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Über den Mut, sich der Vergangenheit zu stellen, über Freundschaft und die Liebe zu sich selbst.- Seit zehn Jahren ist Alexandra glücklich verheiratet mit Daniel. Die gemeinsame Firma floriert und ihr wild blühender Garten ist der perfekte Rückzugsort. Dennoch fühlt sie sich manchmal fehl am Platz: Es fällt ihr schwer, sich Daniels harmonischer Großfamilie zu öffnen; den Kontakt zu ihren eigenen Eltern hat sie abgebrochen. Als ihr Vater stirbt, muss Alexandra sich der Vergangenheit stellen: Sie erbt das Elternhaus im Bayerischen Wald – zusammen mit ihrer Schwester Melanie. Doch die ist seit einem Familienstreit vor über zwanzig Jahren verschwunden. Dann entdeckt Alexandra auch noch, dass ihr Mann eine Affäre mit einer anderen Frau hat. Verletzt und wütend flieht sie an den Ort ihrer Kindheit und macht sich auf die Spurensuche nach ihrer Schwester. Was wissen Alexandras Kindheitsfreundin Yvonne und deren Mann über die verlorene Schwester? Und welche Rolle spielt Melanies Jugendliebe Lukas in der Geschichte? Auf Alexandras Reise in die Vergangenheit erweist sich ihr schweigsamer Kollege Max als guter Freund, dem sie mehr und mehr vertraut. Oder ist da noch mehr? Das Buch erzählt vom Leben und tiefer Menschlichkeit, die alles heller und wärmer macht. Wie das Licht, das zwischen den Bäumen funkelt!
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Über das Buch
Über die Autorin
Prolog: Die Halle
Sonntag im Garten
Monday, Monday
Der Brief
Max
Auf Sendung
Ungute Vorahnungen
Freitagsfrühstück
Geständnis
Küchengespräche
Allein zu Hause
Plan B
Wiedersehen mit Sesslfing
Max
Alte Bekannte
Florian
Lukas
Der Briefträger
Yvonne
Gitarrenklänge
Auf ein Glas
Max
Videokonferenz
Paul
Panne
Auf dem Brunnerhof
Das Zimmer meiner Schwester
Im Wald
Max
Die Kiesgrube
Florians Geheimnis
Max
Planänderung
Daniel
Max
Passau
Max
Linz
Café Florentine
Abgelehnt
Fast wie Familie
Ein Jahr später
Nachwort
Impressum
Alexandras Leben scheint perfekt: Sie ist glücklich mit ihrem Mann Daniel, der gemeinsamen Firma und ihrem wild blühenden Garten als Wohlfühlort. Da bringt ein Brief vom Nachlassgericht alles durcheinander. Ihr Vater, mit dem sie längst gebrochen hat, ist gestorben und sie erbt den elterlichen Hof im Bayerischen Wald – zusammen mit ihrer Schwester Melanie. Doch die ist seit über zwanzig Jahren verschwunden. Schmerzhafte Erinnerungen brechen auf, von denen Alexandra bisher nicht einmal Daniel erzählt hat. Gleichzeitig entdeckt sie, dass er fremdgeht. Verletzt und wütend fährt sie an den Ort ihrer Kindheit und folgt der Spur ihrer Familiengeheimnisse. Es wird eine Reise zu sich selbst. Und dann ist da noch Max, der sie ohne große Worte unterstützt ...
Ein hoffnungsvoller Roman über eine Frau, die sich beherzt ihrer Vergangenheit zuwendet und dabei lernt, auf die Stimme ihrer Seele zu hören.
Sabine Rädisch wurde 1973 in Deggendorf geboren. Dem Lauf der Donau folgend studierte sie Bauingenieurwesen in Regensburg und ließ sich in Wien zur Schreibpädagogin ausbilden. Die Autorin lebt in Regensburg, leitet erfolgreich Kurse für kreatives und biografisches Schreiben und veröffentlichte bereits mehrere Romane, Gedichte sowie ein Schreiblustbuch.
Weitere Informationen zur Autorin und zu ihren Büchern unter:
www.sabine-raedisch.de
Eine nach der anderen erwachten die Neonröhren zum Leben, jede mit einem kleinen »Pling«. Als alle leuchteten, lag die Halle still vor ihr. Auf dem Boden eine Abfolge von menschengroßen Quadern und Röhren, deren Schwarz durch das fahle Licht noch vertieft wurde. Sie kannte jeden Millimeter der Installation, hatte nach und nach die Stationen aufgebaut, ausgestattet, die Details immer wieder verändert. Hatte jede einzelne davon auf ihre Wirkung überprüft: Rief sie genau die Empfindungen hervor, die sie transportieren wollte? Funktionierte die Technik reibungslos? Heute würde sie zum ersten Mal den gesamten Parcours durchlaufen, einschließlich der Sound- und Showeffekte. Sie streifte ihre Sandalen ab, schob den Vorhang beiseite, wand sich durch das enge, runde Eingangsloch der ersten Box und kauerte sich zusammen wie ein Embryo im Mutterleib. So jedenfalls stellte sie sich das vor. Der Weg zum Ausgang war sehr eng, sie wurde von allen Seiten gedrückt. Ein fast erotisches Gefühl, sie mochte das. Sie mochte auch den seidigen Teppich, auf dem sie anschließend zu liegen kam, und die Farbe Rot. Ein nur scheinbar sanfter Übergang, denn schon setzten die Frauenstimmen ein: Sie kreischten, lockten, sangen Wiegenlieder, all das erdrückend laut. Dazu das gleißende Licht, das einen zwang, die Augen zuzukneifen. Umso überraschender kamen die harten, rotierenden Bürsten. Kaum hatte sie auch diese überstanden, wurde sie in die nächste Box gestoßen. Ein metallisches Knirschen – dann stand die Maschine still. Nur eine einzelne zusammengequetschte Daunenfeder segelte auf sie herab. Irgendetwas klemmte, sie musste die Mechanik nachjustieren. Zur Eröffnung würde alles perfekt sein.
Während mein Mann im Haus telefonierte, streifte ich durch den Garten und sammelte Blüten und Blätter für unser Frühstück: zart rosafarbene, süße Cosmea, scharfe Kapuzinerkresse, Schnittlauch und Basilikum. Vorsichtig brauste ich sie mit dem Gartenschlauch ab und trug sie zu dem runden Holztisch auf der Terrasse. Dort standen schon meine selbst gemachte Himbeermarmelade, eine Schüssel Obstsalat, Tomaten mit Mozzarella sowie Croissants und Brötchen, die Daniel von seiner Joggingrunde mitgebracht hatte. Dazu eine Käseplatte, auf der ich jetzt die Blüten verteilte.
»Kommst du?«, rief ich durch die offen stehende Terrassentür. »Und bring bitte den O-Saft mit.«
Der Kräutertee stand in einer Glaskanne auf dem Stövchen vor mir und duftete nach Melisse, Salbei und Minze. Ich setzte mich und schaute zufrieden auf das Kräuterbeet. Einige der Pflanzen hatte ich ausblühen lassen, ein Fest für die Bienen. Die Pfingstrosen daneben waren spät dran, doch nach dem kühlen Frühling blühten sie jetzt im Juni umso schöner. Mitten auf der Wiese stand ein Apfelbaum und spendete der Terrasse Schatten. Mittlerweile war unser Grundstück so eingewachsen, dass der Bungalow von der Straße aus kaum mehr zu sehen war. Ich mochte es so und Daniel ließ mich aus Bequemlichkeit gewähren.
