er zurückkam, hielt er einen blauen Holzreifen in den Händen.

„Ist der für mich?“, fragte sie.

Ihr Vater nickte. „Probiere ihn doch gleich einmal aus!“

Inge legte den Reifen um die Taille. Im Zirkus hatte sie einmal ein Mädchen gesehen, die konnte ganz tolle Sachen damit machen. Inge holte Schwung. Doch nach zwei Umdrehungen, fiel der Reifen zu Boden, tänzelte auf der Stelle, bis er still liegenblieb. Enttäuscht sah sie nach unten.

„Wird schon werden“, tröstete ihr Vater sie. „Du musst weiter üben … immer weiter üben, solange, bis du es schaffst. Vielleicht wird mal eine Turnerin aus dir.“ Er stand auf, ging zum Kleiderschrank, griff nach Schuhen und Wäsche, die er in seinem Koffer verstaute.

Traurig schaute Inge ihm zu. Bald würde sie mit ihrer Mutti und Rolf wieder alleine sein und warten, bis er irgendwann wiederkam. Sie schluckte. „Vati? Wie lange bleibst du weg?“

Er ging zu ihr, nahm sie auf den Arm. „Das kann ich noch nicht sagen. Aber vielleicht komme ich bald wieder“, tröstete er sie.

Sie roch die Rasierseife und den Zigarettenrauch, der immer an ihm haftete, ein Geruch, den sie bald vermissen würde.

Ihr Vater ging zum Regal und blieb stehen. Seine Blicke wanderten die Buchrücken entlang, hielt inne und zog drei Bände heraus, die er in seiner Hand wog. Schließlich pustete er den Staub von den Oberkanten.

„Das sind Abenteuerbände aus meiner Jugendzeit“, murmelte er. „Aber eigentlich ist das noch nichts für dich.“

„Was sind das für Bücher?“, wollte Inge wissen.

Er ließ sie hinunter und blätterte. „Old Shatterhand und Winnetou, ein Weißer und ein Indianer. Das waren zwei Blutsbrüder, die in Amerika gelebt haben.“

„Ist Rolf auch mein Blutsbruder?“, fragte Inge.

Ihr Vater lachte. „Nein, Rolf ist dein richtiger Bruder und du bist seine richtige Schwester.“ Er blätterte und zeigte ihr das Bild, auf dem die Buchhelden nebeneinanderstanden. „Blutsbrüder leisten einen Schwur, dass sie immer zusammenhalten, so wie richtige Geschwister, so wie du und Rolf immer zusammenhalten müsst.“

Inge tippte auf das Bild. „Wozu brauchen die Gewehre?“

Ihr Vater klappte das Buch zu. „Damit kämpfen sie gegen die Bösewichte.“

Das verstand Inge. In der Siedlung gab es auch einen Bösewicht. Der hieß Karl und ging schon zur Schule. Alle Kinder hatte Angst vor ihm. Er haute manchmal die Kleineren oder nahm ihnen einfach Spielsachen weg. Vor einem Gewehr hätte der bestimmt auch Angst.

„Vielleicht liest du sie mal, wenn du größer bist.“ Er stellte die drei Bände wieder in das Regal zurück und legte andere Bücher in den Koffer.

Ihr Vater ging ans Fenster und sah zum Himmel. Die Sonne hielt sich noch hinter der Wolkenfront versteckt, aber das Grummeln hatte nachgelassen.

Er zog seine Uhr aus der Hosentasche. „Ich werde jetzt zu Oma fahren und Mutti mitbringen.“

Dann stellte er die Blechkanne auf den Tisch. „Du kannst inzwischen Wasser holen. Wir kochen nachher Tee.“

Inge schlenkerte mit der Kanne die Blockhäuser entlang, lief den sandigen Waldweg weiter, wobei braune Fichtennadeln in ihre Füße piekten, obwohl sie Holzpantinen trug.

Sie sah zur Wasserpumpe. Karl, Verdammt! Der schien sich zu langweilen, saß dort und klopfte mit einem Stock in den Sand, als ob er nach irgendeinem Getier schlug.

Inges Schritte wurden langsamer, als hätte sie Blei an den Füßen.

Karl stand auf und starrte sie an.

