Zur Psychopathologie des Alltagslebens - Sigmund Freud - E-Book

Zur Psychopathologie des Alltagslebens E-Book

Sigmund Freud

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Gesammelte Werke in Einzelbänden, Band IV: Zur Psychopathologie des Alltagslebens - Vergessen von Eigennamen - Vergessen von fremdsprachigen Worten - Vergessen von Namen und Wortfolgen - Über Kindheits- und Deckerinnerungen - Das Versprechen - Verlesen und Verschreiben - Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen - Das Vergreifen - Symptom- und Zufallshandlungen - Irrtümer - Kombinierte Fehlleistungen - Determinismus - Zufalls- und Aberglauben - Gesichtspunkte

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Sigmund Freud

Band 4:Zur Psychopathologie des Alltagslebens

Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum

Fischer e-books

ZUR PSYCHOPATHOLOGIE DES ALLTAGSLEBENS

(ÜBER VERGESSEN, VERSPRECHEN, VERGREIFEN, ABERGLAUBE UND IRRTUM)

Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll, Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll.

Faust, II. Teil, V. Akt.

IVERGESSEN VON EIGENNAMEN

Im Jahrgang 1898 der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ habe ich unter dem Titel „Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit“ einen kleinen Aufsatz veröffentlicht, dessen Inhalt ich hier wiederholen und zum Ausgang für weitere Erörterungen nehmen werde. Ich habe dort den häufigen Fall des zeitweiligen Vergessens von Eigennamen an einem prägnanten Beispiel aus meiner Selbstbeobachtung der psychologischen Analyse unterzogen und bin zu dem Ergebnis gelangt, daß dieser gewöhnliche und praktisch nicht sehr bedeutsame Einzelvorfall von Versagen einer psychischen Funktion – des Erinnerns – eine Aufklärung zuläßt, welche weit über die gebräuchliche Verwertung des Phänomens hinausführt.

Wenn ich nicht sehr irre, würde ein Psycholog, von dem man die Erklärung forderte, wie es zugehe, daß einem so oft ein Name nicht einfällt, den man doch zu kennen glaubt, sich begnügen zu antworten, daß Eigennamen dem Vergessen leichter unterliegen als andersartiger Gedächtnisinhalt. Er würde die plausiblen Gründe für solche Bevorzugung der Eigennamen anführen, eine anderweitige Bedingtheit des Vorganges aber nicht vermuten.

Für mich wurde zum Anlaß einer eingehenden Beschäftigung mit dem Phänomen des zeitweiligen Namenvergessens die Beob{006}achtung gewisser Einzelheiten, die sich zwar nicht in allen Fällen, aber in einzelnen deutlich genug erkennen lassen. In solchen Fällen wird nämlich nicht nur vergessen, sondern auch falsch erinnert. Dem sich um den entfallenen Namen Bemühenden kommen andere – Ersatznamen – zum Bewußtsein, die zwar sofort als unrichtig erkannt werden, sich aber doch mit großer Zähigkeit immer wieder aufdrängen. Der Vorgang, der zur Reproduktion des gesuchten Namens führen soll, hat sich gleichsam verschoben und so zu einem unrichtigen Ersatz geführt. Meine Voraussetzung ist nun, daß diese Verschiebung nicht psychischer Willkür überlassen ist, sondern gesetzmäßige und berechenbare Bahnen einhält. Mit anderen Worten, ich vermute, daß der oder die Ersatznamen in einem aufspürbaren Zusammenhang mit dem gesuchten Namen stehen, und hoffe, wenn es mir gelingt, diesen Zusammenhang nachzuweisen, dann auch Licht über den Hergang des Namenvergessens zu verbreiten.

In dem 1898 von mir zur Analyse gewählten Beispiel war es der Name des Meisters, welcher im Dom von Orvieto die großartigen Fresken von den „letzten Dingen“ geschaffen, den zu erinnern ich mich vergebens bemühte. Anstatt des gesuchten Namens – Signorelli – drängten sich mir zwei andere Namen von Malern auf – Botticelli und Boltraffio –, die mein Urteil sofort und entschieden als unrichtig abwies. Als mir der richtige Name von fremder Seite mitgeteilt wurde, erkannte ich ihn sogleich und ohne Schwanken. Die Untersuchung, durch welche Einflüsse und auf welchen Assoziationswegen sich die Reproduktion in solcher Weise – von Signorelli auf Botticelli und Boltraffio – verschoben hatte, führte zu folgenden Ergebnissen:

a) Der Grund für das Entfallen des Namens Signorelli ist weder in einer Besonderheit dieses Namens selbst, noch in einem psychologischen Charakter des Zusammenhanges zu suchen, in {007}welchen derselbe eingefügt war. Der vergessene Name war mir ebenso vertraut wie der eine der Ersatznamen – Botticelli – und ungleich vertrauter als der andere der Ersatznamen – Boltraffio –, von dessen Träger ich kaum etwas anderes anzugeben wüßte, als seine Zugehörigkeit zur mailändischen Schule. Der Zusammenhang aber, in dem sich das Namenvergessen ereignete, erscheint mir harmlos und führt zu keiner weiteren Aufklärung: Ich machte mit einem Fremden eine Wagenfahrt von Ragusa in Dalmatien nach einer Station der Herzegowina; wir kamen auf das Reisen in Italien zu sprechen, und ich fragte meinen Reisegefährten, ob er schon in Orvieto gewesen und dort die berühmten Fresken des *** besichtigt habe.

b) Das Namenvergessen erklärt sich erst, wenn ich mich an das in jener Unterhaltung unmittelbar vorhergehende Thema erinnere, und gibt sich als eine Störung des neu auftauchenden Themas durch das vorhergehende zu erkennen. Kurz ehe ich an meinen Reisegefährten die Frage stellte, ob er schon in Orvieto gewesen, hatten wir uns über die Sitten der in Bosnien und in der Herzegowina lebenden Türken unterhalten. Ich hatte erzählt, was ich von einem unter diesen Leuten praktizierenden Kollegen gehört hatte, daß sie sich voll Vertrauen in den Arzt und voll Ergebung in das Schicksal zu zeigen pflegen. Wenn man ihnen ankündigen muß, daß es für den Kranken keine Hilfe gibt, so antworten sie: „Herr, was ist da zu sagen? Ich weiß, wenn er zu retten wäre, hättest du ihn gerettet!" – Erst in diesen Sätzen finden sich die Worte und Namen: Bosnien, Herzegowina, Herr vor, welche sich in eine Assoziationsreihe zwischen Signorelli und Botticelli – Boltraffio einschalten lassen.

c) Ich nehme an, daß der Gedankenreihe von den Sitten der Türken in Bosnien usw. die Fähigkeit, einen nächsten Gedanken zu stören, darum zukam, weil ich ihr meine Aufmerksamkeit entzogen hatte, ehe sie noch zu Ende gebracht war. Ich erinnere {008}mich nämlich, daß ich eine zweite Anekdote erzählen wollte, die nahe bei der ersten in meinem Gedächtnis ruhte. Diese Türken schätzen den Sexualgenuß über alles und verfallen bei sexuellen Störungen in eine Verzweiflung, welche seltsam gegen ihre Resignation bei Todesgefahr absticht. Einer der Patienten meines Kollegen hatte ihm einmal gesagt: „Du weißt ja, Herr, wenn das nicht mehr geht, dann hat das Leben keinen Wert.“ Ich unterdrückte die Mitteilung dieses charakteristischen Zuges, weil ich das Thema nicht in einem Gespräch mit einem Fremden berühren wollte. Ich tat aber noch mehr; ich lenkte meine Aufmerksamkeit auch von der Fortsetzung der Gedanken ab, die sich bei mir an das Thema „Tod und Sexualität“ hätten knüpfen können. Ich stand damals unter der Nachwirkung einer Nachricht, die ich wenige Wochen vorher während eines kurzen Aufenthaltes in Trafoi erhalten hatte. Ein Patient, mit dem ich mir viele Mühe gegeben, hatte wegen einer unheilbaren sexuellen Störung seinem Leben ein Ende gemacht. Ich weiß bestimmt, daß mir auf jener Reise in die Herzegowina dieses traurige Ereignis und alles, was damit zusammenhängt, nicht zur bewußten Erinnerung kam. Aber die Übereinstimmung Trafoi – Boltraffio nötigt mich anzunehmen, daß damals diese Reminiszenz trotz der absichtlichen Ablenkung meiner Aufmerksamkeit in mir zur Wirksamkeit gebracht worden ist.

d) Ich kann das Vergessen des Namens Signorelli nicht mehr als ein zufälliges Ereignis auffassen. Ich muß den Einfluß eines Motivs bei diesem Vorgang anerkennen. Es waren Motive, die mich veranlaßten, mich in der Mitteilung meiner Gedanken (über die Sitten der Türken usw.) zu unterbrechen, und die mich ferner beeinflußten, die daran sich knüpfenden Gedanken, die bis zur Nachricht in Trafoi geführt hätten, in mir vom Bewußtwerden auszuschließen. Ich wollte also etwas vergessen, ich hatte etwas verdrängt. Ich wollte allerdings etwas anderes vergessen als den Namen des Meisters von Orvieto; aber dieses andere {009}brachte es zustande, sich mit dessen Namen in assoziative Verbindung zu setzen, so daß mein Willensakt das Ziel verfehlte und ich das eine wider Willen vergaß, während ich das andere mit Absicht vergessen wollte. Die Abneigung, zu erinnern, richtete sich gegen den einen Inhalt; die Unfähigkeit, zu erinnern, trat an einem anderen hervor. Es wäre offenbar ein einfacherer Fall, wenn Abneigung und Unfähigkeit, zu erinnern, denselben Inhalt beträfen. – Die Ersatznamen erscheinen mir auch nicht mehr so völlig unberechtigt wie vor der Aufklärung; sie mahnen mich (nach Art eines Kompromisses) ebensosehr an das, was ich vergessen, wie an das, was ich erinnern wollte, und zeigen mir, daß meine Absicht, etwas zu vergessen, weder ganz gelungen, noch ganz mißglückt ist.

e) Sehr auffällig ist die Art der Verknüpfung, die sich zwischen dem gesuchten Namen und dem verdrängten Thema (von Tod und Sexualität usw., in dem die Namen Bosnien, Herzegowina, Trafoi vorkommen) hergestellt hat. Das hier eingeschaltete, aus der Abhandlung des Jahres 1898 wiederholte Schema sucht diese Verknüpfung anschaulich darzustellen.