Als er jetzt aus dem Haus kam, wirkte er mit den Gedanken weit weg. Ich nahm ihm vorsichtig die Saftgläser aus der Hand und stellte sie auf den Tisch. Endlich schaute er mich an. Ich liebte seine warmen braunen Augen. »Entschuldige, Schatz«, sagte er und küsste mich. Ich erwiderte den Kuss leidenschaftlich, doch Daniel schob mich lachend weg.
»Können wir erst frühstücken?«, fragte er, griff zur Teekanne und schenkte uns ein. Na gut. Der Sonntag war ja noch lang. Daniel teilte eine Kürbiskernsemmel und bestrich die untere Hälfte mit Butter. Dann nahm er die Schere und schnipselte damit Schnittlauchröllchen direkt auf die Buttersemmel. Anschließend salzte er das Ganze großzügig. »Papa war am Telefon. Die Solaranlage wird diese Woche doch noch geliefert«, sagte er.
»Fein!«, antwortete ich und streute Basilikumblätter über meine Mozzarella-Tomaten. Ich freute mich für Daniel. Seit Wochen drehte sich in seiner Familie praktisch alles um die Solarwärme-Anlage für seine ältere Schwester Diana und ihren Mann Wolfi. Die beiden hatten letztes Jahr ein Ferienhaus im Bayerischen Wald gekauft. Sonnenkollektoren und ein Warmwasserspeicher standen ganz oben auf ihrer Liste, und meine Schwiegerfamilie wollte ihnen diesen Wunsch zu Dianas vierzigstem Geburtstag erfüllen. Daniel, der als gelernter Anlagenmechaniker am meisten davon verstand, hatte alles geplant und die Bauteile bestellt. Nächsten Samstag würden Familie und Freunde im Ferienhaus zusammenkommen und die Anlage montieren.
»Dann könnt ihr sie am Wochenende wie geplant aufbauen«, sagte ich.
»Kommst du denn nicht mit?«
»Ihr braucht mich doch gar nicht, ihr seid ja schon so viele.«
Ich spürte ein unangenehmes Gefühl im Bauch und Daniels Gesichtsausdruck spiegelte mein Unbehagen. »Es geht doch nicht um die Arbeit. Es wird bestimmt schön, wenn alle abends am Lagerfeuer dabei sind: Diana, Wolfi und die Kinder, meine Eltern, Tante Anne, Onkel Edi, meine Cousins. Mit Leos Freundin zum Beispiel hast du dich doch letztes Mal gut verstanden. Diana und die anderen wären traurig, wenn du nicht kämst.« Seine Stimme hatte einen lockenden Tonfall angenommen, als wäre ich ein Kind, das er zu überreden versuchte, den leckeren Spinat doch wenigstens einmal zu probieren. Das gefiel mir nicht. Außerdem spürte ich den Hauch eines schlechten Gewissens. Auch wenn ich mich auf Familienfeiern unwohl fühlte, wollte ich niemanden enttäuschen.
»Ich habe schon mit Diana gesprochen. Sie fand es auch schade, aber sie versteht mich.«
»Ihr habt telefoniert?« Daniel klang so, als glaubte er mir nicht, und das ärgerte mich. Trotzdem blieb ich ruhig.
»Wir haben neulich zusammen nach der Arbeit was getrunken, während du beim Mountainbiken warst. Das würde ich gern öfter machen. Schade, dass sie immer so eingespannt ist.«
Diana arbeitete ganztags im Reisebüro ihrer Eltern, ihre freie Zeit verbrachte sie meistens mit ihrem Mann Wolfi und den Kindern. Emma war elf und Felix bereits dreizehn.
»Dann wäre es doch schön, wenn du mitkommen würdest.«
»Bei den vielen Gästen wird sie kaum Zeit für mich haben. Und ich weiß nie so recht, was ich mit deinen Leuten reden soll. Außer uns sind doch alle in der Reisebranche.«
»Ja, und? Du musst ja nicht über Kanaltechnik reden.«
Das stimmte natürlich, aber Small Talk war nun mal nicht meine Stärke. Und so blieb ich auf Familienfeiern meistens allein an einem Tisch zurück und hielt mich an einem Glas Wein oder einer Apfelschorle fest, während Daniel von einem Grüppchen zum anderen wanderte und munter plauderte. Warum konnte ich das nicht? Diana hatte mich von Anfang an herzlich aufgenommen und mich allen vorgestellt, doch sobald ich mit mehr als zwei oder drei Leuten zusammenstand, verstummte ich.
»Bist du gar nicht neugierig auf das Ferienhaus?«
»Doch, schon. Ich würde gerne den Garten sehen und wie die Solaranlage aufgebaut wird.«
»Na also. Du kannst mitarbeiten oder den ganzen Tag in der Hängematte liegen und lesen. Ganz wie du willst. Hauptsache, du bist dabei.«
Ich seufzte. »Na gut, ich komme mit. Ich weiß ja, wie wichtig dir das Familienwochenende ist. Und ich würde mich gern nützlich machen.«
Für Handlangerdienste in Haus und Küche brauchte man keinen Small Talk zu können, und da ich sowohl eine Bohrmaschine bedienen als auch einen Kochlöffel schwingen konnte, würde mir nicht langweilig werden. Daniel lächelte. »Fein, ich freue mich.«
Nachdem er seine Semmel aufgegessen hatte, stand er auf. Er kam zu mir herüber, umarmte mich von hinten und küsste meinen Hals. Es kitzelte ein bisschen, da er sich seit Freitag nicht rasiert hatte. Ich mochte das. Dann sagte er: »Ich muss kurz in die Firma, ein paar Angebote schreiben.«
Seine Worte wirkten wie eine kalte Dusche. Der Sonntag war normalerweise für uns reserviert. Als wir noch ein Zwei-Personen-Betrieb für Rohrreinigung und -inspektion gewesen waren, hatten wir oft genug am Wochenende Notdienst gehabt. Inzwischen beschäftigten wir fünfundzwanzig Leute und arbeiteten nur noch in langfristig geplanten Projekten.
»Muss das ausgerechnet heute sein? Und warum fährst du dazu in die Firma? Du hast doch deinen Laptop hier.«
»Ich brauche Unterlagen aus dem Büro. Bis Mittag bin ich zurück, dann machen wir es uns gemütlich«, sagte er, drückte kurz meine Schulter und ging. Enttäuscht sah ich ihm hinterher.
Ich fand es selbst absurd, aber kaum war die Haustür hinter Daniel ins Schloss gefallen, fühlte ich mich allein. Als hätte jemand ein Licht in mir ausgeknipst. Ich hörte, wie sein Auto aus dem Carport rollte und sich das Geräusch langsam entfernte. Dann war es still und ich verfiel in diese seltsame Stimmung, die mich in letzter Zeit häufiger überkam: eine Mischung aus Traurigkeit, Angst und Überforderung. Ich zwang mich, aufzustehen und den Tisch abzuräumen. Ob meine Freundin Judith wohl spontan Lust hatte, etwas mit mir zu unternehmen? Ich war schließlich nicht verpflichtet, auf Daniel zu warten. Doch statt Judith anzurufen, beschloss ich, zurück in den Garten zu gehen und meine Hände in der Erde zu versenken – etwas, das mich zuverlässig beruhigte. Und so verbrachte ich den Vormittag auf den Knien, schnitt Pflanzen zurück und rupfte Unkraut aus.
