Zu faul zum Nichtstun - Horst Evers - E-Book

Zu faul zum Nichtstun E-Book

Horst Evers

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Beschreibung

Wie kann es sein, dass wir in jeder kurzen Pause, die uns der Tag bietet, sofort auf unser Handy schauen und uns ablenken? Sind wir vielleicht einfach zu faul zum Nichtstun geworden? Horst Evers geht dieser Frage nach – in kurzen, sehr lustigen Geschichten aus dem Hier und Jetzt. Dort begegnet er Katzen, die seine Pakete entgegennehmen, und Toastern, die unsere Zukunft planen, sowie Nonnen, die ihm die künstliche Intelligenz erklären. Er erzählt von seiner Zeit als Band-Bassist, seiner Begegnung mit Steven Spielberg und der lautesten Verkehrsberuhigung der Welt. Und nicht nur während er Bauarbeiter bewundernd dabei beobachtet, wie sie höchst professionell und ausdauernd besorgt in ein Loch in der Erde gucken, fragt er sich: «Sollten wir unsere Zeit nicht lieber zum ergebnisoffenen Nichtstun nutzen, statt in jeder freien Sekunde nichts von Belang zu machen?» Mit viel Witz, überraschenden Wendungen, Wärme und tatsächlich begründeter Zuversicht nimmt Horst Evers uns mit auf eine Reise durch unsere seltsame Gegenwart. In Geschichten, die keinen einzigen Ratschlag erteilen, aber trotzdem oder gerade deshalb helfen.

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Seitenzahl: 245

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Horst Evers

Zu faul zum Nichtstun

Geschichten

 

 

 

Über dieses Buch

Wie kann es sein, dass wir in jeder kurzen Pause, die uns der Tag bietet, sofort auf unser Handy schauen und uns ablenken? Sind wir vielleicht einfach zu faul zum Nichtstun geworden? Horst Evers geht dieser Frage nach – in kurzen, sehr lustigen Geschichten aus dem Hier und Jetzt. Dort begegnet er Katzen, die seine Pakete entgegennehmen, und Toastern, die unsere Zukunft planen, sowie Nonnen, die ihm die künstliche Intelligenz erklären. Er erzählt von seiner Zeit als Band-Bassist, seiner Begegnung mit Steven Spielberg und der lautesten Verkehrsberuhigung der Welt. Und nicht nur während er Bauarbeiter bewundernd dabei beobachtet, wie sie höchst professionell und ausdauernd besorgt in ein Loch in der Erde gucken, fragt er sich: «Sollten wir unsere Zeit nicht lieber zum ergebnisoffenen Nichtstun nutzen, statt in jeder freien Sekunde nichts von Belang zu machen?»

 

Mit viel Witz, überraschenden Wendungen, Wärme und tatsächlich begründeter Zuversicht nimmt Horst Evers uns mit auf eine Reise durch unsere seltsame Gegenwart. In Geschichten, die keinen einzigen Ratschlag erteilen, aber trotzdem oder gerade deshalb helfen.

Vita

Horst Evers, geboren 1967 in der Nähe von Diepholz in Niedersachsen, studierte Germanistik und Publizistik in Berlin und jobbte als Taxifahrer und Eilzusteller bei der Post. Er erhielt unter anderem den Deutschen Kabarettpreis und den Deutschen Kleinkunstpreis. Jeden Sonntag ist er auf radioeins zu hören, im WDR regelmäßig mit seiner Sendung «Horst Evers und Freunde». Seine Geschichtenbände und Romane – wie «Der König von Berlin», «Wäre ich du, würde ich mich lieben» oder «Wer alles weiß, hat keine Ahnung» – sind Bestseller. Horst Evers lebt mit seiner Familie in Berlin.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Covergestaltung Frank Ortmann

Coverabbildung Bernd Pfarr © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

ISBN 978-3-644-02139-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

«Hallo!!»

Moulinex

Nahplatzerfahrung

Zu faul zum Nichtstun

Berlin in einem Wort

Die magische Wand

Die Arbeitswelt der Zukunft

Zu doof zum Schlafen

Das Loch in der Erde

Regenkäufe

Underdressed

Liebesbeweise

Katzentisch

Der klassische Berliner Traum

Der Deutschlandtakt

Politik hilft

Die Weisheit des Schneiders

Einmal mitkommen

Die lauteste Verkehrsberuhigung der Welt

Und Sie so?

Der Vorfall

Hotel Remarque

Abenteuer dieser Zeit

Passt nicht

Feierbiester

Kormoran

Meine Nacht mit Vin Diesel

Der Karton der Schande

Am Boden

Die Nonnen und die KI

Länglich irgendwie

Der Freizeitpark des Alters

Die Thomas-Passion

Kim

«Hallo!!»

