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Da ist Amine. Ruhig, besonnen. Er ist das Wasser.
Da ist Bella. Verrückt, rebellisch, aufbrausend. Sie ist das Feuer.
Als sie sich begegnen, ist es sofort Liebe.
Als Bella schwanger wird, ist ihr Glück perfekt. Doch plötzlich werden die beiden durch einen schweren Schicksalsschlag über tausende Kilometer voneinander getrennt.
Wird ihre Liebe Bestand haben?
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Ich bin das Mädchen,
das mit bunten Haaren herumlief.
Ich bin das Mädchen,
welches sich das Gesicht piercen ließ.
Ich bin das Mädchen,
das lächelte, obwohl es lieber geweint hätte.
Ich bin das Mädchen, das die kürzesten Röcke, die engsten T-Shirts, den knappsten Ausschnitt und den krassesten Style hatte.
Ich bin das Mädchen,
das regelmäßig im Bad saß und sich die Arme aufschnitt, um irgendetwas zu spüren.
Ich bin das Mädchen,
das trank und feierte, um den Schmerz zu betäuben, der es innerlich nach und nach zu zerstören drohte.
Das war ich.
Das war mein Leben.
Bevor ich ihm begegnete.
Ich bin Bella, geboren und aufgewachsen in einem kleinen Ort in Hessen. Ich verbrachte viele Jahre mit Leid und Schmerz und als ich älter wurde, versuchte ich meine negativen Gefühle oft mit Partys und Alkohol zu betäuben. Ich war in vieler Augen ein rebellisches Mädchen. Ich war immer anders, ließ mich piercen und tätowieren und gab einen Großteil meines Geldes für Haarfarben in allen Abstufungen aus - blau, grün, pink, türkis. Die natürlich auch in meinen Haaren landeten und meinen "Zuckerwattekopf" schon auf drei Kilometer Entfernung leuchten ließ. „Bella, deine Haare sehen echt aus wie Zuckerwatte“, sagte meine Freundin Sasi, die ich durch meinen Exfreund Nik kennengelernt hatte, als wir uns wieder einmal in der Allee trafen. Sie griff mir unaufgefordert hinein. „Und sie fühlen sich auch so an“, stellte sie lachend fest, während ich versuchte, meine Frisur zu richten. Das tat sie fast jedes Mal, wenn wir uns sahen und ich mochte es eigentlich nicht, aber ich ließ sie einfach machen, denn ich mochte sie und ihre quirlige Art. Zu meinen bunten Haaren gab es dann zerrissene Strumpfhosen und coole Shirts mit horrormäßigen Comicfiguren, so wie dunklen Kajal, der mich wie einen wütenden Waschbären aussehen ließ. Hey, diese schrille Zeit war cool - aber auch ziemlich chaotisch mit all den Partys, dem Alkohol und den nächtlichen Touren durch die Stadt. Und obwohl ich mich regelmäßig unter vielen Menschen aufhielt, die ihre verschwitzten Leiber zum Takt wummernder Bässe hin und her bewegten und aufstampften, als wollten sie den Boden eintreten, war ich doch oft in Wahrheit ziemlich einsam.
Bis sich mein Leben urplötzlich und absolut ohne Vorwarnung komplett änderte.
Da war er.
Er trat plötzlich und unerwartet in mein Leben.
1
Über eine Dating-App hatten wir uns kennengelernt, an diesem dunklen und kalten Abend Ende Dezember, als ich mit zwei Freunden zuhause saß, auf meiner alten grauen abgewetzten Couch und lustlos mein Bier schlürfte, das irgendwie schal schmeckte. Ich war deprimiert und erschöpft von den vergangenen Monaten, in denen ich versucht hatte, meine gescheiterte Beziehung zu verarbeiten, als das Vibrieren meines Handys mich aus meinen Gedanken riss. Gelangweilt warf ich einen Blick darauf und öffnete mit dem Daumen die neue Nachrichtenanfrage auf der total angesagten und beliebten Dating-App LoveIt, die ich mir vor wenigen Wochen aus Langeweile heruntergeladen hatte, einfach um zu schauen, wer sich so in meiner unmittelbaren Umgebung aufhielt. Gähnend und genervt stöberte ich durch das Profil des jungen Mannes ausländischer Herkunft, der mich da kontaktiert hatte und zögerte, ehe ich langsam auf seine Nachricht antwortete. Zu viele schlechte Erfahrungen hatte ich gemacht, zu viel erlebt, fast jeder meiner Bekanntschaften und Beziehungen hatten sich als absoluter Flop entpuppt.