Mittags aß ich Salat auf der Terrasse, sah dem Tanz der Schmetterlinge zu und machte mir eine To-do-Liste. Das Gras stand ziemlich hoch, zu hoch für den Rasenmäher. Schon lange wollte ich mir eine Sense kaufen und damit umgehen lernen. Mein Vater hatte damals versucht, es mir beizubringen. Doch da er mich jedes Mal anschrie, sobald ich einen Fehler machte, war mir schnell die Lust vergangen und ich hatte mich davor und vor vielen anderen Arbeiten auf unserem Nebenerwerbsbauernhof gedrückt. Zum Glück war ich nicht mehr auf ihn angewiesen. Erst kürzlich hatte ich im Bioladen einen Aushang gesehen, auf dem ein Sensenmähkurs angeboten wurde. Das Foto des Kursleiters zeigte einen feschen jungen Bauern mit Dutt und freundlichem Gesicht. Meinen Vater hatte ich seit über zwanzig Jahren nicht gesehen. Vor einem halben Jahr war er gestorben, doch im Grunde machte es keinen Unterschied für mein Leben, ob er noch da war oder nicht. So wenig Unterschied, dass ich nicht mal Daniel von seinem Tod erzählt hatte.
Als ich am nächsten Morgen auf unser Firmengelände im Norden Regensburgs einbog, kam mir eines unserer Einsatzfahrzeuge entgegen: ein weiß lackierter Kleintransporter mit dem blauen Schriftzug KTR – Kanaltechnik Riedl und unserem Logo in Form einer geflügelten Filmrolle. Am Steuer saß Franz, unser Inspekteur der ersten Stunde, und auf dem Beifahrersitz sein Kollege Tibor. Ich ließ kurz die Scheibe runter und wünschte den beiden einen guten Start in die Woche. »Dir auch, Chefin!«, sagte Franz, winkte und fuhr davon.
Ich parkte den Octavia auf dem Stellplatz der Geschäftsleitung, direkt neben einem weiteren Kleintransporter. Die Tür stand offen, als sei der Fahrer nur kurz ausgestiegen. Und tatsächlich kam mir auf dem Weg zum Eingang Max entgegen. Seit einem Jahr war er jetzt bei uns und laut Daniel machte er sich sehr gut. Ein langjähriger Kunde hatte neulich gezielt nach ihm verlangt. Ansonsten wusste ich kaum etwas über ihn. Außer beim Vorstellungsgespräch hatten wir selten länger miteinander geredet und bei informellen Treffen in der Firma tauchte er so gut wie nie auf. Vielleicht mochte er solche Zusammenkünfte so wenig wie ich Familientreffen? Was aber nicht erklärte, warum er jetzt mit finsterem Blick auf mich zukam, während mich das Orange und die Reflektorstreifen auf seiner Warnschutzhose beinahe blendeten. Dazu trug er ein kurzärmeliges schwarzes T-Shirt mit einem verwaschenen AC/DC-Aufdruck. Ein kompliziertes Tattoo aus Blättern und Schlingpflanzen bedeckte seinen linken Arm und wand sich seinen Bizeps hinauf, wo es unter dem kurzen Ärmel verschwand.
»Morgen, Max. Alles klar bei dir?«
Er blieb stehen und schaute mich stirnrunzelnd an. Sein linkes Auge saß eine Nuance höher und war ein bisschen größer als das rechte, was es mir schwer machte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Irgendwas empörte ihn, so viel stand fest.
»Bruno hat einen Bandscheibenvorfall«, sagte er. »Aber für den Auftrag im Bayerischen Wald brauche ich einen zweiten Mann.«
»Oder eine zweite Frau«, sagte ich, obwohl das hier natürlich nicht der Punkt war. Max überraschte mich mit einem feinen Lächeln. »Hauptsache, er oder sie kann zupacken.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte ich. Verbindlich und professionell, wie ich hoffte. In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, wo ich bis nächste Woche Ersatz für Bruno hernehmen sollte. Unsere Auftragsbücher waren voll, und wir versuchten schon eine ganze Weile vergeblich, neues Personal zu bekommen. Und Max wusste das.
»Danke. Tut mir leid«, sagte er und ließ mich stehen. Ich sah ihm hinterher. Wofür entschuldigte er sich? Er konnte ja nichts für den leer gefegten Arbeitsmarkt und dafür, dass ich diejenige war, die damit fertigwerden musste.
Ich ging weiter und trat in unser großzügiges, helles Foyer. An den Wänden hingen Fotos von unserer Belegschaft und den Fahrzeugen in Aktion. Ich war stolz darauf, was Daniel und ich in den letzten zehn Jahren geschafft hatten, doch der Erfolg von KTR flößte mir auch Respekt ein: Von unseren Entscheidungen hing nicht nur unsere eigene Existenz ab, sondern auch das Wohlergehen der fünfundzwanzig Menschen, die für uns arbeiteten. Wie gut, dass Daniel an meiner Seite war.
Im Erdgeschoss befanden sich ein großes Besprechungszimmer, die Haustechnik und der Empfang unter Tamaras Leitung. Durch die Glastür konnte ich sehen, dass sie telefonierte. Sie winkte mich herein. »Prima, so machen wir das«, hörte ich sie noch sagen, dann legte sie auf und sah mich an. »Guten Morgen. Weißt du schon von Bruno?« Ich nickte. »Ich habe mit der Zeitarbeitsfirma telefoniert. Die wollen sich im Lauf des Tages bei dir oder Daniel mit einem Vorschlag melden.«
»Danke, Tamara. Du bist ein Schatz!«
»Ich arbeite ja nicht umsonst.« Damit spielte sie auf die Gehaltserhöhung an, die sie Anfang des Jahres bekommen hatte. Ihr Humor, ihre Umsicht und Unerschütterlichkeit waren mit Geld alleine gar nicht aufzuwiegen. Ich bemühte mich um ein betroffenes Gesicht und sagte: »Ich dachte schon, es sei Liebe.«
»Das auch«, sagte sie, und wir grinsten uns kurz an, obwohl mir gar nicht nach Lachen zumute war. Der verpatzte Sonntag steckte mir noch in den Knochen. Daniel war sehr spät nach Hause gekommen und am Morgen schon vor mir aufgebrochen, was ungewöhnlich war. Dazu kam das Bruno-Problem. Ich ging hinauf in mein Büro. Die Verbindungstür zu Daniels Zimmer stand offen und die Bewerbung, die ich ihm am Freitag noch hingelegt hatte, lag unverändert auf dem Tisch. Es sah nicht so aus, als ob er heute schon mal hier gewesen wäre. Vielleicht schaute er ja schnell bei seinen Eltern vorbei, wegen der Familienfeier.
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Ich besprach mit Tamara unseren Auftritt bei der großen Fachmesse im Herbst und erledigte zwischendurch tausend andere Dinge, während Daniel Angebote kalkulierte. Zwischendurch telefonierte er mit seiner Familie und ich machte mir eine Einkaufsliste für meinen Beitrag zum Grillabend.
Am Donnerstagabend hatten wir noch immer keine Lösung für das Bruno-Problem. Franz hatte zwar Urlaub eingetragen, aber Tibor wurde dadurch trotzdem nicht frei. Er ging auf eine Fortbildung, die ich ungern absagen wollte. Tibor war motiviert und brauchte das Zertifikat. Es blieb wohl nichts anderes übrig, als einen Auftrag zu verschieben; entweder den im Bayerischen Wald oder einen anderen. Die Einsatzplanung fiel in Daniels Ressort, doch er war schon am Nachmittag losgefahren, um die Kollektoren und den Wasserspeicher für Dianas Solaranlage abzuholen. Ich schrieb ihm eine Nachricht und machte mich auf den Heimweg.
Beim Aussteigen im Carport verfing sich der Ärmel meiner Bluse in der Hecke, als wollten Purpurweide und Kornelkirsche meine Aufmerksamkeit einfordern. Die Weide hatte dieses Jahr kräftig ausgeschlagen und ich machte mir in Gedanken eine Notiz, dass nächstes Jahr ein Schnitt anstand.
