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1990 galt in Ost-Berlin für ein halbes Jahr eine Verfassung, die weitreichende politische Bürgerrechte enthielt. Diese waren aus den Erfahrungen der Revolution 1989 von den Bürgerbewegungen und der Opposition am Zentralen Runden Tisch der DDR formuliert worden. Die Verankerung der erweiterten politischen Rechte in der gemeinsamen Landesverfassung scheiterte jedoch im ersten Gesamtberliner Abgeordnetenhaus – einzig die Volksgesetzgebung wurde übernommen. Damit ist es in Berlin möglich, Gesetze durch Volksentscheid und ohne das Parlament direkt zu beschließen. Das gelang bisher mit den Volksentscheiden zur Offenlegung der Wasserverträge und zum Erhalt des Tempelhofer Feldes. Für letzteren stimmte im Mai 2014 eine Mehrheit in allen Bezirken. Dennoch versuchten die Regierungsparteien, das Tempelhofer Feld-Gesetz wieder zu kippen. In Reaktion darauf wurde 2016 das Volksbegehren Volksentscheid Retten eingeleitet, um die Volksgesetzgebung in der Verfassung zu stärken. Beide Vorgänge, 1989/90 und 2016, hatten zum Ziel, dass alle Berliner*innen an der Ausgestaltung der Verfassung teilhaben können. Sie bilden die Klammer für dieses Heft.
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Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #5
Zur Verfassung – Recherchen, Dokumente 1989–2017
Elske Rosenfeld, Kerstin Meyer, Joerg Franzbecker (Hg.)
1990 galt in Ost-Berlin für ein halbes Jahr eine Verfassung, die weitreichende politische Bürgerrechte enthielt. Diese waren aus den Erfahrungen der Revolution 1989 von den Bürgerbewegungen und der Opposition am Zentralen Runden Tisch der DDR formuliert worden. Die Verankerung der erweiterten politischen Rechte in der gemeinsamen Landesverfassung scheiterte jedoch im ersten Gesamtberliner Abgeordnetenhaus – einzig die Volksgesetzgebung wurde übernommen.
Damit ist es in Berlin möglich, Gesetze durch Volksentscheid und ohne das Parlament direkt zu beschließen. Das gelang bisher mit den Volksentscheiden zur Offenlegung der Wasserverträge und zum Erhalt des Tempelhofer Feldes. Für letzteren stimmte im Mai 2014 eine Mehrheit in allen Bezirken. Dennoch versuchten die Regierungsparteien, das Tempelhofer Feld-Gesetz wieder zu kippen. In Reaktion darauf wurde 2016 das Volksbegehren Volksentscheid Retten eingeleitet, um die Volksgesetzgebung in der Verfassung zu stärken. Beide Vorgänge, 1989/90 und 2016, hatten zum Ziel, dass alle Berliner*innen an der Ausgestaltung der Verfassung teilhaben können. Sie bilden die Klammer für dieses Heft.
Zeitleiste 1: Von Bürgerbewegungen der DDR zu Parteien (oder nicht), Entwicklung 1989–2017
1985
Die Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) geht als Initiative aus einem Menschenrechtsseminar in Ost-Berlin hervor.
1989
4. September Aufruf „Für eine Vereinigte Linke in der DDR“
9.–10. September Gründungsaufruf des Neuen Forum (NF); 30 Erstunterzeichner*innen
12. September Gründungsaufruf der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt (DJ); 12 Unterzeichner*innen
19. September Anmeldung der Gründung der Vereinigung NF in 11 der 15 Bezirke der DDR, offizielle Ablehnung des Antrags am 25. September
29. Oktober Offizielle Gründung des Demokratischen Aufbruch (DA) mit dem Beschluss, sich bis Mai in eine Partei umzuwandeln
2. Oktober Vereinigte Linke (VL) gründet sich auf Grundlage des Aufrufs vom 4. September und hat bis Ende 1989 1.500 Mitglieder, vor allem in Berlin und Halle.
8. November Offizielle Zulassung des NF
18. November Gründung der Grünen Liga (GL) als dezentrales Netzwerk; Gründungsaufruf einiger Teilnehmer*innen für eine Grüne Partei
24. November Gründung der Grünen Partei (GP) der DDR
3. Dezember Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) beim Frauenkongress in der Volksbühne
7. Dezember NF, IMF, DJ, DA, VL, UFV, GP entsenden Teilnehmer*innen an den Zentralen Runden Tisch
16.–17. Dezember Offizielle Gründung des DA als Partei; programmatische Umorientierung; linke Gründungsmitglieder verlassen die Partei; Angela Merkel wird Vorsitzende.
