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Zwischen Internationalismus und Sachpolitik E-Book

Lucas Federer

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Beschreibung

Der Schweizer Trotzkismus in der Nachkriegszeit bestand aus kleinen, aber beständigen politischen Gruppierungen. Diese schafften es trotz ihrer geringen Größe und entgegen dem antikommunistischen Klima der geistigen Landesverteidigung, für sie zentrale Themen in breiteren gesellschaftlichen Kreisen ins Gespräch zu bringen. So etwa den Widerstand gegen die atomare Bewaffnung der Schweizer Armee, die Solidarität mit der algerischen Bevölkerung während des Algerienkrieges oder Forderungen nach einem allgemeingültigen Mindestlohn. Lucas Federer untersucht das Wirken und die politischen Konzeptionen dieser einzigartigen Strömung der Arbeiter*innenbewegung und fragt nach ihrem Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Schweiz im Kalten Krieg.

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Seitenzahl: 574

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Lucas Federer, geb. 1990, studierte Geschichte und Soziologie an der Universität Zürich und verfasste die vorliegende Arbeit zur Geschichte des Schweizer Trotzkismus in der Nachkriegszeit als Dissertation. Weiter forscht er zu sozialen Bewegungen im Kalten Krieg und der Geschichte des Schweizer Staatsschutzes sowie zur Einbindung audiovisueller Quellen in die historische Arbeit.

Lucas Federer

Zwischen Internationalismus und Sachpolitik

Die trotzkistische Bewegung in der Schweiz, 1945-1968

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2020 auf Antrag der Promotionskommission als Dissertation angenommen. Gutachter: Prof. Dr. Monika Dommann (hauptverantwortliche Betreuungsperson), Prof. Dr. Christian Koller

Die Entstehung dieser Arbeit wurde ermöglicht durch Beiträge des Forschungsfonds Ellen Rifkin Hill, des Schweizerischen Nationalfonds (doc.mobility) sowie der Janggen- Pöhn-Stiftung. Die Open-Access-Ausgabe wird publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Lucas Federer

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: 1. Mai-Umzug 1962 in Zürich: Marsch mit Banner "Der Kampf gegen Atombewaffnung geht weiter", Schweizerisches Sozialarchiv, F 5047-Fb-147 Lektorat: Anette Nagel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6144-6 PDF-ISBN 978-3-8394-6144-0 EPUB-ISBN 978-3-7328-6144-6https://doi.org/10.14361/9783839461440 Buchreihen-ISSN: 2702-9409 Buchreihen-eISSN: 2702-9417

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung

1.     Einleitung

Eine Geschichte der Schweizer TrotzkistInnen vor 1968

1.1   Annäherung an eine bewegte Geschichte

1.2   Methodische und thematische Überlegungen

1.3   Was ist Trotzkismus und was sind TrotzkistInnen?

1.4   Die Schweizer TrotzkistInnen erforschen

1.5   Aufbau der Arbeit

Teil 1:Über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Traditionen und Neubelebung des Trotzkismus in der Schweiz

2.     Der Zweite Weltkrieg als prägende Zeit

2.1   11. Juni 1940

2.2   Die Schweizer Linke und die Landesverteidigung

2.3   Die einzige Kraft gegen den Krieg und die Armee?

2.4   Vom Zweiten Weltkrieg in den Kalten Krieg

3      Vom gelebten Internationalismus zur SachpolitikDie Organisierung des Schweizer Trotzkismus nach dem Zweiten Weltkrieg