Ihr Herz klopfte. Vorsichtig ging sie an ihm vorbei und wollte den Schwengel greifen.

Er versperrte ihr den Weg. „Was willst du hier?“ Mit dem Stock tippte er ihr gegen die Brust.

„Na Wasser holen, was sonst?“ Sie hielt ihm die Kanne vor die Nase und schob seinen Stock zur Seite. Doch Karl ließ sie nicht vorbei, schubste sie weg, sodass sie beinahe gestolpert wäre. „Du darfst hier kein Wasser holen. Nur wenn du mir einen Groschen gibst.“ Er hielt seine Hand auf.

Angst und Wut kämpften in ihr. Aber gegen Karl hatte sie keine Chance. „Ich habe kein Geld und wir brauchen das Wasser“, protestierte sie. Mit Mühe unterdrückte sie ihre Tränen.

„Verschwinde!“, schrie Karl. Er drohte mit dem Stock.

Verzweifelt drehte sich Inge um und lief nach Hause. Unterwegs weinte sie, wobei sie immer wieder ihre Tränen mit der Hand wegwischte. Was sollte sie tun? Karl war nicht nur gemein, er war auch größer und älter als sie.

Zu Hause ließ sie sich auf das Bett fallen und weinte weiter. Sollte sie ihm wirklich den Groschen geben? Oma hatte ihr einen geschenkt, von dem sie Bonbons in Rossberg kaufen wollte.

Inge horchte auf und sprang vom Bett, als sie ihre Eltern kommen hörte.

Ihre Mutti kam herein, ging in die Küchenecke und stellte einen Eimer voller Äpfel ab. Verwundert sah sie Inge an. „Wie siehst du denn aus? Ist etwas passiert?“

Doch Inge schüttelte den Kopf, drehte sich weg, sodass die Mutter ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte.

Erst jetzt kam ihr Vater mit Rolf herein. „Du musst mich nicht zum Bahnhof begleiten, Mathilde“, sagte er. „Das wird zu viel für dich.“

„Das geht noch.“ Ihre Mutti strich sich über ihren Bauch und setzte sich. „Inge ist schon groß und außerdem sage ich der Nachbarin Bescheid.“ Dann stand sie auf und griff nach der Blechkanne. „Ich geh uns Wasser holen.“

„Die Kanne ist leer?“, fragte ihr Vater. Verdutzt sah er Inge an. „Warum hast du kein Wasser geholt? Ich habe es dir doch gesagt.“

„Weil …weil“, stotterte Inge und schluckte. Sie spürte die Schamröte in ihrem Gesicht und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.

„Weil was?“, fragte ihr Vater.

„Weil der Karl mich nicht gelassen hat. Ich hatte keinen Groschen. Der hat mich einfach weggeschubst.“

„Der Karl?“, ihr Vater lachte. „Und von dem lässt du dir so etwas gefallen?“

„Der ist ein Junge und geht schon zur Schule“, protestierte Inge und wischte sich die Tränen ab.

„Seit wann bestimmt Karl, wer Wasser bekommt und wer nicht und noch dazu für Geld“, schimpfte ihr Vater. Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet, die seine Brauen zusammenzogen.

„Lass doch, Günter. Du kannst nicht verlangen, dass sich Inge mit diesem Bengel anlegt“, versuchte sich ihre Mutti einzumischen. „Sie ist ein Mädchen. Ich hole jetzt das Wasser.“

„Auf gar keinen Fall.“ Er nahm ihr die Kanne aus der Hand und hielt sie Inge hin. „Du gehst jetzt zur Pumpe und holst Wasser!“ Seine Augen funkelten sie an. „Komm nicht ohne Wasser zurück!“

Widerwillig und voll Scham griff Inge nach der Kanne und ging.

Auf dem Weg kämpften Angst und Wut in ihrer Brust und sie versuchte sich zu trösten. Vielleicht war Karl gar nicht mehr da, war längst weg oder stänkerte mit anderen Kindern umher.

Aber da sah sie ihn. Als wenn er auf sie gewartet hätte, stand er an der Pumpe und öffnete seine Hand, als wenn er das Geldstück gleich erhalten würde.

Inges Herz hämmerte. Die Worte des Vaters lagen noch in ihren Ohren.