1990
27.–28. Januar Gründungskonferenz des NF in Berlin; nach Auseinandersetzungen behält das NF seine basisdemokratischen Strukturen bei, streicht jedoch das Bekenntnis zur Eigenstaatlichkeit der DDR aus dem Programm. Nach Debatten spaltet sich etwa ein Viertel der Anhänger*innen des NF als Deutsche Forumpartei (DFP) ab. Die DFP ging mit der Wiedervereinigung in der FDP auf.
5. Februar NF, DJ, DA, IMF, GL, GP, UVF und die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) entsenden je einen Minister ohne Geschäftsbereich in die Regierung Modrow;
DA tritt dem Wahlbündnis Allianz für Deutschland bei.
7. Februar IMF, NF und DJ schließen sich zur Listenverbindung Bündnis 90 zusammen; VL und die Partei Die Nelken schließen sich zur Listenverbindung Aktionsbündnis Vereinigte Linke (AVL) zusammen.
9. Februar 1. Parteitag der GP und formelle Gründung
18. März Volkskammerwahl Wahlergebnis: CDU 40,8 %, SPD 21,9 %, PDS 16,4 %, DSU 6,3 %, BFD 5,3 %, Bündnis 90 2,9 %, DBD 2,2 %, Grüne/UFV 2,0 %; Bündnis 90 und Grüne Partei schließen sich in der Volkskammer zur Fraktion B90/Grüne zusammen.
4. August DA fusioniert mit der CDU der DDR, mit der sie seit dem 18. März bereits in der Volkskammer eine Fraktionsgemeinschaft bildete. Diese vereinigt sich wiederum zwei Monate später, am 1. und 2. Oktober 1990, mit der westdeutschen CDU.
2. Dezember Bundestagswahl IFM, NF, DJ, UFV, VL und die Partei Die Grünen schließen sich zur Listenvereinigung Bündnis 90/Grüne – BürgerInnenbewegung (B90/Grüne) zusammen. Diese erzielt 1,3 % und wird mit acht Mandaten nicht zu einer Fraktion, sondern zu einer Bundestagsgruppe.
Wahl zum Berliner AGH IFM, NF, DJ, UFV, VL und GP schließen sich zur Wahlliste Bündnis 90/Grüne zusammen und erhalten elf Sitze; Gründung einer eigenen parteiunabhängigen Fraktion durch vier Abgeordnete aus NF und VL.
1991
11. Januar Erste Sitzung des Gesamtberliner Abgeordnetenhauses; der unabhängigen Fraktion aus NF und VL wird der Fraktionsstatus entzogen.
September Zusammenschluss von IMF, DJ und Teilen des NF zur Partei Bündnis 90
1993
Mai Zusammenschluss von Bündnis 90 mit den Grünen zur Partei Bündnis 90/Die Grünen; das NF besteht parallel auch als Bürgerbewegung weiter – betrieben von Mitgliedern, die mit der Parteiwerdung nicht einverstanden sind. Diese fortbestehende Bürgerbewegung NF gewinnt noch einzelne Mandate in kommunalen Gremien in Ostdeutschland.
2013
19. Oktober
Offizielle Auflösung der VL in Berlin; einzelne regionale VL-Gruppen bestehen weiterhin.
Die Grüne Liga besteht in den fünf neuen Bundesländern und Berlin als Netzwerk Ökologischer Bewegungen fort.
Zeitleiste 2: Entstehen von Verfassungen in Berlin, 1989–1995
1989
7. Dezember Der Zentrale Runde Tisch der DDR (ZRT) beschließt bei seinem ersten Treffen die Einsetzung einer Arbeitsgruppe Neue Verfassung.
19. Dezember Erstes Treffen der AG Neue Verfassung
1990
12. März Die AG Neue Verfassung stellt beim letzten Treffen des ZRT ihre Gesichtspunkte für eine neue Verfassung der DDR vor.
13. März – 4. April Die Redaktionsgruppe der AG Neue Verfassung stellt den Verfassungsentwurf des ZRT fertig.
18. März Wahlen zur Volkskammer; Gewinner ist die Allianz für Deutschland (AfD).
4. April Redaktionsgruppe der AG Neue Verfassung überreicht der Volkskammer zu ihrer ersten Sitzung den Verfassungsentwurf des ZRT, welcher von der Fraktion der AfD jedoch nicht an die Abgeordneten weitergegeben wird.