3.1   Die Entstehung eines Leitungstrios des Schweizer Trotzkismus

3.2   Umbrüche in der Welt und in der Vierten Internationale

3.3   Die Suche nach Organisations- und Ausdrucksformen

3.4   Auftritt und Außenwirkung

4      Das Private und die PolitikVon Kindern und Kühlschränken

4.1   Politischer Anspruch und soziale Realität der trotzkistischen Organisationen

4.2   Politische Charaktere im Privaten: Die Politik und das eigene Leben

4.3   Die finanziellen Ressourcen der Schweizer TrotzkistInnen

Teil 2:Internationalismus und transnationale Netzwerke

5      Überwachung der TrotzkistInnen und Unterwanderung ihrer Organisationen

5.1   Die Fichen der TrotzkistInnen

5.2   Auswirkungen von Überwachung und Diffamierung

5.3   Der Fall Otto Freitag

6      Sozialismus und internationale SolidaritätTrotzkistische Unterstützung im Algerienkrieg

6.1   Der Krieg in Algerien und der aufkommende Tiersmondismus

6.2   Hausdurchsuchungen am 11. Juli 1956 in Zürich

6.3   Schweiz – Frankreich – Algerien

6.4   Inhaltlicher Austausch: Die algerische Revolution und der Sozialismus

6.5   Von der MNA-Propaganda zum Komitee Schweiz-Algerien

7      Der Kampf gegen die AtombombeDie Bewegung gegen atomare Aufrüstung und die Schweizer TrotzkistInnen

7.1   Die Entstehung der Schweizerischen Bewegung gegen atomare Aufrüstung

7.2   Die Zusammensetzung der Schweizerischen Bewegung gegen atomare Aufrüstung und die Rolle der TrotzkistInnen

7.3   Internationale Kontakte und Vernetzung

7.4   Die Antiatomwaffenbewegung und die politische Linke

Teil 3:Opposition im Umbruch und Wandel

8      Der Umbruch der politischen Linken in den 1960er-Jahren

8.1   Der Schweizer Trotzkismus und die Linke im Wandel

8.2   Das Verschwinden des Sozialistischen Arbeiterbunds

8.3   Die trotzkistischen Ideen und Figuren als Kristallisationspunkt und als Reibungsfläche

9      1968 als Umbruch und Neuanfang

9.1   1968 und die Deutschschweizer TrotzkistInnen

9.2   Die Gründung der Revolutionären Marxistischen Liga

10    SchlussNeue Perspektiven auf den Schweizer Trotzkismus

Anhang

Kurzbiografien

Interviews

Archivbestände

Verzeichnisse

Abbildungen

Abkürzungen

Literatur

Danksagung

Es war der 21. Dezember 2018 morgens um zehn Uhr dreißig. Ich saß damals im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich und arbeitete an der vorliegenden Dissertation. Von draußen, vor dem Gebäude mit den knarzenden Fußböden, drang Lärm durch die geöffneten Fenster in den Lesesaal. Ich ging zum Fenster und um die Ecke kam ein Demonstrationszug. Eine Demonstration an einem Freitagmorgen, die Parolen waren unbekannt, die Schilder alle selbst bemalt: Das war neu in Zürich. Es waren ganz junge Leute, SchülerInnen, die aus den Gymnasien und teilweise den Berufsschulen kamen und im Rahmen der Fridays-for-Future-Proteste, die in der Schweiz unter dem Namen Klimastreik bekannt wurden, ihren Schulunterricht bestreikten und griffige Klimaschutzmaßnahmen für eine lebenswerte Zukunft forderten.

Es herrschte aufgeregte Stimmung, sowohl auf der Straße als auch im Lesesaal des Sozialarchivs, dieser für die Geschichte sozialer Bewegungen in der Schweiz so zentralen Institution. Die darauffolgenden Monate waren geprägt von einer jungen, energischen sozialen Bewegung, wie sie die Schweiz schon lange nicht mehr gesehen hat. Vernetzt, international ausgerichtet und mit klaren Forderungen traten der Klimastreik und seine ExponentInnen auf. Ich konnte mich von Beginn weg mit der Bewegung identifizieren und sie erinnerte mich in einigen Dimensionen an das, was ich selbst gerade als Historiker erforschte. Die sich vor meinen Augen entfaltende politische Dringlichkeit der Jugend verdeutlichte mir zudem, wie unvorhersehbar soziale Bewegungen und politische Projekte sein können und wie viel wir lernen können und auch müssen aus all denen, die gescheitert oder irgendwie verschwunden sind.

Der vorliegende Text wäre nicht möglich gewesen ohne die im Folgenden immer wieder zu Wort kommenden ZeitzeugInnen, die eine Erforschung des Schweizer Trotzkismus vor 1968 überhaupt erst initiierten und mit einer bedeutenden Vorarbeit möglich machten.