{010}

Der Name Signorelli ist dabei in zwei Stücke zerlegt worden. Das eine Silbenpaar ist in einem der Ersatznamen unverändert wiedergekehrt (elli), das andere hat durch die Übersetzung Signor–Herr mehrfache und verschiedenartige Beziehungen zu den im verdrängten Thema enthaltenen Namen gewonnen, ist aber dadurch für die Reproduktion verloren gegangen. Sein Ersatz hat so stattgefunden, als ob eine Verschiebung längs der Namenverbindung „Herzegowina und Bosnien“ vorgenommen worden wäre, ohne Rücksicht auf den Sinn und auf die akustische Abgrenzung der Silben zu nehmen. Die Namen sind also bei diesem Vorgang ähnlich behandelt worden wie die Schriftbilder eines Satzes, der in ein Bilderrätsel (Rebus) umgewandelt werden soll. Von dem ganzen Hergang, der anstatt des Namens Signorelli auf solchen Wegen die Ersatznamen geschaffen hat, ist dem Bewußtsein keine Kunde gegeben worden. Eine Beziehung zwischen dem Thema, in dem der Name Signorelli vorkam, und dem zeitlich ihm vorangehenden verdrängten Thema, welche über diese Wiederkehr gleicher Silben (oder vielmehr Buchstabenfolgen) hinausginge, scheint zunächst nicht auffindbar zu sein.

Es ist vielleicht nicht überflüssig zu bemerken, daß die von den Psychologen angenommenen Bedingungen der Reproduktion und des Vergessens, die in gewissen Relationen und Dispositionen gesucht werden, durch die vorstehende Aufklärung einen Widerspruch nicht erfahren. Wir haben nur für gewisse Fälle zu all den längst anerkannten Momenten, die das Vergessen eines Namens bewirken können, noch ein Motiv hinzugefügt und überdies den Mechanismus des Fehlerinnerns klargelegt. Jene Dispositionen sind auch für unseren Fall unentbehrlich, um die Möglichkeit zu schaffen, daß das verdrängte Element sich assoziativ des gesuchten Namens bemächtige und es mit sich in die Verdrängung nehme. Bei einem anderen Namen mit günstigeren Reproduktionsbedingungen wäre dies vielleicht nicht geschehen. Es ist ja wahrscheinlich, daß ein unterdrücktes Element {011}allemal bestrebt ist, sich irgendwo anders zur Geltung zu bringen, diesen Erfolg aber nur dort erreicht, wo ihm geeignete Bedingungen entgegenkommen. Andere Male gelingt die Unterdrückung ohne Funktionsstörung, oder, wie wir mit Recht sagen können, ohne Symptome.

Die Zusammenfassung der Bedingungen für das Vergessen eines Namens mit Fehlerinnern ergibt also: 1.) eine gewisse Disposition zum Vergessen desselben, 2.) einen kurz vorher abgelaufenen Unterdrückungsvorgang, 3.) die Möglichkeit, eine äußerliche Assoziation zwischen dem betreffenden Namen und dem vorher unterdrückten Element herzustellen. Letztere Bedingung wird man wahrscheinlich nicht sehr hoch veranschlagen müssen, da bei den geringen Ansprüchen an die Assoziation eine solche in den allermeisten Fällen durchzusetzen sein dürfte. Eine andere und tiefer reichende Frage ist es, ob eine solche äußerliche Assoziation wirklich die genügende Bedingung dafür sein kann, daß das verdrängte Element die Reproduktion des gesuchten Namens störe, ob nicht doch notwendig ein intimerer Zusammenhang der beiden Themata erforderlich wird. Bei oberflächlicher Betrachtung würde man letztere Forderung abweisen wollen und das zeitliche Aneinanderstoßen bei völlig disparatem Inhalt für genügend halten. Bei eingehender Untersuchung findet man aber immer häufiger, daß die beiden durch eine äußerliche Assoziation verknüpften Elemente (das verdrängte und das neue) außerdem einen inhaltlichen Zusammenhang besitzen, und auch in dem Beispiel Signorelli läßt sich ein solcher erweisen.

Der Wert der Einsicht, die wir bei der Analyse des Beispiels Signorelli gewonnen haben, hängt natürlich davon ab, ob wir diesen Fall für ein typisches oder für ein vereinzeltes Vorkommnis erklären wollen. Ich muß nun behaupten, daß das Namenvergessen mit Fehlerinnern ungemein häufig so zugeht, wie wir es im Falle Signorelli aufgelöst haben. Fast allemal, da ich dies Phänomen bei mir selbst beobachten konnte, war ich auch {012}imstande, es mir in der vorerwähnten Weise als durch Verdrängung motiviert zu erklären. Ich muß auch noch einen anderen Gesichtspunkt zugunsten der typischen Natur unserer Analyse geltend machen. Ich glaube, daß man nicht berechtigt ist, die Fälle von Namenvergessen mit Fehlerinnern prinzipiell von solchen zu trennen, in denen sich unrichtige Ersatznamen nicht eingestellt haben. Diese Ersatznamen kommen in einer Anzahl von Fällen spontan; in anderen Fällen, wo sie nicht spontan aufgetaucht sind, kann man sie durch Anstrengung der Aufmerksamkeit zum Auftauchen zwingen, und sie zeigen dann die nämlichen Beziehungen zum verdrängten Element und zum gesuchten Namen, wie wenn sie spontan gekommen wären. Für das Bewußtwerden des Ersatznamens scheinen zwei Momente maßgebend zu sein, erstens die Bemühung der Aufmerksamkeit, zweitens eine innere Bedingung, die am psychischen Material haftet. Ich könnte letztere in der größeren oder geringeren Leichtigkeit suchen, mit welcher sich die benötigte äußerliche Assoziation zwischen den beiden Elementen herstellt. Ein guter Teil der Fälle von Namenvergessen ohne Fehlerinnern schließt sich so den Fällen mit Ersatznamenbildung an, für welche der Mechanismus des Beispiels „Signorelli“ gilt. Ich werde mich aber gewiß nicht der Behauptung erkühnen, daß alle Fälle von Namenvergessen in die nämliche Gruppe einzureihen seien. Es gibt ohne Zweifel Fälle von Namenvergessen, die weit einfacher zugehen. Wir werden den Sachverhalt wohl vorsichtig genug dargestellt haben, wenn wir aussprechen: Neben dem einfachen Vergessen von Eigennamen kommt auch ein Vergessen vor, welches durch Verdrängung motiviert ist.

IIVERGESSEN VON FREMDSPRACHIGEN WORTEN

Der gebräuchliche Sprachschatz unserer eigenen Sprache scheint innerhalb der Breite normaler Funktion gegen das Vergessen geschützt. Anders steht es bekanntlich mit den Vokabeln einer fremden Sprache. Die Disposition zum Vergessen derselben ist für alle Redeteile vorhanden, und ein erster Grad von Funktionsstörung zeigt sich in der Ungleichmäßigkeit unserer Verfügung über den fremden Sprachschatz, je nach unserem Allgemeinbefinden und dem Grade unserer Ermüdung. Dieses Vergessen geht in einer Reihe von Fällen nach demselben Mechanismus vor sich, den uns das Beispiel „Signorelli“ enthüllt hat. Ich werde zum Beweise hiefür eine einzige, aber durch wertvolle Eigentümlichkeiten ausgezeichnete Analyse mitteilen, die den Fall des Vergessens eines nicht substantivischen Wortes aus einem lateinischen Zitat betrifft. Man gestatte mir, den kleinen Vorfall breit und anschaulich vorzutragen.