26. April Der Antrag von Bündnis 90/Grüne, den Verfassungsentwurf des ZRT zur Volksabstimmung zu bringen, wird in der Volkskammer abgelehnt.
2. Mai Die Bürgerbewegung Neues Forum fordert einen Volksentscheid über den Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches und sammelt dafür DDR-weit insgesamt 230.000 Unterschriften.
6. Mai Bei den Wahlen zur Ostberliner Stadtverordnetenversammlung erreichen die SPD 34 %, PDS 30 %, CDU 17,7 % und das Bündnis 90 9,8 %.
6. Juni Der von der Stadtverordnetenversammlung eingesetzte Ausschuss Einheit Berlin beginnt mit der Erarbeitung einer Ostberliner Verfassung.
4. Juli Erste Lesung des Verfassungsentwurfs der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung
11. Juli Zweite Lesung des Verfassungsentwurfs der Stadtverordnetenversammlung und Beschluss der Verfassung
18. Juli Die Berliner Zeitung veröffentlicht die Ostberliner Verfassung in voller Länge.
23. Juli Die Ostberliner Verfassung wird verkündet und tritt in Kraft.
23. August Die beiden Ausschüsse (West und Ost) zur Vorbereitung der Einheit der Stadt Berlin beschließen, das erste gemeinsame Berliner Abgeordnetenhaus mit der Überarbeitung der Verfassung von 1950 – und nicht mit der Erarbeitung einer neuen Gesamtberliner Verfassung – zu beauftragen.
23. August Die Volkskammer beschließt die Beitrittsvariante – also dass die DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten wird.
30. August Wolfgang Schäuble (CDU West) und Günther Krause (AfD/CDU Ost) unterzeichnen den Einigungsvertrag. Eine parlamentarische Kommission soll später über „Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes“ beraten.
20. September Die Volkskammer und der Bundestag beschließen jeweils den Einigungsvertrag.
3. Oktober Der Einigungsvertrag tritt in Kraft.
2. Dezember Erste gesamtdeutsche Bundestagswahlen; erste Gesamtberliner Abgeordnetenhauswahlen
1991
11. Januar Erste Sitzung des Gesamtberliner Abgeordnetenhauses; Die Westberliner Verfassung von 1950 gilt nun für ganz Berlin. Die Verfassung von Ost-Berlin tritt außer Kraft.
23. Mai Im Abgeordnetenhaus von Berlin wird von der CDU/SPD der Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Verfassungs- und Parlamentsreform gestellt.
1992
16. Januar Im Bundestag findet die erste Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission statt.
11. Februar Abgeordnetenhaus von Berlin: Erste Sitzung der Enquete-Kommission zur Verfassungs- und Parlamentsreform
1993
21. April Abgeordnetenhaus von Berlin: Zwischenbericht der Enquete-Kommission zur Verfassungs- und Parlamentsreform
05. November Bundestag: Abschlussbericht der Gemeinsamen Verfassungskommission
1994
18. Mai Abgeordnetenhaus von Berlin: Schlussbericht der Enquete-Kommission zur Verfassungs- und Parlamentsreform
09. Juni Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenardebatte über die Empfehlungen der Enquete-Kommission
10. November Abgeordnetenhaus von Berlin: Erste Lesung des Verfassungsentwurfs von Abgeordneten der Fraktionen B90/Grüne, SPD und FDP (Herbst-Initiative) im Abgeordnetenhaus
1995
8. Juni Abgeordnetenhaus von Berlin: Zweite Lesung des Verfassungsentwurfs im Plenum mit anschließendem Beschluss
22. Oktober Berliner*innen stimmen dem Verfassungsentwurf per Volksabstimmung zu.
23. November Verfassung von Berlin tritt in Kraft
Zeitleiste 3: Volksentscheide und Volksabstimmungen in Berlin, 1990–2017
1990
2. Mai Die Bürgerbewegung Neues Forum fordert einen Volksentscheid über den Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches und sammelt dafür DDR-weit insgesamt 230.000 Unterschriften.
