Zimtsterne im Schnee - Birgit Gruber - E-Book
SONDERANGEBOT

Zimtsterne im Schnee E-Book

Birgit Gruber

4,3
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eines Morgens trifft Paulina in ihrem Wohnzimmer auf einen nackten Mann – ein Umstand, der perfekt zum Chaos in ihrem Leben passt.
Paulinas Welt steht Kopf, als die Konditorin aus Leidenschaft ihren Job verliert, ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Mia ins Ausland verschwindet und Paulina unbeabsichtigt zum Trend auf Instagram wird.
Patrick ist ausgewandert für einen Job, den er jetzt nicht mehr hat, und seine Freundin ist auch weg. Da kommt ihm die Hochzeit seines alten Freundes Elias gerade recht, und er beschließt, nach Deutschland zurückzukehren. Glücklicherweise überlässt ihm Elias' Cousine Mia ihr WG-Zimmer – allerdings hat sie vergessen, Paulina darüber zu informieren.
So kommt es, dass Paulina Patrick gleich am ersten Morgen verhaften lässt. Die nächsten Monate sehen also für das ungewollte Gespann nicht sehr rosig aus. Doch je länger Patrick mit Paulina zusammenwohnt, desto mehr stellt er fest, dass es Schlimmeres gibt, als sich die Wohnung mit einer Zimtzicke zu teilen …
 
In dieser humorvollen Winterromanze müssen sowohl Paulina als auch Patrick lernen, dass das Leben manchmal seine eigenen Pläne für sie hat – und Gefühle kommen, wann sie wollen. 
 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
4,3 (4 Bewertungen)
1
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ZIMTSTERNE IM SCHNEE

WINTERROMAN

BIRGIT GRUBER

PROLOG

Hochkonzentriert starrte Paulina auf die Prinzregententorte, die in einem Mantel aus edler Schokolade erstrahlte. Die Spritztüte, mit Haselnusssahne gefüllt, zitterte in ihren Händen. Sie musste die geübte Ruhe finden, um den Schriftzug auf der Torte platzieren zu können. Wenn es perfekt aussehen sollte, durfte sie zwischendrin nicht absetzen.

Leider juckte es sie am rechten Ober- und linken Unterarm. Es war kaum auszuhalten. In ihrer Nase kribbelte es. Sie kräuselte die Oberlippe.

Linus, der Azubi, kicherte.

»Ist das dein profimäßiges Konditorinnengesicht? Du siehst aus wie ein Hamster.«

Das war zu viel für Paulina. Sie prustete los und damit nahm die Kettenreaktion ihren Lauf.

Einmal Luft geschnappt und begonnen zu lachen, konnte sie sich nicht mehr halten. Auf die ersten Gluckser folgte ein heftiges Niesen in dreifacher Ausführung. Immerhin war sie so geistesgegenwärtig, sich umzudrehen, sodass sie, statt zu ihrem Arbeitstisch, nun zu der großräumigen Backstube gewandt dastand.

Während ihre Nase Erlösung fand, drückten ihre Hände leider unkontrolliert auf die Spritztüte. Linus sprang augenblicklich zur Seite, was Utz in Bedrängnis brachte. Der Bäckergeselle schob gerade einen Regalwagen mit den üblichen fünfzehn Blechen, gefüllt mit Kaisersemmeln, an ihnen vorbei. Unsanft wurde er von Linus angerempelt. Der Wagen kam ins Schwanken und Utz traf ein Schwall Haselnusssahne mitten ins Gesicht. Statt das Rollregal in den Griff zu bekommen, kippte er es erschrocken weiter in Schräglage.

Ein ohrenbetäubender Lärm entstand, als Metall auf Metall traf. Wie Dominosteine rutschte ein Blech klappernd auf das nächste nach unten. Die Brötchen hüpften dabei aufgeregt auf und ab, manche schnellten wie Wurfgeschosse in alle Richtungen.

»Aua!« Einige bekam Linus zu spüren.

Auch Paulina traf eine der frischen warmen Semmeln am Arm. Doch sie merkte es kaum, hatte sie inzwischen doch nun endlich dem Drang, sich zu kratzen, nachgegeben. Weshalb das Brötchen zwar angeflogen kam, sie es aber ungewollt mit dem Ellenbogen weiterschleuderte. Es änderte die Richtung und flitzte linkerseits durch die Backstube, bis es Gusti geradewegs in den Nacken traf. Ein Meisterschütze hätte nicht besser zielen können.

Die langjährige Bäckereiverkäuferin war dabei, die ersten Plätzchen des Jahres in Tütchen zu verpacken. Jetzt schrie sie auf und riss die Arme nach oben. Das hatte zur Folge, dass nun unzählige kleine Gebäckstückchen in die Luft wirbelten. Aus der Zellophantüte, die sie noch mit der Hand umklammert hielt, jagten Zimtsterne in Paulinas Richtung und damit zur Unglücksquelle. Fast sah es so aus, als würde sie damit zurückschießen.

Prompt prasselten die leckeren Teilchen, die Paulina gestern erst gebacken hatte, auf Linus, Utz und sie nieder. Utz, der sich gerade wieder gefangen hatte und damit beschäftigt war, sich die Sahne aus den Augen zu wischen, zuckte zusammen.

Paulina ließ es, erneut von Niesreiz geschüttelt, über sich ergehen.

Linus hingegen hielt sich schützend die Hände an den Kopf und brachte seinen Oberkörper aus der Wurfbahn, indem er sich über ihren Tisch beugte. Die Prinzregententorte blieb unberührt, dafür verfehlte er die Spritztüte nicht. Ein großer Klecks Sahne pfiff heraus, hinab zu Boden.

Als wäre der Misere nicht genug, trat Paulina hinein, kam ins Rutschen, verlor das Gleichgewicht und krachte ungebremst in den Regalwagen, den Utz in diesem Augenblick außer Reichweite bringen wollte.

Stöhnend sank sie über dem Metallgestänge zusammen, während sich die Ecken der Backbleche in ihre Rippen gruben.

Nachdem endlich Ruhe eingekehrt und die erste Schrecksekunde vergangen war, brachen nacheinander alle in Gelächter aus. Nur Paulina, die immer noch nach Atem rang, hatte Mühe, diese Verkettung unglücklicher Umstände so lustig zu finden wie ihre Kollegen. Obwohl sie das zweifelsohne war.

1

»Also liebe Frau Handschuh, eine Umschulung genehmigt zu bekommen, ist wie gesagt nicht das Problem. Aber Sie müssen schon wissen, welchen Job Sie für Ihr künftiges Berufsleben anstreben«, erklärte die Mitarbeiterin des Jobcenters. Hatte ihre Stimme vorhin noch freundlich geklungen, schwang nun doch eine gewisse Nachdrücklichkeit mit. Mit festem Blick sah sie Paulina an.