Fremdgänger, Drogenabhängige, Dauer-Party-Gänger, egoistische überhebliche Kerle, teilweise brutal und narzisstisch und meistens nicht mal an einer dauerhaften Partnerschaft interessiert - ja, da war schon alles dabei. Einer meiner Exfreunde war ein Junkie, süchtig nach Marihuana und Pep, das er sogar vor der Arbeit konsumierte. Nach nur vier Monaten ging er mir mit einem Mädchen aus meiner Nachbarschaft fremd und dann war da auch ziemlich schnell Schluss. Von meiner letzten Beziehung wollte ich gar nicht erst reden, der Mensch hieß bei mir nur noch „die Person“. „Die Person“ schloss mich ein, drohte mir, erpresste mich und warf mit Schimpfwörtern um sich, die mir bis dahin unbekannt gewesen waren.
Mein letztes Date war mit einem wirklich gutaussehenden Typen gewesen. Taylor trug am ganzen Körper Tattoos, war gepierct und von athletischer Statur. Und er hatte die tollsten Augen, die ich bis dahin je gesehen hatte – wie ein Reh, mit schier endlos langen Wimpern. Wir saßen da also an einem Tisch in einer kleinen Eisdiele und führten eine lockere Unterhaltung und gerade, als ich mir schon dachte Wow, also mit dem kannst du dir definitiv was vorstellen, sagte er „Ich habe übrigens eine Knarre dabei. Ich kann dich vor allem beschützen, auch vor deinem Ex. Sag mir einfach, wo er wohnt, dann statten ich und meine Leute ihm mal einen Besuch ab.“ Kurz zuvor hatte ich das Thema „gescheiterte Beziehung“ angeschnitten und nun kam er mir mit sowas. Aber es kam noch besser. „Ich weiß, wie man Leute verschwinden lässt. Mein Kumpel hat mal jemanden umgebracht.“ Er beugte sich zu mir hinüber. „Der Mann wurde nie gefunden“, flüsterte er und zwinkerte mir zu. Ich hörte mir noch ein paar Minuten sein Geprahle über seine eigene Kriminalität an, dann beendete ich das Date freundlich, aber bestimmt. Taylor schien das gar nicht so wirklich verstanden zu haben, glaube ich. Er schrieb mir danach noch unzählige Male und wollte weitere Dates.
Meistens war ich also gerade so gut genug für eine schnelle Nummer oder einen Wodka in der Kneipe. Oder geriet an irgendwelche Psychopathen. Warum also sollte es mit dem hier anders sein als mit all den gescheiterten Bekanntschaften?
Seine Deutschkenntnisse waren, gelinde gesagt, miserabel, aber verständlich.
„Ich bin neu in Arolson“, tippte er. Was ein Freak, kann nicht mal den Namen der Stadt richtig schreiben, dachte ich. Wenige Sekunden später erschien auf meinem Bildschirm „Wollen wir über WhatsApp diskutieren?“ Eigentlich gab ich meine Nummer nicht so schnell heraus, dennoch zuckte ich die Schultern und schrieb ich sie ihm schließlich, da ich sowieso plante, einen neuen Vertrag abzuschließen. Außerdem könnte das alles ja ganz witzig werden. Ich nahm einen weiteren Schluck meines Biers und pfefferte mein Handy in die Ecke.
