Zwischen den Träumen - Niela Soltau - E-Book

Zwischen den Träumen E-Book

Niela Soltau

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Beschreibung

Zwischen deinen Träumen ist verdammt viel Platz, um sie zu leben. Es steckt mehr in dir, als du dich traust zu leben! Kim Kim hat ihre Mutter bis zu deren Tod gepflegt und ihre drei Kinder bereiten sich auf einen einjährigen Auslandsaufenthalt vor. Somit steht Kim vor einem Meer von Freiheiten und dem unbändigen Wunsch sich selbst wiederzuentdecken. Die fünfzehn Jahre ältere Ellen gibt vorzeitig ihre erfolgreiche Kinderarztpraxis auf, um mit ihrem Mann die Welt zu bereisen. Die Aufbruchstimmung erfasst die beiden Frauen in einer tosenden Welle und trägt sie zu den Ufern einer berauschenden Freundschaft, die imstande scheint, selbst verborgene Ketten zu sprengen. Niela Soltau erzählt tiefgründig und einfühlsam von Möglichkeiten, Sehnsüchten und Begrenzungen, die in jedem von uns wohnen.

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Niela Soltau wurde 1975 in Süddeutschland geboren. Als studierte Betriebswirtin und Personal Coach beschäftigt sie sich seit Jahren mit Veränderung, Selbstliebe und dem Leben der eigenen Träume.

Ihr Anliegen ist es, tiefgehende psychologische Themen mit einfühlsamen Geschichten zu verknüpfen.

Sie lebt mit ihrer Familie in Freiburg im Breisgau.

El deseo solamente sirve

mientras este se dirija hacia la acción

que lo satisfaga.

Ein Traum ist nur dann nützlich,

wenn er dazu führt,

dass wir dahingehend handeln,

ihn wahr werden zu lassen.

Jorge Bucay

Für Ellen

Inhaltsverzeichnis

August: Kim

September: Ellen

September: Kim

Dezember: Kim

Februar: Ellen

März: Kim

April: Kim

Juni: Ellen

Juni: Kim

Juli: Ellen

August: Ellen

August: Ellen

September: Kim

September: Ellen

Oktober: Kim

Dezember: Ellen

1967: Ellen

Dezember: Kim

Januar: Ellen

April: Kim

Mai: Kim

Mai: Ellen

Mai: Kim

Juni: Ellen

September: Kim

Dezember: Kim

August: Ellen

September: Ellen

September: Kim

Oktober: Kim

Oktober: Ellen

November: Kim

November: Ellen

Januar: Kim

März: Ellen

Mai: Kim

November: Kim

Dezember: Kim

August

Kim

Kim ging eiligen Schrittes über die Straße. Seit vielen Monaten war sie nicht mehr hier vorbeigekommen. Oder war es sogar schon ein ganzes Jahr her? Und heute gleich mit allen drei Kindern. Früher hatte sie gefühlt täglich einen Termin bei Frau Dr. Weidekamm. Mit ihren quirligen Drillingsmädchen, die überall Aufsehen erregten, auch in der Praxis. Sie waren als Frühchen auf die Welt geholt worden und anfangs im Brutkasten gewesen. Es hatte viele Wochen gebraucht, bis sie stabil nach Hause hatten entlassen werden können. In den Jahren danach hatten sie sich prächtig entwickelt, trotzdem hatte Kim das Gefühl gehabt, es würde dauerhaft mindestens eines der Kinder kränkeln. Dazu war die Neurodermitis von Lisa gekommen. Das alles war 16 Jahre her und nun stand sie vor der Tür mit ihren drei Teenagern, um die Impfungen aufzufrischen. Sofie und Marta waren ihr sogar ein Stück über den Kopf gewachsen. Unfassbar, wie schnell die Zeit gerast war.

Bevor sie eintraten, sprang Kim der roteingerahmte Aushang an der Eingangstür ins Auge:

Liebe Eltern, liebe Kinder und Jugendliche,

nach 28 Jahren wird diese Kinder- und Jugendarztpraxis ihre Tore schließen. Wir bedanken uns bei allen, mit denen wir über viele Jahre hinweg im Kontakt stehen durften.

Ihr Praxis-Team Dr. Ellen Weidekamm

Kims schüttelte für sich den Kopf. Dr. Weidekamm war sicher noch keine sechzig. Warum gab sie ihren Beruf auf? Die beste Kinderärztin weit und breit?

Gedankenverloren schob sie ihre Mädchen ins Wartezimmer.

„Ich hab überhaupt keinen Bock auf Spritze“, sagte Sofie. „Warum wollen die Australier so viele Impfungen?“, fragte Marta in einem ähnlichen knirschenden Tonfall.

„Vielleicht, weil die tonnenweise giftige Viecher haben und nicht wollen, dass du auch noch an Masern stirbst“, konterte Sofie.

„Jetzt stellt euch nicht so an, wer ein Jahr ins Ausland will, muss sich eben an die Regeln halten“, entgegnete Kim, die wehmütig den großen Regenbogen betrachtete, der über den rechten Winkel zweier Wände vor vielen Jahren aufgemalt worden war und dem Wartezimmer immer eine fröhliche Atmosphäre verliehen hatte. Diese Räumlichkeiten waren von Frauenhand gestaltet, geschmackvoll und kindergerecht zugleich. Sogar die Fensterbilder waren je nach Jahreszyklus eigenhändig vom Team erneuert worden. Zurzeit tollten sich drei kleine Bären in Badehose an der Scheibe, die eine Wasserschlacht abhielten und ein kleiner hustender Patient gluckste vergnügt, als er mit seinen Fingern die Fensterfarbe an der Scheibe entlangfuhr.

Dr. Weidekamm begrüßte sie überschwänglich. Sie schien sich zu freuen, Kim und ihre drei Grazien noch einmal wiederzusehen.

„Ist das wirklich wahr, dass Sie schließen?“, fragte Kim und etwas in ihr hoffte, dass die Antwort „Nein“ lauten würde.

Hinter dem Schreibtisch hing eine riesige Pinnwand, auf der Dutzende Babys auf Fotos zu bewundern waren. Auch Kim hatte damals ein Drillingsfoto zu Weihnachten geschickt und sich für die ersten Monate intensiver Betreuung bedankt. Das Bild war etwas verblasst von den einfallenden Sonnenstrahlen und wellte sich am Rand. Es hing aber nach wie vor dort, wohingegen viele andere über die Jahre immer wieder gegen aktuellere ausgetauscht worden waren.