Als ich den Briefkasten öffnete, fiel mir ein Brief von Tante Christa entgegen, der Schwester meines Vaters. Seit seinem Tod kümmerte sie sich um die Formalitäten; wohl mehr aus Pflichtgefühl als aus Verbundenheit, und weil sie in der Gegend lebte. Von ihr hatte ich letztes Jahr erfahren, dass Kurt gestorben war. Drei- oder viermal hatte sie mir bereits Briefe geschickt mit Angelegenheiten, von denen sie dachte, dass ich darüber entscheiden sollte. Etwas Aufregenderes als Kontoauszüge oder die Abmeldung vom Buchclub war bisher nicht dabei gewesen. Neben Christas Brief gab es noch ein amtlich aussehendes, braunes A4-Kuvert und eine Ansichtskarte mit einer wunderschönen Fjordlandschaft. Ich nahm die Post mit hinein und legte sie auf den Küchentisch. Dann checkte ich mein Smartphone. Daniel hatte mir geschrieben, dass er noch unterwegs sei und ich nicht mit dem Essen auf ihn warten solle. Ich setzte Spargel und Kartoffeln auf und ging in den Garten, um Kräuter zu holen und im Gewächshaus erste Cocktailtomaten zu ernten. Eine halbe Stunde später dekorierte ich damit mein Essen und trug es nach draußen auf die Terrasse. Bienen und Schmetterlinge tanzten in der Abendsonne und es war so ruhig, dass ich die Blätter im Apfelbaum rascheln hörte. Nur hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, Gartentüren quietschten, und ein paar Häuser weiter lachten Kinder – beruhigende Feierabendgeräusche. Nach dem Essen legte ich mich auf einen Gartenstuhl im Halbschatten und döste, während meine Gedanken langsam zur Ruhe kamen.
Dann musste ich eingeschlafen sein, denn plötzlich saß Daniel in dem Stuhl neben mir und berührte mich sanft am Arm. »Ziemlich schwül heute Abend, es wird wohl später noch ein Gewitter geben«, sagte er und stellte Gläser und eine Karaffe mit Zitronenwasser auf den kleinen Tisch zwischen uns. Ich sah auf die Uhr: schon halb neun. Der Himmel hatte sich zugezogen. Trotzdem war es noch hell. Daniel schenkte uns Wasser ein und ich nahm einen tiefen Schluck. »Danke. Hier draußen im Garten kann man's gut aushalten«, sagte ich und Daniel nickte.
»Hast du die Karte von Oma und Opa gesehen?«, fragte er.
Daniels Großeltern machten endlich die Fahrt mit der Hurtigruten, die sie im Lauf ihres Berufslebens so oft an ihre Kunden verkauft hatten. Sie selbst gönnten sich das erst jetzt, nachdem sie sich ganz aus dem Geschäft zurückgezogen hatten.
»Was schreiben sie denn?«, fragte ich und nippte wieder an meinem Wasser.
»Hast du sie denn nicht gelesen? Sie ist an uns beide adressiert. Oma und Opa finden es wunderbar, sich um nichts kümmern zu müssen, und sind beeindruckt von der Natur. Sie machen die Nächte durch, weil es nicht dunkel wird.« Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme und auch mir wurde warm ums Herz. »Wie schön, dass die beiden so gesund sind. Vielleicht liegt das daran, dass sie ihr Leben lang das gemacht haben, was sie lieben. So wie wir.«
Daniel ging nicht darauf ein, stattdessen reichte er mir die beiden ungeöffneten Briefe. »Da war noch was für dich in der Post.«
»Ich weiß.« Ich nahm die Umschläge und ließ sie in meinen Schoß fallen.
»Einer ist vom Nachlassgericht in Deggendorf. Willst du den nicht aufmachen?«
»Nein«, sagte ich.
»Aber ... es ist hoffentlich niemand aus deiner Familie gestorben, oder? Das hättest du mir bestimmt erzählt.« Ganz sicher schien er nicht zu sein, dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen. Wie recht er hatte. Ich fühlte mich schäbig. Jetzt lachte er die Unsicherheit weg. »Vielleicht hast du einen Erbonkel in Amerika, von dem du nichts wusstest, und bist plötzlich reich. Oder du erbst ein Cottage in Cornwall.«
»Mein Vater ist gestorben«, sagte ich.
Daniel setzte sich ruckartig auf. »Wann?«
»Schon im Dezember. Meine Tante Christa hat mich angerufen, aber ich habe schlicht vergessen, es dir zu sagen. Du weißt doch, dass ich den Kontakt abgebrochen hatte. Er war seit Jahren so gut wie tot für mich.«
Daniel starrte mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich weiß, dass du nach der Trennung deiner Eltern nichts mehr von ihm wissen wolltest. Auch wenn du mir nie erzählt hast, warum genau. Aber vielleicht hätte es dir gutgetan, auf die Beerdigung zu gehen und dich endgültig von deinem Vater zu verabschieden. Ich wäre mitgekommen und hätte dir geholfen, das durchzustehen.« Er schüttelte noch einmal ungläubig den Kopf. »Vergessen, zu erwähnen, dass der eigene Vater gestorben ist ...«, murmelte er.
Eine seltsame Mischung aus Wut, Angst und Benommenheit machte sich in mir breit. Natürlich konnte Daniel mein Verhalten nicht nachvollziehen, mit seiner Familie, die ihn umgab wie ein schützender Kokon. Eine Familie, die sogar Trauerfeiern zu Festen voller Eleganz und Wärme machte. Erst letztes Jahr hatte ich das bei der Beerdigung seiner Uroma Rose erlebt. Die offensichtliche Liebe für die Verstorbene und im Familienkreis hatte wie eine Überdosis auf mich gewirkt. Wie so oft hatte ich mich fremd gefühlt und gleichzeitig schuldig, weil ich nicht ehrlich mit Daniel trauern konnte.
Ich schluckte eine bittere Bemerkung hinunter. »Wenn du mich wirklich unterstützen willst, dann lassen wir das Thema jetzt ruhen«, sagte ich. Meine Stimme klang flehend und wackelte, doch Daniel setzte sich über meine Bitte hinweg. »Du hättest es mir erzählen müssen«, sagte er, und ich begriff, dass mein Schweigen ihn wirklich verletzt hatte. Wie sollte ich ihm erklären, dass ich nicht anders gekonnt hatte? Christas Anruf hatte eine Tür in meiner Seele geöffnet, hinter der das Grauen meiner Kindheit lauerte. Erst danach kam die Erleichterung darüber, dass er tot war. Ich wollte alles, was mit ihm zusammenhing, endgültig vergessen.
»Es tut mir leid«, sagte ich und hielt Daniel den Umschlag hin. »Kannst du den für mich aufmachen, bitte?«
Zögerlich griff er zu und sah mich noch einmal an, wie um mein Einverständnis einzuholen. Dann löste er die Umschlagklappe an einer Ecke und riss die Hülle mit einer kräftigen Fingerbewegung auf.
Ich atmete tief durch und schloss die Augen, während Daniel vorlas: »… zu Miterben nach Kurt Brunner, zuletzt wohnhaft in Sesslfing, sind berufen: Alexandra Margarete Riedl, geborene Brunner, und Melanie Martha Brunner ...«
Es folgte ein Absatz, in dem ich gebeten wurde, die Adresse meiner Schwester mitzuteilen, da man ihren Aufenthaltsort nicht habe ermitteln können. An der Stelle musste ich lachen. Daniel griff nach meiner Hand und drückte sie; vielleicht dachte er, ich sei verrückt geworden. Und irgendwie stimmte das ja auch. Ich hatte mir vorgemacht, dass ich ein normales Leben führte. Ein ausgefülltes Leben mit meinem Mann, unserer gemeinsamen Firma und einer angeheirateten, intakten Familie. Mehr denn je fühlte es sich an, als wäre das alles nur geliehen.