„Mir hat so ein Typ getextet. Der ist scheinbar grade bei einem Kumpel gegenüber“. Ich lehnte mich grinsend zurück und knibbelte an meinen Nagelrändern. Jess sah von ihrem Handy auf, über das sie gerade mit einem jungen Mann geschrieben hatte, den sie vor kurzem kennengelernt hatte. „Ja, und?“ Sie sah mich fragend an.
„Wie wäre es denn, wenn wir ihn fragen, ob er vorbeikommen möchte? So ganz spontan?“ Ich rückte meine mit Nieten besetzte Kappe zurecht. Jess nickte.
Nachdem ich mich also mit Jess und Majo abgesprochen hatte, luden wir ihn an diesem Abend spontan zu mir ein. Jess und ich durchquerten den Hausflur, durchschritten die Haustür und als ich um die Ecke bog, um zu schauen, wo er war, verschlug er mir schon für einige Sekunden die Sprache. Ich ließ meinen Blick ungeniert von oben nach unten wandern, checkte ihn regelrecht ab und leckte mir über die Lippen. Er war wahnsinnig gutaussehend, sehr schlank, mit einer engen blauen Röhrenjeans, einem Tshirt, das seinen drahtigen, aber attraktiven Körper perfekt betonte, einer Jacke und einer roten Cap. Er war praktisch das genaue Gegenteil von den Männern, mit denen ich es bisher zu tun gehabt hatte. Dennoch blieb ich cool und winkte ihn zu mir heran.
Schüchtern und ohne ein einziges Wort folgte er uns die hellen, abgenutzten Treppen hinauf, in meine kleine Wohnung hinein und nahm gemeinsam mit uns auf meiner Couch Platz. Ich hatte meine Beine untergeschlagen und nebenbei die Wahrheit-oder-Pflicht-App meines Handys neu gestartet.
Bei Licht hatte ich die Möglichkeit, ihn mir vorsichtig näher anzusehen. Seine Gesichtszüge waren männlich, aber dennoch sehr jungenhaft und sein kurzer schwarzer Bart betonte dies. Über einer schmalen Stupsnase, die nach unten hin etwas breiter wurde, saßen dunkelbraune, sanfte Augen, die im gedämpften Licht meines Zimmers fast schwarz wirkten, unter perfekt geschwungenen Augenbrauen. Unter seiner Cap ließen sich schwarze, kurze Haare erahnen und seine Haut schimmerte in einem zarten Karamellton. Seine Lippen waren voll und sexy und ein leichtes, schüchternes Lächeln lag darauf. Er gefiel mir irgendwie sofort.
Ich startete die App „Wahrheit oder Pflicht“ neu und klickte auf „Neue Runde“. Bevor Amine sich zu uns gesellte, hatten wir bereits einige Runden gespielt, aber bis jetzt waren die Aufgaben langweilig gewesen.
„Also, wo haben wir aufgehört? Ach stimmt, Wahrheit oder Pflicht. Spielst du mit?“ Herausfordernd sah ich ihn an und er nickte zögerlich.
Küsse den Mitspieler links von dir, stand in dicken Lettern auf meinem Handy. Jess. Ich lächelte verschlagen, stupste sie an und nur Sekunden später legten wir einen filmreifen, leidenschaftlichen Kuss hin. Kichernd lösten wir uns voneinander und ich klickte erneut auf Pflicht. Amine hatte uns beobachtet, sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, im Gegensatz zu Majos. Seine runden Wangen glühten knallrot und er rutsche verlegen auf seinem Platz herum. „Das war… nett anzusehen“, murmelte er grinsend.
„Das gibt’s doch nicht“, protestierte ich nach einem erneuten Blick auf mein Handy, als ich die neue Aufgabe sah. Küsse einen männlichen Mitspieler. Nervös schielte ich nach rechts. Er sah mich aus sanften braunen Augen an und ich konnte das leichte Zittern spüren, das seinen Körper überkam, als meine Lippen auf seine trafen.
Als ich abends wieder einmal viel zu spät ins Bett fiel, todmüde und kaputt, schwirrte sein Bild vor meinem inneren Auge auf und ab, bis ich in einen tiefen traumlosen Schlaf versank.