„Ja, es ist Zeit für einen neuen Lebensabschnitt und Dinge, die lange zurückstecken mussten“, erklärte die Ärztin mit ihrem warmherzigen Lächeln, das Kim über die Jahre zu schätzen gelernt hatte. Ellen Weidekamm war eine Bilderbuchärztin. Besonnen in ihrem Wesen und fachlich kompetent war sie mit einer Ausstrahlung gesegnet, die jede panische Mutter inklusive schreiendem Säugling auf dem Arm in Minuten zur Ruhe brachte.

Dr. Weidekamm zog die Spritze für Marta auf, die widerwillig ihr Shirt hochkrempelte.

„Was haben Sie denn Schönes vor mit der neuen Freiheit?“, fragte Kim.

In all den Jahren hatten sie sich neben den Kinderkrankheiten auch über private Dinge ausgetauscht. Die Ärztin interessierte sich für mehr als die bloße Patientenakte, und da Kim unfreiwillig Stammgast gewesen war, hatte sich mit der Zeit ein durchaus vertrautes Verhältnis entwickelt. Fast ein bisschen wie bei einer Friseurin, die man regelmäßig besuchte und die einem ans Herz wuchs. Dennoch hatte das hier alles andere als den Charme eines Friseursalons. In Notfällen zögerte Dr. Weidekamm nicht, sogar Hausbesuche zu machen. Kim erinnerte sich, wie die Drillinge alle gleichzeitig mit hohem Fieber und Bronchitis mit ihren kleinen verschwitzten Köpfchen im Bett lagen und sie verzweifelt bei der Ärztin angerufen hatte. Die Arzthelferin hatte sie in die Warteschleife geschickt, um ihr kurz darauf mitzuteilen, Frau Doktor käme in der Mittagspause schnell bei ihr zuhause vorbei. Kim vergaß ihr nie, welch große Last sie in diesem Moment von ihr genommen hatte. Es war schwer, sich vorzustellen, dass diese Frau keine kleinen Patienten mehr betreute.

„Wir werden viel reisen, golfen und Segeltouren unternehmen. Mein Mann hat schon eine ganze Schublade voller Pläne, da sind wir erst einmal beschäftigt. Und ich würde gerne wieder einmal kreativ werden. Im Chor singen oder Malen mit dicker Farbe am Pinsel, das will ich schon seit Jahren ausprobieren, bin aber nie zu mehr gekommen, als ein paar bunte Kunstdrucke in den Zimmern hier aufzuhängen“, erklärte sie lächelnd. Sie zeigte auf den van Gogh, der in einem Rahmen neben der Tür hing und zwei schwarze Katzen von hinten zeigte, die in die orange-blaue Sternennacht blickten.

Kim sah, wie ihre Augen glänzten. Es war anregend, jemanden zu beobachten, der sich freute, wenn sich etwas veränderte. Die meisten Menschen dachten bei Veränderungen reflexartig, ihnen würde etwas weggenommen. Das hatte sie erst kürzlich in einem Artikel gelesen und in ihrem Job wurde sie darin täglich bestätigt. Sie arbeitete im Change-Management und ihr Chef unterstützte Firmen dabei, ihren Mitarbeitern möglichst schonend und wohlwollend beizubringen, dass sich in Kürze etwas verändern würde. Von Umstrukturierungen, Übernahmen durch andere Firmen bis hin zur Einführung von Großraumbüros war alles dabei. Dr. Weidekamm schien zu der Minderheit zu gehören, die neugierig genug waren, Veränderungen willkommen zu heißen.

„Es sieht so aus, als würden auf uns beide große Freiheiten warten. Wenn die drei hier erst mal im Ausland sind, habe ich auch wieder Zeit für genau das, was Sie gerade aufgezählt haben!“, sagte Kim und lachte. „Ja und wenn wir uns mal wieder über den Weg laufen, können wir eine Bestandsaufnahme machen, wie uns unser neues Leben so gefällt.“

„Autsch!“, entfuhr es Lisa, als die Ärztin auch ihr die Nadel in die Schulter stach.

„Warum muss ich mich überhaupt impfen lassen, ich fahre doch nur nach Frankreich?“

„Gleiches Recht für alle! Dann seid ihr erst mal durch damit!“, erklärte Kim.

Lisa, ihr Sensibelchen. Kim war äußerst erstaunt gewesen, als sie eröffnet hatte, auch sie wolle ein Jahr an einer Schule im Ausland verbringen. Zwar wagte sie nicht den Schritt ans andere Ende der Welt wie ihre beiden Schwestern. Ihr gefiel Französisch, deshalb hatte sie sich einen kleinen Ort an der Atlantikküste ausgesucht. Paris war ihr zu umtriebig erschienen. Sie hatte als Kind bei Fremden kaum ein Wort herausgebracht und war jede zweite Nacht zu Mama unter die Decke gekrochen, weil hinter ihrem Bett ein grausiges Monster sein Unwesen getrieben hatte. Einmal hatte sie sich hier im Behandlungszimmer unter der Patientenliege schreiend um das Gestell geschlungen, weil sie gesehen hatte, dass ihren Schwestern ein dicker Holzspatel in den Mund gesteckt worden war. Nur mit vereinten Kräften hatten Dr. Weidekamm und Kim es geschafft, Lisas Klammergriff zu lösen und sie davon zu überzeugen, dass es auch etwas Gutes hatte, wenn man sich danach etwas aus der Süßigkeitenkiste herausnehmen durfte.

„So, fertig. Da bin ich aber froh, dass ich euch alle zusammen noch einmal gesehen habe und maximal geschützt ins Leben entlassen kann. Es kommt nicht oft vor, dass man drei Kinder aus einer Familie ab der Geburt so lange begleiten darf. Ich wünsche euch allen ein aufregendes Jahr! Übrigens, am Freitagnachmittag wird hier ein bisschen gefeiert, wenn ihr Lust habt, kommt doch einfach vorbei“, sagte Dr. Weidekamm.