Sommer. Mutter, Tochter, Ferientochter und Vater sitzen im Mietauto und düsen Richtung Ostsee. Die Stimmung ist prächtig. Es läuft eine quasi unendliche Beatles-Playlist. Angelegt von den Kindern. Ausgelöst wurde ihre plötzliche Leidenschaft durch das neue Beatles-Lied. Mehr als vierzig Jahre nach John Lennons Tod konnte es mithilfe künstlicher Intelligenz vollendet werden.

Bin gespannt, ob das nur der Anfang war. Werden die Hitparaden demnächst von unveröffentlichten Stücken geflutet, dank einer Prince-KI oder einer Michael-Jackson-KI, einer Amy-Winehouse-KI oder einer Unknown-Dead-Artist-KI? Und was kommt dann? Fangen Leonardo-da-Vinci-KIs das Malen an? Schreibt eine Jack-London-KI genderneutrale Abenteuerromane? Wird es KI-Kreuzungen geben? Kann eine Mischung aus Sartre-KI und Lemmy-Kilmister-KI ein Hardrockmusical über Existenzialismus komponieren? Man wird sehen.

Bei den Beatles hat die KI immerhin dazu geführt, dass sich die Kinder in eine gut fundierte Begeisterung gesteigert haben. Davon profitieren wir gerne. Alle singen mit. Das ist ziemlich lustig.

Nach ungefähr einer Stunde jedoch stellt sich erste Heiserkeit ein. Irgendwann singe nur noch ich. Bis es mir verboten wird. Wie immer. Meine Lautstärke wird zunächst erheblich runtergeregelt. Schließlich werde ich sogar auf «mute» geschaltet. Zum leise säuselnden «Long and Winding Road» setzt ein zufriedenes Dösen ein.

Doch dann geschieht es. Plötzlich werden wir jäh aus unserer Blase der Glückseligkeit gerissen. Von jenem berühmten Satz, den kein Fahrer gerne hört. Der Frau ist es vorbehalten, ihn zu sprechen. Nachdem sie arglos ihren unkundigen Blick über die Armaturen hat schweifen lassen, sagt sie beinah schon wie aus Langeweile:

«Sag mal, was iss’n das eigentlich für eine Anzeige, die da die ganze Zeit so hell leuchtet?»

Und als wäre das nicht schon Ungemach genug, macht sie es sogar noch schlimmer, mit der zweiten stichelnden Frage, die einem endgültig die Sorglosigkeit vermiest:

«Ist das normal?»

Wie, normal? Woher soll ich das denn wissen? Ich fahre dieses Auto auch zum ersten Mal. Doch um keine unnötige Panik auszulösen, versuche ich es mit einem beruhigenden:

«Weiß ich auch nicht.»

Meine Strategie schlägt leider fehl. Denn es folgt der unvermeidliche Gegenschlag:

«Wieso weißt du das denn nicht?»

«Keine Ahnung. Als wir losgefahren sind, hat die, glaube ich, noch nicht geleuchtet. Aber das wird wahrscheinlich nichts Schlimmes sein.»

«Woher willst du das denn wissen?»

Das ist allerdings eine gute Frage. Tatsächlich habe ich nicht die geringste Ahnung, womit ich meine auf keinerlei Fachkenntnis fußende Zuversicht begründen könnte. Doch dann fällt es mir wie aus heiterem Himmel ein:

«Weil es nur gelb leuchtet. Wenn es wirklich was Ernstes oder Dringendes wäre, würde es doch rot leuchten. Und auch blinken! Oder? Dringendes blinkt meistens. So eine unaufgeregt leuchtende gelbe Lampe ist vermutlich nur ein Hinweis.»

«Was denn für ein Hinweis? Wieso sollte uns das Auto denn einen Hinweis geben? So sind Autos doch nicht. In einem Escape-Room bekommt man eventuell einen Hinweis. Autos dagegen sprechen Warnungen aus. Oder senden Hilferufe.»

«Also auf mich wirkt diese gelbe Lampe nicht, als würde der Wagen um Hilfe rufen.»

«Jeder Hilferuf ist anders. Vielleicht will es nur Panik vermeiden.»

«Seit wann wollen Autos durch gelbe Warnlichter Panik vermeiden?»

«Ah, jetzt hast du es selbst Warnlicht genannt!»

«Das ist die AdBlue-Leuchte», ruft nun die Ferientochter von hinten.

«Die was?», fragt die Frau.

«Die AdBlue-Leuchte», antworte ich möglichst ruhig, als ob ich wüsste, wovon ich rede.

«Das ist so ein Zusatzstoff, den man jetzt bei modernen Dieselmotoren von Zeit zu Zeit nachfüllen muss», erläutert die Tochter. «Haben wir gerade schnell mal gegoogelt.»

«Ist das hier etwa ein Dieselauto?», staunt meine Frau.