,Komm nicht ohne Wasser zurück!’

Sie nahm all ihren Mut zusammen, ihre Schritte wurden schneller, ihre Wut stieg. Dieses Mal würde sie das Wasser holen.

Karl entwich das Grinsen, als sie vor ihm stand, die Kanne fallen ließ und auf ihn losging. Sie trommelte mit ihren Fäusten auf ihn ein, als wäre er ein böser Geist, den sie verjagen wollte.

Völlig überrascht machte er ein Gesicht, als hätte ihn selbst ein Gespenst überfallen. Entsetzt drehte er sich um und lief davon.

Inge war über sich selbst erschrocken. Noch immer wummerte ihr Herz, wie bei einem Hasen, der gerade dem Jäger entkommen war und wieder in seinem sichereren Versteck hockte.

Endlich stellte sie die Kanne unter die Pumpe und griff zum Schwengel.

Es war schon dunkel, als sich Inge neben Rolf im Bett wälzte und nicht einschlafen konnte. Ihre Mutti war mit dem Vater zum Bahnhof unterwegs. Fragen quälten sie. Warum war ihr Vati kaum da? Allmählich verlor sie den Kampf gegen ihre müden Augenlider, die sich wie Bleivorhänge senkten.

Grelles Licht ließ Inge aufschrecken. Durchgeschwitzt und verstört setzte sie sich aufrecht ins Bett und horchte angespannt in die Nacht hinein. Draußen donnerte es, Blitze zuckten und erhellten das Zimmer. Neben ihr lag Rolf und stöhnte im Schlaf. Sie erschrak. Das Bett von Mutti war immer noch leer. Das Licht der Außenlaterne schimmerte durch das Fensterglas und warf einen matten Schein in das Zimmer. Der große und der kleine Zeiger der Wanduhr waren fast oben.

Inge wurde unruhig. Mutti wollte doch gleich wiederkommen. War etwas passiert? Sollte sie zur Nachbarin gehen? Nein, sie war doch schon groß.

Wieder blitzte und donnerte es, dass der Schreck sie erstarren ließ. Der Wind ließ die Bäume rauschen, die mit den Ästen gegen das Dach schlugen. Wie riesige Fangarme huschten ihre Schatten durch das Zimmer, als wenn sie nach ihr greifen wollten. Das Dach knarrte, als wenn dort jemand entlanglaufen würde.

Inge zog sich die Bettdecke über den Kopf, als könnte sie dadurch unsichtbar werden. Ihr Herz pochte. Vorsichtig lugte sie hervor. Doch die Schatten peitschten gierig über die Dielen.

Jetzt schreckte auch Rolf hoch und fing gleich an zu heulen. „Mutti! … Mutti!“, jammerte er und klammerte sich an Inge.

Sie wusste nicht, was sie machen sollte und versuchte ihren Bruder zu trösten. „Mutti kommt bestimmt gleich“, schluchzte sie.

Plötzlich klopfte es an die Tür. „Kinder, ist Eure Mutter schon da?“

Es war die Stimme der Nachbarin.

Inge stand auf, ging zur Tür und schob den Riegel zurück. Mit einer Petroleumlampe und im Nachthemd stand Frau Warnike vor ihr. „Ihr braucht keine Angst zu haben“, tröstete sie die Kinder. „Das Gewitter zieht bald wieder ab.“

Da quietschte die Haustür, und ein Windstoß blähte das Nachthemd der Nachbarin zu einer Glocke auf, die erleichtert, die späten Ankömmlinge begrüßte.

Eine riesige Last fiel Inge vom Herz. Ihre Mutti war endlich zurück, und ihre Großmutter war mit dabei.

Rolf krabbelte aus dem Bett. „Mutti, Oma“, rief er und zeigte auf die Fangarme, die über die Dielen huschten.

Ihre Großmutter lachte. Sie ging zum Herd und zündete die Laterne an. „Passt auf, Oma scheucht sie alle weg.“ Das Licht erhellte die Stube und die Schatten verblassten auf den Dielen.

Bei den Großeltern (Herbst 1938)

Heiner, so hieß jetzt ihr neues Brüderchen. Eigentlich hatte sie sich eine Schwester gewünscht, aber nun war es egal. Heiner schrie den ganzen Tag, oft in der Nacht, machte ständig die Windel voll und bekam Milch aus der Brust ihrer Mutter.