Kim fühlte sich seltsam erleichtert. Irgendetwas in ihr weigerte sich, Ellen Weidekamm so plötzlich zu den Akten zu legen und sie war dankbar über die Möglichkeit, diese Ära und erinnerungswürdige Frau abschließend zu würdigen, indem sie sich Ende der Woche in Ruhe würde von ihr verabschieden können.

September

Ellen

In der Mittagspause saß Ellen in der Praxis am Schreibtisch und telefonierte mit Maximilian. Er erzählte ihr vom neusten Stand seiner Pläne, den Hof von Paulas Eltern zu renovieren und in einen Genossenschaftsbetrieb umzuwandeln. Ellen bewunderte ihren Sohn, der fortwährend neue Ideen entspann und nicht müde wurde, die Welt zu verbessern. Zwar arbeitete er seit Abschluss seines Wirtschaftsinformatik-Studiums in einer Versicherung und war dort in rasantem Tempo die Karriereleiter emporgeklettert. Trotzdem suchte er seither nach Arbeitsfeldern, die er gesellschaftlich und für die Umwelt als nützlich empfand.

Paula war ihm wie ein Engel vor die Füße gefallen. Maximilian hatte sein Obst und Gemüse jeden Samstag auf dem örtlichen Markt eingekauft, wo Paula und ihre Eltern an einem Stand die eigene Ware anboten. Im Laufe der Zeit kamen sich Paula und Maximilian zwischen Zucchini und Salatköpfen immer näher. Er war von Paula ebenso begeistert wie von dem Bio-Anbau der Familie. Deren Geschäfte versprachen zwar ein zum Überleben ausreichendes Einkommen, waren aber wie alle landwirtschaftlichen Betriebe großen Schwankungen unterworfen. Immer wieder fielen Teile der Ernte aus. Maximilian war überzeugt, dem Hof zu neuem Schwung und dauerhafter Stabilität verhelfen zu können.

„Das ist der neuste Trend, einen Hof über Crowdfunding mit neuem Kapital zu versorgen und die Anteilseigner direkt mit angebauter Bio-Ware davon profitieren zu lassen!“

Ellens Herz hüpfte vor Freude. Maximilians Tatendrang war genauso ansteckend wie sein Lachen. Ihr Mann Carl stand der ganzen Sache mehr als skeptisch gegenüber. Nicht nur, dass sein Sohn aus seiner Sicht gleich nach dem Abi besser Medizin oder Jura hätte studieren sollen. Nein, er hielt die Idee mit dem Hof grundsätzlich für eine Schnapsidee.

„Hast du schon einmal einen reichen Bio-Landwirt gesehen?“, hatte er Maximilian gefragt.

Ellen hatte bei diesen Worten sofort ihren eigenen Vater vor Augen. Für ihn war damals immer klar gewesen, sein Erstgeborener würde Mediziner werden, weil er selbst diesen Weg eingeschlagen hatte. Tommy war der Auserkorene gewesen, der einmal in seine Fußstapfen hätte treten sollen. Sein ganzer Stolz, bis sich herausstellte, dass dieser von Schule nichts hielt und nur Ellen für das Medizinstudium überhaupt taugte. Gewissenhaft und strebsam war sie ohne Umwege ins Ärztedasein geschlittert. Sie hatte sich immer gefragt, welchen beruflichen Weg sie eingeschlagen hätte, wenn sie Kunst studiert hätte, wie sie es sich als Mädchen immer erträumt hatte. Doch ihr Vater hatte dafür kein Ohr gehabt.

„Ich habe über 30 Jahre das Gleiche gemacht, ich bin stolz auf deine innovativen Pläne. Was immer du tust, es wird schon gut werden“, sagte Ellen zu ihrem Sohn. „Wir sehen uns hoffentlich noch, bevor wir wegfahren. Die Feier fängt hier gleich an, ich muss Schluss machen.“

Ellen schritt andächtig durch die Räume, die ihr über Jahrzehnte ein zweites Zuhause geboten hatten. Wie viele Babys und Kinder hatte sie hier im Zeitraffer aufwachsen sehen, verzweifelte und glückliche Eltern in ihren Räumen betreut, beraten und begleitet. Der Vorhang war gefallen und zwei Seelen regten sich in ihrer Brust. Zweifelsohne freute sie sich auf alles, was die Zukunft für sie bereithielt. Seit Jahren träumte sie mit Carl davon, zeitlich unabhängig zu sein und dem Leben ohne fixe Arbeitszeiten seinen Lauf zu lassen wie einem Fluss, den man nicht länger versuchte, zu begradigen. Den Moment zu genießen und sich anderen Dingen als der Arbeit zu widmen. Ihr Beruf hatte sich stets sinnvoll angefühlt und sie hatte nie bereut, damals von der Klinik schon früh weggegangen zu sein. Carl hatte wie immer die richtigen Leute gekannt und so war sie dazu gekommen, diese Praxis zu übernehmen, direkt unterhalb seiner ambulanten orthopädischen Klinik.

Eine der Arzthelferinnen kam zur Tür herein.

„Im Flur und an der Theke ist alles vorbereitet, es fehlen nur noch die Häppchen und die werden gerade geliefert.“

In kurzer Zeit füllte sich der Flur mit Eltern, kleinen Kindern und das muntere Geplapper der Gäste spiegelte die Atmosphäre wider, die hier viele Jahre lang gewohnt hatte – freundlich und ungezwungen.

Carl war gerade rechtzeitig gekommen. Er hatte heute ebenfalls seinen letzten Tag. Ihm war allerdings nicht nach einem offiziellen Abschied zumute gewesen. In der Klinik lief der Betrieb nahtlos weiter. Als Teilhaber würde er den Kollegen ohnehin weiter zur Verfügung stehen.

Für das Wochenende hatte er stattdessen die wichtigsten Mitarbeiter zu sich nach Hause eingeladen.

„Frau Dr. Weidekamm, es ist einfach ein Jammer, dass Sie nicht weitermachen. Ich weiß überhaupt nicht, wohin mit meinen beiden Kleinen. Die lieben Sie doch über alles!“, sagte die junge Frau Philip, die ihr drittes Kind erwartete und seit acht Jahren regelmäßig zu ihr kam. Ellen wurden viele kleine Geschenke und Aufmerksamkeiten in die Hand gedrückt, sogar die Apothekerin, die direkt neben ihr das Geschäft hatte, überreichte ihr einen Blumenstrauß, in dem sie ein kleines Segelboot versteckt hatte, das ihr neues Leben mit vielen Urlauben im Süden symbolisieren sollte.