Im letzten Sommer erneuerte ich – wiederum auf der Ferienreise – die Bekanntschaft eines jungen Mannes von akademischer Bildung, der, wie ich bald merkte, mit einigen meiner psychologischen Publikationen vertraut war. Wir waren im Gespräch – ich weiß nicht mehr wie – auf die soziale Lage des Volksstammes gekommen, dem wir beide angehören, und er, der Ehrgeizige, erging sich in Bedauern darüber, daß seine {014}Generation, wie er sich äußerte, zur Verkümmerung bestimmt sei, ihre Talente nicht entwickeln und ihre Bedürfnisse nicht befriedigen könne. Er schloß seine leidenschaftlich bewegte Rede mit dem bekannten Vergilschen Vers, in dem die unglückliche Dido ihre Rache an Aeneas der Nachwelt überträgt: Exoriare …, vielmehr er wollte so schließen, denn er brachte das Zitat nicht zustande und suchte eine offenkundige Lücke der Erinnerung durch Umstellung von Worten zu verdecken: Exoriar(e) ex nostris ossibus ultor! Endlich sagte er geärgert: „Bitte, machen Sie nicht ein so spöttisches Gesicht, als ob Sie sich an meiner Verlegenheit weiden würden, und helfen Sie mir lieber. An dem Vers fehlt etwas. Wie heißt er eigentlich vollständig?“

Gerne, erwiderte ich und zitierte, wie es richtig lautet:

Exoriar(e) aliquis nostris ex ossibus ultor!

„Zu dumm, ein solches Wort zu vergessen. Übrigens von Ihnen hört man ja, daß man nichts ohne Grund vergißt. Ich wäre doch zu neugierig zu erfahren, wie ich zum Vergessen dieses unbestimmten Pronomen aliquis komme.“

Ich nahm diese Herausforderung bereitwilligst an, da ich einen Beitrag zu meiner Sammlung erhoffte. Ich sagte also: Das können wir gleich haben. Ich muß Sie nur bitten, mir aufrichtig und kritiklos alles mitzuteilen, was Ihnen einfällt, wenn Sie ohne bestimmte Absicht Ihre Aufmerksamkeit auf das vergessene Wort richten[1].

„Gut, da komme ich also auf den lächerlichen Einfall, mir das Wort in folgender Art zu zerteilen: a und liquis.“

Was soll das? – „Weiß ich nicht." – Was fällt Ihnen weiter dazu ein? – „Das setzt sich so fort: Reliquien – Liquidation – Flüssigkeit – Fluid. Wissen Sie jetzt schon etwas?“

Nein, noch lange nicht. Aber fahren Sie fort.

{015}

„Ich denke", fuhr er höhnisch lachend fort, „an Simon von Trient, dessen Reliquien ich vor zwei Jahren in einer Kirche in Trient gesehen habe. Ich denke an die Blutbeschuldigung, die gerade jetzt wieder gegen die Juden erhoben wird, und an die Schrift von Kleinpaul, der in all diesen angeblichen Opfern Inkarnationen, sozusagen Neuauflagen des Heilands sieht.“

Der Einfall ist nicht ganz ohne Zusammenhang mit dem Thema, über das wir uns unterhielten, ehe Ihnen das lateinische Wort entfiel.

„Richtig. Ich denke ferner an einen Zeitungsartikel in einem italienischen Journal, den ich kürzlich gelesen. Ich glaube, er war überschrieben: Was der hl. Augustinus über die Frauen sagt. Was machen Sie damit?“

Ich warte.

„Also jetzt kommt etwas, was ganz gewiß außer Zusammenhang mit unserem Thema steht.“

Enthalten Sie sich gefälligst jeder Kritik und –

„Ich weiß schon. Ich erinnere mich eines prächtigen alten Herrn, den ich vorige Woche auf der Reise getroffen. Ein wahres Original. Er sieht aus wie ein großer Raubvogel. Er heißt, wenn Sie es wissen wollen, Benedikt.“

Doch wenigstens eine Aneinanderreihung von Heiligen und Kirchenvätern: Der heilige Simon, St. Augustinus, St. Benediktus. Ein Kirchenvater hieß, glaube ich, Origines. Drei dieser Namen sind übrigens auch Vornamen wie Paul im Namen Kleinpaul.

„Jetzt fällt mir der heilige Januarius ein und sein Blutwunder – ich finde, das geht mechanisch so weiter.“

Lassen Sie das; der heilige Januarius und der heilige Augustinus haben beide mit dem Kalender zu tun. Wollen Sie mich nicht an das Blutwunder erinnern?

„Das werden Sie doch kennen! In einer Kirche zu Neapel wird in einer Phiole das Blut des heiligen Januarius aufbewahrt, {016}welches durch ein Wunder an einem bestimmten Festtag wieder flüssig wird. Das Volk hält viel auf dieses Wunder und wird sehr aufgeregt, wenn es sich verzögert, wie es einmal zur Zeit einer französischen Okkupation geschah. Da nahm der kommandierende General – oder irre ich mich? war es Garibaldi? – den geistlichen Herrn beiseite und bedeutete ihm mit einer sehr verständlichen Gebärde auf die draußen aufgestellten Soldaten, er hoffe, das Wunder werde sich sehr bald vollziehen. Und es vollzog sich wirklich …“

Nun und weiter? Warum stocken Sie?

„Jetzt ist mir allerdings etwas eingefallen … das ist aber zu intim für die Mitteilung … Ich sehe übrigens keinen Zusammenhang und keine Nötigung, es zu erzählen.“

Für den Zusammenhang würde ich sorgen. Ich kann Sie ja nicht zwingen zu erzählen, was Ihnen unangenehm ist; dann verlangen Sie aber auch nicht von mir zu wissen, auf welchem Wege Sie jenes Wort aliquis vergessen haben.

„Wirklich? Glauben Sie? Also ich habe plötzlich an eine Dame gedacht, von der ich leicht eine Nachricht bekommen könnte, die uns beiden recht unangenehm wäre.“

Daß ihr die Periode ausgeblieben ist?

„Wie können Sie das erraten?“

Das ist nicht mehr schwierig. Sie haben mich genügend darauf vorbereitet. Denken Sie an die Kalenderheiligen, an das Flüssigwerden des Blutes zu einem bestimmten Tage, den Aufruhr, wenn das Ereignis nicht eintritt, die deutliche Drohung, daß das Wunder vor sich gehen muß, sonst … Sie haben ja das Wunder des heiligen Januarius zu einer prächtigen Anspielung auf die Periode der Frau verarbeitet.

„Ohne daß ich es gewußt hätte. Und Sie meinen wirklich, wegen dieser ängstlichen Erwartung hätte ich das Wörtchen aliquis nicht reproduzieren können?“

{017}

Das scheint mir unzweifelhaft. Erinnern Sie sich doch an Ihre Zerlegung in a–liquis und an die Assoziationen: Reliquien, Liquidation, Flüssigkeit. Soll ich noch den als Kind hingeopferten heiligen Simon, auf den Sie von den Reliquien her kamen, in den Zusammenhang einflechten?

„Tun Sie das lieber nicht. Ich hoffe, Sie nehmen diese Gedanken, wenn ich sie wirklich gehabt habe, nicht für Ernst. Ich will Ihnen dafür gestehen, daß die Dame Italienerin ist, in deren Gesellschaft ich auch Neapel besucht habe. Kann das aber nicht alles Zufall sein?“

Ich muß es Ihrer eigenen Beurteilung überlassen, ob Sie sich alle diese Zusammenhänge durch die Annahme eines Zufalls aufklären können. Ich sage Ihnen aber, jeder ähnliche Fall, den Sie analysieren wollen, wird Sie auf ebenso merkwürdige „Zufälle“ führen[2].

Ich habe mehrere Gründe, diese kleine Analyse, für deren Überlassung ich meinem damaligen Reisegenossen Dank schulde, zu schätzen. Erstens, weil mir in diesem Falle gestattet war, aus einer Quelle zu schöpfen, die mir sonst versagt ist. Ich bin zumeist genötigt, die Beispiele von psychischer Funktionsstörung im täglichen Leben, die ich hier zusammenstelle, meiner Selbstbeobachtung zu entnehmen. Das weit reichere Material, das mir meine neurotischen Patienten liefern, suche ich zu vermeiden, weil ich den Einwand fürchten muß, die betreffenden Phänomene seien eben Erfolge und Äußerungen der Neurose. Es hat also besonderen Wert für meine Zwecke, wenn sich eine nervengesunde fremde Person zum Objekt einer solchen Untersuchung {018}erbietet. In anderer Hinsicht wird mir diese Analyse bedeutungsvoll, indem sie einen Fall von Wortvergessen ohne Ersatzerinnern beleuchtet und meinen vorhin aufgestellten Satz bestätigt, daß das Auftauchen oder Ausbleiben von unrichtigen Ersatzerinnerungen eine wesentliche Unterscheidung nicht begründen kann.[3]