Sie wirkt alarmiert. Grundsätzlich interessiert sie sich zwar überhaupt gar nicht für Autos. Ist normalerweise da sogar ein bisschen stolz drauf. Doch wenn plötzlich Warnlampen leuchten und Klimaziele verfehlt werden, ist sie natürlich gefordert.

«Wieso hast du denn ein Dieselauto gemietet?»

«Weil das der einzige noch verfügbare Wagen mit ausreichend großem Kofferraum war.»

«Ich finde, das hättest du vorher mit uns besprechen müssen.»

«Ihr wollt nie über sowas sprechen.»

«Vielleicht», räumt die Frau ein, «aber deshalb kann man ja trotzdem im Nachhinein auch mal gerne gefragt worden sein.»

«Ich hätte fragen sollen, ob wir lieber einen Dieselwagen mieten oder ihr euer Gepäck halbieren wollt?»

«Nein. Du hättest fragen sollen, ob wir nicht wollen, dass du eine Lösung ohne Dieselauto bei vollem Kofferraumausgleich findest.»

«Welche Lösung hätte das denn sein sollen?»

«Was weiß denn ich? Lenk jetzt nicht vom Thema ab.»

«Welches Thema?»

«Das weißt du ganz genau», triumphiert sie und beendet mit dieser schlichten Lüge unseren kurzen Disput.

«Mein Vater sagt, moderne Dieselautos haben eine bessere Ökobilanz als Elektroautos», wirft die Ferientochter ein.

«Das kommt ja immer ganz darauf an, wie man es rechnet», antwortet die Frau. Womit sie natürlich recht hat. Wie immer.

Es kommt praktisch bei allem darauf an, wie man es rechnet. Das ist schließlich ein Grundgesetz der Mathematik. Sollte jeder aus Rechnungen mit zwei Unbekannten kennen. Entscheidend ist, was man vorher als Konstante bestimmt. Wenn man beispielsweise das Ergebnis als vorgegeben festlegt, passt sich die Rechnung automatisch dem gewünschten Ergebnis an. Jedes gewünschte Ergebnis sucht sich immer eine Rechnung, die zu ihm passt. Das ist angewandte Mathematik.

Hieraus ergibt sich auch die Krux mit der Mathematik. Wenn das Ergebnis stimmt, weiß man deshalb noch lange nicht, ob auch die Aufgabe korrekt war. Also die richtige Frage gestellt worden ist. Man weiß nur, dass alles aufgeht, was natürlich besser als nichts ist. Aber bis man erstmal weiß, was man eigentlich gern wissen würde, haben die meisten ja schon den Faden verloren …

«Hallo!!», höre ich plötzlich die Frau auf dem Beifahrersitz brüllen. Aus dem Augenwinkel erkenne ich an ihrem verärgerten Gesicht, dass sie vermutlich die letzten Minuten mit mir geredet hat. Worüber nur? Und woran habe ich derweil die ganze Zeit gedacht?

«Hörst du mir überhaupt zu?», setzt sie nun nach, um mich zu provozieren. Denn diese vermeintlich freundliche Frage ist eine Falle. Wenn ich jetzt die Wahrheit sage, wird das keines meiner Probleme lösen. Im Gegenteil. Also sage ich:

«Doch, natürlich höre ich dir zu. Ich denke nur noch darüber nach.»

«Worüber?»

«Na, über diese AdBlue-Sache.»

«Ja, eben. Hat denn der Mensch vom Autoverleih dir nichts dazu gesagt?»

Oh Gott, das hat er tatsächlich. Ich erinnere mich. Er hat erwähnt, dass der Motor eventuell dieses AdBlue benötigen würde. Und er hat mir sogar auch erklärt, warum das so ist.

Ich muss allerdings zugeben, dass ich schon sehr früh während seiner Erklärung, also bereits nach zwei, drei Sätzen, beschlossen hatte: ‹Das wirst du dir nicht merken.› Denn es war direkt absehbar, wie unübersichtlich, kompliziert und langwierig diese Erläuterung wird. Sodass ich eben auch sehr schnell begriffen habe: ‹Oh, das wird mir jetzt zu viel. Das kann ich mir nicht auch noch alles merken.›

Zumal diese Fülle an Informationen zu allen möglichen Themen, mit denen wir unser Gehirn permanent fluten, ja womöglich auch gar nicht so ganz ohne Risiko ist. Da gibt es durchaus besorgte Stimmen. Wer weiß, ob an diesen Warnungen nicht doch was dran ist. Ich habe ja durchaus mittlerweile so ein Alter erreicht, wo man manchmal denkt: Na ja, an sich ist meine Festplatte voll. Wenn ich da jetzt trotzdem immer weiter wahllos Wissen dazulade, muss dafür dann vielleicht irgendwann anderes Wissen gelöscht werden. Das ist ja nicht auszuschließen.