1995
22. Oktober Volksabstimmung über die überarbeitete Verfassung von Berlin; Ergebnis: angenommen
1996
5. Mai Volksabstimmung über die Länderfusion von Berlin und Brandenburg; Ergebnis: angenommen (nur in Berlin, keine Mehrheit in Brandenburg)
2006
17. September Volksabstimmung über Verfassungsänderung zu Regelungen über Volksbegehren und Volksentscheid; Ergebnis: angenommen
2008
27. April Volksentscheid „Tempelhof bleibt Verkehrsflughafen!“; Ergebnis: am Quorum gescheitert
2009
26. April Volksentscheid über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion; Ergebnis: keine Mehrheit – gescheitert
2011
13. Februar Volksentscheid über die Offenlegung der Teilprivatisierungsverträge bei den Berliner Wasserbetrieben; Ergebnis: Gesetzentwurf angenommen
2013
3. November Volksentscheid über die Rekommunalisierung der Berliner Energieversorgung; Ergebnis: am Quorum gescheitert
2014
25. Mai Volksentscheid über den Erhalt des Tempelhofer Feldes; Ergebnis: Gesetzentwurf angenommen
2017
24. September Volksentscheid über den Weiterbetrieb des Flughafens Berlin-Tegel „Otto Lilienthal“; Ergebnis: Beschlussentwurf angenommen
Einleitung
Artikel 3
Nach der Verlesung
Verfassen, nicht verfasst werden
Der Zentrale Runde Tisch der DDR
Geometrien der Versammlung
Darf ich mal unterbrechen
Volk, Wir sind das
Parlament der Straße
Den ganzen Kuchen
Kurzer Prozess
Arena der Tiefschläge
Die Ostberliner Verfassung
Politische Rechte der Bürgerbewegungen
Der Bürgeranwalt
Kein Streit um Worte
Lex Landowsky
Volksgesetzgebung, Für und Wider
Gründend auf der revolutionären Erneuerung
Volk von oben
Von 100% Tempelhofer Feld zu Volksentscheid Retten
Quellenverzeichnis
Impressum
In der Geschichte Berlins gab es zwei unterschiedliche Versuche, Verfassungen von unten zu gestalten:
1990 wurde, im Zuge einer radikalen demokratischen Selbstermächtigung, am Zentralen Runden Tisch ein Verfassungsentwurf für die DDR erarbeitet. Auf dieser Grundlage entstand kurz darauf in der Berliner Stadtverordnetenversammlung eine neue Ostberliner Verfassung. An beiden Gesetzestexten wirkten die Bürgerbewegungen maßgeblich mit.
2016 initiierte eine Gruppe das Volksbegehren Volksentscheid Retten, um eine Verfassungsänderung zu erwirken. Sie reagierte damit auf das Bestreben des Abgeordnetenhauses, das Gesetz zum Erhalt des Tempelhofer Feldes wieder aufzuheben, welches per Volksentscheid beschlossen worden war. Dass Gesetze in Berlin überhaupt ohne das Abgeordnetenhaus per Volksentscheid durchgesetzt werden können, war durch die 1989/90 angestoßenen Verfassungsänderungen möglich geworden.
Die beiden Ereignisse bilden eine Klammer für das vorliegende Heft, zu dessen Erstellung wir drei Herausgeber*innen auf Einladung der Berliner Hefte zusammen gekommen sind. Elske Rosenfeld (E. R.) forscht zu den Ereignissen von 1989/90 und der Arbeit am Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR. Kerstin Meyer (K. M.) beteiligte sich an dem Volksbegehren Volksentscheid Retten mit dem Ziel, die Volksgesetzgebung in der Berliner Verfassung zu stärken. Joerg Franzbecker (J. F.) gestaltete den Inhalt und die konzeptionelle Ausrichtung der Publikation mit.
Revolution …
Die ersten Beiträge im Heft befassen sich mit den Vorgängen, die 1990 zur Entstehung der beiden Verfassungen führten. Sie beschreiben, wie sich die Bürgerbewegungen aus den oppositionellen Kreisen der späten DDR heraus gründeten. Diese konnten am Zentralen Runden Tisch ihre politischen Vorstellungen formulieren und ihre basisdemokratische Praxis weiterentwickeln. Für die Bürgerbewegungen war die Arbeit am Verfassungsentwurf der direkte Weg zur demokratischen Umgestaltung einer eigenständigen DDR. Mit der Auflösung des Runden Tisches nach der Volkskammerwahl verloren die Bürgerbewegungen jedoch ihren enormen politischen Einfluss. Wir zeichnen nach, wie diese ihren Eintritt in das parlamentarische System erlebten und gestalteten.