Weiter möchte ich mich für die geduldige Unterstützung, die Nachsicht, die Textkorrekturen und die kritischen Rückmeldungen aus meinem Umfeld, für das Vertrauen und die Unterstützung von Prof. Dr. Monika Dommann, die hilfreichen Hinweise von Prof. Dr. Christian Koller, die wichtigen Rückmeldungen aus dem Doktoratsprogramm des Zentrums Geschichte des Wissens, für die dreijährige Finanzierung des Projekts durch den Forschungsfonds Ellen Rifkin Hill des Schweizerischen Sozialarchivs, das doc.mobility-Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds sowie das halbjährige Stipendium der Janggen-Pöhn-Stiftung bedanken. Vier Jahre sind eine lange Zeit und die vergangenen vier Jahre waren zudem außerordentlich turbulent. Es ist nicht selbstverständlich, dass man über diesen Zeitraum hinweg als Haupttätigkeit an einer solchen Arbeit schreiben und dabei zudem seine Lebenshaltungskosten decken kann.

Ein besonderer Dank sei an dieser Stelle an Moritz Mähr für die Unterstützung beim Setzen dieser Arbeit, Jonas Wenger für jahrelange Diskussionen und Rückmeldungen sowie Hannah Borer für das kontinuierliche Gegenlesen und die wichtigen inhaltlichen Anstöße ausgerichtet. Ohne euch hätte ich dieses Projekt vermutlich nicht abgeschlossen.

Denn natürlich ist es auch hin und wieder anstrengend, eine Dissertation zu schreiben, und die Auseinandersetzung mit dem vor Jahren festgelegten Thema im einsamen Büro oder Archivraum verkommt unweigerlich phasenweise zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst. Das universitäre Umfeld hilft zudem nicht immer gegen das Gefühl, eigentlich verloren zu sein, irgendwo zwischen der vermeintlichen Beliebigkeit des Themas und den leisen Zweifeln, den Ansprüchen nicht zu genügen. Dennoch habe ich es schlussendlich geschafft, die Arbeit ist fertig geworden und ich kann etwas zurück- oder weitergeben.

Es bleibt mir an dieser Stelle nur zu hoffen, dass die Resultate der folgenden Seiten neue Erkenntnisse liefern und dass sie zukünftig vielleicht die eine oder den anderen inspirieren, die reichhaltige Geschichte politischer Bewegungen im Allgemeinen und des Trotzkismus im Speziellen mit neuen Perspektiven zu untersuchen und so zu neuen Erkenntnissen zu gelangen oder sogar selbst das eine oder andere in sozialen Bewegungen oder in politischen Projekten so oder anders zu machen. Denn auch wenn so manche behaupten, dass wir aus der Geschichte nicht lernen können: Mit Blick auf den Zustand der Welt, insbesondere auf die im Gange befindliche Klimakatastrophe, bleibt gar nichts anderes übrig, als es doch zu versuchen. Und die Fehler, die im Kampf für eine bessere Welt gemacht wurden, nicht einfach sinnlos zu wiederholen.

Zürich, den 31. Oktober 2021

1.Einleitung

Eine Geschichte der Schweizer TrotzkistInnen vor 1968

1.1Annäherung an eine bewegte Geschichte

Gegen Ende der 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre sah sich die Schweizer Politik mit einem ungewohnten Protestphänomen konfrontiert. Tausende Menschen aus allen Landesteilen hatten sich in der Schweizerischen Bewegung gegen die atomare Aufrüstung (SBgaA) zusammengeschlossen und argumentierten, politisierten und protestierten gegen die Pläne des Bundesrats und der Armeeführung, Atomwaffen für die Landesverteidigung der Schweiz zu beschaffen. Es waren vornehmlich Jugendliche und junge Erwachsene, welche sich mit ihren Körpern und ihren Stimmen gegen die Atomwaffen stellten.

Nicht nur in der Schweiz wurde ab den späten 1950er-Jahren gegen die Atombombe und die damit verbundenen Gefahren für die Fortexistenz der Menschheit demonstriert. Es entstand eine ganze globale Protestbewegung, die sich in gewissen bis heute bekannten Bildern, so der auf fünf vor zwölf stehenden Uhr, die verdeutlichen soll, wie kurz vor dem Ende sich die Menschheit befindet, oder im bekannten Peace-Zeichen verdichtete.1

In der Schweiz kam der Anstoß zu diesen Protesten gegen die atomare Aufrüstung von den TrotzkistInnen. Sie initiierten die Gründung der SBgaA und an der Spitze der Bewegung, als deren Wortführer, stand der öffentlich als Trotzkist bekannte Heinrich Buchbinder. Die TrotzkistInnen waren es, welche die Bedrohung durch die atomare Aufrüstung ab Mitte der 1950er-Jahre auf ihre politische Agenda setzten und entscheidende Arbeit leisteten, dass der Widerstand gegen die Pläne von Politikern und Militärs zur atomaren Bewaffnung der Schweiz organisiert werden konnte.