Das Segelboot. In Mallorca hatten sie ein eigenes im Hafen liegen, das nur darauf wartete, ihnen die Küste von der Meerseite zu zeigen. Sie spürte, wie Gegenwart und Zukunft gleichermaßen an ihr zogen.

Es ging ihr unter die Haut, wie die Gäste Anteil nahmen an ihrem Abschied. Sie war sicher, über die Jahre einen passablen Job gemacht zu haben, trotzdem überwältigte sie diese Resonanz.

Plötzlich stand Kim Decker in der Tür. Ellen begrüßte sie lächelnd und bot ihr als erstes das Du an, das in ihren Augen seit vielen Jahren überfällig war. Bei einem offiziellen Arztbesuch gingen solche Dinge aber immer unter. Zweifelsohne waren viele nette Menschen hier versammelt, aber Kim Decker war die einzige Drillingsmutter, die Ellen je betreut hatte. Vom ersten Tag an hatte die Chemie zwischen ihnen gestimmt. Die kleinen Schreihälse hatten die Eltern enorm belastet. Trotzdem versprühten die Deckers immer positive Energie und die drei Mädchen waren stets eine Augenweide gewesen, wenn sie ins Behandlungszimmer gestapft kamen. Mit ihren rosa Röckchen und blonden Zöpfen hatten sie in der Praxis alle mit links um den Finger gewickelt.

„Danke für die Einladung, es freut mich, hier dabei zu sein“, sagte Kim, was Ellen aufrichtig rührte.

Mittlerweile hatte jeder ein Sektglas in der Hand und Ellen trank in Dankbarkeit auf die ereignis- reichen Jahre und das, was sie erwartete.

Sie erzählte Kim von der bevorstehenden Reise nach Florida, wo diese vor zwei Jahren mit ihrer Familie ebenfalls den Urlaub verbracht hatte. Sie schwärmten sich gegenseitig von Miami vor und entdeckten eine weitere gemeinsame Leidenschaft: Spanisch.

„In Miami könnte ich sogar leben“, sagte Kim. „Die Stadt kombiniert so viele Einflüsse miteinander. Es ist amerikanisch, aber auch südländisch durch die vielen Latinos und man hört an jeder Ecke Spanisch. Mich überfällt immer ein Glücksgefühl, wenn ich diese Sprache höre.“

„Das geht mir genauso. Liest du auch spanische Bücher?“, fragte Ellen.

„Habe ich schon lange nicht mehr gemacht, sollte ich dringend mal wieder tun. Das kommt auf jeden Fall auf die To-Do-Liste für das kommende Jahr, wenn die Kids weg sind.“

„Da haben wir ja schon wieder etwas gemeinsam“, entgegnete Ellen und staunte, welche Aufbruchstimmung sich in diesem Moment in ihr ausdehnte. Praxis hin oder her, sie hatte unbändige Lust auf Neues, auf freie Zeit und alles, was sie schon immer einmal ausprobieren wollte.

Kim reichte Ellen einen Umschlag mit Schleife.

„Ich habe noch etwas mitgebracht. Ich war mir nicht sicher, ob das richtig ist.“

Kim schien nach Worten zu suchen.

„Irgendwie habe ich das Gefühl, wir kennen uns recht gut und irgendwie doch nicht. Dann bin ich einfach einem Impuls gefolgt. Es bleibt ganz dir überlassen, ob du das in die Tat umsetzt oder nicht“, sagte Kim.

„Das macht mich aber jetzt schon sehr neugierig“, antwortete Ellen und konnte es sich nicht verkneifen, einen Blick in das Kuvert zu werfen, obwohl sie sich vorgenommen hatte, alle Geschenke erst später anzusehen.

Danke für alles, was Sie für uns und unsere Mädchen getan haben! Viel Freude im neuen Lebensabschnitt!

Kim, Tobias, Lisa, Sofie und Marta Decker

2-Personen-Gutschein für einen Acryl-Malkurs bei „Dein Gemälde“ mit dem Projekt „Katzen“ von van Gogh – Termin nach Verfügbarkeit wählbar.

„Das ist ein einmaliger vierstündiger Kurs, in dem man Stück für Stück angeleitet wird, ein Kunstwerk nachzumalen“, erklärte Kim. „Es gibt verschiedene Motivabende. Aber ich dachte mir, da die Katzen Jahrzehnte lang hier in der Praxis hingen, ist das irgendwie ein Zeichen, dass es genau dieses Gemälde als Projekt gibt. Vielleicht kannst du dann zuhause das erste Original an die Wand hängen.“

„Was für eine tolle Idee und so treffend. Wäre es nicht schön, wenn wir diesen Kurs gemeinsam belegen würden? Sozusagen als Start in unsere Künstlerkarriere? Es wäre mir ein Vergnügen, diese Feuertaufe mit dir gemeinsam zu bestehen.“

„Mehr als gerne!“

Ellen umarmte Kim und staunte über sich selbst. Meistens überlegte sie lange, wenn sie Termine festzurrte. Doch heute war der Tag für spontane Taten. Adrenalin wallte in ihr wie das Wasser im Innern eines Geysirs, das den Weg an die Oberfläche suchte.

„Das freut mich sehr. Dann können wir ja gleichzeitig den Aufbruch in unser neues kreatives Leben starten!“, sagte Kim und lachte.

„Aufbruch ist immer gut“, warf Carl dazwischen. Wie aus dem Nichts war er neben Ellen aufgetaucht und nahm ihr den Gutschein aus der Hand, um ihn genauer zu inspizieren.