Nun stelle man sich nur mal vor, ich würde mir dieses aufwendige Spezialwissen über Dieselmotoren wirklich merken. Also warum die von Zeit zu Zeit AdBlue benötigen. Und dafür wird dann aber beispielsweise die Fähigkeit, den Kaffeevollautomaten zu Hause zu bedienen, gelöscht. Da hätte man aber eine Situation. Da stünde man denn da. Wenn nun Gäste kämen, die gerne einen Kaffee hätten. Denen man jedoch mitteilen müsste: «Das geht jetzt leider nicht. Aber … ich kann dir stattdessen erklären, warum moderne Dieselmotoren jetzt zusätzlich AdBlue benötigen.»

Ich habe diesbezüglich sogar schon mal in meinem Freundes- und Bekanntenkreis herumgefragt und kann sagen: Praktisch alle hätten lieber den Kaffee.

Natürlich habe ich den Mann vom Autoverleih das Ganze aber trotzdem in Ruhe erklären lassen. Komplett. Denn ich habe auch früh erkannt, wie sehr er sich freut, dass er das mal in aller Ausführlichkeit erklären darf. Das hat er nicht oft. Dass sich ein Kunde für so etwas interessiert und aufmerksam zuhört.

Weshalb ich eben auch sofort beschloss: Die Freude mache ich ihm jetzt. Das Erklärerlebnis soll er haben. Mehr noch, ich habe ihm das richtig schön gestaltet. Damit er sich wohlfühlt und wahrgenommen beim Erklären. Ich kann sowas sehr gut. Indem ich ganz bewusst die ganze Zeit motivierende Zuhörgeräusche mache.

«Ach. – Was? – Nein. – Na, das ist ja ein Ding. – Wer hätte das gedacht? – Das wusste ich auch noch nicht. – Oh. – Erstaunlich. – Ahaaa!»

Die hohe Kunst der Monologbegleitung. Also anderen wirklich aufmerksam zuhören, ohne etwas mitzukriegen, das ist eine meiner großen Gaben. Die aktive Zuhörsimulation.

Ich sage ja immer: Wenn man das einmal in der Schule richtig gelernt hat, hat man das ein Leben lang zur Verfügung. Schließlich ist es ein sehr nützliches Talent. Um anderen eine Freude zu machen.

Auch der Autoverleihmann war ganz begeistert, wie schön ich in der Lage bin, mir etwas erklären zu lassen. Richtig glücklich schien er.

Obwohl ich eben schon nach zwei, drei Sätzen nichts anderes mehr gedacht habe als: Ich werde es mir nicht merken.

Wobei, was mir jetzt durchaus wieder ins Gedächtnis kommt, ist sein Kernsatz. Irgendwas bleibt ja doch immer hängen. Ob man will oder nicht. Er hat nämlich tatsächlich über diese Lampe gesprochen. Etwas in der Art von: Wenn die leuchte, solle man im Lauf der nächsten hundert bis zweihundert Kilometer dies AdBlue nachfüllen.

Abgespeichert habe ich es allerdings unter: «Wenn diese Leuchte leuchtet, muss man erstmal rund zweihundert Kilometer lang gar nichts machen. Wenn sie dann nicht von selbst ausgegangen ist, sollte man eventuell mal gucken.» Sicher war für mich unklar geblieben, was man denn gucken soll. Muss man wohl mal sehen, denke ich.

«Hallo!!», brüllt mich nun plötzlich die ganze erweiterte Familie an. «Nimmst du überhaupt noch an unserem Gespräch teil?»

«Doch, natürlich», lüge ich routiniert, aber wenig glaubwürdig.

«Okay», lächelt die Frau mephistophelisch, «dann bist du also einverstanden?»

Verdammt. Kein schlechter Schachzug. Versuche, zu kontern.

«Ja, im Prinzip schon.»

«Wie, im Prinzip?»

«Na ja, fass doch bitte die Entscheidung noch einmal kurz so zusammen, wie du sie verstanden hast. Damit es keine Missverständnisse gibt.»

Es stellt sich heraus, dass wir alle dafür sind, an der nächsten Tankstelle rauszufahren. Damit ich mich da um die ganze Chose kümmern kann, während die anderen die Gastronomie der Raststätte betreuen.

Zu meiner großen Überraschung ist dieser kluge Plan wohl sogar mein Vorschlag gewesen. Meinen sich die anderen zumindest übereinstimmend zu erinnern.

 

An der Tankstelle versuche ich, der Frau hinter dem Verkaufstresen meinen sehr speziellen Fall zu erläutern.

«Entschuldigung, aber ich habe ein recht ungewöhnliches Problem …»

«Geht’s um AdBlue?»

«Äh …, ja.»