Und dann kam sie in die Schule. Alles war noch neu: Die Kinder, die Lehrerin, die ersten Buchstaben und Zahlen.

Ihre Lehrerin hieß Fräulein Sakkelonski, eine alte Frau, die immer noch mit Fräulein angesprochen wurde.

Doch heute ging Inge mit ihrer Großmutter am Waldrand entlang und suchte nach Pilzen, die sich mit ihren braunen Hüten, zwischen dem Laub versteckten.

„Riech mal.“ Ihre Großmutter hielt ihr ein Blatt unter die Nase.

Ein frischer Geruch, den sie kannte. Aber woher?

„Das ist Pfefferminze“, sagt ihre Großmutter. „Mutti kocht oft Tee davon.“ Inge musste sofort an die vielen Bündel denken, die bei ihrer Oma auf dem Dachboden hingen, wo es wie in der Apotheke roch.

„Oma, stimmt das, dass du eine Hexe bist?“, fragte Inge.

Ihre Großmutter lachte. „Ja, eine Kräuterhexe. Das sind gute Hexen, die den Menschen helfen, gesund zu werden.“ Dann sah ihre Großmutter zum Himmel, an dem sich Wolken auftürmten, und nahm Inge an die Hand. „Komm wir gehen nach Hause. Ich habe schon einen Tropfen abbekommen.“

Großvater Konrad saß in seinem Sessel und blickte über den Brillenrand, als sie die Stube betraten. Sein Gesicht war hager und von Strenge zerfurcht, das Haar in der Mitte gescheitelt. Wie Kochlöffel standen seine Ohren ab.

„Da seid ihr ja endlich“, brummte er. „Ich verhungere schon.“ Er klappte die Bibel zu, legte sie auf den Schoß, sog gierig an der Pfeife, bis die Glut aufglomm. Wie eine Lok stieß er die Rauchwolke von sich.

Inge hustete. Sie wedelte den Qualm weg. Warum die Männer immer rauchen mussten. Das stank und biss in den Augen.

„Konrad, kannst du das Ding nicht ausmachen“, bat ihre Großmutter. Sie eilte zum Herd, schürte im Feuerloch und schob einen Topf über die Kochstelle.

Endlich legte er die Pfeife in den Aschenbecher, wo sie weiter glomm und einen Rauchfaden aufsteigen ließ. Dann musterte er Inge von oben bis unten. „Und du gehst schon zur Schule? Du kannst ja gerade so über den Tisch gucken und bist dünn wie eine Altarkerze.“

„Dafür bin ich die Schnellste aus meiner Klasse“, hielt Inge dagegen. „Beim Greifen fängt mich keiner so schnell, nicht einmal die Jungen.“

„Schnell ist gut“, murmelte er. „Aber mager ist nicht gut.“

Großvater Konrad schob sich die Brille nach oben und sah Inge an. „Was lernt ihr denn in der Schule?“

„Wir lernen gerade die ersten Buchstaben in der Fibel“, sagte Inge. „Ich kenne schon das A und das O und das M. Bald kann ich dir etwas vorlesen.“

Ihr Großvater stand auf und stocherte die Glut aus der Pfeife. „Lernt ihr auch Gebete?“

„Jeden Morgen. Da beten wir zusammen mit unserer Lehrerin.“

Ihr Großvater sah sie an. „Und zu Hause?“, fragte er. „Betest du auch vor dem Essen und vor dem Schlafengehen?“

Die Großmutter klapperte mit dem Kochgeschirr. „Inge, setz dich an den Tisch! Die Suppe ist bald fertig.“

Doch Inge blieb neben ihren Großvater stehen und schüttelte den Kopf.

„Das brauch ich nicht.“ Sie spürte, dass ihm ihre Antwort nicht gefiel.

Er brummelte etwas vor sich hin, dass sie nicht verstand.