Ich rutschte tiefer in meinen Liegestuhl. »Die Verfügung von Todes wegen liegt in beglaubigter Abschrift bei«, las Daniel weiter vor und reichte mir die Kopie des Testaments, das ich rasch überflog. Es stammte aus dem Jahr 2005, war also schon vierzehn Jahre alt. Melanie und ich sollten den Haus- und Grundbesitz unseres Vaters zu gleichen Teilen erben. Beim Anblick seiner Unterschrift schüttelte ich mich; selbst der Kopie konnte man ansehen, wie brutal er die Buchstaben auf das Blatt gedrückt hatte. Es war nur ein Stück Papier, doch es übte auf unheilvolle Weise Macht über mich aus. Mich überkam ein Gefühl der Hilflosigkeit, das ich längst überwunden geglaubt hatte.
»Du hast eine Schwester?«, fragte Daniel.
Ich seufzte. »Ja. Aber ich weiß nicht, ob sie noch lebt und wo sie ist. Als mein Vater das Testament geschrieben hat, war sie schon seit mehr als zehn Jahren verschwunden. Vielleicht wusste er ja, wo sie ist, und hat es mir und meiner Mutter verschwiegen.« Ich lachte auf.
Daniel strubbelte sich mit der Hand durchs Haar, wie er es immer tat, wenn er aufgewühlt war. »Gibt es noch mehr, das ich von dir nicht weiß? Hast du noch weitere Geschwister?«
»Nein, es gibt nur Melanie. Sie ist meine Halbschwester, fünf Jahre älter als ich. Mein Vater hat sie adoptiert, als er meine Mutter heiratete. Die war neunzehn, als sie Melanie bekam. Von einem Jugendfreund, soweit ich weiß.«
»Du sagst, sie ist verschwunden. Was heißt das genau?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Sie ist eines Abends einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Sie hatte gute Gründe, wegzugehen. Unser Vater war ein gewalttätiges Arschloch, ständig gab es Streit.« Daniel zuckte zusammen. Solche Vorkommnisse waren im Zusammenhang mit seiner eigenen Familie undenkbar, ebenso die Wortwahl. Doch immerhin gab ich ihm damit einen Teil der Erklärung, die ich ihm wohl schuldete.
»Und dann begann Melanie, sich in der Bürgerinitiative zu engagieren. Sie wollten den Bau einer Mülldeponie verhindern, den mein Vater als Gemeinderat unterstützte. Melanie ging demonstrieren und unsere Mutter machte mit. Es war das erste Mal, dass sie so offensichtlich nicht seiner Meinung war, und dann noch in einer politischen Angelegenheit. Die von der anderen Partei machten sich lustig über ihn. Er war schon immer jähzornig, aber dann hat er angefangen, sie zu schlagen.« Meine Stimme versagte. Daniel legte eine Hand auf meinen Arm, doch ich konnte die Berührung nicht ertragen und zog den Arm weg. »Entschuldige«, sagten wir beide gleichzeitig.
Ich fing mich als Erste. »Manchmal genügte ein einziges Wort, damit Kurt einen Wutanfall bekam. Ich war ständig auf der Hut, nichts Falsches zu sagen.«
»Du hast geglaubt, es liegt an dir, wenn er wütend wird? Wie kann man seinem Kind das nur antun. Oder die eigene Frau schlagen«, sagte Daniel und verzog das Gesicht. Jetzt wusste ich wieder, warum ich so selten über diese Dinge sprach: Es half mir kein bisschen, dass Daniel jetzt schockiert war. Er wirkte nahezu angewidert.
»Schau mich bitte nicht so an. Ich habe mir diese Familie nicht ausgesucht«, sagte ich.
Er schluckte. »Entschuldige, aber die Geschichte geht mir unter die Haut. Hast du deine Schwester nie gegoogelt?«
»Natürlich. Immer wieder. Aber ich finde keine Spur von ihr.«
»Vermutlich hat sie geheiratet und einen anderen Nachnamen angenommen, so wie du.«
»Hätte das Amtsgericht sie nicht trotzdem finden müssen?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Vielleicht will sie nicht gefunden werden und hat ihre Spuren absichtlich verwischt. Oder sie ist obdachlos geworden und nirgends mehr gemeldet.«
Bei dem Gedanken daran, dass meine Schwester unter einer Brücke schlief, wurde meine Brust ganz eng. Als Daniel diesmal meine Hand nahm, war ich froh darüber. Ich schluckte und atmete zitternd einmal ein und aus. Seine Hand war angenehm kühl und trocken. »Das alles ist sicher schwer für dich. Trotzdem verstehe ich nicht, warum du mir nichts erzählt hast. Ich wusste ja, dass deine Eltern geschieden sind und du keinen Kontakt mehr zu deinem Vater hast, aber die Geschichte mit Melanie ist echt heftig. Wir hätten nach ihr suchen lassen können. Mein Großonkel Karl ist Erbrechtsanwalt. Der weiß, wie man Angehörige aufspürt.«
Schon wieder spürte ich einen Stich in meinem Herzen. Ganz egal, worum es ging: Es gab immer jemanden in Daniels weitläufiger Verwandtschaft, den oder die er um Rat fragen konnte. Und genau das war mein Problem. Sie kamen mir alle so gescheit und kompetent vor. Sie waren so großzügig und gaben mit einer Leichtigkeit, als hätten sie unbegrenzte Ressourcen. Mein verkorkstes Elternhaus passte einfach nicht dazu.
»Ich möchte deine Verwandten nicht in meine Familienangelegenheiten hineinziehen«, sagte ich.
»Onkel Karl würde es schon sagen, wenn er keine Lust oder keine Zeit hätte.«
Ich atmete tief durch und wählte meine Worte sorgfältig aus: »Ich fand es immer toll, dass du so eine große, harmonische Familie hast, aber manchmal schüchtert mich das ein.« Das war stark untertrieben, aber freundlich formuliert, wie ich hoffte. Daniel wirkte nicht überrascht. »Ich weiß. Allein das Theater um unser Wochenende mit Diana und Wolfi! Dabei hast du das gar nicht nötig. Du bist eine wunderbare Frau, Alexandra. Du leitest eine Firma und weißt, was du kannst und was du willst. Du bist in Ordnung so, wie du bist.« Daniels Worte waren schmeichelhaft, doch ich fühlte mich wie eine Hochstaplerin. Natürlich hatte ich im Lauf der Zeit gelernt, meine Rolle in der Firma auszufüllen, und ich wusste, dass ich trotz meines abgebrochenen Studiums klug war und dass unsere Leute mich mochten. Trotzdem fühlte ich mich nie ganz sicher, selbst wenn alles gut lief.
Endlich löste sich die Anspannung in Daniels Gesicht. »Meine Familie hält sehr viel von dir. Um genau zu sein, hatten sie Bedenken, ob ich das mit der Firma auf die Reihe kriege. Bis du auf der Bildfläche erschienen bist und mit angepackt hast. ›Jetzt könnte es was werden‹, waren Papas Worte.«
Daniel lächelte und ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Herzen aus. Sein Vater hatte mir von Anfang seine Sympathie gezeigt, genauso wie Diana, und auch mit der Mutter verband mich inzwischen ein freundschaftliches Verhältnis. War ich wirklich so großartig, wie Daniel gesagt hatte? Warum fühlte ich mich dann nicht so? Und warum hatte er nicht gesagt, dass er mich liebte, wie ich war? Das war definitiv etwas anderes, als »in Ordnung« zu sein.