Reglos, fast wie paralysiert, saß diese da. Ihr war klar, dass eine Antwort von ihr erwartet wurde, doch in ihrem Kopf herrschte gähnende Leere. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie künftig werden wollte.

Also nickte sie mechanisch und umklammerte ihre Handtasche auf dem Schoß.

»Ich denke darüber nach«, versprach sie und erhob sich.

Die Berufsberaterin seufzte leise und hämmerte auf ihre Tastatur ein.

»Tun Sie das. Ich schlage vor, wir sehen uns in vierzehn Tagen wieder. Bis dahin haben Sie hoffentlich …«

Paulina hörte nicht mehr zu. Wie in Trance nahm sie den kleinen Zettel mit neuem Termin entgegen, murmelte ein »Auf Wiedersehen«und eilte durch das Gebäude nach draußen.

Endlich an der frischen Luft, atmete sie erst mal tief durch. Ihre angeknackste Rippe meckerte. Klirrend kalte Luft schlug ihr ins Gesicht und schnitt ihr in die Lungen. Eine eisige Windböe fuhr ihr ins lockige Haar und zerfledderte ihre Frisur. Doch das störte sie nicht. Es zeigte ihr, dass sie lebendig war. Die große Frage war nur, was sie mit ihrem Leben anstellen sollte.

Ein fülliger Mann um die fünfzig schlurfte in Steppjacke und Jogginghose auf sie zu. Er ging an ihr vorbei und die Eingangstür hinter ihr öffnete sich. Ein Wärmestoß traf sie im Rücken. Es fühlte sich wie ein Schubser an, als würde sie aufgefordert, von hier zu verschwinden.

Paulina straffte die Schultern und setzte sich in Bewegung. Ihr Weg führte sie quer durch Hamburg. Eine halbe Stunde später schloss sie die Tür zu ihrer Altbauwohnung in Winterhude auf. Musik dröhnte ihr ins Ohr und Kaffeeduft waberte ihr verführerisch in die Nase.

»Hey, na wie war´s?«, begrüßte sie da auch schon Mia gutgelaunt. Ihre beste Freundin und Mitbewohnerin fegte energiegeladen an ihr vorbei.

Wenn sie selbst nur halb so viel Elan verspüren könnte, dachte sie bei sich und zog Jacke und Schuhe aus.

»Ach, na ja.« Strümpfig tappte sie in die großräumige Wohnküche, wo ihre Freundin mit dem Milchschäumer hantierte.

Die weißen Einbauschränke wurden durch das Fenster von der winterlichen Spätnachmittagssonne angestrahlt, sodass Mias glattes rotbraunes Haar regelrecht leuchtete. Ebenso wie ihre Mitbewohnerin selbst.

»Hast du im Lotto gewonnen? Oder warum bist du so happy?« Paulina lehnte sich gegen die ausladende Kochzeile, die sich zwischen ihr und ihrer Mitbewohnerin befand.

Mia goss weißen Schaum in zwei Tassen und streute noch einen Hauch Kakaopulver darüber. Dann reichte sie ihr einen der Pötte.

»Hier. Ich hab Cappuccino gemacht«, meinte sie, trat aus dem Küchengang und steuerte die Couchgarnitur auf der anderen Seite des Raumes an.

»Jetzt erzählst erst mal du. Wie lief es im Jobcenter?« Auffordernd klopfte sie auf das Polster neben sich.

Paulina setzte sich seufzend.

»Na ja. Im Grunde gut. Aber das kommt wohl auf die Betrachtungsweise an. Mir stehen eigentlich alle Türen offen. Das Problem ist nur …« Nachdenklich nippte sie an ihrer Kaffeekreation.

»… dass du Konditorin bleiben willst«, beendete deshalb Mia für sie den Satz.

Paulina hob schuldbewusst die Schultern. »Ja«, gab sie zu. »Konditorin zu sein, war das, was ich seit Kindheit an hatte machen wollen. Das Backen und Verzieren liegen mir im Blut.«

»Und du bist spitze darin! Du bist sogar ausgezeichnet worden und hast dir bereits in deiner jungen Berufslaufbahn einen Namen gemacht«, bestätigte ihre Freundin.

Paulina nickte versonnen. »Ich habe auch einige Angebote erhalten. Aber was nützt mir das?« Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Damit brauche ich mich jetzt nicht mehr auseinandersetzen. Diese ›Entscheidung‹ ist mir von höherer Seite abgenommen worden, wie du weißt. Spätestens seit dem Eklat neulich in der Backstube ist diesbezüglich das Urteil gefallen. Jetzt hab ich obendrein noch eine angeknackste Rippe! Diese blöden Backbleche! Ich musste ja unbedingt in den Regalwagen plumpsen!« Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

Prompt gluckste Mia. »Ich weiß, das ist nicht lustig. Und trotzdem ist es das doch. Ich wäre zu gern dabei gewesen! Zuzusehen, wie die Brötchen ein Eigenleben entwickelt haben und euch wie Gewehrsalven getroffen haben, und dann noch der Zimtsternregen … Das war garantiert zum Brüllen komisch.« Lachend hielt sie sich die Hände vor den Mund. »Stell dir vor, das hätte jemand gefilmt und du würdest die Szene bei Tiktok, Instagram oder auf YouTube sehen.«

Paulinas verdrossene Mundwinkel zuckten. Schließlich musste sie mitlachen. Im Nachhinein betrachtet, war es wohl wirklich ziemlich witzig gewesen. Jedenfalls für Außenstehende.

»Du hättest Utz sehen sollen! Er trug Sahnewölkchen auf den Augenbrauen. Sehr dekorativ!«, erklärte Paulina kichernd.

Mia kringelte sich bei der Vorstellung. Dann japste Paulina laut auf. Das Lachen tat ihrer Seele zwar unheimlich gut, doch ihre beschädigte Rippe fand das weniger lustig. Sie griff sich an die Brust und versuchte, sich zu beruhigen.

»Immerhin war es ein gelungener Abgang«, meinte sie schließlich grinsend.

»Garantiert unvergesslich!«

»Tja, das war´s dann wohl. Verdammtes Bäckerasthma! Warum muss ausgerechnet ich auf Mehlstaub allergisch reagieren?« Unvermittelt wurde Paulina wieder ernst.

Als sie die Diagnose erhalten hatte, fand sie den Umstand halb so schlimm. Damals war ihre Allergie aber auch noch nicht derart ausgeprägt gewesen. Sie hatte nur hin und wieder mal niesen müssen. Der Juckreiz und die Pusteln, die auf ihr Kratzen folgten, waren aufgetaucht und verschwunden. Die Bindehautentzündung hatte sie noch vor einem Jahr auf die winterliche Erkältungszeit geschoben. Doch die Symptome hatten sich zunehmend verstärkt und Atemnot kam erschwerend hinzu. Sie hatte Medikamente verschrieben bekommen, die recht gut halfen. Leider meist nur eine gewisse Zeit lang. Inzwischen besaß sie ein ganzes Sammelsurium von Tabletten und Salben.