Es war dabei nicht zufällig die trotzkistische Bewegung, welche unterschiedliche soziale und politische Gruppen in der SBgaA vereinen konnte. Durch ihre politische Unabhängigkeit von den Machtblöcken des Kalten Kriegs sowie von den politisch linken Parteien der Schweiz konnte sie ein Interesse an der Thematik glaubhaft vermitteln und dabei heterogene Kräfte, von religiösen PazifistInnen bis hin zu AnarchistInnen, ansprechen. Die SBgaA versuchte primär mithilfe einer Volksinitiative zu erreichen, dass die Schweizer Armee keine Atomwaffen beschaffen dürfe. Sie organisierte aber gleichzeitig auch die bekannten Ostermärsche und andere Protestformen.

Der Trotzkismus ist eine inhärent internationale Bewegung und als die ersten Proteste gegen die atomare Bewaffnung in Großbritannien begannen, waren darin auch die britischen TrotzkistInnen organisiert, die ihre Erfahrungen mit der neuen Bewegung in die Vierte Internationale und so zu den Schweizer trotzkistischen Exponenten trugen. Die auf Basis dieses Austauschs initiierte Schweizer Antiatomwaffenbewegung sah denn auch nicht nur die Gefahr durch Atombomben als eine globale, sondern beharrte darauf, dass die Antwort auf diese Gefahr unweigerlich die nationalstaatlichen Grenzen überwinden müsste.

Die SBgaA war im Verlaufe der 1960er-Jahre ein erster, gar nicht so unerfolgreicher Versuch der politischen Linken in der Schweiz, der anhaltenden Lähmung in der Entwicklung alternativer Gesellschaftsvorstellungen auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs und einer sozialen Stabilität durch den anhaltenden Wirtschaftsaufschwung die Aktion und die parteiüberschreitende Organisierung entgegenzustellen.

Als die Antiatombewegung in den frühen 1960er-Jahren ihren Höhepunkt erreichte, verschwanden gleichzeitig die eigenständigen trotzkistischen Organisationen in der Schweiz, die in den 1930er-Jahren entstanden und nach den Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs wieder neu gegründet wurden, von der Bildfläche. Die TrotzkistInnen haben zu diesem Zeitpunkt aber etwas erreicht, was sie die vorangegangenen beiden Jahrzehnte immer wieder versucht hatten, woran sie aber mehrmals scheiterten: eine kritische, von den beiden Machtblöcken des Kalten Krieges unabhängige, emanzipatorische Linke zu vereinen. Damit war die SBgaA und die sich darin manifestierende Jugendbewegung eine wichtige Voraussetzung für die kommenden Bewegungen rund um 1968 in der Schweiz.

In den Quellenbeständen zum Schweizer Trotzkismus geht es aber nicht nur um den Kampf gegen Atombomben. Zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 1960er-Jahren waren TrotzkistInnen in der Schweiz konstant politisch aktiv, und in ihren Kampagnen sowie in ihren Zeitungen ging es um Arbeitskämpfe, um internationale Solidarität und um Rüstungs- und Finanzfragen der Schweiz. Sie beschäftigten sich mit der Wirtschaft und dem politischen System der Schweiz auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, mit imperialistischen Kriegen, mit strategischen Fragen, wie Systeme überwunden werden können und wie Revolutionen geschehen. In den Akten werden dabei nicht nur politische Organisationen und ihre Ausrichtung erkennbar, sondern darüber hinaus Individuen, die sich gegen vielfältige Ausprägungen eines politischen und wirtschaftlichen Systems wehrten, mit dem sie nicht einverstanden waren.

Was die Leistungen und der Einfluss des Schweizer Trotzkismus vor 1968 waren, darüber ist bislang in der historischen Forschung noch sehr wenig bekannt geworden. Klar ist: Die TrotzkistInnen organisierten sich auf vielfältige Weise und versuchten durch ihre Analyse der Welt zu den richtigen politischen Schlüssen zu kommen, um in ihrer Vision eine sozialistische Gesellschaft zu erreichen, die auf einer radikalen Demokratie beruhen sollte. Ihre politische Positionierung im Rahmen des Kalten Kriegs war außergewöhnlich, ebenso die von ihnen gesetzten Themen. Die TrotzkistInnen wurden trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche wahrgenommen – mal als unbequem, mal als unkonventionell und immer wieder auch als gefährlich. Während die Schweizerische Bundespolizei in den TrotzkistInnen eine potenzielle Gefahr für die Stabilität des Landes sah, galten sie in der Partei der Arbeit (PdA) und dem Rest der kommunistischen Bewegung meistens als VerräterInnen. Für linke SozialdemokratInnen wiederum konnten sie ein mühsamer, aber notwendiger Stachel im Fleisch der konkordant gewordenen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften sein.