»Ich kann eben nicht aus meiner Haut«, sagte ich in dem Moment, als Daniel seine Hand von meiner wegzog.
»Scheint so«, sagte er, was mir einen Stich versetzte. Dann fragte er: »Was hast du mit dem Erbe vor?«
»Ich schlage es aus. Was soll ich mit einem renovierungsbedürftigen Bauernhaus am Arsch der Welt? Ohne Melanies Zustimmung kann ich es nicht verkaufen«, sagte ich.
»Fahr wenigstens nach Sesslfing und schau dir dein Elternhaus noch einmal an. Vielleicht findest du einen Hinweis auf deine Schwester. Wir haben ja den Inspektionsauftrag von der Gemeinde«, sagte er, »Max fährt nächste Woche hin.«
Sein Themenwechsel irritierte mich, doch ich wollte sowieso nicht mehr über die Erbsache reden. »Was? Ja, die Inspektion im Bayerischen Wald. Wir haben immer noch keinen Ersatz für Bruno. Wir werden irgendwas schieben müssen, hast du eine Idee?«
»Max kommt ein paar Tage allein zurecht, aber das meine ich nicht. Es geht um Sesslfing, deinen Heimatort. Der Auftrag ist dort. Die Gemeinde plant ein neues Baugebiet am ehemaligen Bahnhof und dafür untersuchen sie die alten Kanäle. Du könntest zum ersten Projektgespräch mit dem Ingenieurbüro fahren und anschließend zum Haus deines Vaters.«
Bei der Vorstellung wurde mir heiß und kalt. »Du hast hinter meinem Rücken einen Auftrag in Sesslfing angenommen?«
Daniel stand auf und verschränkte die Arme vor mir. »Mir war nicht klar, dass du das nicht mitbekommen hast, aber ich fand auch nichts Bemerkenswertes daran. Ist doch albern, dass du den Ort meidest. Du hättest längst jemanden mit der Suche nach deiner Schwester beauftragen können. Du weißt seit Monaten, dass die Erbsache auf dich zukommen würde.«
Vermutlich hatte er recht, aber sein belehrender, vorwurfsvoller Ton ging mir gegen den Strich. Deshalb verteidigte ich mich: »Die haben ein halbes Jahr gebraucht, um das Testament zu eröffnen und es mir mitzuteilen! Hätte ja sein können, dass er sein Zeug dem Tierschutzverein vermacht hat. Oder dem Frauennotruf, späte Einsicht und so.« Ich dachte, ich hätte einen Witz gemacht, aber Daniel lachte nicht.
»Wo ist dein Kampfgeist geblieben, deine Energie? Du erledigst doch sonst alles am liebsten sofort. Verschaff dir Klarheit über Melanie, dann geht's dir besser.«
Ich warf die Papiere neben mich ins Gras und stand ebenfalls auf. »Mir geht es prima. Ich lehne das Erbe ab und dann bekommt es wahrscheinlich Tante Christa, die sich sowieso schon um alles kümmert. Und wegen der Inspektion, da kann ich natürlich nach Sesslfing fahren, das macht mir überhaupt nichts aus. Nur der Rest interessiert mich nicht.«
Daniel sah mich kopfschüttelnd an. »Das glaube ich dir nicht. Und ich versteh immer noch nicht, warum du mir nichts von Melanie und vom Tod deines Vaters erzählt hast. Das ist doch nicht normal.«
Ich spürte, wie in mir etwas in Wallung geriet. Meine Wangen glühten. »Nicht normal? Ja, mein Gott, ich hab's vergessen oder verdrängt, wenn du so willst. Ist einfach keine schöne Geschichte, aber das verstehst du wahrscheinlich nicht, mit deiner schrecklich netten Familie.« Ich erschrak selbst über meine Worte, aber es war zu spät. Ich konnte spüren, wie Daniel innerlich vor mir zurückwich.
»Deine schlimme Kindheit gibt dir noch lange nicht das Recht, meine Familie schlecht zu machen. Das ist unfair. So kenne ich dich gar nicht. Anscheinend gibt es so einiges, das ich nicht von dir wusste. Das muss ich erst mal sacken lassen. Ich drehe noch eine Runde mit dem Bike«, sagte er.
Ich schmeckte Bitterkeit auf der Zunge. »Du fährst weg?« Ich merkte selbst, wie kläglich ich klang. Doch die Vorstellung machte mir wirklich Angst.
»Ich dachte, dir geht's prima? In einer Stunde bin ich zurück.« Er drehte sich um und ging ins Haus. Beinahe sofort kroch Panik in meinem Nacken hoch, gepaart mit kalter Wut. Warum verstand Daniel mich nicht? Und warum gab er mir keine Chance, es zu erklären? Wie durch eine Dämmschicht bekam ich mit, dass er seine Radklamotten zusammensuchte; ich hörte Schranktüren klappern und seinen Schlüsselbund klimpern. Dann fiel die Haustür hinter ihm zu. Vor zwei Stunden noch hatte ich meinen Feierabend genossen und den Schmetterlingen zugesehen. Jetzt war alle Leichtigkeit verflogen, meine Sicherheit davongeflattert. Mir war trotz der Schwüle eiskalt und ich begann zu zittern. Schließlich ging ich ins Wohnzimmer und schenkte mir an der Hausbar zwei Fingerbreit Whisky ein.
Normalerweise wurde ich schon beschwipst, wenn ich nur an einem Whiskyglas schnupperte. Diesmal trank ich alles in einem Zug. Davon wurde mir immerhin warm und meine Glieder wurden so schwer, dass das Zittern aufhörte. Nebel breitete sich in meinem Kopf aus. Ich legte mich auf das Sofa und fiel in einen Zustand zwischen Traum und Wachen. Mit weit ausgreifenden Schritten lief ich durch die Wüste, erst langsam und dann immer schneller. Ich spürte die Hitze auf der Haut und meinen Körper, der zuverlässig arbeitete wie eine Maschine. Das Laufen genoss ich, doch die Einsamkeit machte mir Angst: Wohin ich auch blickte, die Dünenlandschaft erstreckte sich endlos, nirgends ein Strauch, ein Baum oder gar ein Mensch. In mir war die Gewissheit, dass ich immer so weiterlaufen und niemals ankommen würde.