»Ich hätte die Prinzregententorte nicht backen dürfen. Zu viele Böden. Sie besteht aus acht Teigschichten. Das konnte nicht gutgehen. Ich hätte es wissen müssen!«, haderte sie mit sich.

Mia klopfte ihr mit der Hand beruhigend auf den Oberschenkel. »Das bringt doch nichts. Du hattest doch selbst schon überlegt hinzuschmeißen, weil du dich nicht für den Rest deines Lebens mit Medikamenten zudröhnen wolltest. Was ich auch sehr vernünftig finde. Das Zeug hat immerhin auch Nebenwirkungen!«

»Aber das war mein Traumberuf!«, jammerte Paulina. »Was soll ich denn jetzt machen?«

»Darüber kannst du in Ruhe nachdenken. Du bist mit dem angeknacksten Rippenbogen sowieso noch krankgeschrieben. Also schone dich, mach es dir gemütlich und wühl dich durch das Dickicht von Berufsangeboten. Es gibt so viele Möglichkeiten. Dir steht die ganze Welt offen!«

»Pha!« Unwillig schob sie sich eine ihrer gelockten Haarsträhnen hinters Ohr. »Schön verpackte Worte. Aber im Klartext bin ich berufsunfähig und mein Chef hat mir deutlich gesagt, dass ich nicht mehr kommen brauche. Er ist der Meinung, dass ich in meinem ›Zustand‹ eine Gefahr für mich selbst und andere wäre.«

Statt einer Reaktion trank Mia ihren Cappuccino. Also tat Paulina es ihr gleich.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich dann bei ihrer Freundin. »Ich nerve mich ja selbst mit meinem Gejammer. Irgendwas werde ich schon finden, für das ich mich begeistern kann.«

»Das ist die richtige Einstellung! Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich irgendwo eine neue«, zitierte Mia eine alte Weisheit.

Paulina nickte lächelnd. Dass es allerdings ihre Augen erreichte, bezweifelte sie. Denn tief in ihr drin war sie nicht halb so davon überzeugt, wie sie nun vorgab zu sein.

»Apropos, ich habe aufregende Neuigkeiten«, plapperte Mia weiter und strahlte erneut wie ein Honigkuchenpferd. »Jan wollte ja mit ›Ärzte ohne Grenzen‹ für ein halbes Jahr nach Panama gehen …«

Das stimmte. Jan war Mias Freund. Die beiden waren seit knapp zwei Jahren ein Paar. Er engagierter Internist, sie Krankenschwester. Eigentlich völlig klischeehaft, aber die zwei waren so verliebt, dass es selbst ein Blinder nicht hätte übersehen können! Paulina gönnte ihrer Freundin von Herzen das Glück! Auch wenn sie dadurch in regelmäßigen Abständen daran erinnert wurde, dass sie selbst mit knapp dreißig immer noch Single war. Doch im Grunde störte sie das nicht. Nur die Nachfragen ihrer Mutter nervten. Seitdem ihr Bruder – der jünger war! – seine Traumfrau gefunden, vor ein paar Monaten geheiratet hatte und in sieben Monaten nun auch noch Vater werden würde, träumte Mama Handschuh von einer Horde Enkelkindern. Weshalb seit geraumer Zeit Paulina ebenso im Fokus stand, was Familienplanung betraf. Vielleicht fand ihre Mutter auch deshalb die Zwickmühle, in der sie sich befand – das Bäckerasthma und die berufliche Neuorientierung –, nicht halb so tragisch wie Paulina selbst. Nach derer Meinung war jetzt der optimale Zeitpunkt, um sich einen Mann zu suchen.

Unwillkürlich knirschte Paulina mit den Zähnen. Dann blickte sie in Mias verträumtes Gesicht.

»Die gute Nachricht ist, dass Jan hierbleibt?«, rief sie. Denn seitdem Panama im Raum gestanden hatte, war ihre Mitbewohnerin immer eine Spur geknickt gewesen. Was Paulina durchaus verstand. Eine Fernbeziehung war nicht einfach, zumal dann, wenn sich einer von beiden irgendwo im Nirgendwo aufhalten würde.

Doch ihre Freundin schüttelte den Kopf. »Nein, er geht nach wie vor. Aber …«, sie schnappte trommelwirbelmäßig nach Luft, »er hat organisiert, dass ich mitkommen kann. Krankenschwestern werden ebenso gebraucht. Ist das nicht fantastisch?!«

Paulina klappte der Kiefer hinunter. Erst die verfluchte Allergie, dann der schmerzhafte Rippenbogen und nicht zu vergessen: das berufliche Aus! Jetzt würde ihre beste Freundin sie obendrein allein lassen?

In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Was würde denn noch auf sie zukommen, womit sie nicht gerechnet hatte und mit dem sie fertigwerden musste? Allein!

»Was ist? Freust du dich nicht für mich? Für uns?« Mia schaute sie enttäuscht an.

Sofort überkam Paulina ein schlechtes Gewissen. Ihre Gedanken waren absolut egoistisch!

»Doch. Aber klar! Das ist toll … für euch beide!«, hörte sie sich sagen und brachte sogar ein Lächeln zustande. Dabei hoffte sie, dass es aufrichtiger klang, als sie sich gerade fühlte.

Aber darüber musste sie sich wohl keine Sorgen machen, denn Mia fiel ihr jubelnd um den Hals.

»Das finde ich auch! Ich bin ja so gespannt, wie es dort sein wird! Das wird eine unglaublich bereichernde Lebenserfahrung für mich. Ich – nein wir! – tun was Gutes und können wirklich helfen!«, erklärte ihre Freundin eifrig. »Und dass wir das gemeinsam machen werden, schweißt uns noch weiter zusammen. Ich freu mich ja so! Keine monatelange Trennung, stattdessen ein Abenteuer zu zweit!«

»Klasse. Wann soll es dann losgehen?« Eigentlich wollte Jan bereits nächste Woche fliegen, aber unter diesen Umständen würde sich das dann ja wohl verzögern, überlegte Paulina. Bis die beiden aufbrachen, hatte sie sich bestimmt an den Gedanken gewöhnt. Hoffte sie mal.

»Na, nächsten Montag. Wie geplant«, gab Mia jedoch zurück.

»Wie jetzt? Das Datum bleibt?«

»Ja.«

»Ich dachte, dass es für dich noch einiges zu regeln gibt.«

»Nein. Die Klinik gibt mir unbezahlten Urlaub dafür, genau wie Jan. Geimpft bin ich dank unseres Keniaurlaubs vor ein paar Monaten sowieso. Also alles in petto.«

Paulina runzelte die Stirn. »Dann bist du zu Weihnachten gar nicht da?«, hauchte sie.