«Sie fahren einen Leihwagen, und die gelbe Lampe leuchtet?»

«Genau.»

«Sie haben recht. Das ist ein extrem ungewöhnliches Problem für uns.»

«Können Sie mir helfen?»

«Wir haben dafür keine Kapazitäten, aber …»

Ihr Blick wandert zu einem mittelgroßen, sehr runden Mann, der an einem der Stehtische Cappuccino trinkt und Croissants mümmelt. Er lacht mich in einem kleinen Sprühregen aus Croissantkrümeln an:

«Wenn Sie mir mein zweites Frühstück zahlen, mache ich Ihnen das.»

Schaue verunsichert zu der Frau. Die nickt ermutigend.

«Paule kennt sich aus. Seien Sie froh. Der nächste AdBlueler muss ihm das Mittagessen zahlen. Spätere Mietwagenfahrer auch Alkohol und Zigaretten. Mit seinem Vormittagstarif sind Sie wirklich gut dran. Da ist das Preis-Leistungs-Verhältnis am besten.»

Denke, man kann von modernen Dieselautos halten, was man will. Aber sie schaffen definitiv Arbeitsplätze.

Beim Nachfüllen erklärt mir Paule sogar nochmal, warum moderne Dieselmotoren AdBlue benötigen. Und weil ich leider irgendwie nicht richtig konzentriert bei der Sache bin, merke ich es mir sogar versehentlich. Also zumindest vorläufig. Fürchte mich schon ein bisschen davor, das nächste Mal den Kaffeevollautomaten bedienen zu müssen.

 

Zurück im Wagen, lobt mich die Familie, und zur Belohnung erkläre ich ihnen ganz ausführlich die gesamte Problematik mit den Dieselmotoren und dem AdBlue. Und wo ich gerade dabei bin, auch noch die Krux mit der Mathematik. Das fühlt sich richtig großartig an, denn sie sind alle drei sehr interessiert, machen die ganze Zeit viele tolle Zuhörgeräusche und schauen dabei auf ihre Handys. Wahrscheinlich, um sich Notizen zu machen.

Doch schließlich drehen sie auch die Musik wieder lauter. Die Playlist ist bei «Hey Jude».

Ich darf sogar wieder mitsingen, wenn ich dafür zu erklären aufhöre. Guter Deal. Dann singen auch alle anderen. Nicht schön, aber gesund.

Irgendwann kommt eben alles zurück. Selbst das Glücksgefühl, im überfüllten Auto Beatles-Lieder grölend an die Ostsee zu fahren. Gott sei Dank.

Moulinex

Vor einigen Monaten fasste eine Sprecherin der Partei Die Linke in einem Radiointerview anlässlich einer Wahlniederlage die Gesamtsituation mal sehr treffend zusammen. Denn sie sagte dort wortwörtlich:

«Auch wenn wir mit diesem Ergebnis natürlich nicht zufrieden sein können, wäre ich doch auch unzufrieden, wenn diese Unzufriedenheit jetzt zu einer generellen Unzufriedenheit führen würde.»

Was tatsächlich so ein Satz ist, wie ich ihn auch denken könnte.

Also ich weiß genau, was sie meint. Wahrscheinlich hat sie sogar recht. Aber trotzdem fühlt es sich gleichzeitig schon auch irgendwie an, als wäre sie verrückt geworden. Also zumindest ein bisschen. Und da wiederum hat sie Glück. Denn ich denke: Die einzige Chance, im Moment nicht verrückt zu werden, ist: es schon zu sein.

Darum geht es. Dem Irrsinn ein kleines Stück voraus zu sein. Sich einen Vorsprung zu verschaffen. Damit man eben nicht vom Wahnsinn überrascht wird. Sondern ihm stattdessen zurufen kann: «Ich bin schon lange da. Da musste aber früher aufstehen. Ich warte hier schon ’ne ganze Weile!»

Oder anders formuliert: Wer in dieser Zeit immer noch auf einer intakten inneren Logik der Dinge besteht, der wird wahnsinnig. Definitiv. Da gibt es gar keine andere Möglichkeit. Wer hingegen dem Hirn freiwillig eine kleine Pause gönnt, also einiges von dem, was so passiert, auch einfach mal nur so durch den Kopf durchwinkt, ohne groß darüber nachzudenken, sodass es sich gar nicht verhaken kann, ohne Verweildauer, nur schnelle Durchreise – der hat eine Chance!

Immerhin kann man das zurzeit ganz wunderbar üben. Denn es gibt wirklich einiges, was sich zum Durchwinken eignet. Sogar exzellent. Beispiel:

Kürzlich bin ich ziemlich früh aufgestanden, habe aber erst am frühen Abend das Haus verlassen. Den ganzen Tag über hatte ich mehr oder weniger still zu Hause «gearbeitet». Das ist der Begriff, auf den ich mich am besten mit mir selbst einigen kann. Da stelle ich an mich selbst keine Nachfragen.