Schon tags darauf, kurz nach dem Aufstehen, fand ich eine Nachricht von Amine auf meinem Handy. „Was habt ihr an Silvester vor?“
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Weiß nicht, warum?“, textete ich zurück.
„Fahre nach Berlin“, kam prompt als Antwort.
„Ja und? Das ist schön.“
Es vergingen einige Minuten, bis er mir zurückschrieb.
„Wollt ihr mit? Du und Freundin?“
Damit hatte ich nicht gerechnet. „Wann soll es losgehen?“
„Morgen. Nachmittag 15 Uhr. Kassel Bahnhof.“
Okey, das war kurz, knapp und bündig.
Nach kurzem Zögern wählte ich Jess´ Nummer. Am Vorabend war sie zu später Stunde noch nachhause gefahren. Sie hob nach nur einem Klingeln ab.
„Alles gut?“, begrüßte sie mich mit weicher Stimme.
Ich nickte, bis mir einfiel, dass sie mich ja gar nicht sehen konnte. „Klar.“ Ich kam sofort auf den Punkt. „Du, Amine hat mir eben geschrieben. Er möchte wissen, ob wir morgen mit nach Berlin fahren, so über Silvester. Hast du Bock?“
Jess ließ sich einen Moment lang Zeit und ich konnte hören, wie sie an ihrer Zigarette zog. „Ich habe meinen Eltern sowieso gesagt, dass ich nach Berlin will. Eigentlich mit meinem Freund, der ja jetzt mein Ex ist, also hat sich das ja erledigt. Ich habe keine Lust, ihnen das zu erklären. Also, fahren wir!“
Da der junge Mann, den ich damals nach der Trennung von meinem Ex kennengelernt hatte (auch einer dieser besagten Fehlschläge, der mir eigentlich nur auf die Nerven ging und dem an einer Beziehung nicht ernsthaft etwas zu liegen schien), nicht mit mir feiern wollte, bestanden auch bei mir keinerlei Pläne. Klar, ich könnte natürlich bei meiner Oma "feiern" - das hieß, den Abend mit TV, Essen und meinem Onkel verbringen. Aber die Vorstellung, auf dem grünen Sofa zu sitzen und langweilige Silvestersendungen ansehen zu müssen, empfand ich als nicht besonders anziehend. Ich wollte trinken, feiern, etwas erleben und wenigstens für einen kleinen Moment so etwas wie glücklich sein.
„Wir kommen gern mit“, teilte ich Amine mit, was er mit einem lächelnden Smiley quittierte.
Ich war unsicher, aber gleichzeitig freute ich mich auf dieses Abenteuer. Ich kannte ihn kaum, die Reise stellte natürlich ein enormes Risiko dar. Alles musste gut durchdacht werden.
Was, wenn etwas passiert? Wenn er ein totales Arschloch ist, schoss mir durch den Kopf, doch ich versuchte, die Gedanken schnell zu vertreiben.
Außerdem hatte ich jede Menge Geld auf meinem Konto, so dass wir im Notfall auch mit dem Zug zurückgekonnt hätten.
Auf die Schnelle hieß es nun Koffer packen. Am nächsten Nachmittag sollten wir in Kassel am Hauptbahnhof sein. An diesem Tag lief der Weihnachtsmarkt noch trotz dem die Weihnachtsfeiertage bereits vergangen waren. Die letzten Weihnachtswütigen tätigten bereits die Einkäufe für das nächste Jahr und hetzten von Stand zu Stand, versessen darauf, die letzten Schnäppchen abzugreifen. Wir fuhren ein bisschen früher mit dem Zug ab und liefen dann, unsere Koffer hinter uns herziehend, über den noch stillen Markt, um uns noch etwas Essbares zu besorgen, bevor es losging. Meine Freundin besorgte sich noch eine Currywurst an einem dürftig geschmückten Imbissstand mit wenig motiviert aussehenden Mitarbeitern, direkt vor dem CityPoint, einem riesigen Einkaufszentrum in der Mitte Kassels. Gesättigt und nervös, machten wir uns auf den Weg hoch zum Hauptbahnhof, als mein Handy klingelte.