»Oh, ach das …« Zum ersten Mal seit Mias großartiger Mitteilung verdüsterte sich ihr Gesicht. Betreten schlang sie ihre Arme um Paulina und drückte sie an sich. »Ach, Süße! Ich weiß, wie viel dir die Weihnachtszeit bedeutet. Mir ja auch. Aber dieses Jahr –«

»Verbringst du sie auf der anderen Seite der Erdkugel«, murmelte Paulina.

Dank der neusten Ereignisse in ihrem Leben bezweifelte sie sowieso schon, ob sie überhaupt in die übliche Vorweihnachtsstimmung kommen würde. Jetzt sollte sie auch noch die gesamte Adventszeit allein in dieser Wohnung sitzen und die erste Kerze am Kranz anzünden? Die Vorstellung war erbärmlich.

* * *

Fünf Tage später war es so weit. Mias Hartschalenkoffer und eine große Reisetasche standen abholbereit im Flur. Obwohl es schon fast Mitternacht war und Paulina hundemüde, wollte sie nicht ins Bett gehen. Denn wenn sie am nächsten Morgen aufwachte, wäre ihre beste Freundin weg. Um vier Uhr dreißig in der Früh würde Jan sie abholen und Millionen von Kilometer weit weg entführen.

Unkonzentriert zappte sie sich durch das Fernsehprogramm, während Mia in ihrem Zimmer herumklapperte, um es für die nächsten Monate picobello zu hinterlassen.

Paulinas Brustkorb zog sich zusammen. Sie hatte nicht viele Freunde. Die meisten davon hatte sie auf der Arbeit und in ihrem beruflichen Umfeld kennengelernt. Es waren Menschen, die ihre Leidenschaft teilten. Doch seit ihrem abrupten ›Aus‹ hatte sie sich von ihnen zurückgezogen. Ihren Job aufzugeben, war schon schlimm genug. Da musste sie sich nicht obendrein auch noch anhören, welcher Motiv-Torten-Herausforderung sich beispielsweise ihr Freund Marek gerade stellte.

Sie hatten zusammen die Ausbildung absolviert und waren bei ihrem Abschluss beide als herausragende Nachwuchstalente beschrieben worden. Von Anfang an waren sie ebenso Freunde wie Konkurrenten gewesen und hatten sich gegenseitig gepuscht. Das war über die Jahre so geblieben. Nur, dass Marek inzwischen in der Schweiz arbeitete. Früher hatte Paulina sich jedes Mal gefreut, wenn ihr ihr Mitstreiter per Videobotschaft seine neusten Kreationen gezeigt hatte und ihre professionelle Meinung wissen wollte. Jetzt konnte sie sich kaum überwinden, auf ›Play‹ zu drücken, wenn er ihr etwas schickte. Weshalb mehrere seiner Nachrichten auch unbeantwortet geblieben waren.

Prompt verstärkte sich das beklemmende Gefühl in ihrer Brust. Sie sollte sich bei ihm melden und sich nicht aufführen wie eine arrogante Zicke. Denn von ihrem gesundheitlichen und beruflichen Problem hatte Paulina ihm nichts erzählt. Wozu auch? Er konnte es auch nicht ändern, und sein Mitleid brauchte sie nicht!

»Füreinander da sein, ist das größte Geschenk«, drang eine Stimme in gebrochenem Deutsch aus dem Fernseher an Paulinas Ohr. Es war der Abspann eines Werbespots, der die Zuschauer bereits auf Weihnachten einstimmen sollte.

Sie seufzte laut auf.

»Nun sei doch nicht so traurig!« Als Mia ihre Arme von hinten um sie schlang, zuckte sie erschrocken zusammen. »Die Zeit vergeht so schnell. Bis du dich einmal umsiehst, bin ich schon wieder da.«

Paulina tätschelte die Hände ihrer Freundin und drehte sich zu ihr um. »Na klar. Mal sehen, ob du mich dann wiedererkennst. Vielleicht bin ich bis dahin schon eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Ich könnte Börsenmaklerin werden.« Grinsend zwinkerte sie ihrer Freundin zu. Das Letzte, was sie wollte, war, Mia zum Abschied ein schlechtes Gewissen zu bereiten.

»Ach echt? Du hast ja große Pläne.« Mia lachte.

Sie zuckte mit den Achseln. »Mal sehen. Um mich brauchst du dir jedenfalls keine Sorgen machen. Du kennst mich doch, ich kämpf mich schon durch. Und ohne Bäckerasthma bin ich bald auch wieder topfit.«

»Also dann …« Die Freundin hob die flache Hand und Paulina klatschte ab.

Die leichte Erschütterung strafte ihre Worte Lügen. Noch immer spürte sie ihre lädierte Rippe. Aber sie hatte genug davon! Selbstmitleid stand ihr nicht! Hatte es noch nie. Es war an der Zeit, endlich nach vorn zu sehen. Alles hatte sich verändert. Ihr Leben, so wie es war, gab es ab morgen nicht mehr. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen.

Warum mit guten Vorsätzen bis ins neue Jahr warten? Meistens hielt man sich daran doch eh nie. Und so beschloss sie, dass jetzt der passende Zeitpunkt war, wirklich neue Wege zu beschreiten. Vielleicht würde der Zauber der Vorweihnachtszeit ihr dabei ja zugutekommen …

2

Es war bereits nach zehn, als Paulina die Augen öffnete. Verschlafen taumelte sie in die Küche, um die Kaffeemaschine anzustellen. Was sie an diesem Morgen zuallererst brauchte, war ein großer Pott voll der schwarzen koffeinhaltigen Flüssigkeit.

Sie hatte mies geschlafen und war lange Zeit wach gelegen. Sie hatte gehört, wie Mia sich aus der Wohnung geschlichen hatte, sehr bedacht darauf, auch ja keinen Lärm zu machen. Das hätte sie sich sparen können. Paulina hatte mitbekommen, wie ihre Freundin vor Aufregung leise gequiekt hatte, als Jan in der Tür stand, um sie abzuholen. Sie hatte sogar den Kuss, den die beiden in abenteuerlicher Vorfreude ausgetauscht hatten, bildlich vor sich sehen können. Das leise Schmatzen und Gemurmel der beiden gehört. Aber sie war nicht aus den Federn gekrochen. Das hatte sie sich verboten. Die Freundinnen hatten sich ausgiebig lachend sowie tränenreich für die kommenden Monate verabschiedet. Das brauchte keine Wiederholung!

Nun, bei Tageslicht betrachtet, wirkten die Zimmer seltsam leer, obwohl sich von der Einrichtung nichts verändert hatte. Es war ja nicht so, als wäre Mia ausgezogen! Trotzdem fühlte Paulina eine Kühle in den Räumen. Unwillkürlich rieb sie sich über die Arme. Dann schüttelte sie den Kopf.