Der Hauptwert des Beispiels aliquis ist aber in einem anderen seiner Unterschiede von dem Falle „Signorelli“ gelegen. Im letzteren Beispiel wird die Reproduktion des Namens gestört durch die Nachwirkung eines Gedankenganges, der kurz vorher begonnen und abgebrochen wurde, dessen Inhalt aber in keinem {019}deutlichen Zusammenhang mit dem neuen Thema stand, in dem der Name Signorelli enthalten war. Zwischen dem verdrängten und dem Thema des vergessenen Namens bestand bloß die Beziehung der zeitlichen Kontiguität; dieselbe reichte hin, damit sich die beiden durch eine äußerliche Assoziation in Verbindung setzen konnten[4]. Im Beispiel aliquis hingegen ist von einem solchen unabhängigen verdrängten Thema, welches unmittelbar vorher das bewußte Denken beschäftigt hätte und nun als Störung nachklänge, nichts zu merken. Die Störung der Reproduktion erfolgt hier aus dem Innern des angeschlagenen Themas heraus, indem sich unbewußt ein Widerspruch gegen die im Zitat dargestellte Wunschidee erhebt. Man muß sich den Hergang in folgender Art konstruieren: Der Redner hat bedauert, daß die gegenwärtige Generation seines Volkes in ihren Rechten verkürzt wird; eine neue Generation, weissagt er wie Dido, wird die Rache an den Bedrängern übernehmen. Er hat also den Wunsch nach Nachkommenschaft ausgesprochen. In diesem Moment fährt ihm ein widersprechender Gedanke dazwischen. „Wünschest du dir Nachkommenschaft wirklich so lebhaft? Das ist nicht wahr. In welche Verlegenheit kämest du, wenn du jetzt die Nachricht erhieltest, daß du von der einen Seite, die du kennst, Nachkommen zu erwarten hast? Nein, keine Nachkommenschaft, – wiewohl wir sie für die Rache brauchen.“ Dieser Widerspruch bringt sich nun zur Geltung, indem er genau wie im Beispiel Signorelli eine äußerliche Assoziation zwischen einem seiner Vorstellungselemente und einem Element des beanstandeten Wunsches herstellt, und zwar diesmal auf eine höchst gewaltsame Weise durch einen gekünstelt erscheinenden Assoziationsumweg. Eine zweite wesentliche Übereinstimmung mit dem {020}Beispiel Signorelli ergibt sich daraus, daß der Widerspruch aus verdrängten Quellen stammt und von Gedanken ausgeht, welche eine Abwendung der Aufmerksamkeit hervorrufen würden. – Soviel über die Verschiedenheit und über die innere Verwandtschaft der beiden Paradigmata des Namenvergessens. Wir haben einen zweiten Mechanismus des Vergessens kennen gelernt, die Störung eines Gedankens durch einen aus dem Verdrängten kommenden inneren Widerspruch. Wir werden diesem Vorgang, der uns als der leichter verständliche erscheint, im Laufe dieser Erörterungen noch wiederholt begegnen.

IIIVERGESSEN VON NAMEN UND WORTFOLGEN

Erfahrungen, wie die eben erwähnte, über den Hergang des Vergessens eines Stückes aus einer fremdsprachigen Wortfolge können die Wißbegierde rege machen, ob denn das Vergessen von Wortfolgen in der Muttersprache eine wesentlich andere Aufklärung erfordere. Man pflegt zwar nicht verwundert zu sein, wenn man eine auswendig gelernte Formel oder ein Gedicht nach einiger Zeit nur ungetreu, mit Abänderungen und Lücken reproduzieren kann. Da aber dieses Vergessen das im Zusammenhang Erlernte nicht gleichmäßig betrifft, sondern wiederum einzelne Stücke daraus loszubröckeln scheint, könnte es sich der Mühe verlohnen, einzelne Beispiele von solcher fehlerhaft gewordenen Reproduktion analytisch zu untersuchen.

Ein jüngerer Kollege, der im Gespräche mit mir die Vermutung äußerte, das Vergessen von Gedichten in der Muttersprache könnte wohl ähnlich motiviert sein wie das Vergessen einzelner Elemente in einer fremdsprachigen Wortfolge, erbot sich zugleich zum Untersuchungsobjekt. Ich fragte ihn, an welchem Gedichte er die Probe machen wolle, und er wählte „Die Braut von Korinth", welches Gedicht er sehr liebe und wenigstens strophenweise auswendig zu kennen glaube. Zu Beginn der Reproduktion traf sich ihm eine eigentlich auffällige Unsicherheit. „Heißt es: ‚Von Korinthus nach Athen gezogen‘,“ {022}fragte er, „oder ‚Nach Korinthus von Athen gezogen‘.“ Auch ich war einen Moment lange schwankend, bis ich lachend bemerkte, daß der Titel des Gedichtes „Die Braut von Korinth“ ja keinen Zweifel darüber lasse, welchen Weg der Jüngling ziehe. Die Reproduktion der ersten Strophe ging dann glatt oder wenigstens ohne auffällige Verfälschung vor sich. Nach der ersten Zeile der zweiten Strophe schien der Kollege eine Weile zu suchen; er setzte bald fort und rezitierte also:

Aber wird er auch willkommen scheinen,

Jetzt, wo jeder Tag was Neues bringt?

Denn er ist noch Heide mit den Seinen

Und sie sind Christen und – getauft.

Ich hatte schon vorher wie befremdet aufgehorcht; nach dem Schlusse der letzten Zeile waren wir beide einig, daß hier eine Entstellung stattgefunden habe. Da es uns aber nicht gelang, dieselbe zu korrigieren, eilten wir zur Bibliothek, um Goethes Gedichte zur Hand zu nehmen, und fanden zu unserer Überraschung, daß die zweite Zeile dieser Strophe einen völlig anderen Wortlaut habe, der vom Gedächtnis des Kollegen gleichsam herausgeworfen und durch etwas anscheinend Fremdes ersetzt worden war. Es hieß richtig:

Aber wird er auch willkommen scheinen,

Wenn er teuer nicht die Gunst erkauft.

Auf „erkauft“ reimte „getauft“ und es schien mir sonderbar, daß die Konstellation: Heide, Christen und getauft, ihn bei der Wiederherstellung des Textes so wenig gefördert hatte.

Können Sie sich erklären, fragte ich den Kollegen, daß Sie in dem Ihnen angeblich so wohl vertrauten Gedichte die Zeile so vollständig gestrichen haben, und haben Sie eine Ahnung, aus welchem Zusammenhang Sie den Ersatz holen konnten?

Er war imstande, Aufklärung zu geben, obwohl er es offenbar nicht sehr gern tat. „Die Zeile: Jetzt, wo jeder Tag was Neues bringt, kommt mir bekannt vor; ich muß diese Worte vor kurzem mit Bezug auf {023}meine Praxis gebraucht haben, mit deren Aufschwung ich, wie Sie wissen, gegenwärtig sehr zufrieden bin. Wie dieser Satz aber dahinein gehört? Ich wüßte einen Zusammenhang. Die Zeile ‚wenn er teuer nicht die Gunst erkauft‘ war mir offenbar nicht angenehm. Es hängt das mit einer Bewerbung zusammen, die ein erstes Mal abgeschlagen worden ist, und die ich jetzt mit Rücksicht auf meine sehr gebesserte materielle Lage zu wiederholen gedenke. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, aber es kann mir doch gewiß nicht lieb sein, wenn ich jetzt angenommen werde, mich daran zu erinnern, daß eine Art von Berechnung damals wie nun den Ausschlag gegeben hat.“

Das erschien mir einleuchtend, auch ohne daß ich die näheren Umstände zu wissen brauchte. Aber ich fragte weiter: Wie kommen Sie überhaupt dazu, sich und Ihre privaten Verhältnisse in den Text der „Braut von Korinth“ zu mengen? Bestehen vielleicht in Ihrem Falle solche Unterschiede der Religionsbekenntnisse, wie sie im Gedichte zur Bedeutung kommen?

(Keimt ein Glaube neu,

wird oft Lieb' und Treu

wie ein böses Unkraut ausgerauft.)

Ich hatte nicht richtig geraten, aber es war merkwürdig zu erfahren, wie die eine wohlgezielte Frage den Mann plötzlich hellsehend machte, so daß er mir als Antwort bringen konnte, was ihm sicherlich bis dahin selbst unbekannt geblieben war. Er sah mich mit einem gequälten und auch unwilligen Blick an, murmelte eine spätere Stelle des Gedichtes vor sich hin:

Sieh sie an genau[5]!

Morgen ist sie grau.

{024}

und fügte kurz hinzu: Sie ist etwas älter als ich. Um ihm nicht noch mehr Pein zu bereiten, brach ich die Erkundigung ab. Die Aufklärung erschien mir zureichend. Aber es war gewiß überraschend, daß die Bemühung, eine harmlose Fehlleistung des Gedächtnisses auf ihren Grund zurückzuführen, an so fern liegende, intime und mit peinlichem Affekt besetzte Angelegenheiten des Untersuchten rühren mußte.

Ein anderes Beispiel von Vergessen in der Wortfolge eines bekannten Gedichtes will ich nach C. G. Jung[6] und mit den Worten des Autors anführen.