Doch dieser vermutete unschuldige Tagesablauf erwies sich schon kurz darauf als Irrtum. Denn beim Rausgehen fand ich unten im Hausflur, in unserem Briefkasten, eine Karte. Eine Benachrichtigungskarte, die mich darüber informierte, dass ich heute gar nicht zu Hause gewesen war. Weshalb man mir ein Paket auch nicht hätte zustellen können.

Nun ist so ein Ereignis natürlich keinesfalls ungewöhnlich. Im Gegenteil. Jeder kennt das. Jeder hat das schon mehrfach erlebt.

Selbstverständlich habe auch ich in den letzten Jahren einige Male gemeint, den ganzen Tag zu Hause gewesen zu sein. Und dann erst durch eine Benachrichtigungskarte erfahren, dass ich da tatsächlich aber gar nicht war. Sondern wahrscheinlich nochmal irgendwo anders. Was man jedoch vor meinem Gehirn geheim gehalten hat. Nun ist das natürlich besonders perfide. Denn wie soll man es dann bemerken? Aber egal!

Das Paket, das mich nicht angetroffen hatte, lag früher in der Regel auf der Post. Da allerdings das Paketaufkommen in den letzten Jahren so massiv zugenommen hat, war die Post in unserem Viertel oft völlig überlastet. Lange Schlangen, ewiges Warten. Das war oft nicht schön. Deshalb hat man die Post folgerichtig – geschlossen!

Und zwar für immer.

Wahrscheinlich wegen Marktwirtschaft.

So in etwa war wohl die Begründung. Da kann man praktisch gar nichts machen. Logisch. Denn wenn das sowieso immer so voll ist, dann bringt das ja alles nichts. Ist ja nachvollziehbar. Wie willst du denn vernünftig ein Geschäft führen, wenn da ständig die Leute sind? Wenn das so voll ist? Dann kann man es auch gleich zumachen. Das hat ja keine Zukunft.

Das unter anderem meine ich mit Dingen, die man besser einfach mal so durchs Hirn durchwinkt. Um nicht bekloppt zu werden. Es führt zu nichts, da zu lange drüber nachzudenken. Erhöht nur die Verwirrung.

Stattdessen liegen die Pakete nun also meist in einem von rund zwanzig Geschäften in der näheren, mittleren oder durchaus auch mal weiteren Umgebung, die alle mittlerweile zur Hälfte aus dort liegenden Paketen bestehen.

Was diese Geschäfte früher, vor den Paketen, mal verkauft haben? Man weiß es nicht. Teilweise wissen es nicht mal die Besitzer. Ich habe sie gefragt. Sie waren oft sehr verunsichert ob der Frage.

Wann und warum welches Paket in welchem Geschäft hinterlegt wird, folgt dabei einem ausgeklügelten System, das aber, wie es heißt, streng geheim ist. Oft wird es nicht einmal den Paketboten verraten. Was die Sache nicht einfacher macht.

Manchmal allerdings wird das Paket auch bei einem Nachbarn abgegeben. So auch in meinem aktuellen Fall. Prinzipiell ist die Abgabe beim Nachbarn natürlich eine gute Sache. Offen gestanden, es ist wohl sogar das Beste, was einem mittlerweile bei der Paketzustellung passieren kann. Diesmal jedoch wohnt dieser Mensch, der angeblich mein Nachbar ist, gar nicht in unserem Haus. Und auch nicht im Haus nebenan. Und auch nicht daneben. Nein, er wohnt, ohne Übertreibung, rund fünfzehn Querstraßen weiter, im dritten Stock eines zweiten Hinterhofs. Also alles in allem dann doch schon in einem anderen Bezirk. Aber egal!

Nachdem ich die drei U-Bahn-Stationen zu meinem Nachbarn gefahren war und im dritten Stock des zweiten Hinterhofs geklingelt hatte, öffnete mir eine Katze. Das war für mich der Moment, ab dem es seltsam wurde. Wobei, die Katze hat mir quasi geöffnet. Sprich, die Tür war nur angelehnt und wurde dann wohl irgendwie von dieser Katze aufgestoßen. Ich rief in die Wohnung: «Hallo!»

Keine Reaktion.

Nur die Katze starrte mich an. Wie Katzen dann eben so starren. Da ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte, zeigte ich ihr meine Benachrichtigungskarte.

Sie guckte kurz drauf. Dann lief sie um die Ecke des Flures, wo sechs Pakete lagen. Meines war das einzige, das das Tier aber mal so richtig zerkratzt hatte. Warum auch immer. Wahrscheinlich weiß es nur die Katze, wenn überhaupt. Ich legte der Katze die Karte hin. Sie zerfetzte auch diese. Damit schien für sie der Vorgang abgeschlossen. Zufrieden wandte sie sich ab und ging.