Von den politischen Entscheidungsträger*innen aus Ost und West wurde ab März 1990 die vom Runden Tisch eingeforderte Verfassungsdebatte und damit auch eine ost- und gesamtdeutsche Diskussion über die eigene gesellschaftliche Verfasstheit verhindert.
… und Verfassung
Im zweiten Teil des Heftes sind die Vorgänge dokumentiert, die ab 1989/90 zur Entstehung der geltenden Verfassung von Berlin beitrugen. Es ist heute in Berlin kaum bekannt, dass ab Sommer 1990 eine neue Verfassung für Ost-Berlin galt, die weitreichende politische Bürgerrechte enthielt. Mit dieser in den Händen konnten die Ost-Berliner*innen erreichen, dass nach der politischen Einheit der Stadt eine gemeinsame Verfassung in Kraft gesetzt werden musste. Nach den ersten Gesamtberliner Wahlen im Dezember 1990 folgte allerdings keine öffentliche Debatte über diese Verfassung. Es kam lediglich zu Verhandlungen in einer Enquete-Kommission und im Abgeordnetenhaus, die sich über fünf Jahre erstreckten und fast ausschließlich hinter verschlossenen Türen stattfanden. Aus den öffentlichen Protokollen des Plenums haben wir rekonstruiert, wie über die Regeln unseres Gemeinwesens debattiert und vor allem wie darüber entschieden wurde. Keines der vorgeschlagenen politischen Bürgerrechte wurde übernommen. Einzig die Volksgesetzgebung wurde 1995 (wieder) in die Gesamtberliner Verfassung integriert. Die Erfahrungen mit der Volksgesetzgebung in den letzten elf Jahren und den jüngsten Versuch, diese über eine Verfassungsänderung zu stärken, reflektieren wir in einem Gespräch.
Recherche und Dokumentation
Unsere Recherchen stützen sich vor allem auf Primärquellen. Von allen Sitzungen des Runden Tisches existieren Videoaufnahmen und Transkripte. Die Protokolle der Volkskammersitzungen im Frühjahr 1990 und der Plenardebatten im Abgeordnetenhaus sind in Archiven und im Internet einsehbar. Die Entstehung der Ostberliner Verfassung ist in einer Dissertation ausführlich dokumentiert. Allein die Arbeit der Enquete-Kommission, die nichtöffentlich tagte, lässt sich nur über deren Berichte und die darauffolgenden Debatten im Plenum des Abgeordnetenhauses nachvollziehen. Kontextualisierende und interpretierende Sekundärliteratur war zu diesen Vorgängen kaum zu finden. Wir konnten allerdings auf Gespräche mit Protagonist*innen und auf Mitschnitte einer Veranstaltung im Haus der Demokratie im Jahr 2014 zurückgreifen. Besonders wichtig für uns war der vom Neuen Forum verfasste Erfahrungsbericht HALBZEIT im Berliner Abgeordnetenhaus – ein Dokument des Aufeinandertreffens von Bürgerbewegungen und parlamentarischem Geschäft.
In unserem Austausch traten etliche Zusammenhänge hervor. Bestimmte Fragen und Konflikte, Mechanismen, Spielregeln, Tricks, Strategien und auch Teile des Personals wiederholten sich in den unterschiedlichen Zeiten und Kontexten. Sie lassen sich quer durch das Heft nachverfolgen.
Die gesetzgebende Gewalt
steht allein der Volksvertretung
und durch den Volksentscheid dem Volke zu.
Die gesetzgebende Gewalt
steht allein der Volksvertretung zu.
Die gesetzgebende Gewalt
steht allein der Stadtverordnetenversammlung
und durch Volksentscheid dem Volke zu.
Die gesetzgebende Gewalt
steht allein der Volksvertretung zu.
Die gesetzgebende Gewalt
wird durch Abstimmung
und durch die Volksvertretung ausgeübt.
Die gesetzgebende Gewalt
wird durch Volksabstimmungen, Volksentscheide
und durch die Volksvertretung ausgeübt.
Verfassung von Berlin von 1950 (galt in West-Berlin)
Verfassung von Berlin von 1950 nach Änderung 1974 (galt in West-Berlin)
Verfassung von Berlin vom 23. Juli 1990 (galt in Ost-Berlin)
Verfassung von Berlin von 1950 (galt in Gesamtberlin ab dem 11. Januar 1991)
Verfassung von Berlin vom 23. November 1995
Verfassung von Berlin vom 23. November 1995 nach Änderung 2006
→ Gründend auf der revolutionären Erneuerung