Das Geräusch der auf- und zuschlagenden Terrassentür weckte mich. Ich fuhr hoch. Es war dunkel. »Daniel?«, rief ich. Dann erhellte ein Blitz das Zimmer. Draußen im Garten zerrte der Wind immer heftiger an den Ästen des Apfelbaums und trug den Geruch nach Regen heran, Donnergrollen näherte sich. Ich drückte die Terrassentür fest zu und machte einen Rundgang durch das Haus, das sich fremd und unbewohnt anfühlte. Daniels Haken am Schlüsselbrett im Flur war leer, auch das übliche Häufchen verschwitzter Fahrradklamotten im Bad fehlte. Blieb nur noch das Schlafzimmer. Daniels Bett war unberührt, der Radiowecker zeigte ein Uhr nachts. Wo steckte er? War er vom Gewitter überrascht worden und bei Diana oder einem Freund untergeschlüpft? Ich schloss das Fenster gegen den Sturm und die ersten Regentropfen, holte mein Smartphone aus der Küche und kehrte zurück auf die Couch. Hier auf der Westseite des Hauses prasselte der Regen jetzt fast waagrecht gegen die Scheiben, Blitz und Donner kamen im Sekundentakt. Durch den Regenschleier erkannte ich einen Plastikstuhl, den der Sturm vom Nachbargarten in mein Kräuterbeet geweht hatte. Zum Glück waren unsere Gartenmöbel aus schwerem Holz und ich hatte vorhin die Karaffe und die Gläser mit hereingenommen. Mein Telefon zeigte keine Nachricht von Daniel. Aber ich erinnerte mich an die Ortungs-App für Familienmitglieder, die ich so gut wie nie benutzte. Ich wäre mir wie eine Stalkerin vorgekommen, wenn ich Daniels Standort mit einer App verfolgt hätte. Außerdem wusste ich sowieso meistens, wo er steckte. Doch heute waren wir in unguter Stimmung auseinandergegangen und draußen tobte ein Unwetter von Orkanstärke. Ich machte mir Sorgen. Wo bist du?, tippte ich, dann rief ich die App auf. Sein Avatar erschien im Westen der Stadt, auf dem Dörnberg-Park. Ich zoomte den Kartenausschnitt und erkannte, dass die Markierung für den genauen Standort auf einem Haus neben dem Park lag. Vielleicht hatte er sich in einem Hauseingang oder Carport untergestellt. Aber wieso war er nicht nach Hause gefahren, bevor der Sturm losbrach? Mir fiel mir ein, dass ein befreundetes Paar aus seiner Mountainbike-Blase ganz in der Nähe wohnte, Simon und Janine. Ich war erleichtert. Bis ich mich daran erinnerte, dass Simon Anfang des Jahres ausgezogen war und Janine jetzt allein dort wohnte. Vielleicht hatte Daniel sie zufällig vor dem Haus getroffen und sich festgequatscht. Vielleicht auch nicht ganz so zufällig. Warum hatte er mir nicht Bescheid gegeben? Er musste ganz schön sauer auf mich sein. Und was wollte er von Janine?
Max trat auf die Dachterrasse seiner kleinen Wohnung und blickte nach unten auf den Fluss. Das Wasser war dunkelgrau und spiegelte die Farbe des Himmels. Dort ballten sich Wolken und ein Geruch von Regen hing in der Luft – vermischt mit dem verführerischen Duft nach frischem Zigarettenrauch, der von nebenan zu kommen schien. Noch war es windstill und drückend schwül. Max drehte sich nach rechts und entdeckte seinen Nachbarn Leon auf der angrenzenden Terrasse.
»Hallo, Max«, begrüßte ihn dieser und trat näher an das Geländer, das sie voneinander trennte. »Auch eine?«
Max schaute nur kurz auf Leons Zigarettenschachtel und schüttelte dann den Kopf. »Nein, danke. Frag mich in einer Stunde wieder.«
Leon warf seine Lockenmähne zurück und lachte. »Dann ist es zu spät, ich geh gleich feiern. Was ist los, bist du auf dem Gesundheitstrip, oder was?«
»So ähnlich«, gab Max zu. »Ich hab mir vorgenommen, am 31. August meine letzte Zigarette zu rauchen. Bis dahin reduziere ich Stück für Stück.«
»Respekt«, sagte Leon ohne großen Enthusiasmus. Max beneidete den jungen Mann um seine Sorglosigkeit. Er ging fast jeden Abend aus und kam oft erst mitten in der Nacht nach Hause. Sein Mathestudium schaffte er offenbar locker neben seinem Teilzeitjob in einem Möbelhaus. So ein Leben hätte ich auch gern, dachte Max.
»Und was hast du heute noch vor?«, fragte Leon.
Max zuckte mit den Schultern. »Nicht viel. Noch ein bisschen was für meinen Rücken tun, Abendessen und dann ins Bett. Ich muss morgen wieder früh raus.« Immerhin war es ein Abend mitten unter der Woche.
»Kommt Saskia vorbei, um Yoga mit dir zu machen?« Leon grinste anzüglich. »Und bleibt sie über Nacht?«
»Nein, das war ein einmaliges Vergnügen«, behauptete Max. Die Sache mit Saskia ging Leon nichts an. »Und es gibt tolle Yogavideos auf Youtube.«
Leon nickte und drückte seine Zigarette in dem Aschenbecher auf seinem kleinen, wackeligen Gartentisch aus. »Okay, Alter, ich muss los. Viel Spaß beim Yogaporn.«
»Blödmann«, sagte Max und lächelte dabei. Leon grinste ebenfalls und winkte lässig, bevor er in seiner Wohnung verschwand.
Endlich kam ein leichter Wind auf, und ein bisschen Zigarettenasche wehte zu Max herüber. Er ging ebenfalls hinein, aber nur um seine Matte und den Laptop zu holen. Solange es nicht regnete, würde er draußen üben. Sein Ein-Zimmer-Appartement war zwar gemütlich und hatte eine tolle Lage, aber leider auch eine Glasfront nach Süden und schlecht gedämmte Wände. Nach dem warmen Junitag staute sich die Hitze wie in einer Sauna.
Er machte nur wenige, sanfte Übungen. Das krasse Gegenteil des Gewichthebens, das er hatte aufgeben müssen. Jetzt war viel Rollen und Dehnen angesagt und das, was er für sich die »Tierstellungen« nannte: Krokodil, Schwan, Katze und Kuh ... Zum Glück war Leon schon gegangen. Ansonsten hätte sein Nachbar sich noch mehr über ihn lustig gemacht. Aber der war ja auch gesund und hatte trotz seines ausschweifenden Lebenswandels den Körper eines Athleten.
Während Max sein Programm durchzog, wurde der Wind immer stärker und wehte ihm Staubkörner ins Gesicht, doch am Ende war er sehr zufrieden mit sich. Jetzt konnte er reingehen und noch einige Minuten in Stille sitzen. Manche nannten das Meditation, aber er spürte lediglich den Bewegungen nach, die durch seinen Körper zu tanzen schienen, auch nachdem er zur Ruhe gekommen war.
Dummerweise machte er den Fehler, danach noch mal auf sein Handy zu schauen. Eine Sprachnachricht von Saskia. Was wollte die denn von ihm? Max seufzte und drückte den Wiedergabebutton.
»Hey, Max. Du warst ja die beiden letzten Male nicht im Kurs.« Als ob er das nicht selbst wüsste. Ihre Stimme klang sanft, aber er hörte auch einen fordernden, ungeduldigen Ton heraus. Als müsste sie es hinter sich bringen: »Ich hoffe, das ist nicht unseretwegen. Es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe ... Aber so geht es mir nun mal mit dir. Trotzdem war es unprofessionell. Vielleicht können wir nächsten Samstag zusammen frühstücken gehen, rein freundschaftlich, und das zwischen uns klären? Die anderen in der Gruppe haben schon nach dir gefragt. Samstag um elf im Café Lila? Ich reserviere für uns.«
Max schnaubte und ließ das Smartphone sinken. Die hatte Nerven! Erst schoss sie ihn in den Wind und dann ging sie selbstverständlich davon aus, dass er angerannt kam, wenn sie ihn rief? Sie hätte wenigstens fragen können, ob er Zeit habe! Ein Bitte hätte auch nicht geschadet. Doch am meisten ärgerte er sich über sich selbst. Es hatte ihm geschmeichelt, dass eine so attraktive, um viele Jahre jüngere Frau sich für ihn interessierte. Und die Vorstellung, wie sie in ihrer eng anliegenden Yogahose und dem knappen Top – kaum mehr als ein Bikinioberteil – mühelos von einem Asana zum nächsten wechselte, ließ ihn noch immer nicht kalt. Um ein Haar hätte er sich in sie verliebt. Von wegen unprofessionell! Was genau hatte sie gemeint – dass sie überhaupt mit einem Kursteilnehmer ins Bett gegangen war, oder die Art, wie sie es beendet hatte?