„Ein Herr will das bekannte Gedicht rezitieren: ‚Ein Fichtenbaum steht einsam usw.‘ In der Zeile: ‚Ihn schläfert‘ bleibt er rettungslos stecken, er hat ‚mit weißer Decke‘ total vergessen. Dieses Vergessen in einem so bekannten Vers schien mir auffallend, und ich ließ ihn nun reproduzieren, was ihm zu ‚mit weißer Decke‘ einfiel. Es entstand folgende Reihe: ‚Man denkt bei weißer Decke an ein Totentuch – ein Leintuch, mit dem man einen Toten zudeckt – (Pause) – jetzt fällt mir ein naher Freund ein – sein Bruder ist jüngst ganz plötzlich gestorben – er soll an einem Herzschlag gestorben sein – er war eben auch sehr korpulent – mein Freund ist auch korpulent und ich habe schon gedacht, es könnte ihm auch so gehen – er gibt sich wahrscheinlich zu wenig Bewegung – als ich von dem Todesfall hörte, ist mir plötzlich angst geworden, es könnte mir auch so gehen, da wir in unserer Familie sowieso Neigung zur Fettsucht haben, und auch mein Großvater an einem Herzschlag gestorben ist; ich finde mich auch zu korpulent und habe deshalb in diesen Tagen mit einer Entfettungskur begonnen.‘“

„Der Herr hat sich also unbewußt sofort mit dem Fichtenbaum identifiziert,“ bemerkt Jung, „der vom weißen Leichentuch umhüllt ist.“

{025}

Das nachstehende Beispiel von Vergessen einer Wortfolge, das ich meinem Freunde S. Ferenczi in Budapest verdanke, bezieht sich, anders als die vorigen, auf eine selbstgeprägte Rede, nicht auf einen vom Dichter übernommenen Satz. Es mag uns auch den nicht ganz gewöhnlichen Fall vorführen, daß sich das Vergessen in den Dienst unserer Besonnenheit stellt, wenn ihr die Gefahr droht, einem augenblicklichen Gelüste zu erliegen. Die Fehlleistung gelangt so zu einer nützlichen Funktion. Wenn wir wieder ernüchtert sind, geben wir dann jener inneren Strömung recht, welche sich vorhin nur durch ein Versagen – ein Vergessen, eine psychische Impotenz – äußern konnte.

„In einer Gesellschaft fällt das Wort ‚Tout comprendre c'est tout pardonner‘. Ich bemerke dazu, daß der erste Teil des Satzes genügt; das ‚Pardonnieren‘ sei eine Überhebung, man überlasse das Gott und den Geistlichen. Ein Anwesender findet diese Bemerkung sehr gut; das macht mich verwegen und – wahrscheinlich um die gute Meinung des wohlwollenden Kritikers zu sichern – sage ich, daß mir unlängst etwas Besseres eingefallen sei. Wie ich es aber erzählen will – fällt es mir nicht ein. – Ich ziehe mich sofort zurück und schreibe die Deckeinfälle auf. – Zuerst kommt der Name des Freundes und der Straße in Budapest, die die Zeugen der Geburt jenes (gesuchten) Einfalles waren; dann der Name eines anderen Freundes, Max, den wir gewöhnlich Maxi nennen. Das führt mich zum Worte Maxime und zur Erinnerung, daß es sich damals (wie im eingangs erwähnten Falle) um die Abänderung einer bekannten Maxime handelte. Seltsamerweise fällt mir dazu nicht eine Maxime, sondern folgendes ein: Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, und dessen veränderte Fassung: der Mensch schuf Gott nach dem seinigen. Daraufhin taucht sofort die Erinnerung an das Gesuchte auf: Mein Freund sagte damals zu mir in der Andrássystraße: Nichts Menschliches ist mir fremd, worauf ich – auf die psychoanalytischen {026}Erfahrungen anspielend – sagte: Du solltest weitergehen und bekennen, daß dir nichts Tierisches fremd ist.“

„Nachdem ich aber endlich die Erinnerung an das Gesuchte hatte, konnte ich es in der Gesellschaft, in der ich mich gerade befand, erst recht nicht erzählen. Die junge Gattin des Freundes, den ich an die Animalität des Unbewußten erinnert hatte, war auch unter den Anwesenden, und ich mußte wissen, daß sie zur Kenntnisnahme solcher unerfreulicher Einsichten gar nicht vorbereitet war. Durch das Vergessen ist mir eine Reihe unangenehmer Fragen ihrerseits und eine aussichtslose Diskussion erspart worden, und gerade das muß das Motiv der ‚temporären Amnesie‘ gewesen sein.“

„Es ist interessant, daß sich als Deckeinfall ein Satz einstellte, in dem die Gottheit zu einer menschlichen Erfindung degradiert wird, während im gesuchten Satze auf das Tierische im Menschen hingewiesen wurde. Also die capitis diminutio ist das Gemeinsame. Das Ganze ist offenbar nur die Fortsetzung des durch das Gespräch angeregten Gedankenganges über das Verstehen und Verzeihen.“

„Daß sich in diesem Falle das Gesuchte so rasch einstellte, verdanke ich vielleicht auch dem Umstand, daß ich mich aus der Gesellschaft, in der es zensuriert war, sofort in ein menschenleeres Zimmer zurückzog.“

Ich habe seither zahlreiche andere Analysen in Fällen von Vergessen oder fehlerhafter Reproduktion einer Wortfolge angestellt und bin durch das übereinstimmende Ergebnis dieser Untersuchungen der Annahme geneigt worden, daß der in den Beispielen „aliquis“ und „Braut von Korinth“ nachgewiesene Mechanismus des Vergessens fast allgemeine Gültigkeit hat. Es ist meist nicht sehr bequem, solche Analysen mitzuteilen, da sie wie die vorstehend erwähnten stets zu intimen und für den Analysierten peinlichen Dingen hinleiten; ich werde die Zahl {027}solcher Beispiele darum auch nicht weiter vermehren. Gemeinsam bleibt all diesen Fällen ohne Unterschied des Materials, daß das Vergessene oder Entstellte auf irgend einem assoziativen Wege mit einem unbewußten Gedankeninhalt in Verbindung gebracht wird, von welchem die als Vergessen sichtbar gewordene Wirkung ausgeht.

Ich wende mich nun wiederum zu dem Vergessen von Namen, wovon wir bisher weder die Kasuistik noch die Motive erschöpfend betrachtet haben. Da ich gerade diese Art von Fehlleistung bei mir zuzeiten reichlich beobachten kann, bin ich um Beispiele hiefür nicht verlegen. Die leisen Migränen, an denen ich noch immer leide, pflegen sich Stunden vorher durch Namenvergessen anzukündigen, und auf der Höhe des Zustandes, während dessen ich die Arbeit aufzugeben nicht genötigt bin, bleiben mir häufig alle Eigennamen aus. Nun könnten gerade Fälle wie der meinige zu einer prinzipiellen Einwendung gegen unsere analytischen Bemühungen Anlaß geben. Soll man aus solchen Beobachtungen nicht folgern müssen, daß die Verursachung der Vergeßlichkeit und speziell des Namenvergessens in Zirkulations- und allgemeinen Funktionsstörungen des Großhirns gelegen ist, und sich darum psychologische Erklärungsversuche für diese Phänomene ersparen? Ich meine keineswegs; das hieße den in allen Fällen gleichartigen Mechanismus eines Vorgangs mit dessen variabeln und nicht notwendig erforderlichen Begünstigungen verwechseln. An Stelle einer Auseinandersetzung will ich aber ein Gleichnis zur Erledigung des Einwandes bringen.

Nehmen wir an, ich sei so unvorsichtig gewesen, zur Nachtzeit in einer menschenleeren Gegend der Großstadt spazieren zu gehen, werde überfallen und meiner Uhr und Börse beraubt. An der nächsten Polizeiwachstelle erstatte ich dann die Meldung mit den Worten: Ich bin in dieser und jener Straße gewesen, dort haben Einsamkeit und Dunkelheit mir Uhr und Börse weggenommen. Obwohl ich in diesen Worten nichts gesagt hätte, {028}was nicht richtig wäre, liefe ich doch Gefahr, nach dem Wortlaut meiner Meldung für nicht ganz richtig im Kopfe gehalten zu werden. Der Sachverhalt kann in korrekter Weise nur so beschrieben werden, daß, von der Einsamkeit des Ortes begünstigt, unter dem Schutze der Dunkelheit unbekannte Täter mich meiner Kostbarkeiten beraubt haben. Nun denn, der Sachverhalt beim Namenvergessen braucht kein anderer zu sein; durch Ermüdung, Zirkulationsstörung und Intoxikation begünstigt, raubt mir eine unbekannte psychische Macht die Verfügung über die meinem Gedächtnis zustehenden Eigennamen, dieselbe Macht, welche in anderen Fällen dasselbe Versagen des Gedächtnisses bei voller Gesundheit und Leistungsfähigkeit zustande bringen kann.