„Lass doch Inge in Ruhe, Konrad.“ Ihre Großmutter stellte drei Teller neben den Herd. „Mathilde muss doch wissen, wie sie ihre Kinder erzieht.“

Auf einmal starrte Großvater Konrad ihre Oma an, als hätte sie etwas Schlimmes gesagt. „Meine Tochter lebt in einer gottlosen Ehe, mit diesem Heiden und verdirbt die Kinder.“ Er drohte mit dem Zeigefinger. „Aber der Herr wird sie dafür eines Tages bestrafen.“

Erschrocken wich Inge zurück. Sie wusste nicht, warum der Großvater plötzlich so wütend wurde. Hatte sie denn nicht die Wahrheit gesagt?

„Konrad, bitte!“ Fast ängstlich sah ihre Großmutter ihn an. „Nimm doch Rücksicht auf das Kind.“

„Und wer nimmt auf mich Rücksicht“, polterte er. „Auch ihren Jüngsten, den Heiner, haben sie nicht taufen lassen. Wie stehe ich denn da, als Diakon.“

„Setz dich bitte an den Tisch, Konrad“, bettelte die Großmutter. Schnell füllte sie die Suppe auf und verteilte die Teller. „Vorsicht, ist noch heiß“, warnte sie.

„Wird auch Zeit“, knurrt Großvater Konrad. „Ich muss gleich wieder los, die Grabrede halten. Peter Ansorge beerdigt nachher seine Frau.“

Inge setzte sich an den Tisch, roch die Suppe, die aus ihrem Teller dampfte.

Ihr Großvater faltete seine Hände und wartete bis Inge und ihre Großmutter das Gleiche taten. „Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast – Amen.“

Dann griffen sie zu den Löffeln, schlürften und schmatzten und schwiegen.

Nach dem Essen stand Großvater Konrad auf und hob seine Jacke vom Haken. „Ich werde losgehen. Der Regen hat aufgehört. Also, bis heute Abend.“ Er griff zum Hut und ging.

Als die Tür ins Schloss fiel, schüttelte die Großmutter den Kopf. „Das wird wieder eine feuchte Beerdigung.“ Sie räumte die Teller ab.

Inge wunderte sich. „Aber Oma, Großvater hat doch gesagt, dass es nicht mehr regnet.“

Auch am nächsten Tag besuchte Inge ihre Großmutter, wollte mit ihr zu einem der Waldseen wandern, wo seltene Kräuter wuchsen.

Inge klopfte an die Katentür, wartete und rief. Doch niemand meldete sich.

Sie ging hinein und sah in die leere Stube. Nur kalter Pfeifengeruch hing in der Luft, wie ein unsichtbarer Vorhang. War wirklich keiner zu Hause? Sie wollte in den Garten. Vielleicht saß die Großmutter zwischen den Beeten, zupfte Unkraut oder pflückte Äpfel.

„Hier bin ich“, stöhnte es aus dem Schlafzimmer. „Du kannst reinkommen.“

Als Inge eintrat, erschrak sie. Ihre Großmutter lag auf dem Bett und hielt sich einen Lappen auf die rechte Gesichtshälfte. Neben ihr stand eine Schüssel mit Wasser.

„Oma!“, rief Inge. „Was ist denn mit dir passiert?“

„Ach, Kind.“ sagte sie „Ich bin gestern ausgerutscht und gestürzt. Sie nahm den Lappen vom Auge und tauchte ihn in die Waschschüssel.

Ein Schauer lief Inge über den Rücken. Das Auge ihrer Großmutter war ein angeschwollener Lidspalt und lila verfärbt, als hätte sie sich angemalt.

„Das wird schon heilen.“ Ihre Großmutter wrang den Lappen aus, legte ihn aufs Auge und versuchte zu lächeln.

„Und das?“, fragte Inge und zeigte auf den Oberarm an dem sich ein roter Streifen entlang zog.

Ihre Großmutter verdeckte den Arm. „Ich habe mir nichts gebrochen, nur etwas abgeschürft. Ich stehe gleich auf.“

Inge sah sich um. „Wo ist denn Opa?“

Ihre Großmutter schwieg, wandte sich ab und wischte eine Träne weg. „Der ist in Rossberg und macht seine Weissagungen“, flüsterte sie. Plötzlich verharrte sie, als ob ihr etwas eingefallen war. „Inge, hol mal das Märchenbuch aus der Stube. Lesen kann ich auch mit einem Auge.“

Inge freute sich. Es gab nichts Schöneres für sie, wenn die Großmutter ihr Märchen vorlas.