September

Kim

Kim hatte sich länger auf der Praxisfeier aufgehalten als geplant und dort die Lebensfreude, die Ellen und ihr Mann versprüht hatten, auf sich wirken lassen. Im Auto ließ sie alles noch einmal Revue passieren. Die Wochen und Monate, die vor ihr lagen, waren eine einzige große Geschenkebox und sie konnte es kaum erwarten, sie zu öffnen. Aber zuerst einmal würde sie den Mädchen helfen, die Packliste zu vervollständigen. Wie gerne wäre sie mitgeflogen nach Neuseeland oder Australien. Die Abenteurerin in ihr erwachte aus dem Dornröschenschlaf. Es war dringend an der Zeit, wieder einmal eine Reise für Tobias und sie zu buchen. Rom oder London als Kurztrip? In den letzten Wochen hatte sie das Thema mehrfach angeschnitten, aber ihr lieber Mann war bei solchen Projekten zögerlich und äußerst sparsam mit Rückmeldungen, was sie regelmäßig auf die Palme trieb. Wenn Kim Flausen im Kopf hatte, verging meistens nicht viel Zeit, bis sich daraus konkrete Ideen und letztlich Taten entspannen.

Sie beschloss kurzerhand, beim Italiener anzuhalten, um fünf Pizzas mitzunehmen. Als Antonio ihr eine viertel Stunde später den Stapel Kartons über die Theke reichte, rief ihre Freundin Jutta an, um ihren gemeinsamen Termin für den Abend abzusagen, weil ihre Migräne doch noch nicht ganz verschwunden war. Kim verdrehte die Augen, während sie die Schachteln samt Handtasche und Schlüssel zum Auto balancierte. Juttas Migräne war ein Thema für sich. Und nicht nur die. Immer wieder erzählte sie Kim bis ins Detail, wo der Schuh drückte oder vielmehr ein ganzes Dutzend Paar Schuhe. Praktisch seit der Hochzeit vor zehn Jahren hatte Jutta ein Wechselbad der Gefühle in ihrer Beziehung erlebt. Sie war groß, mit feinem Gesicht und schlanker Statur, aber aus Kims Sicht vorsätzlich unscheinbar. Mit ein bisschen Stilberatung, Frisieren und Schminke hätten sich alle Männer nach ihr umgedreht, aber sie kam zu oft mit Filzjacke und Baumwollhosen daher und Kim war im Stillen der Meinung, Jutta hatte es mit Jochen durchaus passabel getroffen. Kim kannte sie seit dem Kindergarten und solch langjährige Freundschaften gab man nicht mir nichts dir nichts auf. Immer wieder ermutigte Kim sie, sich Hilfe zu holen, sich von ihrem Mann zu trennen, wenn er denn so schrecklich war, wie sie ihn beschrieb oder den Job zu wechseln, wenn der Boss ihr doch ohnehin nie zuhörte. Alternativ hätte sie das Leben schlicht und einfach lieben können. Kim hatte ihr erklärt, sie sei selbst für ihr Glück verantwortlich und niemand sonst. Als Kinder hatten sie sich geschworen, immer füreinander da zu sein. Jutta war ein herzensguter Mensch, aber manchmal kostete sie Kim enorme Kraft.

„Wenn wir unterwegs sind, vergesse ich immer völlig, was depressive Verstimmungen überhaupt sind“, hatte sie einmal gesagt. Trotzdem kam sie nicht aus dem Quark. Unzählige Male hatte sie Kim schon auf den letzten Drücker abgesagt. Manchmal fragte Kim sich, warum sie sich überhaupt mit ihr traf. Auch sie hatte stressige Jahre durchlebt mit den Drillingen. Dazu hatte sie gearbeitet und ihre Mutter gepflegt. Trotzdem hatte Kim penibel darauf geachtet, ihre Freundinnen nicht zu vernachlässigen. Ein Drahtseilakt, aber selbst, wenn sie manchmal völlig ausgelaugt vom Tag abends mit einer Freundin etwas Trinken ging, kehrte sie mit aufgeladenem Akku zurück. Bei manchen mehr, bei manchen weniger. Termine absagen war für sie aber ein absolutes No-Go.

„Hallo Familie“, rief Kim lautstark durchs Haus. „Die schlechte Nachricht ist, ich hatte keine Zeit zu kochen. Die gute Nachricht ist, es gibt Pizza und zwar sofort.“

Wie eine Elefantenherde kamen alle aus ihren Zimmern gepoltert und sogar Tobias war ausnahmsweise schon zuhause.

Sie betrachtete die Mädchen am Tisch.

Bald würden sie in alle Himmelsrichtungen verstreut sein. Großen Respekt hatte sie vor Lisa. Noch vor zwei Jahren hätte Kim alles verwettet, dass sie niemals länger als zwei Tage am Stück das Haus verlassen würde. Sie profitierte von ihren Schwestern, die sie schon immer mitgezogen hatten, etwa zum Klettergerüst auf dem Spielplatz oder beim Gang ins Kino. Lisa war still und sensibel. Im Orchester liebte sie es, eine Geige unter vielen zu sein. Marta hingegen war die klassische Draufgängerin. Sogar ihre zerzausten Locken schienen der Welt zu signalisieren, dass das Leben wild und gefährlich sein durfte. Schon mit sechs Jahren hatte sie zwei Armbrüche und eine Gehirnerschütterung hinter sich gebracht. Australien faszinierte sie deshalb, weil dort die giftigsten Tiere der Welt herumkrochen. Dazu blühte sie in jeglichen organisatorischen Tätigkeiten auf. Vermutlich würde sie später zum Klassentreffen einladen und Familienfeste organisieren. Es gab ein Power-Gen, das sowohl Kims Oma, ihr Vater als auch sie selbst geerbt hatte. Überall, wo es etwas zu strukturieren gab, legten sie los. Marta war definitiv Träger dieses Gens. Sie leitete eine Kinder-Trampolingruppe und erstellte nach jedem Urlaub im Nu mit Scratch Booking handgeklebte Fotoalben mit den kreativsten Verzierungen.

Und Sofie hielt die Drei emotional zusammen. Wie ein Hütehund merkte sie sofort, wenn ein Schäfchen mit Problemen kämpfte. Ihre drei Mädchen ergänzten und unterstützten sich gegenseitig und das machte sie zu einem Dreamteam. Nie hätte Kim es für möglich gehalten, so derart unterschiedliche Kinder zu haben und sie war gespannt, welche Erkenntnisse jede von ihnen von dem Jahr nach Hause tragen würde.

„Hast du denn jetzt Ende Oktober die Woche frei bekommen?“, fragte Kim Tobias und er nickte. Mit einem Glas Rotwein läuteten sie das Wochenende ein und Kim stellte sich vor, wie der Chianti auf einer italienischen Piazza schmecken würde. Mit dem Laptop auf dem Schoß durchforstete sie diverse schnucklige Stadt-Apartments in Rom, während Tobias sich in seinen Science-Fiction-Roman vertiefte.