Wenn ich die an mir selbst beobachteten Fälle von Namenvergessen analysiere, so finde ich fast regelmäßig, daß der vorenthaltene Name eine Beziehung zu einem Thema hat, welches meine Person nahe angeht, und starke, oft peinliche Affekte in mir hervorzurufen vermag. Nach der bequemen und empfehlenswerten Übung der Züricher Schule (Bleuler, Jung, Riklin) kann ich dasselbe auch in der Form ausdrücken: Der entzogene Name habe einen „persönlichen Komplex“ in mir gestreift. Die Beziehung des Namens zu meiner Person ist eine unerwartete, meist durch oberflächliche Assoziation (Wortzweideutigkeit, Gleichklang) vermittelte; sie kann allgemein als eine Seitenbeziehung gekennzeichnet werden. Einige einfache Beispiele werden die Natur derselben am besten erläutern:

1) Ein Patient bittet mich, ihm einen Kurort an der Riviera zu empfehlen. Ich weiß einen solchen Ort ganz nahe bei Genua, erinnere auch den Namen des deutschen Kollegen, der dort praktiziert, aber den Ort selbst kann ich nicht nennen, so gut ich ihn auch zu kennen glaube. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als den Patienten warten zu heißen und mich rasch an die Frauen meiner Familie zu wenden. „Wie heißt doch der Ort {029}neben Genua, wo Dr. N. seine kleine Anstalt hat, in der die und jene Frau so lange in Behandlung war?“ „Natürlich, gerade du mußtest diesen Namen vergessen. Nervi heißt er.“ Mit Nerven habe ich allerdings genug zu tun.

2) Ein anderer spricht von einer nahen Sommerfrische und behauptet, es gebe dort außer den zwei bekannten ein drittes Wirtshaus, an welches sich für ihn eine gewisse Erinnerung knüpfe; den Namen werde er mir sogleich sagen. Ich bestreite die Existenz dieses dritten Wirtshauses und berufe mich darauf, daß ich sieben Sommer hindurch in jenem Orte gewohnt habe, ihn also besser kennen muß als er. Durch den Widerspruch gereizt, hat er sich aber schon des Namens bemächtigt. Das Gasthaus heißt: der Hochwartner. Da muß ich freilich nachgeben, ja ich muß bekennen, daß ich sieben Sommer lang in der nächsten Nähe dieses von mir verleugneten Wirtshauses gewohnt habe. Warum sollte ich hier Namen und Sache vergessen haben? Ich meine, weil der Name gar zu deutlich an den eines Wiener Fachkollegen anklingt, wiederum den „professionellen“ Komplex in mir anrührt.

3) Ein andermal, im Begriffe auf dem Bahnhof von Reichenhall eine Fahrkarte zu lösen, will mir der sonst sehr vertraute Name der nächsten großen Bahnstation, die ich schon so oft passiert habe, nicht einfallen. Ich muß ihn allen Ernstes auf dem Fahrplan suchen. Er lautet: Rosenheim. Dann weiß ich aber sofort, durch welche Assoziation er mir abhanden gekommen ist. Eine Stunde vorher hatte ich meine Schwester in ihrem Wohnorte ganz nahe bei Reichenhall besucht; meine Schwester heißt Rosa, also auch ein Rosenheim. Diesen Namen hat mir der „Familienkomplex“ weggenommen.

4) Das geradezu räuberische Wirken des „Familienkomplexes“ kann ich dann in einer ganzen Anzahl von Beispielen verfolgen.

Eines Tages kam ein junger Mann in meine Ordination, jüngerer Bruder einer Patientin, den ich ungezählte Male gesehen hatte, {030}und dessen Person ich mit dem Vornamen zu bezeichnen gewohnt war. Als ich dann von seinem Besuch erzählen wollte, hatte ich seinen, wie ich wußte, keineswegs ungewöhnlichen Vornamen vergessen und konnte ihn durch keine Hilfe zurückrufen. Ich ging dann auf die Straße, um Firmenschilder zu lesen, und erkannte den Namen, sowie er mir das erstemal entgegentrat. Die Analyse belehrte mich darüber, daß ich zwischen dem Besucher und meinem eigenen Bruder eine Parallele gezogen hatte, die in der verdrängten Frage gipfeln wollte: Hätte sich mein Bruder im gleichen Falle ähnlich oder vielmehr entgegengesetzt benommen? Die äußerliche Verbindung zwischen den Gedanken über die fremde und über die eigene Familie war durch den Zufall ermöglicht worden, daß die Mütter hier und dort den gleichen Vornamen: Amalia tragen. Ich verstand dann auch nachträglich die Ersatznamen: Daniel und Franz, die sich mir aufgedrängt hatten, ohne mich aufzuklären. Es sind dies, wie auch Amalia, Namen aus den Räubern von Schiller, an welche sich ein Scherz des Wiener Spaziergängers Daniel Spitzer knüpft.

5) Ein andermal kann ich den Namen eines Patienten nicht finden, der zu meinen Jugendbeziehungen gehört. Die Analyse führt über einen langen Umweg, ehe sie mir den gesuchten Namen liefert. Der Patient hatte die Angst geäußert, das Augenlicht zu verlieren; dies rief die Erinnerung an einen jungen Mann wach, der durch einen Schuß blind geworden war; daran knüpfte sich wieder das Bild eines anderen Jünglings, der sich angeschossen hatte, und dieser letztere trug denselben Namen wie der erste Patient, obwohl er nicht mit ihm verwandt war. Den Namen fand ich aber erst, nachdem mir die Übertragung einer ängstlichen Erwartung von diesen beiden juvenilen Fällen auf eine Person meiner eigenen Familie bewußt geworden war.

Ein beständiger Strom von „Eigenbeziehung“ geht so durch mein Denken, von dem ich für gewöhnlich keine Kunde erhalte, der sich mir aber durch solches Namenvergessen verrät. Es ist, als {031}wäre ich genötigt, alles, was ich über fremde Personen höre, mit der eigenen Person zu vergleichen, als ob meine persönlichen Komplexe bei jeder Kenntnisnahme von anderen rege würden. Dies kann unmöglich eine individuelle Eigenheit meiner Person sein; es muß vielmehr einen Hinweis auf die Art, wie wir überhaupt „Anderes“ verstehen, enthalten. Ich habe Gründe anzunehmen, daß es bei anderen Individuen ganz ähnlich zugeht wie bei mir.

Das Schönste dieser Art hat mir als eigenes Erlebnis ein Herr Lederer berichtet. Er traf auf seiner Hochzeitsreise in Venedig mit einem ihm oberflächlich bekannten Herrn zusammen, den er seiner jungen Frau vorstellen mußte. Da er aber den Namen des Fremden vergessen hatte, half er sich das erstemal mit einem unverständlichen Gemurmel. Als er dann dem Herrn, wie in Venedig unausweichlich, ein zweitesmal begegnete, nahm er ihn beiseite und bat ihn, ihm doch aus der Verlegenheit zu helfen, indem er ihm seinen Namen sage, den er leider vergessen habe. Die Antwort des Fremden zeugte von überlegener Menschenkenntnis: Ich glaube es gern, daß Sie sich meinen Namen nicht gemerkt haben. Ich heiße wie Sie: Lederer! – Man kann sich einer leicht unangenehmen Empfindung nicht erwehren, wenn man seinen eigenen Namen bei einem Fremden wiederfindet. Ich verspürte sie unlängst recht deutlich, als sich mir in der ärztlichen Sprechstunde ein Herr S. Freud vorstellte. (Übrigens nehme ich Notiz von der Versicherung eines meiner Kritiker, daß er sich in diesem Punkte entgegengesetzt wie ich verhalte).

6) Die Wirksamkeit der Eigenbeziehung erkennt man auch in folgendem von Jung[7] mitgeteilten Beispiel:

„Ein Herr Y. verliebte sich erfolglos in eine Dame, welche bald darauf einen Herrn X. heiratete. Trotzdem nun Herr Y. den Herrn X. schon seit geraumer Zeit kennt und sogar in geschäftlichen Verbindungen mit ihm steht, vergißt er immer und immer {032}wieder dessen Namen, so daß er sich mehreremal bei anderen Leuten danach erkundigen mußte, als er mit Herrn X. korrespondieren wollte.“

Indes ist die Motivierung des Vergessens in diesem Falle durchsichtiger als in den vorigen, welche unter der Konstellation der Eigenbeziehung stehen. Das Vergessen scheint hier direkte Folge der Abneigung des Herrn Y. gegen seinen glücklicheren Rivalen; er will nichts von ihm wissen; „nicht gedacht soll seiner werden".

7) Das Motiv zum Vergessen eines Namens kann auch ein feineres sein, in einem sozusagen „sublimierten“ Groll gegen dessen Träger bestehen. So schreibt ein Fräulein I. v. K. aus Budapest:

„Ich habe mir eine kleine Theorie zurechtgelegt. Ich habe nämlich beobachtet, daß Menschen, die Talent zur Malerei, für Musik keinen Sinn haben, und umgekehrt. Vor einiger Zeit sprach ich hierüber mit jemandem, indem ich sagte: ‚Meine Beobachtung hat bisher immer zugetroffen, einen Fall ausgenommen.‘ Als ich mich an den Namen dieser Person erinnern wollte, hatte ich ihn hoffnungslos vergessen, trotzdem ich wußte, daß sein Träger einer meiner intimsten Bekannten ist. Als ich nach einigen Tagen den Namen zufällig nennen hörte, wußte ich natürlich sofort, daß vom Zerstörer meiner Theorie die Rede war. Der Groll, den ich unbewußt gegen ihn hegte, äußerte sich durch das Vergessen seines mir sonst so geläufigen Namens.“

8) Auf etwas anderem Wege führte die Eigenbeziehung zum Vergessen eines Namens in dem folgenden von Ferenczi mitgeteilten Falle, dessen Analyse besonders durch die Aufklärung der Ersatzeinfälle (wie Botticelli–Boltraffio zu Signorelli) lehrreich wird.