„Wo seid ihr denn?", schnarrte Omas Stimme aus dem Lautsprecher meines billigen Wiko's.
„Ich bin mit Jess in Kassel auf dem Weihnachtsmarkt", antwortete ich wahrheitsgemäß und etwas außer Atem vom Laufen.
„Wann kommt ihr denn zurück?", konnte ich meine Oma nun etwas besser verstehen und ich teilte ihr, nachdem ich mein Handy vom einen zum anderen Ohr geschoben hatte, kurz und knapp mit, dass ich es nicht wisse. Ich hatte sie nicht darüber informiert, dass wir einen "kleinen" Ausflug machten, da ich befürchtete, sie würde komplett ausflippen. Außerdem war ich bereits länger volljährig und konnte sehr gut auf mich allein aufpassen, auch wenn es auf andere manchmal nicht so wirken mochte und ich öfters tollpatschig von der einen in die andere Katastrophe tappte.
Atemlos vom Laufen, der Weg führte bergauf, kamen wir am Hauptbahnhof an, den seit dem Neubau des Bahnhof Wilhelmshöhe nur noch wenige Züge verließen. Lediglich die typischen blauen Straßenbahnen verkehrten noch zwischen dem alten und neuen Bahnhof, um Touristen und Shoppinglustige in die Innenstadt zu bringen. Wir waren noch etwas früh dran, holten uns in einem kleinen Kiosk einen Saft und suchten noch ein letztes Mal die Toiletten auf. Ich war nervös, der Schweiß stand mir auf der Stirn, denn ich erreichte Amine seit einigen Stunden nicht. Er ging einfach nicht an sein Handy, immer wieder schaute ich auf da kleine Display und öffnete unseren Chat, doch auch meine Nachrichten kamen nicht durch. Der Zeiger der Uhr rückte unaufhörlich vorwärts und so langsam sank unsere Laune. In mir machte sich Enttäuschung breit und ich begann mich zu fragen, ob wir uns hatten verarschen lassen und nun stehengelassen wurden. Wir hatten im Inneren des Bahnhofs auf einer dreckigen Treppenstufe neben einem gut besuchten Burger King Platz genommen und starrten beinahe jede Sekunde Richtung Eingang. Einige Male schauten wir sogar auf dem Bahnhofsvorplatz nach, doch von dem gutaussehenden jungen Mann des vorgestrigen Abends war keine Spur zu sehen. Es wurde immer später, meine Freundin war bereits wirklich genervt und zickte herum.
“Man, wo bleibt der denn! Verdammt nochmal, ich habe jetzt schon keine Lust mehr“, meckerte sie gerade, als er endlich durch den Eingang hineinkam. Er schien es gar nicht eilig zu haben. Unpünktlichkeit konnte ich generell nicht leiden, sagte aber nichts und erleichtert folgten wir ihm nach draußen, luden unsere Koffer in das Auto der Mitfahrgelegenheit, das auf dem Parkplatz nahe der Polizeistation neben dem Hauptbahnhof geparkt war und nahmen in dessen funkelnden Neuwagen mit den bequemen Sitzen Platz.
„Wo warst du denn so lange?", fragte ich Amine und er zuckte nur die Schultern.
Na großartig. Ob er überhaupt verstanden hatte, was ich von ihm wollte?
Wir mussten uns zu dritt auf die Rückbank quetschen, ich in der Mitte, Jess zu meiner Linken und Amine zu meiner Rechten, da vorne noch ein junger Mann mitfuhr. Die Enge und die Nähe machten mich ganz unruhig, als das Auto auch schon anfuhr und noch einmal kurz an der Tankstelle in der Heinrich-Heine-Straße anhielt. Wenige Sekunden später flogen zwei Haribotüten mit einem freudigen "Bedient euch! Wegzehrung!" zu uns auf die Rückbank. Der Fahrer war ein etwas verrückter, aber sehr sympathischer Mann um die 40, der kaum Haare hatte, eine schwarze Brille trug und schon kurz darauf mit konstanten 180 km/h mit uns Richtung Berlin bretterte.