Ich wollte auch schon gehen, als plötzlich doch noch eine junge Frau im Flur erschien und rief:

«Oh, Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht gehört. Sie haben Ihr Paket schon gefunden?»

Ich zeigte ihr wortlos mein zerschundenes Bündel.

«Ach, tut mir leid, da war offensichtlich Moulinex schon dran.»

«Wer?»

«Moulinex.»

«Die Katze heißt Moulinex?»

«Ja.»

«Weil sie immer alles zerkleinert?»

«Na ja, dann hätte man sie ja auch Zick-Zick-Zyliss nennen können. Aber keine Ahnung. Ich habe hier noch nicht gewohnt, als sie ihren Namen bekommen hat.»

«Die Katze wohnt hier länger als Sie?»

«Ja, ihr Besitzer ist seit vier Jahren auf Reisen. Moulinex ist jetzt quasi der Hauptmieter. Und weil ich den günstigen Mietvertrag nicht verlieren will, lasse ich das auch mal lieber so. Besser nicht dran rühren, oder?»

Ich dachte: Das wink ich durch. Wer sowas nicht durchwinken kann, der darf in Berlin nicht klingeln. Doch die Frau redete schon weiter.

«Apropos reisen. Moulinex und ich sind jetzt auch für vier Wochen weg. Hier sind aber noch fünf Pakete. Könnten Sie die vielleicht nehmen?»

«Was? Wieso? Ich meine, wie soll das denn auch gehen? Die Leute wissen dann doch gar nicht, dass die Pakete bei mir liegen.»

«Och, das ginge schon. Wenn man will. Wir könnten ja hier einen Zettel an die Tür hängen. Mit Ihrer Adresse. Dann würden die Empfänger, wenn sie mit ihrer Karte kommen, gleich weiter zu Ihnen gehen. Wie bei einer Schnitzeljagd. Fänden die doch wahrscheinlich auch irgendwie lustig.»

Ich dachte spontan: Nee. Glaub ich gar nicht. Man staunt ja oft, was die Menschen so alles gar nicht lustig finden. Ist oft ganz verblüffend. Wo man selbst überzeugt ist: Boah, das ist ja total komisch! Ich könnt mich wegschmeißen, der Hammer ist das … Und dann findet’s aber keiner komisch. Gibt’s häufiger, als man denkt. Ich könnte da sogar aus erster Hand sehr viele Beispiele nennen. Ich könnte da quasi ganze Abende mit füllen. Hab ich teilweise auch schon. Das alles und noch mehr dachte ich, sagte aber leider nur:

«Äääääähhh …»

Sie wertete das als ja.

Ich weiß nicht mehr ganz genau, wie es im Einzelnen passieren konnte, aber Fakt ist: Rund eine Stunde später lagen diese fünf Pakete tatsächlich bei uns. Also im Flur unserer Wohnung. Zwei Tage später lagen sie immer noch da. Und vier Tage später fragte die Tochter:

«Sag mal, was ist eigentlich mit den Paketen hier?»

Antwortete wahrheitsgemäß: «Das ist echt ’ne lange Geschichte. Das willst du gar nicht wissen.»

Sie nickte. «Okay, kann ich durchwinken. Aber sag mal, wieso stellst du denn diese Pakete jetzt nicht einfach mal zu?»

«Was?»

«Na ja, du warst doch früher mal Eilzusteller bei der Post. Erzählst du ja ständig von. Wie schön das war. Wie dir das manchmal fehlt. Du dich zurücksehnst. Und die Adressen stehen ja alle auf den Paketen drauf. Da wäre es doch wahrscheinlich das Einfachste, wenn du das jetzt mal schnell zustellst, oder?»

Ich dachte: Um Gottes willen, sie hat recht. Das ist jetzt vermutlich wirklich die schnellste und unkomplizierteste Lösung.

Wobei, ich habe am Ende fast drei Stunden für die fünf Pakete gebraucht. Schnell im engeren Sinne kann man es wohl doch nicht nennen. Aber dafür wurde nun alles zugestellt. Also quasi. Eins beim tatsächlichen Empfänger. Eins beim Nachbarn auf demselben Stockwerk. Ein richtiger Nachbar sozusagen. Der gilt! Wenn man in Puschen rübergehen kann. Das ist Nachbar! Wo die Tür aufgeht und man denkt: Den habe ich schon mal gesehen. Das ist Nachbar! Zwei weitere Pakete bei einem Nachbarn, bei dem schon massig andere Pakete lagen. Eins davon erfreulicherweise sogar für mich. Das war super! Konnte ich gleich mitnehmen. Wir haben uns so gefreut. Es sind die kleinen Dinge.