„Einer Dame, die etwas von Psychoanalyse gehört hat, will der Name des Psychiaters Jung nicht einfallen.“

{033}

„Dafür stellen sich folgende Einfälle ein: Kl. (ein Name) – Wilde – Nietzsche – Hauptmann.“

„Ich sage ihr den Namen nicht und fordere sie auf, an jeden einzelnen Einfall frei zu assoziieren.“

„Bei Kl. denkt sie sofort an Frau Kl., und daß sie eine gezierte, affektierte Person sei, die aber für ihr Alter sehr gut aussehe. ‚Sie wird nicht alt.‘ Als gemeinsamen Oberbegriff von Wilde und Nietzsche nennt sie ‚Geisteskrankheit‘. Dann sagt sie spöttisch: ‚Sie Freudianer werden so lange die Ursachen der Geisteskrankheiten suchen, bis Sie selbst geisteskrank werden.‘ Dann: ‚Ich kann Wilde und Nietzsche nicht ausstehen. Ich verstehe sie nicht. Ich höre, sie waren beide homosexuell; Wilde hat sich mit jungen Leuten abgegeben.‘ (Trotzdem sie in diesem Satze den richtigen Namen – allerdings ungarisch – schon ausgesprochen hat, kann sie sich seiner immer noch nicht erinnern.)“

„Zu Hauptmann fällt ihr Halbe, dann Jugend ein, und jetzt erst, nachdem ich ihre Aufmerksamkeit auf das Wort Jugend lenke, weiß sie, daß sie den Namen Jung gesucht hat.“

„Allerdings hat diese Dame, die im Alter von 39 Jahren den Gatten verlor und keine Aussicht hat, sich wieder zu verheiraten, Grund genug, der Erinnerung an alles, was an Jugend oder Alter gemahnt, auszuweichen. Auffallend ist die rein inhaltliche Assoziierung der Deckeinfälle zu dem gesuchten Namen und das Fehlen von Klangassoziationen.“

9) Noch anders und sehr fein motiviert ist ein Beispiel von Namenvergessen, welches sich der Betreffende selbst aufgeklärt hat:

„Als ich Prüfung aus Philosophie als Nebengegenstand machte, wurde ich vom Examinator nach der Lehre Epikurs gefragt, und dann weiter, ob ich wisse, wer dessen Lehre in späteren Jahrhunderten wieder aufgenommen habe. Ich antwortete mit dem Namen Pierre Gassendi, den ich gerade zwei Tage {034}vorher im Café als Schüler Epikurs hatte nennen hören. Auf die erstaunte Frage, woher ich das wisse, gab ich kühn die Antwort, daß ich mich seit langem für Gassendi interessiert habe. Daraus ergab sich ein magna cum laude fürs Zeugnis, aber leider auch für später eine hartnäckige Neigung, den Namen Gassendi zu vergessen. Ich glaube, mein schlechtes Gewissen ist schuld daran, wenn ich diesen Namen allen Bemühungen zum Trotz jetzt nicht behalten kann. Ich hätte ihn ja auch damals nicht wissen sollen.“

Will man die Intensität der Abneigung gegen die Erinnerung an diese Prüfungsepisode bei unserem Gewährsmann richtig würdigen, so muß man erfahren haben, wie hoch er seinen Doktortitel anschlägt, und für wieviel anderes ihm dieser Ersatz bieten muß.

10) Ich schalte hier noch ein Beispiel von Vergessen eines Städtenamens ein, welches vielleicht nicht so einfach ist wie die vorher angeführten, aber jedem mit solchen Untersuchungen Vertrauteren glaubwürdig und wertvoll erscheinen wird. Der Name einer italienischen Stadt entzieht sich der Erinnerung infolge seiner weitgehenden Klangähnlichkeit mit einem weiblichen Vornamen, an den sich vielerlei affektvolle, in der Mitteilung wohl nicht erschöpfend ausgeführte Erinnerungen knüpfen. S. Ferenczi (Budapest), der diesen Fall von Vergessen an sich selbst beobachtete, hat ihn behandelt, wie man einen Traum oder eine neurotische Idee analysiert, und dies gewiß mit Recht.

„Ich war heute bei einer befreundeten Familie; es kamen oberitalienische Städte zur Sprache. Da erwähnt jemand, daß diese den österreichischen Einfluß noch erkennen lassen. Man zitiert einige dieser Städte; auch ich will eine nennen, ihr Name fällt mir aber nicht ein, obzwar ich weiß, daß ich dort zwei sehr angenehme Tage verlebte, was nicht gut zu Freuds Theorie des Vergessens stimmt. – Statt des gesuchten Städtenamens drängen sich mir folgende Einfälle auf: Capua – Brescia – Der Löwe von Brescia.“

{035}

„Diesen ‚Löwen‘ sehe ich in Gestalt einer Marmorstatue wie gegenständlich vor mir stehen, merke aber sofort, daß er weniger dem Löwen auf dem Freiheitsdenkmal zu Brescia (das ich nur im Bilde gesehen habe), als jenem anderen marmornen Löwen ähnelt, den ich am Grabdenkmal der in den Tuilerien gefallenen Schweizer Gardisten in Luzern gesehen habe, und dessen Reproduktion en miniature auf meinem Bücherschrank steht. Endlich fällt mir der gesuchte Name doch ein: es ist Verona.“

„Ich weiß auch sofort, wer an dieser Amnesie schuld war. Niemand anderer als eine frühere Bedienstete der Familie, bei der ich gerade zu Gaste war. Sie hieß Veronika, auf ungarisch Verona, und war mir wegen ihrer abstoßenden Physiognomie wie auch wegen ihrer heiseren, kreischenden Stimme und unleidlichen Konfidenz (wozu sie sich durch die lange Dienstzeit berechtigt glaubte) sehr antipathisch. Auch die tyrannische Art, wie sie seinerzeit die Kinder des Hauses behandelte, war mir unausstehlich. Nun wußte ich auch, was die Ersatzeinfälle bedeuteten.“

„An Capua assoziiere ich sofort caput mortuum. Ich verglich Veronikas Kopf sehr oft mit einem Totenschädel. – Das ungarische Wort kapzsi (geldgierig) gab sicher auch eine Determinierung für die Verschiebung her. Natürlich finde ich auch jene viel direkteren Assoziationswege, die Capua und Verona als geographische Begriffe und als italienische Worte mit gleichem Rhythmus miteinander verbinden.“

„Das gleiche gilt von Brescia; aber auch hier finden sich verschlungene Seitenwege der Ideenverknüpfung.“

„Meine Antipathie war seinerzeit so heftig, daß ich Veronika förmlich ekelhaft fand und mehreremal mein Erstaunen darüber äußerte, daß sie doch ein Liebesleben haben und geliebt werden konnte; ‚sie zu küssen‘ – sagte ich – ‚muß ja einen Brechreiz hervorrufen.‘ Und doch war sie sicher längst in Beziehung zu bringen zur Idee der gefallenen Schweizer Gardisten.“

{036}

„Brescia wird, wenigstens hier in Ungarn, nicht mit dem Löwen, sondern einem anderen wilden Tier zusammen sehr oft genannt. Der bestgehaßte Name in diesem Lande wie auch in Oberitalien ist der des Generals Haynau, der kurzweg die Hyäne von Brescia genannt wird. Vom gehaßten Tyrannen Haynau führt also der eine Gedankenfaden über Brescia zur Stadt Verona, der andere über die Idee des Totengräbertieres mit der heiseren Stimme (der das Auftauchen eines Grabdenkmals mitbestimmt) zum Totenschädel und zum unangenehmen Organ der durch mein Unbewußtes so arg beschimpften Veronika, die seinerzeit in diesem Hause beinahe so tyrannisch gehaust hat, wie der österreichische General nach den ungarischen und italienischen Freiheitskämpfen.“

„An Luzern knüpft sich der Gedanke an den Sommer, den Veronika mit ihrer Dienstherrschaft am Vierwaldstätter See in der Nähe von Luzern verbrachte; an die ‚Schweizer Garde‘ wiederum die Erinnerung, daß sie nicht nur die Kinder, sondern auch die erwachsenen Mitglieder der Familie zu tyrannisieren verstand und sich in der Rolle der Garde-Dame gefiel.“

„Ich bemerke ausdrücklich, daß diese meine Antipathie gegen V. – bewußt – zu den längst überwundenen Dingen gehört. Sie hat sich inzwischen äußerlich wie in ihren Manieren sehr zu ihrem Vorteil verändert, und ich kann ihr (wozu ich allerdings selten Gelegenheit habe) mit aufrichtiger Freundlichkeit begegnen. Mein Unbewußtes hält, wie gewöhnlich, zäher an den Eindrücken fest, es ist ‚nachträglich‘ und nachtragend.“