Zwei Zimmer, zentrale Lage, zweckmäßig eingerichtet und halbwegs bezahlbar. Sie sah sich schon am Morgen in einer kleinen Gasse mit Tobias sitzen bei einem Cappuccino und die Leute beobachten, wie sie geschäftig durch die Straßen wuselten.

Plötzlich ploppte eine Nachricht von Ellen auf mit vielen Grüßen und neidisch machenden Fotos aus Cape Coral in Florida. Das Haus schien an kleinen Kanälen zu liegen mit direktem Zugang zum Boot. Es erinnerte ein bisschen an Venedig. Die Fieslinge segelten in diesem Moment die Küste entlang. Auf einem Bild lag Carl langgestreckt an Deck auf den Holzplanken und die glutrote Abendsonne schien ihm auf sein gebräuntes Gesicht.

Kim klickte auf buchen. Sie würde es Tobias schon irgendwie beibringen. Ein wenig Zwangserholung vom Bürostress würde ihm sicher nicht schaden.

Am nächsten Morgen fuhr Kim los, um Bauchtaschen für die Mädchen und einige Mitbringsel für die drei Gastfamilien, die sie aufnahmen, zu besorgen. Im Blumenladen kaufte sie einen Strauß mit roten Nelken – die Lieblingsblumen ihrer Mutter. Sie hätte heute ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert. Für einen Moment liefen in Kims Erinnerung die letzten Jahre mit ihr wie im Zeitraffer ab. Noch heute konnte sie spüren, wie sie von ihr warm und weich umarmt wurde, gleichzeitig war da dieser versunkene Blick, der auf die Umgebung einen Schatten warf.

Kim parkte am Friedhof, holte tief Luft und schritt den Weg zum Grab entlang. Unter ihren Schuhen bewegten sich die Kieselsteine. Die ersten Bäume verloren ihre Blätter, andere leuchteten in allen Gelb-, Rot- und Brauntönen. Sie stellte den Strauß in die Metallvase vor den Grabstein. Vor knapp einem Jahr war es zu Ende gegangen. Es fühlte sich anders an ohne sie. Vieles leerer, manches befreiend.

Du bist mein Sonnenschein, hatte sie zu sagen gepflegt, wenn Kim als kleines Mädchen gespürt hatte, dass ihrer Mutter etwas fehlte und sie deshalb schnell auf ihren Schoß geklettert war. Die Stimme ihrer Mutter, wie zerbrechliches Porzellan. Es war kräftezehrend gewesen, sie zuletzt leiden zu sehen. Seit ihrem Schlaganfall war sie einseitig gelähmt gewesen und im Alltag in vielerlei Hinsicht auf Hilfe angewiesen.

Jemand fasste Kim von hinten an die Schulter. Sie erstarrte einen Moment, ehe der Jahrzehnte lang vertraute Geruch des Aftershaves sie entspannen ließ. Der alte Mann mit Mantel und Hut trat vor sie und nahm sie in den Arm. Neben den Drillingen hatte Kim ihr Bestes gegeben, ihrem Vater zu helfen, es hatte sie aber oft genug an ihre Grenzen gebracht. Genauso wie ihn. Trotz oder gerade wegen der Belastung mit seiner Frau hatte er nie aufgehört zu arbeiten. Er betrieb seit Jahrzehnten ein gutlaufendes Steuerberaterbüro und ließ es sich nicht nehmen, die Fäden im Hintergrund in der Hand zu behalten.

„Sie fehlt mir“, sagte ihr Vater.

Kim fühlte seinen tiefen Schmerz.

„Sie hat dich geliebt“, flüsterte Kim.

„So gut sie konnte“, entgegnete er und sie wusste, was er meinte.

Am letzten gemeinsamen Abend mit den Mädchen machten sie es sich zuhause gemütlich und schauten einen Blockbuster. Lisa, Sofie und Marta saßen zusammengerollt in der Mitte, Tobias und sie rahmten ihre drei Grazien ein. Die Couchdecke warfen sie einmal quer über sich. Erdnüsse knackten zwischen den Zähnen und Chipstüten raschelten. Es berührte Kim, wie sie sich hier zu fünft zusammenkuschelten. Schon bald würden Tobias und sie alleine hier sitzen. Unvorstellbar und es fühlte sich ebenso vielversprechend wie bedrohlich an.

Sich am Flughafen zu verabschieden, erwies sich für alle Familienmitglieder als herausfordernder als angenommen. Aufgedreht, elektrisiert und leicht skeptisch sahen sie sich an. Jeder verdrückte ein paar Tränen, der eine nach außen, der andere nach innen. Kim war sich sicher, sie würden ihren Weg finden und ein Stück gereifter zurückkehren.

Schweigend und Arm in Arm hatte Kim mit Tobias die Abflughalle schließlich verlassen. Doch die große Leere zuhause blieb aus. Kim hatte sich ohnehin nicht vor einem schwarzen Loch gefürchtet, aber die ersten Wochen vergingen schneller, als sie es sich ausgemalt hatte. Tobias und sie hatten beide auf der Arbeit neue Projekte am Laufen, so dass sie froh waren, nach Feierabend die Füße auf das Sofa zu legen, das endlich ausreichend Platz bot.

Kim überzeugte ihre Freundin Christine, sich mit ihr für einen Salsa-Kurs einzuschreiben. Ein wenig südländische Power würde den beiden sicher gut bekommen. Christine hatte in einem großen Drama ihren neuen Freund abgeschossen. Sie war eine Hundertprozentige. Ihr Kleiderschrank sah aus wie aus einem Möbelkatalog, während Kim sich immer wieder aufs Neue selbst überraschte, in welches Fach sie die Unterwäsche das letzte Mal nach dem Waschen hineingeworfen hatte. Bei Christine lag sogar die Frauenzeitschrift auf dem Couchtisch im 90-Grad-Winkel zur Fernbedienung. Sie hatte das Herz am rechten Fleck, war lustig, aber auch eitel und würde in diesem Leben vermutlich ihren Traumprinzen nicht mehr finden, wenn sie nicht ihre Ansprüche signifikant nach unten schraubte. Im Unterschied dazu war Spaß haben mit Christine ein Kinderspiel. Allein bei ihren Männergeschichten auf dem Laufenden zu bleiben und die verschiedenen Namen nicht zu verwechseln, forderte Kim permanent heraus, wozu sie aber allzeit bereit war.