Nur am letzten Paket wäre ich fast gescheitert. Bis ich mich an einen sehr alten Eilzustellertrick erinnerte. Also, ich habe gesehen, dass ich dem Empfänger im ersten Stock das Paket vom Bürgersteig aus auf den Balkon werfen konnte. Diese Zustellmethode atmet zwar durchaus schon ein wenig den Odem des Halblegalen. Doch wenn es keine andere Möglichkeit gibt und man gut werfen kann, dann kann man das schon mal machen.

Es hat zwar leider erst im dritten oder vierten Versuch geklappt. Weil, ob man gut werfen kann, merkt man ja auch immer erst, wenn man es versucht hat. Aber wenn es dann schon zweimal nicht geklappt hat, ist es ja auch blöd aufzuhören. Wie sieht das aus? Und immerhin. Ich sag mal: Zugestellt ist zugestellt.

Nahplatzerfahrung

Ende November. Bin bei meinem Freund Dirk zum Frühstück. Wir unterhalten uns darüber, wie nun, aufgrund des Krieges, alle versuchen, im kommenden Winter möglichst viel Energie zu sparen. Weshalb sie zum Teil wohl schon in dicken Pullovern oder sogar Winterjacken in der eigenen kalten Wohnung sitzen. Oder zumindest entsprechende Bilder posten.

Dirk meint, wenn er diese Bilder sieht, müsse er oft an den sehr warmen Schneeanorak seiner Kindheit denken. Allerdings aus anderen Gründen. Bei dem Schneeanorak habe sich nämlich irgendwann mal der Reißverschluss verhakt. Und zwar ganz oben. Just in dem Moment, als er in die damals natürlich völlig überheizte Wohnung der Großeltern gekommen sei. Wo er also den Anorak ausziehen wollte, was dann wegen des verhakten Reißverschlusses aber nicht ging.

Daraufhin sei er in Bruchteilen von Sekunden, aus der Kälte kommend, schockerhitzt worden. Was dazu führte, dass ihm erst der Schweiß ausbrach, dann noch mehr Schweiß, bis er schließlich in Panik verfiel. Weil er sich einfach nicht aus dem vermaledeiten Anorak befreien konnte. Weshalb er wohl zunehmend wild schreiend um sich geschlagen hat.

Die Großeltern hätten darauf keine andere Möglichkeit mehr gewusst, als das laut und verzweifelt brüllende Kind erstmal auf den Balkon zu stellen. Zum Abkühlen. Was auch funktionierte. Wodurch sich alles entspannte. Einschließlich ihm und sogar des Reißverschlusses, der plötzlich ohne Probleme wieder auf- und zuging. Als wäre nie was gewesen. Dennoch hat Dirk dieses rasend schnelle Aufheizen nie ganz verwunden. Glaubt er. Für kurze Zeit war er wohl damals absolut überzeugt, er würde jetzt in diesem Schneeanorak einfach so platzen. Explodieren. Vor Hitze. Bumm!

Aufgrund dieser kindlichen, wie er es nennt, Nahplatzerfahrung habe er bis heute immer ein ungutes Gefühl, eine Jacke zuzumachen. Denn stets sei da diese Furcht, er könne plötzlich ins Warme kommen und kriege die Jacke nicht mehr auf. Wodurch er im Winter häufig erkältet sei. Da er eben ständig mit offener Jacke rumrenne. An Tagen, an denen ihn sein Trauma besonders quäle, sogar im offenen Hemd, wenn nicht sogar mit offener … aber das führt zu weit.

Frage Dirk, warum er mir diese Geschichte erzählt. Er meint, damit ich sie ihm erzählen könne, wenn er sie irgendwann vergessen haben sollte und sich selbst frage, warum er eigentlich ständig im Winter mit offener Jacke rumrenne.

Ich winke das durch, denn ich verstehe sehr gut, was in ihm vorgeht. Schließlich haben wir beide mittlerweile ein Alter erreicht, wo man über solche Sachen nachdenkt. Also Dinge wie Vergesslichkeit, Alzheimer und den ganzen anderen Rest, den ich mir nicht merken kann.

Wobei die Probleme, die sich hieraus ergeben, natürlich vielfältig sind. Eine der größten Schwierigkeiten bei der Handhabung der Vergesslichkeit besteht ja beispielsweise darin, dass man auch vergisst, was man vergessen hat. So wie es mir neulich passiert ist. Als ich vergessen hatte, vor dem Verlassen der Wohnung das Badezimmerfenster zuzumachen. Weshalb ich, als ich schon fast unten war, nochmal zurück in die Wohnung bin, drei Stockwerke wieder hoch. Dann aber im Flur der Wohnung nicht mehr wusste, warum ich eigentlich nochmal hochgekommen war. Daher eine Weile nur so