Schule (Frühjahr 1939)

Inge stand mit Rolf mitten auf dem Rummel und suchte ihre Eltern, die auf einmal verschwunden waren. Rolf zog an ihr, weil er in einem Karussell mitfahren wollte. Sie kletterten in ein Flugzeug, drehten sich im Kreis, immer schneller, bis die Leute ihre Gesichter verloren und zu einer Wand verschmolzen. Inge griff nach ihrem Bruder, der ihre Hände umklammerte. Plötzlich sauste das Flugzeug aus dem Karussell hinaus, flog über die Menschenmenge hinweg und stieg immer höher.

Inge sah nach unten. Da entdeckte sie ihre Mutti, ganz alleine, mit einem leeren Kinderwagen. Inge streckte die Hände nach ihr aus. Doch ihre Mutti sah sie nicht, wurde immer kleiner, bis sie verschwand.

Das Rütteln riss Inge aus dem Schlaf. Völlig durchgeschwitzt und bei mattem Lichtschein, erkannte sie ihre Mutter. Rolf lag neben ihr, die Decke über den Ohren, kaum, dass er sich bewegte. Vor Freude wollte Inge ihrer Mutti um den Hals fallen.

Doch die hielt sie zurück. „Pst …sei leise! Du musst zur Schule.“

Inge stand auf, schlich am Kinderbett mit Heiner vorbei, wusch sich und zog sich an. Ihr Frühstück: Eine Tasse Malzkaffe, eine Scheibe Brot mit Marmelade, Eingemachtes von Oma.

Inge kaute, sah in ihren Ranzen. Es war alles drin: Die Fibel, die Schiefertafel, der Griffelkasten. Sie dachte an ihre Hausaufgabe.

DIE MÜHLE HAT FLÜGEL - DIE MAHLEN SO SCHNELL.

Diesen Satz hatte sie gestern Nachmittag auf ihre Schiefertafel geschrieben.

„Bei diesem Wetter werden viele Kinder krank“, sagte ihre Mutter und knöpfte ihr den Mantelkragen zu. „Heute Nachmittag musst du mir bei der Wäsche helfen. Tschüs.“

Im Halbdunkel empfing sie der „Diestelgrund“, der sich mit Nebel vermischte und sie in einen feuchten Schleier hüllte. Inge fror.

Nur zwei Blockhäuser weiter, eilte sie zum Licht, das hinter einem Fenster schimmerte und tippte gegen die Scheibe, bis Klaras Gesicht erschien.

Ihre Schulfreundin kam heraus, grüßte leise, sprach kaum ein Wort, als hätte sie ihre Zunge verschluckt. Eine Schar Krähen hockten auf einem kahlen Baum, die mit ihrem Gekrächze die Kinder erschreckten.

„Warum sagst du nichts?“, fragte Inge.

Klara seufzte. „Ist wegen Mutti.“ Sie blieb stehen. „Ich darf dir nichts sagen. Ich habe es Mutti versprochen.“

„Aber ich bin doch deine beste Freundin.“

Klara zögerte. „Schwörst du, dass du niemanden etwas verrätst?“

Inge hob ihre rechte Hand. „Ich schwöre. Ehrenwort!“

„Mutti hat gestern einen Brief von meinem Papa bekommen. Sie hat viel geweint. Sie glaubt nicht, dass er wiederkommt.“

Inge schluckte. „Wo ist denn dein Papa?“, fragte sie.

„In einem Arbeitslager. Vor einem Jahr habe ich ihn zuletzt gesehen.“

Inge staunte. „So lange?“ Sie dachte an ihren Vater, den sie im Sommer das letzte Mal gesehen hatte. Und das war schon eine sehr lange Zeit.“

„Mein Vati muss auch woanders arbeiten“, sagte Inge.

„Manchmal fährt Mutti ihn besuchen. Vielleicht könnt ihr deinen Papa auch besuchen.“

Aber Klara schüttelte den Kopf und schwieg, als wollte sie auf einmal nicht mehr darüber reden.