„Ich bin Mitte vierzig und er hat sich geweigert, für mich seinen Bart abzurasieren. Ständig dieses Gestrüpp im Gesicht. Gruselig. In meinem Alter kann man doch nicht mehr alles tolerieren“, sagte Christine und verdrehte dabei professionell die Augen. Kim riss sich zusammen, um nicht ihre Piña colada über den Stehtisch zu prusten, weil sie sich vorstellte, wie ihre Freundin den armen Kerl sogar nach Komplettrasur des Bartes jeden Morgen mit der Lupe nach neuen Bartstoppeln untersuchte.

Tobias und sie stellten fest, dass die Spülmaschine sich höchstens noch einmal täglich füllte und ebenso die Waschmaschine. Kim breitete in Martas Zimmer ihre Mal- und Nähutensilien aus und Tobias zog mit seinem Schlagzeug aus dem Keller in Lisas großzügiges Reich im Dachgeschoss.

Er hatte wie erwartet keinen Widerstand geleistet, als Kim ihm die Tickets nach Rom auf den Tisch gelegt hatte. Sie flogen für eine Woche in den verlängerten Sommer. Dabei ließ Kim es sich nicht nehmen, Ellen einige Fotos von alten Gemäuern und gefüllten Rotweingläsern zu schicken und vom goldgelben Mond, der eines Morgens malerisch hinter dem Kolosseum emporkroch.

Ellen punktete im Gegenzug nicht mit Kulturbildern, dafür aber mit Sonnenauf- und untergängen in leuchtenden Farben von hellem Orange bis Purpurrot. Sie versuchten, sich fotografisch zu übertrumpfen, gönnend, ohne jegliches Konkurrenzdenken. Es war eines ihrer Ping-Pong-Spiele, das sich seit der Praxisschließung etabliert hatte. Nachricht für Nachricht erfuhren sie mehr voneinander. Kim erzählte, wie sehr sie es verwirrte, mit den Römern zu plaudern, weil sie zwar durchaus passabel Italienisch verstand, aber instinktiv immer spanische Antworten aus ihr heraussprudelten. Ellen hingegen übte in den Gässchen von Miami Beach fleißig Conversación mit den Latinos.

Zuhause fiel es Kim schwer, sich im feuchten Novemberwetter zu akklimatisieren. Tobias schlug deshalb eine Schmuddelwetter-Grillparty vor, um dem drohenden Winter zu trotzen. Zusammen mit Matteo präparierte er die Terrasse mit Heizpilz und seitlichen Stellwänden gegen die widrigen Temperaturen und bereitete für ein Dutzend Gäste Köstlichkeiten vor. An einem Pott Glühwein fehlte es ebenso wenig wie an echten Bratäpfeln. Trotz beinahe winterlicher Kälte verbrachten die Männer heldenhaft die meiste Zeit des Abends draußen, während sich die Damen vom Kaminfeuer wärmen ließen, über Gott und die Welt philosophierten und tanzten.

Eines Mittags, als Kim abgekämpft von der Arbeit nach Hause kam, wurde sie von einer Nachbarin abgepasst, die ein Päckchen für sie in Empfang genommen hatte. Sie grübelte, was sie bestellt hatte, ohne Ergebnis. Das hatte nichts zu sagen, denn sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie regelmäßig Artikel zwischen Tür und Angel orderte, sei es ein neues Oberteil für die Mädchen oder ein Geschenk für einen bevorstehenden Geburtstag. Bis sie geliefert wurden, hatte sie dann ein Dutzend anderer Dinge im Kopf und staunte, was die Post vorbeibrachte.

Sie öffnete die Lasche und zog ein Buch heraus. Es dämmerte nichts. Déjame que te cuente - Komm, ich erzähl‘ dir eine Geschichte - von Jorge Bucay – auf Spanisch. Auf dem Lieferschein entdeckte sie kleingedruckt eine Bemerkung:

„Liebe Grüße aus Florida. Ich komme zwar nur langsam und mit ständigem Nachschlagen von Vokabeln voran, aber das Buch begeistert mich. Es sind lauter kleine Geschichten, in denen Weisheiten für das tägliche Leben versteckt sind. Vielleicht gefällt es dir auch? Ich freue mich schon auf unseren Malkurs! Hasta luego, Ellen“

Es war ein bisschen wie Weihnachten. Das erste spanische Buch seit – 15 Jahren? Sie las einige Seiten quer und spürte sofort, wie ihre Liebe zur spanischen Sprache durch den Raum tanzte. Der Tag war gerettet.

Kim liebte es, überrascht zu werden, und Ellen schien ihr wie eine bunte Pralinenschachtel, vielseitig und man wusste nicht, welche Geschmacksrichtung einen erwartete. Ihr ganzes Leben lang hatte Kim das Gefühl, mit vielen verschiedenen Bällen gleichzeitig zu jonglieren. Sie gab alles, damit kein Ball auf den Boden fiel. Ihre Mutter, ihre Freundschaften, ihre Beziehungen bei der Arbeit und zuhause. Sie hatte sich nie darüber beklagt, im Gegenteil, sie mochte es, andere Menschen zu bewegen, zu organisieren, das Leben im Fluss zu halten. Aber es zehrte an ihr. Es fühlte sich neu an, jemanden zu kennen, der offensichtlich selbst Dinge in die Hand nahm. Vielleicht war Ellen ein Mensch, der ihre Kraft nicht absaugte, sondern ihr welche zurückschickte. Wenn sie es genau betrachtete, kannte sie Ellen überhaupt nicht und trotzdem spürte sie bei jeder Nachricht, wie ihr deren Energie entgegenströmte.

Dezember

Kim

Mitten in der Nacht wurde Kim aus dem Bett geklingelt. Nur ein Notfall unter Freundinnen konnte das rechtfertigen. Emma hatte am Abend herausgefunden, dass ihr Mann sie betrog. Sie musste reden. Es duldete keinen Aufschub.