Den Organisationen des Schweizer Trotzkismus war nie eine wirkliche Massenbasis beschieden. Sie blieben vor 1968 sogar auf wenige Dutzend Mitglieder beschränkt und über Jahrzehnte prägten dieselben Personen diese Organisationen. Auf den folgenden Seiten soll es dennoch darum gehen, in welchen Bereichen sich die Schweizer TrotzkistInnen einen gewissen Einfluss erarbeiteten. Es wird darum gehen, wie sie neben der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) und der PdA als kleine dritte Kraft einen Raum offenhielten, der für die sozialen Bewegungen der 1960er-Jahre und für die 68er-Bewegung wichtig wurde. Und es wird darum gehen, wie sie in einem Umbruchsprozess der politischen Linken selber auseinanderfielen, dadurch aber gleichzeitig der größten trotzkistischen Organisation in der Schweizer Geschichte, der Revolutionären Marxistischen Liga (RML), die Klinke in die Hand gaben.

Natürlich gäbe es noch viele andere Geschichten aus der Zeit der Schweiz im Kalten Krieg zu erzählen. Und auch die Politik- und Organisationsgeschichte hat, trotz ihrer einstigen Popularität, noch so einige Desiderate. So ist bis heute keine umfassende Parteigeschichte der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) geschrieben worden, wie Prof. Dr. Matthieu Leimgruber mir gegenüber in einem Master- und Doktorandenseminar einmal besonders hervorgehoben hat. Auch eine solche würde natürlich viele der politischen Prozesse in der Zeit des Kalten Kriegs verständlicher machen. Es gilt aber zu betonen, dass nicht nur die großen, etablierten und bekannten politischen Organisationen und Parteien zum Verständnis der Schweizer und der internationalen Politik und ihrer Entwicklungen beitragen. Gerade auch kleine Organisationen wie diejenigen, in denen sich die Schweizer TrotzkistInnen organisierten, oder gescheiterte politische Projekte können eine äußerst spannende Linse auf bekannte und unbekannte historische Phänomene sein und die bisherige Erforschung dieser mit neuen Perspektiven ergänzen.

Ein wichtiger Anstoß dazu, den bislang wenig beachteten Schweizer Trotzkismus zum Gegenstand einer historischen Untersuchung zu machen, kam zudem von ehemals selbst beteiligten AktivistInnen. Der Initiative und der Vorarbeit von ehemals im Umfeld der TrotzkistInnen aktiven Personen ist es zu verdanken, dass das Projekt, dessen Resultat das vorliegende Buch ist, überhaupt durchgeführt werden konnte.

Gerade im Hinblick auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, die sozialen, politischen und ökologischen Krisen, die sich in ihrer Wirkung jeweils gegenseitig verstärken, lohnt es sich, auf vergangene politische Projekte, Visionen und Utopien zu schauen, die ihnen zugrundeliegenden gesellschaftlichen Kräfte zu verstehen, aber auch die ausgelösten Gegenreaktionen auf gesellschaftliche Neuentwürfe zu studieren. Die Schweizer TrotzkistInnen eignen sich hierfür besonders, mit ihren sehr spezifischen Vorstellungen einer gerechteren Gesellschaft, die das Wohl möglichst aller in den Blick zu nehmen hätte, und mit ihrer frühen Aversion gegenüber den zerstörerischen Kräften eines sich global ausbreitenden Wirtschaftssystems, ihrer differenzierten Positionierung gegenüber technologischen Entwicklungen und ihrer präsenten Kritik an den realsozialistischen Staatskonzeptionen des 20. Jahrhunderts.

Um allerdings politische Phänomene wie die Schweizer TrotzkistInnen produktiv ins Blickfeld nehmen zu können und die angestrebte Erweiterung der Perspektive durch das Prisma von solchen Kleinstorganisationen tatsächlich leisten zu können, sind einige bedeutende Erweiterungen und Anpassungen in der Konzeption einer Politik- und Organisationsgeschichte, wie sie hier vorliegt, notwendig. Dabei müssen insbesondere die Grenzziehungen des Politischen als auch die unterschiedlichen Ebenen und AkteurInnen politischen Handelns Beachtung finden.