Nein, lassen wir es gut sein. Es ist alles gesagt, tippte er und fand sogar ein Emoji, das mit dem Taschentuch winkt. Dann tippte er ein M. für seinen Namen und blockierte ihre Nummer.
In der Wohnung fiel sein erster Blick auf das Bild von Julian und Amelie über dem Esstisch. Julian hatte einen Arm um seine kleine Schwester gelegt, beide lachten in die Kamera, und wie immer verursachte der Anblick einen kleinen, wehmütigen Stich in seinem Herzen. Er würde sie erst in ein paar Wochen wiedersehen. Er hatte Abstand gebraucht, aber inzwischen kamen ihm die 700 Kilometer ziemlich weit vor. Ich bin schon wieder weggelaufen, dachte er. Wenigstens ließ sich diese Entscheidung ändern, im Gegensatz zu einigen anderen Dingen. Aber vorerst brauchte er noch den Job in der Inspektionsfirma, und der war ja auch gar nicht so schlecht. Alexandra, seine Chefin, würde bestimmt das Wunder vollbringen und einen Ersatz für Bruno finden, da war er sicher. Alexandra war tough und sie spielte keine Spielchen; sie meinte immer genau, was sie sagte, und hielt sich an ihre Zusagen. Ihr Mann Daniel war ebenfalls okay. Max fand es cool, wie sie die Firma zusammen leiteten. Als Paar schienen sie ebenso zu harmonieren. Die beiden machten offenbar einiges richtig im Leben.
Ich war hellwach, die Wirkung des Whiskys verflogen. Meine Gedanken kreisten. War es wirklich so schlimm, dass ich Daniel den Großteil meiner Familiengeschichte verschwiegen hatte? Für ihn musste es aussehen, als vertraute ich ihm nicht. Kränkte es ihn, dass ich ihn nicht um seinen Rat gebeten hatte? Oder ärgerte er sich, dass er nie genauer nachgefragt, sondern meine dürren Angaben einfach akzeptiert hatte: Eltern geschieden, Kontakt nur noch zur Mutter, die in einem Wohnheim für psychisch Kranke in Passau lebt. Zu unserer Hochzeit war meine Mutter Marina mit ihrem Betreuer Stefan gekommen, den die meisten anderen Gäste für Marinas etwas jüngeren Lebensgefährten hielten. Dank ihm hatte sie auf dem großen Fest weder eine Panikattacke bekommen noch die Orientierung verloren. Sie plauderte charmant lächelnd und weinte in der Kirche, wie es sich für eine Brautmutter gehört. Außer ihr waren von meiner Seite nur Tante Christa und eine Freundin aus Studienzeiten dabei. Falls sich jemand darüber wunderte, ging er oder sie taktvoll darüber hinweg. Und da ich als Braut im Mittelpunkt stand, fiel auch meine kleine Small-Talk-Schwäche nicht weiter auf. Nach der Hochzeit war Marina weitgehend wieder aus Daniels und meinem gemeinsamen Leben verschwunden.
Seitdem besuchte ich sie drei-, viermal pro Jahr in Passau, aber ich wusste nicht wirklich, was in ihr vorging. Sie hatte sich lieber einer Radioreporterin anvertraut als mir persönlich – in diesem Interview, das sie vor einigen Jahren gegeben hatte. Ich war nur zufällig darauf gestoßen, weil ich gerne Podcasts hörte. Der Beitrag handelte von einer Sondermüll-Deponie, deren Errichtung man vor fünfundzwanzig Jahren in meinem Heimatort hatte durchsetzen wollen, was aber am Widerstand der Bevölkerung gescheitert war. Das Interview mit meiner Mutter war in den Beitrag eingebettet. Ich beschloss, es mir noch einmal anzuhören. Vielleicht war mir ja bisher eine Information entgangen, die mich jetzt zu Melanie führen konnte.
»Damals in vorderster Reihe bei den Protesten mit dabei: Marina Brunner und ihre Tochter Melanie«, leitete die Sprecherin den Interviewabschnitt ein. »Das erregte Aufsehen, da ihr Mann, der Gemeinderat Kurt Brunner, entschieden für den Deponiebau eintrat.« Nur ich wusste, dass Marina sich Kurt zwar öffentlich widersetzt hatte, aber zu Hause weder sich selbst vor ihm zu schützen noch für uns, ihre Töchter, einzutreten wusste. Welche Ironie!
Sie hatte nie mit mir über Melanies Verschwinden gesprochen. Das konnte die Reporterin nicht wissen; doch mir wurde übel, als ich deren einfühlsamer Stimme weiter zuhörte: »Marina Brunner lebt heute in einer Wohngemeinschaft für psychisch kranke Menschen. Sie ist einverstanden, dass ich es erwähne, aber im Interview darauf angesprochen werden möchte sie nicht. Also reden wir über ein nicht minder schweres Thema: den Abend im Sommer 1996, an dem ganz plötzlich ihre Familie auseinanderbrach.«
Gleich würde ich noch einmal hören, was Marina dazu zu sagen hatte. Mit leiser Stimme setzte sie die Worte aneinander, wie Schritte, die übers Glatteis tasten: »Ich hatte damals oft Streit mit meinem Mann, wegen meiner Teilnahme an den Demonstrationen.« Sie unterbrach sich kurz und man hörte, wie sie sich die Nase putzte. Dann fuhr sie mit festerer Stimme fort: »An dem Abend, den Sie ansprechen, kam meine ältere Tochter nicht nach Hause. Von der Kleinen – Alexandra – erfuhren wir, dass Melanie sich am nächsten Morgen an einer Protestaktion beteiligen wollte. Mein Mann wollte das unbedingt verhindern. Wir fuhren sofort los, um nach ihr zu suchen. Ohne Erfolg. Erst am Morgen erfuhren wir, dass ein Teil der Kiesgrube eingestürzt war und ... « Marinas Stimme brach und sie schniefte leise.
Ich hätte kotzen können. An dem besagten Abend war sie überhaupt nicht in der Lage gewesen, irgendwohin zu gehen. Doch das verschwieg sie ebenso wie das, was anschließend passiert war, und die Reporterin fragte auch nicht nach. Wahrscheinlich aus Respekt vor Marinas Gefühlen. Als sich meine Mutter wieder gefasst hatte, fuhr sie fort: »Die Retter waren sehr professionell, mit technischem Gerät und Suchhunden. Kein Stein blieb auf dem anderen, aber Melanie wurde nicht gefunden. Kurz darauf ist unsere Ehe auseinandergegangen. Mein Engagement in der Bürgerinitiative und vor allem Melanies ungeklärtes Verschwinden waren eine zu große Belastung.«
»Glauben Sie, dass Ihre Tochter noch lebt?«, fragte die Interviewerin jetzt ganz direkt.
»Ja, ich bin mir sicher. Melanie ist irgendwo da draußen. Vielleicht hört sie gerade diese Sendung.«
»Wenn Sie wüssten, dass sie Sie hören kann, was würden Sie ihr sagen?«
»Ich würde sie bitten, uns ein Lebenszeichen zu schicken. Mir und meiner jüngeren Tochter. Ich möchte ihr sagen: Melanie, ich respektiere, dass du den Kontakt abgebrochen hast. Aber ich wüsste gerne, ob es dir gutgeht – und deine Schwester auch.«
Genau wie beim ersten Mal, als ich den Podcast gehört hatte, lief es mir auch jetzt kalt den Rücken hinunter. Warum redete Marina öffentlich im Radio, während sie mir das Gespräch verweigerte? Ich hatte so viele Fragen! Wut flammte in mir auf und diese Wut machte mir Angst, denn sie erinnerte mich an die bedrohliche Atmosphäre in meinem Elternhaus an jenem Abend.