20 Minuten später spazierte Kim mit Emma und deren Labrador Jackie durch den Wald. Es war stockfinster und die feuchte Dezemberkälte kroch Kim durch alle Ritzen der Winterjacke. Sie hasste es, zu frieren, erst recht, wenn es dunkel war. Aber Emma brauchte frische Luft und eine Freundin.

„Stell‘ dir vor, ich habe IHRE Whatsapp-Nachricht bekommen! Verstehst du, er hat sie MIR statt IHR geschickt! Wie blöd können Männer nur sein?“

„Das ist nicht dein Ernst, oder? Wie hat er denn das geschafft?“, fragte Kim und sah Emma entsetzt an.

„Sie heißt Emely. Und mich hat er unter Emy gespeichert. Zu doof, sich eine Geliebte zu suchen, die einen anderen Namen hat wie die eigene Frau!“

Emma lachte ein verzweifeltes Lachen, das nahtlos in Schluchzen überging. Ihr passierten immer wieder solche Sachen. Kleine und große Katastrophen und trotzdem fand sie immer wieder einen Weg aus dem Dschungel, mochte er noch so verwachsen sein. Sie verlor nie ihren Humor. Das konnte sie schon deshalb nicht, weil sie Krankenschwester auf der Palliativstation war und täglich mit dem Ende konfrontiert wurde. Da half nur eine gnadenlos positive Haltung zum Leben.

Seit Wochen hatte Emma ihren Matteo verdächtigt. Und sie besaß einen 7. Sinn. Wäre Kim an Matteos Stelle gewesen, hätte sie es genau aus diesem Grund niemals gewagt, Emma zu betrügen.

„Es tut so Scheiße weh!“, fluchte Emma in die Tiefen des Waldes hinein. „Ich bin ihm gestern Abend mit dem Wagen gefolgt. Er wollte zu Mark, Bier trinken – das hat er jedenfalls gesagt. Ich dachte jetzt oder nie! Und Überraschung - er fuhr NICHT zu Mark, sondern zu Emely. Allein wenn ich diesen Namen ausspreche, muss ich kotzen! Ein Püppchen, lange braune Locken, Typ Ich krieg sie alle. Ich kenne sie von einer Geburtstagsfeier.“

Kim ging grübelnd neben Emma her. Sie hatte Matteo immer gemocht. Er war ein Klischee-Italiener, nicht gerade hochgewachsen, pechschwarze Haare und kaffeebraune Augen, in denen man versank. Ja, er besaß Charme. Kiloweise Charme. Dabei war er aber nie oberflächlich. Man hätte ihn nachts um drei Uhr anrufen können, weil die Klospülung nicht funktionierte, und er wäre gekommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er konnte mit Emma streiten, dass alle Nachbarn aus dem Fenster schauten, aber ihm wäre niemals die Hand ausgerutscht. Zudem liebte er seine Kinder über alles. Er war ein Guter. Punkt.

„Das hätte ich ihm nie zugetraut, dieser Idiot. Was hast du jetzt vor?“, fragte Kim.

„Ich bringe ihn um, sobald er seinen Fuß über die Schwelle setzt“, sagte Emma, als verkündete sie, was sie zu Mittag kochen wollte. Obwohl ihre Stimme zitterte, glaubte Kim ihr jedes einzelne Wort.

Sie blieben stehen und Kim nahm ihre Freundin in die Arme. Emma war die selbstbewussteste, stärkste und chaotischste Frau, die sie kannte. Aber jetzt schien sie ihr wie ein kleines Mädchen, das hinter dem Rücken der Eltern herausgefunden hatte, dass das Leben irgendwann einmal endete.

„Trinkst du noch einen Tee bei mir?“, fragte Emma.

„Eine ganze Kanne, wenn’s nötig ist.“

Als Kim am frühen Morgen völlig übernächtigt wieder nach Hause kam, stieg ihr der Duft von gemahlenem Kaffee in die Nase. Sie setzte sich zu Tobias an den Frühstückstisch und erzählte ihm von ihrem turbulenten Nachteinsatz. Ihr Mann war nicht der große Gefühlsanalytiker. Anders als Kim reichte ihm normalerweise eine Neuigkeit in wenigen Sätzen, worauf er dann maximal einen erwiderte. Dieses Mal sagte er nicht einen einzigen Ton, er schüttelte nur immer wieder den Kopf. Kim hatte ihn noch nie so betroffen gesehen.

„Rufst du ihn heute an?“, fragte sie.

In diesem Moment brummte auf der Anrichte Tobias‘ Handy.

„Nicht nötig. Er will mich sehen. Er schreibt, er hat Scheiße gebaut.“

„Das ist ja schon mal ein Anfang. Wasche ihm ordentlich den Kopf!“

Kim gab Tobias einen Kuss.

„Falls du heute Abend erst später kommst, ich bin beim Malkurs mit der Kinderärztin.“

Kim und Ellen saßen mit vier weiteren Teilnehmerinnen in dem kleinen Atelier von Tanja. Die verdiente sich mit Malkursen wie diesem etwas dazu, weil das Geld als freischaffende Künstlerin grundsätzlich knapp war. In gerade einmal vier Stunden wollte sie ihre Schützlinge mit einem fertigen Acrylgemälde von van Goghs Katzen entlassen. An den Wänden hingen großformatige Öl-Porträts, farbintensiv und leicht abstrahiert. Bei allen stachen die leuchtenden Augen heraus, die bis ins kleinste Detail ausgearbeitet waren und eine faszinierende Tiefe erzeugten.

„Ich hatte seit Jahrzehnten keinen Pinsel mehr in der Hand, ich bin wirklich aufgeregt“, schwärmte Ellen.

„Und ich habe nur Babyfußabdrücke von den Kindern verziert“, entgegnete Kim grinsend.

Das fertige Van-Gogh-Bild, das Tanja als Vorlage auf eine Staffelei gestellt hatte, sah dem Original erschreckend ähnlich und Kim fragte sich, ob das in einem Abend nur annähernd zu schaffen war. Weiter kam sie nicht mit ihren Zweifeln, weil Tanja den ersten Arbeitsauftrag erteilte. In einem Zeitrahmen von einer Viertelstunde pausten sie mit Bleistift das Motiv grob auf die Leinwand. Etwas unbeholfen wechselten Kim und Ellen immer wieder Blicke und verglichen ihre leicht unbeholfenen Versuche.