1.2Methodische und thematische Überlegungen

Die Historiografie des Trotzkismus war über weite Strecken des 20. Jahrhunderts eng verknüpft mit der Geschichte des Trotzkismus selbst. Sie ist geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen trotzkistischen Strömungen und wurde häufig zur Rechtfertigung der einen oder anderen Position oder zur Einschreibung in eine politische Tradition genutzt. Die dem Trotzkismus eigene, große Affinität gegenüber schriftlicher Analyse und historischer Arbeit führte dazu, dass sich viele der in der trotzkistischen Bewegung aktiven Personen auch mit der Geschichte des Trotzkismus, in einem aktivistischen oder akademischen Sinne, beschäftigt haben. Die vorliegende Arbeit soll demgegenüber einen Blick zurück und nicht einen rechtfertigenden Blick aus dem Trotzkismus hinaus darstellen. Es geht nicht darum, eine Position oder eine politische Strömung zu verteidigen, sondern das Erkenntnisinteresse darauf zu lenken, wie diese im Kontext des Kalten Kriegs in der Schweiz zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 1968 aktiv war, was sie verändert hat, wo sie in Erscheinung trat und woran sie gescheitert ist.

Die vorliegende Arbeit rückt also politische Organisationen und ihre AkteurInnen ins Zentrum. Bedeutende Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft wie der Linguistic Turn und die Postcolonial Studies haben die einstmals relativ stark auf politische Parteien und ihre parlamentarische Repräsentation beschränkte Politikgeschichte mit neuen Paradigmen und Erkenntnissen ergänzt.2

Durch die Erweiterung des Verständnisses von politischen Prozessen und politischen AkteurInnen wird die Untersuchung des Schweizer Trotzkismus zu einem erkenntnisreichen Unterfangen. Und dies, obwohl die Organisationen der TrotzkistInnen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine Handvoll Mitglieder hatten, in den 1950er-Jahren dann einige Dutzend und in den sechziger Jahren bereits wieder deutliche Auflösungserscheinungen zu beobachten waren.

Die vorliegende Arbeit nimmt bewusst nicht nur die trotzkistischen Organisationen, sondern auch die nationalen und transnationalen Prozesse, in die sie eingebunden waren, in den Blick. Sie schaut auf die Zirkulation von politischem Wissen in den trotzkistischen Organisationen, auf Repräsentationsformen, auf die hierarchischen Strukturen und die verschiedenen Funktionen innerhalb der trotzkistischen Bewegung sowie auf die Wechselwirkungen zwischen politisch aktiven Individuen, den Organisationsprogrammen und den tatsächlichen Betätigungsfeldern der Organisationen.

Daraus ergibt sich ein historiografischer Ansatz, der als »Neue Politikgeschichte« bezeichnet werden kann. Hierbei wird versucht, das politische Handeln der historischen AkteurInnen, auch im weiteren Sinne, ins Zentrum der Betrachtung zu stellen.3

Die vorliegende Arbeit muss hierfür insbesondere die grundsätzlich sehr starre Eingrenzung des Feldes des »Politischen« in Frage stellen. Dass es gerade diese Grenzziehungen sind, die von besonderem Erkenntnisinteresse sein können, wird in theoretischen Überlegungen zur Erneuerung der Politikgeschichte immer wieder betont. In diesem Sinne schreibt Ute Frevert über die Aufgaben einer Neuen Politikgeschichte:

»[Es ist die Aufgabe der Neuen Politikgeschichte,] frühere Zeiträume unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, welche Vorstellungen des Politischen jeweils kursierten, welche Definitionskämpfe ausgefochten wurden, welche Verhaltensweisen als politisch wahrgenommen wurden und welche nicht. Vorstellungen, Kämpfe und Deutungen lassen sich dabei vorzugsweise in symbolischen Formen entziffern, in den Semantiken politischer Sprache und Rituale sowie in deren Wandel. Darin Machtbeziehungen zu entdecken, Ein- und Ausschlussregeln zu identifizieren, sie auf ihre sozialen Bezugspunkte zu untersuchen, zugleich und vor allem aber danach zu fragen, in welchen Medien und unter welchen Kommunikationsstrukturen Soziales, Ökonomisches, Religiöses, Kulturelles, Moralisches in Politisches transformiert wird und wie die Grenzen der Transformierbarkeit bestimmt werden – das sind Aufgaben für eine ›neue Politikgeschichte‹, die ihren Gegenstand nicht primär in einem ›Sachgebiet‹ findet, sondern in den Modalitäten und Mechanismen von Grenzziehungen.«4