Alles wirkte unwirklich, als ich, mit Kopfhörern und Musik in beiden Ohren, hinaus in die untergehende Sonne starrte. Vor uns lag die unendlich weite Autobahn, ich hatte keine Ahnung, wo wir uns gerade befanden, aber das war auch egal. Ich hing meinen Gedanken nach, neben mir spürte ich Amines Nähe und hörte ihn leise atmen. Er schien eingedöst zu sein. Verträumt betrachtete ich sein Seitenprofil, ließ den Blick über seinen Körper und seine Kleidung hinweg zu seinen schon ziemlich dünnen Beinen wandern und musste lächeln. Da saß ich einfach hier, neben einem jungen Ausländer, über den ich nahezu nichts wusste, weder sein Alter noch irgendetwas anderes, im Auto einer völlig fremden Person und war auf dem Weg in Deutschlands Hauptstadt. Nur wenige Tage zuvor hätte ich das definitiv niemals zu träumen gewagt.
Als ich noch klein war, fuhr mein Großvater hin und wieder nach Berlin. Er war Vorsitzender der Partei SPD 60+ und ich erinnere mich, dass einige Male eine mehrtägige Fahrt nach Berlin stattfand. Mein Opa bereitete sich oft Tage vor der Abfahrt darauf vor und jedes Mal stand ich vor ihm, setzte meinen süßesten Blick auf, schob die Unterlippe vor und bat ihn, mich doch mitzunehmen. In meiner kindlichen Vorstellung bildete ich mir ein, das könne doch funktionieren. Umso enttäuschter war ich, wenn er den Kopf schüttelte, mitfühlend lächelte und sagte, das ginge nicht. Kam er wenige Tage später aus Berlin zurück, zauberte er immer kleine Dinge aus der Tasche, die er für mich mitgebracht hatte. Einmal war es ein Computerspiel über einen Luchs, der sich auf den langen beschwerlichen Weg in den Harz machte und zwei Mal ein kleines Berliner Bärchen - ein Schlüsselanhänger mit einem Herzchen.
Vielleicht war es auch die Erinnerung daran, die mich dazu bewogen hatte, mich auf dieses Abenteuer einzulassen, ohne vorher großartig nachzudenken.
Inzwischen war es dunkel geworden. Alles war still, bis auf die leise Musik, die aus dem Radio drang, uns einlullte und uns in süße Schläfrigkeit hüllte. Meine Kopfhörer hatte ich einige Minuten zuvor bereits aus meinen Ohren genommen, das Handy in den Standby-Modus versetzt, um den Akku zu schonen und beides in meiner Umhängetasche verstaut.
Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich die ersten Lichter Berlins vor uns auf und ich, plötzlich hellwach, streckte mich in meinem Sitz, um mehr erkennen zu können. Mein Herz schlug auf einmal Purzelbäume und ich konnte kaum stillsitzen. Ich bekam nicht einmal mit, was der Fahrer sagte, bevor er plötzlich anhielt und uns an der Haltestelle Messe Nord heraus lies.
„Hier sind wir, an eurem Lieblingsort!", flötete er fröhlich und half uns, das Gepäck aus dem Kofferraum zu wuchten.
Der erste Eindruck Berlins war ernüchternd. Schon beim Ausstieg schlug mir die mit Abgasen behaftete kalte Abendluft entgegen, die so ganz anders roch, als ich es von zuhause gewohnt war. Wir standen auf einer Brücke, neben der Straße, von der wir kamen, und man sah nur Schienen und große dunkle Gebäude, so wie einige Lichter in der Ferne. Dann gab es da noch eine Art Häuschen mit Treppe, die man zur U-Bahn hinuntersteigen konnte, was wir auch taten. Der Boden unter mir war dreckig. Unzählige Zigarettenstummel, Kaugummis und Papier zierten den grauen Beton und auch unten angekommen, nachdem Amine meinen Koffer die Betonstufen heruntergetragen hatte, sah es nicht besser aus. Etwas verloren standen wir in der Gegend herum, planlos, wie es jetzt weitergehen sollte. Amine gab so gut wie kein Wort von sich und sah sich lediglich um. Ich und meine Freundin begannen zu frösteln und zogen unsere Jacken enger um uns, als plötzlich das Klingeln meines Handys die Stille zerriss. „Seid ihr schon zurück?", begann Oma ohne Begrüßung und genervt verneinte ich.