In Rossberg begrüßte sie die Schule mit Kinderlärm und einer Klingel, die zum Unterrichtsbeginn schrillte. Als sie in der ersten Reihe Platz nahmen, starrte Klara auf Inges Schiefertafel. „Verdammt! Ich habe die Hausaufgabe vergessen.“

„Wir haben den Satz doch gestern noch geübt“, wunderte sich Inge.

„Ja, ja ich weiß“, jammerte Klara. „Aber der Brief von Papa, über den Mutti so geweint hat. Ich hab es einfach vergessen.“

Inge wusste nicht, wie sie ihrer Freundin helfen konnte.

„Vielleicht merkt es Fräulein Sakkelonski nicht“, tröstete sie Klara.

In Klaras Augen glomm Hoffnung auf, zuckte aber zusammen, als ihre Lehrerin plötzlich im Klassenzimmer stand. Wie aufgescheuchte Mäuse flitzten die letzten Schüler auf ihre Plätze, wo sie stehenblieben.

„Guten Morgen, Kinder“, begrüßte sie Fräulein Sakkelonski. Die Brillengläser funkelten wie Eiskristalle. Mit ihrem grauen Haarknoten im Genick und einer Warze am Kinn ähnelte sie eher einer Hexe.

„Guten Morgen, Fräulein Lehrerin“, schallte der Kinderchor.

Die Lehrerin ging zum Lehrerpult, verstaute ihre Tasche und ließ ihre Blicke durch die Klasse schweifen. „Setzt euch! Lasst uns zusammen das Morgengebet sprechen. Aber alle!“

Die Kinder falteten ihre Hände, starrten nach unten und murmelten die Verszeilen ihrer Lehrerin nach.

Wie fröhlich bin ich aufgewacht

Wie gut hab ich geschlafen die Nacht

Du warst mit deinem Geist bei mir

Du, lieber Gott hab Dank dafür

Behüte mich auch diesen Tag

Dass mir kein Leid geschehen mag – Amen

Dem Nachhall der letzten Worte folgte Schweigen.

„Richard! Was hattest du für eine Hausaufgabe auf?“, unterbrach Fräulein Sakkelonski die Stille.

Richard stand auf. „Ich habe einen Satz aufgeschrieben, den ich mir merken sollte.“

„Wie hieß der Satz? Inge!“

Sie schnellte hoch.

„DIE MÜHLE HAT FLÜGEL - DIE MAHLEN SO SCHNELL.“

Oft genug hatte sie den Satz geübt.

„Gut. Setz Dich! Zur Kontrolle legt alle die Hausaufgaben auf den Tisch!“

Mit etwas Unruhe legten die Kinder ihre Tafeln auf den Bänken ab.

„Fein, Hildegard“, lobte Fräulein Sakkelonski ein Mädchen, das in der hinteren Bankreihe saß. Sie ging weiter und blieb vor einem Jungen stehen. „Mühle wird mit H geschrieben, wie Himmel. Merk dir das! Wilhelm!“

Als sie zu seinem Nachbarn hinüberschaute, stutzte sie.

„Wo sind deine Hausaufgaben? Friedrich!“

Friedrich errötete. „Ich, ich…“, stotterte er. „ … hatte keine Zeit, musste auf meine Geschwister aufpassen.“

„Das ist eine faule Ausrede.“ Die Lehrerin drehte Friedrich am Ohr, bis er die Augen zusammenkniff. Dann zerrte sie ihn aus der Bankreihe und zog ihn bis in die Ecke des Klassenraumes. „Hier bleibst du stehen, bis ich mir eine Strafe für dich ausgedacht habe.“

Inge verspürte Mitleid. Ob Klara das gleiche erwarten würde? Plötzlich schrillte die Schulklingel, in kurzen Abständen, als wenn sie nicht mehr aufhören wollte. Unruhe entstand.

Die Kinder rissen die Augen auf und drehten sich nach allen Seiten um.

„Ruhe!“, mahnte die Lehrerin.

Herr Junge, der Musiklehrer stürzte herein. „Feueralarm! - Alles liegenlassen. Alle raus auf den Schulhof!“

Jetzt war es mit der Ruhe endgültig vorbei, und Inge verstand kaum noch ein Wort. Ungläubig sah sie sich um.

Die Schule brannte?