Vermutlich sollte sie einfach die Heizkörper etwas höher drehen. Es war Mitte November, der erste Advent nicht mehr weit. Zu dieser Jahreszeit war es normal, dass die Außentemperaturen sanken und man es sich zu Hause kuschlig machen musste.

Auf dem Weg ins Bad beschloss sie, in den Untiefen ihres Schranks zu wühlen und ihren dicken geringelten Lieblingspullover herauszuholen. Bereits der Gedanke daran stimmte sie fröhlich.

Eine halbe Stunde später saß sie frisch geduscht, im flauschigen Winterpulli, am Esstisch. Vor ihr lagen Block und Stift, gleich neben der herrlich duftenden Kaffeetasse und dem Teller, auf dem ein Croissant vom Vortag lag. Kurz aufgetoastet schmeckte es wie frisch. Die Schicht Butter und Erdbeermarmelade tat ihr Übriges.

Während sie frühstückte, starrte sie auf das weiße Blatt Papier. Sie war fest entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Auch wenn sich ihr Leben von der einen Minute auf die andere verändert hatte, Mia würde zurückkommen. Und eine neue Arbeit zu finden, konnte doch nicht sooo schwer sein. Oder? Gerade heutzutage, wo man andauernd an allen Ecken und Enden hörte, dass Mitarbeiter gesucht wurden, sollte Paulina durchaus einen Job finden, der ihr Spaß machte. Die Frage war nur, welcher das sein sollte.

Beherzt biss sie in das Butterhörnchen. Kleine Teigblättchen rieselten dabei auf den Teller. Hmm. Es schmeckte köstlich. Daran, ob ein Plunderteil noch am nächsten Tag schmackhaft war, erkannte man die Qualität. Augenblicklich überlegte sie, was sie vielleicht noch am Rezept verändert hätte. Ihr Gehirn arbeitete sofort auf Hochtouren. Dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf und stoppte ihren Denkprozess.

»Falsche Richtung! Ganz falsch!«, rügte sie sich im Geiste.

Die gleiche Energie, die sie bisher in ihre Arbeit gesteckt hatte, wollte sie nun in andere Dinge stecken. Hatte sie das bereits wieder vergessen? Aber alte Gewohnheiten legte man wohl nur schwerlich ab. Zumal ihr das Backen und Verzieren ja schon immer Freude bereitet hatten …

Etwas frustriert nippte sie an ihrem Kaffee. Gab es denn sonst wirklich gar nichts, das sie ebenso begeistern könnte?

Entschlossen angelte sie nach dem Kuli und kritzelte drauflos: Weihnachtsdeko und Sport, kam ihr als Erstes in den Sinn. Für die Dekoration der Wohnung war es laut Kalender höchste Zeit, und sportlich etwas fitter zu werden, konnte schließlich nie schaden. Bislang war das nicht besonders notwendig gewesen, war sie doch in der Backstube permanent auf den Beinen gewesen. Die angeblich achttausend Schritte pro Tag – der Gesundheit zuliebe! – hatte sie mit Leichtigkeit geschafft. Doch nun sah das anders aus. Seit ihrem Krankenstand hatte sie viele Stunden auf der Couch verbracht. Zu viele! Natürlich waren das Bäckerasthma und die damit verbundene Atemnot, sowie die angeknackste Rippe vorwiegend dafür verantwortlich. Aber Mia hatte durchaus recht, als sie angemerkt hatte, dass Paulinas Symptome allmählich abgeklungen waren und sie aufpassen musste, nicht in eine depressive Phase zu rutschen.

Für einen Moment stellte sie sich vor, wie sie in einem halben Jahr völlig verwahrlost von ihrer Mitbewohnerin, lethargisch am Sofa sitzend, vorgefunden werden würde. Müffelnd, mit fettigen Haaren, um sie herum Staubmäuse und leere alte Pizzakartons, sowie haufenweise dreckiges Geschirr überall verteilt. Unwillkürlich schüttelte es sie. Nein, so wollte sie auf keinen Fall enden!

Ob Mia ebenfalls solche Bilder durch den Kopf gegangen waren, als sie ihr letzte Nacht eindringlich ins Gewissen geredet hatte? Wenn Paulina jetzt so darüber nachdachte, war die Sorge ihrer Freundin schon irgendwie im Gesicht abzulesen gewesen. Hatte Mia deshalb mehrmals darauf gedrängt, dass sie mindestens einmal die Woche per Videotelefonie miteinander quatschten? Oder bildete Paulina sich das nun, im Nachhinein, nur ein?

Ein Kälteschauer durchzog ihren Körper. Es war viel zu ruhig hier! Sie konnte sich ja bereits schon denken hören! Schnell stand sie auf und drehte das Radio an.

Die fröhliche Stimme der Moderatorin hallte sofort im Zimmer wider, als diese gerade die Frage stellte, ob man sich auf das anstehende Familientreffen zu Weihnachten freuen würde.

Paulina runzelte die Stirn. So richtig entspannen konnte sie sich bei dem Gedanken nicht, wenn sie ehrlich war. Bestimmt wollten ihre Eltern wissen, welche Pläne sie hatte, wie sie künftig ihr Einkommen bestreiten wollte und natürlich, ob es endlich einen Mann an ihrer Seite geben würde.

Unwillkürlich blieb ihr Blick am Stichpunkt ›Weihnachtsdeko‹ hängen. Sie hatte knappe sechs Wochen, um sich auf all diese Fragen eine Antwort einfallen zu lassen.

* * *

Paulina war gerade dabei, in ihre Stiefeletten zu schlüpfen, als die Titelmelodie von »Friends« ertönte. Eilig ließ sie die Schuhe fallen und stolperte zum Tisch, auf dem ihr Handy lag.

»Mia! Endlich! Wie geht es dir?«, plapperte sie schon los, kaum dass sie den eingehenden Anruf per Facetime angenommen hatte.

»Gut. Die Reise war anstrengend. Allein zwölf Stunden Flugzeit, dann noch die Überlandfahrt. Aber es hat alles geklappt«, antwortete ihre Freundin strahlend im Achseltop.

»Das ist schön, zu hören. Hättest dich aber wirklich schon etwas früher melden können!« Seit Mias Abreise waren inzwischen drei Tage vergangen.

»Ich weiß. Tut mir leid. Ich habe es versucht. Es ist nur … Das Handynetz schwankt hier nahe des Darién sehr.«

Paulina nickte. Der Darién war der Dschungel zwischen Kolumbien und Panama. Den teils undurchdringlichen Urwald durchquerten Menschen, die aus ihren Heimatländern vor Gewalt und existenziellen Nöten flohen. Im Süden Panamas hatte sich deshalb eine humanitäre Notlage entwickelt, weshalb die ›Ärzte ohne Grenzen‹ ihre Hilfe dort anboten.

»Außerdem sind wir auch schon voll im Einsatz«, berichtete Mia weiter.

»Und wie ist es?«, fragte Paulina.