„Wo seid ihr denn?", wollte sie von mir wissen. „Weit weg", war meine trockene Antwort. Verwirrt hakte sie nach, sie klang schon fast ein wenig wütend. Ich seufzte genervt. „Wir sind in Berlin. Über Silvester.“ Augenblicklich begann meine Großmutter, sich furchtbar aufzuregen und wollte wissen, mit wem wir dort seien. Gut gelaunt (ich klang besser, als ich mich in diesem Moment fühlte) sagte ich zu ihr, wir seien mit einem Freund dort, was ja so gesehen auch nicht wirklich gelogen war. Dass besagter "Freund" ausländischer Herkunft war, kaum die deutsche Sprache beherrschte und ich ihn seit gerade mal zwei Tagen kannte – und das auch noch aus dem Internet- verschwieg ich ihr dann aber doch lieber. Wer weiß, vielleicht wäre sie dann doch noch aus ihren blauen Gummilatschen gekippt. Amine hatte sich das ganze Telefonat lang schweigend im Hintergrund gehalten; und als ich gerade die rote Taste meines Handys betätigte, um das Gespräch zu beenden, fuhr die U-Bahn ein und wir schnappten uns unsere Koffer. Unsere Finger waren bereits ganz klamm und rot von der Kälte und wir zitterten leicht, als wir uns erschöpft auf einen Sitz fallen ließen.
„Was war denn los?"
Jess stellte ihren schwarzen Koffer zwischen ihren Beinen ab und sah mich mit schief gelegtem Kopf fragend an. Ich winkte ab.
„Nur wieder meine Oma. Sie regt sich schon wieder auf."
Mit einem Nicken bedeutete sie mir, dass sie verstanden hatte und hakte nicht weiter nach.
Ohne jegliche Information, wohin es eigentlich gehen sollte, wohin man uns brachte und wie lang es dauern würde, fuhren wir durch die Dunkelheit ins Ungewisse.
2
Vollkommen erschöpft kamen wir irgendwann am U-Bahnhof Seestraße in Berlin-Wedding an. Anders als ich es aus unserem Ort gewohnt war, leuchteten hier an jeder erdenklichen Ecke hunderte Lichter, fast alles hatte noch geöffnet. Ich blinzelte und versuchte, die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten. Der Betonboden war auch hier übersät mit festgetretenen Kaugummis und Zigarettenstummeln, Papier und herumfliegenden Prospekten, aber anders als an der Haltestelle Messe Nord roch es nicht nach Abgasen und die Luft war kühl und klar. Ich atmete durch, ehe wir Amine über die Straße folgten. Er hatte einige Monate in Berlin gelebt und gearbeitet, das hatte in einem unserer Chats am Rande erwähnt. Er schien sich hier also auszukennen. Vor uns lag ein riesiger mehrstöckiger Gebäudekomplex aus Glas, am Eingang drängten sich einige Jugendliche und nachdem ich mich kurz umgesehen hatte, erkannte ich an den dort aushängenden Filmplakaten, dass es sich um ein Kino handeln musste. Es schien an diesem Abend eine Filmpremiere zu laufen. Ich hatte keine Ahnung von den neuesten Filmen. Ich war eher selten im Kino und zudem sehr wählerisch, was meine Filmauswahl anging. Meine Wochenenden hatte ich meistens im Bett verbracht und mich entweder durch die zahlreichen Internetportale voller Streams geklickt oder mir hin und wieder eine DVD gekauft.