„Alles liegenlassen!“, rief Fräulein Sakkelonski. Wie ein Polizist stand sie vor der Klassentür und zirkelte mit ihren Armen. „In Zweierreihe aufstellen!“

Das Schulgebäude hallte von Kinderstimmen und von den vielen Schuhsohlen, die die Treppe nach unten trampelten.

Inge fror. In Reih und Glied, nach Klassen geordnet, verharrten sie auf dem Schulhof, während die Lehrer ihre Kinder durchzählten.

„Siehst du, ob unsere Schule brennt?“, flüsterte Klara.

Inges Blicke wanderten vom Dach bis zu den Kellerfenstern, aber sie erkannte weder eine lodernde Flamme, noch eine qualmende Wolke.

„Liebe Kinder der Bismarck-Schule“, begrüßte sie Herr Hinrich, der Schuldirektor. „Dies war eine Übung. In einer Übung lernt ihr, wie ihr in einer gefährlichen Situation richtig und schnell handelt.“ Er machte eine Pause, forschte in den Gesichtern. „Unser Führer Adolf Hitler möchte, dass deutsche Kinder jederzeit in der Lage sind, bei Gefahr, schnell zu handeln.“

Wieder Schweigen, wieder prüfende Blicke. „Leider habt ihr noch zu lange gebraucht. Geht wieder in eure Klassen!

Wir wiederholen diese Übung.“

Klara beugte sich zu Inge vor. „Ist mir lieber, als die Kontrolle der Hausaufgabe“, flüsterte sie erleichtert.

Abschied von Rossberg (Sommer 1939)

Die Monate waren dahingeflogen, die Schule in die Ferne gerückt, die Ferien gingen dem Ende entgegen.

Traurig lehnte Inge am Stamm der großen Buche, die vor ihrem Blockhaus stand. Heute war es so weit. Heute musste sie mit ihrer Mutter und den Brüdern nach Frankfurt an der Oder ziehen. Dort würde sie die nächste Klasse besuchen, die sich an einer anderen Schule befand. Es ist wegen deines Vaters, hatte ihre Mutter gesagt.

Inge sah den Blättern hinterher, die Richtung „Wildrose“ auf die Ährenfelder trieben, sah wie Landarbeiter ihre Sensen schärften und die Klingen durch das Meer von Halmen gleiten ließen. Frauen bündelten Garben und trugen sie zu Erntewagen. Im Tiefflug jagten Schwalben über den „Diestelgrund“, als wären sie Boten für das Unwetter, das sich wie eine Bleiplatte über Rossberg schob.

Ein Bauer trieb seine Pferde an. Die Speichenräder quälten sich durch die Stoppelerde, bis sie die Kopfsteinpflasterstraße erreichten. Sie rumpelten an Inge vorbei und hielten neben einem Lastauto, wo Großvater Konrad mit Opa Felix einen Tisch aufluden.

„Grüß Gott, Pastor Dornbeck“, rief der Bauer. Er lüftete seinen Hut. „Wollen Sie uns verlassen?“

Ihr Großvater drehte sich zu ihm um „Ach der Johann. Grüß Gott!“ Er schüttelte den Kopf. „Ich helfe meiner Tochter beim Umzug. Die müssen heute noch nach Frankfurt. Haben leider wenig Zeit.“

Der Bauer sah zum Himmel. „Ich muss mich auch beeilen. Die Ernte soll unters Dach. Hoffentlich verschont uns der Herr mit seinen Launen.“

„Der wird schon wissen, was er tut“, rief Großvater Konrad.

Der Bauer setzte sich den Hut wieder auf. „Grüßen Sie die Emma von mir, und alles Gute für die Tochter in der Stadt.“ Er griff nach den Zügeln und ließ sie auf die Pferderücken klatschen. „Hüh! Holla! Hüh!“

Inge hörte, wie die Hufeisen verhallten.

Opa Felix lachte. „Wann wollen wir endlich los? Herr Pastor.“

Verärgert sah ihn Großvater Konrad an. „Was ist daran so komisch? Ob Diakon oder Pastor. Zuerst bin ich ein Diener Gottes.“

Opa Felix lachte „Du bist und bleibst nur ein kleiner Blender. Warum ziehst du dann nicht in das Pfarrhaus nach Rossberg?“