»Na ja, das Team ist toll. Wir bieten hier medizinische Grundversorgung an. Das ist wirklich nötig und geht mir leicht von der Hand. Aber der Umgang mit Menschen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, ist für mich schon eine Herausforderung …«

Einen Moment lang schwiegen beide. Paulina schaute betreten drein und überlegte, was sie dazu sagen sollte. Alles, was ihr einfiel, waren unbedeutende Floskeln.

Dann beendete Mia die Pause, indem sie abrupt das Thema wechselte.

»Du hast die Wohnung geschmückt?«, rief sie entzückt aus und drückte sich die Nase am Handybildschirm platt. »Zeig mal!«, forderte sie Paulina auf, weil sie sich trotz größter Bemühungen natürlich nicht umsehen konnte.

Paulina tat ihr den Gefallen und schwenkte ihr Smartphone einmal langsam durch den Raum.

Bei der Balkontür stand ein Dekobündel mit roten und braunen Gräsern, dazu hatte sie das viereckige Weidenkorbgeflecht gelegt, das mit einem rotkarierten Band samt Schleife verziert war, sodass es wie ein Weihnachtsgeschenk aussah.

Zwischen Sessel und Sofa befand sich nun der circa siebzig Zentimeter große weiße Schneemann aus Metall. Er war mit cremefarbenem Glitzerstoff verziert und seine Beine federten immer freudig, wenn man ihn berührte. Die orange Karottennase war der einzige Farbtupfer an ihm und unterstrich sein lächelndes Gesicht.

Am Fenster hatte sie, wie jedes Jahr, den großen roten Papierstern mit ausgestanzten Ornamenten aufgehängt. Die im Inneren versteckte Glühbirne warf beim Einschalten ein wunderbar rotgelbes Licht auf die Umgebung.

Und am Küchentresen stand jetzt der hölzerne Dekoschriftzug ›Advent‹. Der Aufsteller war in weiße Farbe getaucht und mit hellgrauen Akzenten sowie kleinen Schneeflockensternen verziert worden.

»Oh, besonders viel ist das aber nicht«, sagte Mia. Ein Hauch Enttäuschung klang in ihrem Tonfall mit, was Paulina aber nicht verwunderte. Ihre Mitbewohnerin war üblicherweise diejenige, die ihr gemeinsames Zuhause in dieser Jahreszeit zu einem regelrechten Winterwunderland verwandelte.

Paulina richtete den Bildschirm wieder auf sich. »Mir reicht das. Außerdem wollte ich gerade zum Markt und einen Adventskranz für den Couchtisch kaufen.«

»Ach so?« Die Freundin warf einen Blick auf die Armbanduhr und rechnete offenbar. »Hier ist es acht Uhr morgens, dann ist es bei euch jetzt … vierzehn Uhr?«

»Stimmt und um einiges kälter als bei dir.«

»Siebenundzwanzig Grad.« Unwillkürlich sah Mia an sich herunter, um anschließend auf Paulinas Rollkragen zu schielen.

»Hm. Ich halte mit sechs Grad und Nieselregen dagegen.«

Unisono zuckten sie mit den Schultern und lachten.

»Wie läuft es denn bei dir? Hast du schon eine Idee, wie du künftig dein Auskommen bestreiten willst?«, wollte Mia dann wissen und blickte ihre Freundin hoffnungsvoll an.

Paulina seufzte. »So richtig noch nicht. Aber das ist ja auch keine Entscheidung, die man schnell mal über Nacht trifft.« Sie dachte an die vergangenen drei Tage, in denen sie sich nur mäßig mit dem Thema beschäftigt hatte. Die Wohnung für den Advent zu schmücken war schließlich wichtig gewesen. Auch wenn sie das bisschen wohlweislich in ein bis zwei Stunden geschafft hätte, schon klar. Sie hatte sich eben Zeit gelassen! Dann hatte sie ein Buch gelesen, statt sich ins Berufsinformationszentrum zu schleppen. Aber bei diesem Hundewetter wäre das doch auch eine Zumutung gewesen. Oder nicht?

»Du drückst dich!«, stellte Mia fest, als könnte sie ihre Gedanken lesen. »Ich weiß ja, dass du eigentlich nichts anderes machen möchtest als Backen und Verzieren. Aber das geht halt nicht mehr«, erinnerte sie ihre Freundin mit liebevollem Nachdruck. »Wenn ich raten sollte, würde ich darauf tippen, dass du haufenweise Plätzchenrezepte angeschaut hast, seitdem ich weg bin.«

Ertappt! Paulina schluckte. »Schon möglich. Aber ich habe mir auch aktuelle Stellenausschreibungen durchgesehen!«, verteidigte sie sich – möglicherweise etwas zu schnell. Doch es entsprach zumindest der Wahrheit. Dass sie dafür nur etwa zehn Minuten hatte aufbringen können, bis sie sich erschöpft abgewandt hatte, musste sie ihrer Freundin ja nicht auf die Nase binden.

Prompt rümpfte diese die Nase, kommentierte es aber glücklicherweise nicht.

»Ich kann dir jedenfalls den Tipp geben, dich mal auf der Internetseite umzusehen, deren Link ich dir geschickt hatte. Da findest du alles, was du für eine gute Bewerbung wissen musst. Und bei YouTube findest du tolle Videos zu Vorstellungsgesprächen, falls es so weit kommt. Auf Instagram findest du auch Blogs dazu.«

Mia zwinkerte ihr über den Bildschirm aufmunternd zu, und Paulina unterdrückte ein Augenrollen. Das alles hatten sie schon mehrmals durchgekaut. Aber offenbar dachte ihre Freundin, wenn sie es nur oft genug wiederholte, würde es irgendwann fruchten. Schlussendlich hat sie ja recht, dachte sie bei sich. Sie musste in die Gänge kommen!

»Schon gut, schon gut. Ich werde es mir ansehen. Versprochen«, brachte sie schließlich hervor.

»Sehr schön … Du kannst mi… ja … auch … Videobotschaft schicken. Und … Fot… auf Instagram …sehen«, antwortete ihre Freundin mit einigen Aussetzern. Die Verbindung war auf einmal schlechter geworden. Plötzlich war das Bild immer wieder verzerrt, das bemerkte Mia natürlich ebenfalls. »Oh! Warum … eigentlich angerufen … wollte dir noch sagen …« Dann riss die Internetverbindung ganz ab. Paulinas Bildschirm wurde schwarz und ein Hinweis erschien, dass das Gespräch beendet worden war.

* * *

Auf dem Wochenmarkt fühlte Paulina sich wie immer pudelwohl. Nur die vielen aufgespannten Regenschirme störten etwas. Man musste aufpassen, dass man sich nicht gegenseitig ins Gehege kam. Dafür brachten sie Farbe in das triste Grau des Tages.