„Die Tuilerien sind eine Anspielung auf eine zweite Persönlichkeit, eine ältere französische Dame, die die Frauen des Hauses bei vielen Anlässen tatsächlich ‚gardiert‘ hat, und die von groß und klein geachtet – wohl ein wenig auch gefürchtet wird. Ich war eine Zeitlang ihr élève in französischer Konversation. Zum Worte élève fällt mir noch ein, {037}daß ich, als ich beim Schwager meines heutigen Gastgebers in Nordböhmen auf Besuch war, viel darüber lachen mußte, daß die dortige Landbevölkerung die Eleven der dortigen Forstakademie ‚Löwen‘ nannte. Auch diese lustige Erinnerung mag an der Verschiebung von der Hyäne zum Löwen beteiligt gewesen sein.“

11) Auch das nachstehende Beispiel[8] kann zeigen, wie ein zurzeit die Person beherrschender Eigenkomplex ein Namenvergessen an weit abliegender Stelle hervorruft:

„Zwei Männer, ein älterer und ein jüngerer, die vor sechs Monaten gemeinsam in Sizilien gereist sind, tauschen Erinnerungen an jene schönen und inhaltreichen Tage aus. ‚Wie hat nur der Ort geheißen,‘ fragt der Jüngere, ‚an dem wir übernachtet haben, um die Partie nach Selinunt zu machen? Calatafimi, nicht wahr?‘ – Der Ältere weist dies zurück: ‚Gewiß nicht, aber ich habe den Namen ebenfalls vergessen, obwohl ich mich an alle Einzelheiten des Aufenthaltes dort sehr gut erinnere. Es reicht bei mir hin, daß ich merke, ein anderer habe einen Namen vergessen; sogleich wird auch bei mir das Vergessen induziert. Wollen wir den Namen nicht suchen? Mir fällt aber kein anderer ein als Caltanisetta, der doch gewiß nicht der richtige ist.‘ – ‚Nein,‘ sagt der Jüngere, ‚der Name fängt mit w an oder es kommt ein w darin vor.‘ – ‚Ein w gibt es doch im Italienischen nicht,‘ mahnt der Ältere. – ‚Ich meinte ja auch nur ein v und habe nur w gesagt, weil ich's von meiner Muttersprache her so gewohnt bin.‘ – Der Ältere sträubt sich gegen das v. Er meint: ‚Ich glaube, ich habe überhaupt schon viele sizilianische Namen vergessen; es wäre an der Zeit, Versuche zu machen. Wie heißt z. B. der hochgelegene Ort, der im Altertum Enna geheißen hat? – Ah, ich weiß schon: Castrogiovanni.‘ – Im nächsten Moment hat der {038}Jüngere auch den verlorenen Namen wiedergefunden. Er ruft: Castelvetrano und freut sich, das behauptete v nachweisen zu können. Der Ältere vermißt noch eine Weile das Bekanntheitsgefühl; nachdem er aber den Namen akzeptiert hat, soll er Auskunft darüber geben, weshalb er ihm entfallen war. Er meint: ‚Offenbar weil die zweite Hälfte vetrano an – Veteran anklingt. Ich weiß schon, daß ich nicht gern ans Altern denke und in sonderbarer Weise reagiere, wenn ich daran gemahnt werde. So z. B. habe ich unlängst einem hochgeschätzten Freund in der merkwürdigsten Einkleidung vorgehalten, daß er ‚längst über die Jahre der Jugend hinaus sei‘, weil dieser früher einmal mitten unter den schmeichelhaftesten Äußerungen über mich auch behauptete: ‚Ich sei kein junger Mann mehr.‘ Daß sich der Widerstand bei mir gegen die zweite Hälfte des Namens Castelvetrano gerichtet hat, geht ja auch daraus hervor, daß der Anlaut desselben in dem Ersatznamen Caltanisetta wiedergekehrt war.‘ – ‚Und der Name Caltanisetta selbst?‘ fragt der Jüngere. – ‚Der ist mir immer wie ein Kosenamen für ein junges Weib erschienen,‘ gesteht der Ältere ein.“

„Einige Zeit später setzt er hinzu: ‚Der Name für Enna war ja auch ein Ersatzname. Und nun fällt mir auf, daß dieser mit Hilfe einer Rationalisierung vordringende Namen Castrogiovanni genau so an giovane–jung anklingt, wie der verlorene Name Castelvetrano an Veteran–alt.‘“

„Der Ältere glaubt so für sein Namenvergessen Rechenschaft gegeben zu haben. Aus welchem Motiv der Jüngere zum gleichen Ausfallsphänomen gekommen war, wurde nicht untersucht.“

Neben den Motiven des Namenvergessens verdient auch der Mechanismus desselben unser Interesse. In einer großen Reihe von Fällen wird ein Name vergessen, nicht weil er selbst solche Motive wachruft, sondern weil er durch Gleichklang und Lautähnlichkeit an einen anderen streift, gegen den sich diese Motive {039}richten. Man versteht, daß durch solche Lockerung der Bedingungen eine außerordentliche Erleichterung für das Zustandekommen des Phänomens geschaffen wird. So in den folgenden Beispielen:

12) Dr. Ed. Hitschmann: „Herr N. will die Buchhandlungsfirma Gilhofer & Ranschburg jemandem angeben. Es fällt ihm aber trotz allen Nachdenkens nur der Name Ranschburg ein, trotzdem ihm die Firma sonst sehr geläufig ist. Mit einer leichten Unbefriedigung darüber nach Hause kommend, ist ihm die Sache wichtig genug, um den anscheinend bereits schlafenden Bruder nach der ersten Hälfte des Firmanamens zu fragen. Derselbe nennt ihn anstandslos. Darauf fällt Herrn N. sofort zu ‚Gilhofer‘ das Wort ‚Gallhof‘ ein. Zum ‚Gallhof‘ hatte er einige Monate vorher in Gesellschaft eines anziehenden Mädchens einen erinnerungsreichen Spaziergang gemacht. Das Mädchen hatte ihm als Andenken einen Gegenstand geschenkt, auf dem geschrieben steht: ‚Zur Erinnerung an die schönen Gallhofer Stunden.‘ In den letzten Tagen vor dem Namenvergessen wurde dieser Gegenstand, scheinbar zufällig, beim raschen Zuschieben der Lade durch N. stark beschädigt, was er – mit dem Sinne von Symptomhandlungen vertraut – nicht ohne Schuldgefühl konstatierte. Er war in diesen Tagen in etwas ambivalenter Stimmung zu der Dame, die er zwar liebte, deren Ehewunsch er aber zaudernd gegenüberstand.“ (Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse I, 1913.)

13) Dr. Hanns Sachs: „In einem Gespräche über Genua und seine nächste Umgebung will ein junger Mann auch den Ort Pegli nennen, kann den Namen aber erst mit Mühe, durch angestrengtes Nachdenken, erinnern. Im Nachhausegehen denkt er an das peinliche Entgleiten dieses ihm sonst vertrauten Namens und wird dabei auf das ganz ähnlich klingende Wort Peli geführt. Er weiß, daß eine Südsee-Insel so heißt, deren Bewohner ein paar merkwürdige Gebräuche bewahrt haben. Er {040}hat darüber vor kurzem in einem ethnologischen Werk gelesen und sich damals vorgenommen, diese Mitteilungen für eine eigene Hypothese zu verwerten. Dann fällt ihm ein, daß Peli auch der Schauplatz eines Romanes ist, den er mit Interesse und Vergnügen gelesen hat, nämlich von ‚Van Zantens glücklichste Zeit‘ von Laurids Bruun. – Die Gedanken, die ihn an diesem Tage fast unaufhörlich beschäftigt hatten, knüpften sich an einen Brief, den er am selben Morgen von einer ihm sehr teuren Dame erhalten hatte; dieser Brief läßt ihn befürchten, daß er auf ein verabredetes Zusammentreffen werde verzichten müssen. Nachdem er den ganzen Tag in übelster Laune zugebracht hatte, war er am Abend mit dem Vorsatz ausgegangen, sich nicht länger mit dem ärgerlichen Gedanken abzuplagen, sondern die ihm in Aussicht stehende und von ihm äußerst hoch geschätzte Geselligkeit möglichst ungetrübt zu genießen. Es ist klar, daß durch das Wort Pegli sein Vorsatz arg gefährdet werden konnte, da dieses mit Peli lautlich so eng zusammenhängt; Peli aber, da es durch das ethnologische Interesse die Ich-Beziehung gewonnen hatte, verkörpert nicht nur Van Zantens, sondern auch seine eigene ‚glücklichste Zeit‘ und deshalb auch die Befürchtungen und Sorgen, die er tagsüber genährt hatte. Es ist charakteristisch, daß diese einfache Deutung erst gelang, nachdem ein zweiter Brief die Zweifel in eine fröhliche Gewißheit baldigen Wiedersehens umgewandelt hatte.“

Erinnert man sich bei diesem Beispiel an das ihm sozusagen benachbarte, in welchem der Ortsnamen Nervi nicht erinnert werden kann (Beispiel 1), so sieht man, wie sich der Doppelsinn eines Wortes durch die Klangähnlichkeit zweier Worte ersetzen läßt.

14) Als 1915 der Krieg mit Italien ausbrach, konnte ich an mir die Beobachtung machen, daß meinem Gedächtnis plötzlich eine ganze Anzahl von Namen italienischer Örtlichkeiten entzogen war, über die ich sonst leicht verfügt hatte. Wie so viele andere {041}