Wohlig atmete sie durch. Sie liebte es bunt und die Auslagen der Standanbieter taten ihr Übriges. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie sich durch den Marktplatz schob. Am Gewürzstand blieb sie kurz stehen und hielt ein Schwätzchen mit Herrn Sauer, dem Inhaber. Sie kannten sich bereits seit Jahren, denn auch zum Backen brauchte man Gewürze, die frisch ihre individuelle Note am besten entfalteten. Gleich nebenan verkaufte Frau Emmig ihre Eier, die garantiert von glücklichen Hühnern gelegt worden waren. Ja, Paulina waren Lebensmittel wichtig. Für gute Qualität und liebevolle Tierhaltung war sie immer bereit, einen höheren Preis zu bezahlen.

»Heute nur eine Schachtel?«, fragte die Eierfrau überrascht. Auch hier war Paulina Stammkundin. »Die Adventszeit steht vor der Tür. Sie backen doch bestimmt wieder zig Plätzchensorten.«

Paulina schüttelte den Kopf. Nein, dieses Jahr nicht. Obwohl es ihr derart in den Fingern juckte, dass es sie extremen Kraftaufwand kostete, sich zu beherrschen. Wieder einmal fragte sie sich, wie es sein konnte, dass man auf etwas allergisch war, das man derart liebte. Doch das Philosophieren brachte sie nicht weiter. Ihr Problem laut auszusprechen, dazu fühlte sie sich aber auch nicht in der Lage.

»Mir fehlt momentan leider die Zeit«, log sie deshalb und erkannte die Enttäuschung in Frau Emmigs Augen.

»Dann muss ich auf Ihre süßen Köstlichkeiten verzichten?«

»Sieht leider so aus.« In ihr zog sich alles zusammen. Es war schon zu einem Ritual geworden, dass sie um den Nikolaustag an alle Standbesitzer des Marktes, mit denen sie gut bekannt war, großzügig Plätzchentüten verteilte.

»Oh!«, hauchte Frau Emmig und Paulina wechselte rasch Geld gegen den Eierkarton. Dass diese Tradition diesmal ausfallen sollte, bedauerte sie selbst vermutlich am allermeisten.

Als ihr Handy in der Tasche vibrierte, war sie fast erleichtert, einen Grund zu haben, um das Pläuschchen mit der Marktfrau zu beenden.

»Hallo, Liebes«, flötete ihre Mutter ihr ins Ohr.

»Hallo, Ma.«

»Wie geht es dir denn? Du rufst nicht an, schreibst nicht. Ich hatte schon befürchtet, dir ist was passiert. Jetzt, nachdem Mia weg ist und du allein wohnst! Für eine alleinstehende Frau ist es nicht ungefährlich, weißt du?«

Aha, ihre Mutter hatte nicht mal zwei Minuten gebraucht, um sie auf ihr Singledasein hinzuweisen. Das war selbst für sie rekordverdächtig.

»Mama, mir geht´s gut. Ich bin ein großes Mädchen und ich wohne in Winterhude, nicht in der Bronx.« Kopfschüttelnd spazierte sie an den Obst- und Gemüseständen vorbei. Brauchte sie Kartoffeln?

»Darüber bin ich ja auch froh. Aber auch bei uns gibt es genug Verbrecher. Erst gestern Abend habe ich eine Reportage gesehen, in der es um Wohnungsbesetzer ging.«

»Du meinst Mietnomaden?« Was hatte das denn mit ihr zu tun?

»Nein. Es ging darum, dass es Leute gibt, die auskundschaften, wann Wohnungen leerstehen, weil die Eigentümer zum Beispiel verreist sind. Dann verschaffen sie sich Zugang und leben darin, bis die Besitzer zurückkommen. Kannst du dir das vorstellen? Dass während deiner Abwesenheit jemand in deinem Bett schläft, den du nicht mal kennst?« Die Stimme ihrer Mutter überschlug sich fast.

»Nein, kann ich nicht. Das ist wirklich irre. Da ich aber nicht vorhabe, in Kürze in den Urlaub zu fahren, müssen wir uns darüber auch keine Sorgen machen.«

»Hm«, brummte ihre Mutter Elsa, mit der nüchternen Betrachtungsweise ihrer Tochter offenbar unzufrieden. »Trotzdem wäre mir wohler, wenn du einen Freund hättest, der öfter mal bei dir übernachtet. Wie sieht es denn da aus? Gibt es vielversprechende Kandidaten? Gehst du regelmäßig weg? Dafür hast du jetzt doch endlich mal Zeit, anstatt von früh bis abends in der Backstube zu verkümmern.«

Statt einer Antwort biss Paulina herzhaft in einen Apfel, den sie gerade auf seine Festigkeit befühlt hatte. Es war eine Überreaktion und der Apfel eine Art Blitzableiter. Als sich ihre Zähne in das saftige Fruchtfleisch gruben, verspürte sie genau die Erleichterung, die sie brauchte. Ein Tropfen Apfelsaft lief ihr aus dem Mundwinkel und die Marktfrau blickte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

3

Schon beim Aufstehen schwirrte Paulina der Kopf. Seit den Gesprächen vorgestern mit Mia und ihrer Mutter hatte sie sich endlich aufgerafft und ernsthaft ihre beruflichen Möglichkeiten sondiert. Den ganzen vergangenen Tag war sie durchs Netz gesurft, um sich zu informieren und Anregungen zu holen. Nun stand sie mit mürrischem Blick vor der Kaffeemaschine und wartete, dass sie ihre Arbeit beendete.

Das Problem an der ganzen Sache war, dass sie sich nach wie vor keine andere Arbeit vorstellen konnte. Sie war nun einmal kreativ, liebte es, etwas herzustellen und zu verzieren. Das Gefühl, wenn sie ihr fertiges Werk betrachtete, und in die glücklichen Gesichter und leuchtenden Augen ihrer Kunden zu sehen – nicht zu vergessen, das genüssliche Aufstöhnen der Menschen, wenn es auch noch schmeckte und auf der Zunge zerging –, das war es, was sie befriedigte. Wenn man es von dieser Seite betrachtete, war sie Künstlerin. Aber sie konnte unmöglich eine derartige Karriere anstreben. Dazu müsste sie künftig Bilder malen, töpfern oder Skulpturen gestalten. Nein, das war kein Berufszweig, den sie eben mal so aufnehmen und verwirklichen konnte. Zumal sie in keine dieser Richtungen bisher irgendeine Art Talent bei sich entdeckt hatte.

Was an bodenständigen Tätigkeiten blieb – im Gegensatz zu brotloser Kunst –, waren Berufe wie: Innenarchitektin, Raumausstatterin, vielleicht etwas im Garten- und Landschaftsbau oder Malerin? Wie gestern blieben ihre Gedanken bei den Raumausstattern hängen. Das wäre unter Umständen vielleicht eine Alternative. Gab es dort Möglichkeiten für Quereinsteiger? Oder müsste sie dazu erst eine Ausbildung machen?

Die Kaffeemaschine gab ein letztes Zischen von sich und zeigte damit an, dass sie ihre Arbeit getan hatte. Nachdenklich füllte Paulina eine Tasse und schlurfte zum Couchtisch. Dort lag ihr Handy. Ihr erster Impuls war, nach den Jobkriterien zu googeln. Doch als sie die Suchmaschine öffnete, wurde ihr klar, dass die auch nicht alles wusste. Schon gar nicht in Bezug auf sehr spezielle Fragen. Meist bekam man nur haufenweise Informationen angezeigt, die einem nicht wirklich weiterhalfen. War es da nicht besser, direkt vor Ort einen Raumausstatter zu fragen? Ganz persönlich?

Ihr fiel ein, dass sie unlängst sogar für die Firma ›Wohlfühlwelten‹ eine Motivtorte kreiert hatte. Es war ein rechteckiger Kuchen gewesen, der zuerst mit Schokoladenguss verziert worden war, um dann aus Marzipan ein Sofa samt Tisch, Schrank und Flokati daraufzusetzen. Der Kuchen war ihr erstklassig gelungen und der Inhaber, Herr Weiler, hatte sie in den höchsten Tönen gelobt. Mit ihm sollte sie vielleicht über ihre berufliche Neuorientierung sprechen.

Aber was sollte sie ihm sagen? Sie müsste sich bestmöglich ›verkaufen‹, wenn sie einen Arbeitsplatz ohne spezielle Ausbildung haben wollte. Denn die Aussicht, noch einmal ganz von vorn anzufangen, behagte ihr überhaupt nicht. Besonders, da sie sich nicht sicher war, ob ihre Wahl – auf was immer sie fallen sollte – die richtige für sie war.

Was also konnte sie vorbringen, um als geeignet und qualifiziert zu erscheinen?, überlegte sie und nippte an ihrem Kaffee. Ihre Finger tippten dabei wie automatisch auf dem kleinen Display herum. Schon öffnete sich die YouTube-App. Es war an der Zeit, einen Blick in die Videos mit den Vorstellungsgesprächen zu werfen, die Mia so angepriesen hatte. Womöglich würde sie das ja weiterbringen. Paulina hatte sie zwar in ihrem persönlichen Account abgespeichert, bisher aber vermieden, sie anzuschauen.

Bis die Tasse leer war, hatte sie zweieinhalb Clips gesehen. Als sich die Tipps und Tricks wiederholten, schaltete sie aus. Sie war sowieso eher die Macherin als die Art von Mensch, die ausgiebig und stundenlang Betriebsanleitungen und so Zeug las. ›Learning by Doing‹ lautete ihr Motto in der Regel. Selbst beim Backen hatte sie so schon Rezepte verfeinern und neue erfinden können. Weshalb sie nun erneut nach ihrem Handy griff. Sie wollte den Vorschlag aufgreifen und sich selbst dabei aufnehmen, wie sie sich zu Übungszwecken vorstellte. Angeblich konnte sie so ihre Fehler besser erkennen und Fortschritte dokumentieren.

Schon schaute sie sich selbst am Display entgegen. Nun ja, zumindest ihr Kinn und ihre große Nase. Seit wann war die denn so riesig? Ach du meine Güte! Paulina hielt das Smartphone etwas weiter von sich weg. Schon besser. Sie drehte es hochkant, dann quer. Letztlich war das Format egal. Okay, und nun? Sie drückte die Aufnahmetaste:

»Hallo, Paulina Handschuh. Ich bin Konditorin und auf Jobsuche …« Unwillkürlich runzelte sie die Stirn. Das ging ja gar nicht! Weshalb sollte ein Raumausstatter eine Konditorin einstellen? Nein, sie musste es anders formulieren. Aber wie?

Nach einem tiefen Atemzug startete sie einen neuen Versuch.

»Hallo, Herr Weiler, ich bin Paulina Handschuh. Ich habe die Torte für Ihre Firmenfeier gemacht. Kennen Sie mich noch? Leider muss ich mich beruflich neu orientieren. Deshalb habe ich mich gefragt …« Sie schnaufte auf und schüttelte den Kopf. Das war auch nicht gut. Missmutig rümpfte sie die Nase und löschte das Video.

Eine Push-up-Nachricht wies sie auf einen neuen Beitrag von Mia auf Instagram hin. Sie öffnete die App und sah ein traumhaft schönes Foto eines Sonnenuntergangs über dem Meer. Für eine Sekunde verlor sie sich darin, dann wurde ihr klar, dass sie schon wieder Zeit schindete.

Sie erhob sich und tigerte im Raum auf und ab, während sie im Geist einige Sätze durchging. Schließlich glaubte sie, die richtigen Worte für ein Vorstellungsgespräch gefunden zu haben. Etwas aufgedreht sprang sie mit einem Hops aufs Sofa und setzte sich auf die Rückenlehne. Kurz das Bild visiert, Aufnahmetaste gedrückt, und sie plapperte erneut:

»Hallo, ich bin Paulina. Ich möchte mich gern vorstellen. Bisher bin ich Konditorin mit Auszeichnung gewesen. Jetzt habe ich Bäckerasthma und bin auf der Suche nach neuen Herausforderungen«, plapperte sie drauflos und lächelte in die Kamera, als plötzlich hinter ihr ein nackter Mann vorbeilief.

Paulina blinzelte. War das eben eine Fata Morgana gewesen? Oder war sie nun auch noch dabei, ihren Verstand zu verlieren? Als sie wieder auf ihren Handybildschirm schaute, war der Mann verschwunden.

»Ähm, ja …«, sprach sie weiter und beugte sich dabei zurück. Sie war sich felsenfest sicher, soeben gesehen zu haben, wie ein Mann – mit nacktem muskulösen Oberkörper – von der Balkonseite hinter ihr, zwischen Couch und Esstisch, in Richtung Flur gelaufen war. »Also ich wollte mich mal vorstellen …«, redete sie abgelenkt weiter und wandte den Kopf zur Zimmertür.

Ihr Hals wurde lang und länger. Jetzt erhaschte sie einen Blick auf einen festen runden Männerpo. Wie belämmert starrte sie darauf. Das männliche Exemplar bog ins Badezimmer ab. Sie beugte sich weiter zurück und … verlor das Gleichgewicht.

Ihre Beine schnellten in die Höhe, die Arme von sich gestreckt, rollte sie über die Rückenlehne ihres Sofas und plumpste auf der anderen Seite unsanft auf den Dielenboden. Beim Aufprall rutschte ihr das Mobiltelefon aus den Händen. Wie ein Käfer in Rückenlage versuchte sie, es aufzufangen, stieß es aber nochmals hoch, bevor sie es fahrig endlich schnappen konnte. Aufmüpfig hüpfte es noch zwei weitere Male ein wenig auf und ab, bis sie es fest im Griff hatte.