Gerade für die Betrachtung des Trotzkismus ist dieses Vorgehen besonders hilfreich. Denn die TrotzkistInnen und ihre Organisationen wurden selten als vollwertige politische Alternative wahrgenommen. Sie wurden, aufgrund ihrer Ablehnung der Verfasstheit des Schweizer Staates gegenüber, als antidemokratisch und ihre politischen Vorstöße als ungültig bezeichnet. Sie fielen quasi links aus dem politischen Spektrum hinaus. Auch die Etablierung der Antiatombewegung Ende der 1950er-Jahre wurde von weiten Teilen der politischen Vertreter der Schweiz nicht als politische, sondern als staatsschützerische Herausforderung verstanden. Dass die Bewaffnung der Schweizer Armee demokratisch beantwortet werden sollte, löste heftige Reaktionen und Konflikte im Lager der AtomwaffenbefürworterInnen aus. Die Schweizer TrotzkistInnen waren hierbei aktiv an Verschiebungen von dem, was Gegenstand politischer Aushandlungsprozesse sein sollte und was nicht, beteiligt.

Doch auch wenn die trotzkistischen Organisationen selbst genauer betrachtet werden, können einige gewichtige Entwicklungen in der ArbeiterInnenbewegungsforschung und damit auch in der Forschung zu den entsprechenden Organisationen fruchtbar gemacht werden. In diesen neueren Ansätzen wird betont, dass eine politische Organisation, die von ihr hochgehaltene politische Ideologie sowie die in ihr organisierten Mitglieder und deren Praktiken nicht einfach deckungsgleich oder widerspruchsfrei sein müssen. Stattdessen sind die drei Ebenen auch drei verschiedene Elemente, die jeweils separat und in ihren Interaktionen in den Fokus der Analyse genommen werden sollten.5

Gerade bei kleinen Organisationen, die stark von einzelnen Personen geprägt waren, wie dies bei den Schweizer TrotzkistInnen der Fall ist, ist diese Perspektive hilfreich. Persönliche Entwicklungen, Streitigkeiten und zerbrochene Beziehungen konnten die politischen Organisationen grundlegend verändern. Andererseits prägte das politische Engagement die Lebensläufe der TrotzkistInnen, und ihre politischen Projekte sind in den Erinnerungen eng verwoben mit dem eigenen Leben.

In der Schweiz auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges war das politische Klima nicht nur von einer Vorstellung des Politischen als auf Parlament und Wahlen beschränkt verengt, sondern zudem durch den Kalten Krieg weiter versteift. Oder wie Peter Huber schreibt: »Die auf Antikommunismus umprogrammierte ›geistige Landesverteidigung‹ und die Rede vom ›Sonderfall Schweiz‹ schnürten das öffentlich Denk- und Sagbare ein.«6

Die Schweizer TrotzkistInnen waren von dieser Einschnürung besonders betroffen. Sie bewegten sich in ihrem politischen Denken, aber auch in ihren Interventionen oftmals außerhalb des als politisch Definierten, überschritten die Definition davon, was allgemein als denk- und sagbar galt, und halfen darüber hinaus dabei, die Grenzen des Sagbaren und die des Politischen herauszufordern, zu dehnen und teilweise neu zu ziehen.

Erstens taten sie dies auf einer inhaltlichen Ebene. Die Schweizer TrotzkistInnen waren international vernetzt und hatten Kontakte zur trotzkistischen Vierten Internationale, aber auch zur globalen Friedensbewegung, zu antikolonialen Befreiungsbewegungen und sogar zu Regierungsmitgliedern in Ländern wie Algerien oder Ghana. Innerhalb der Schweiz setzten sie Themen auf die politische Agenda, die vorher kaum Beachtung fanden (atomare Aufrüstung) oder nicht als Gegenstand der Aufmerksamkeit einer Schweizer Politik verstanden wurden (Algeriensolidarität). Sie leisteten darüber hinaus einige Vorarbeit, die in den Vietnamkriegsprotesten und schlussendlich in den Bewegungen rund um 1968 mündeten. Die TrotzkistInnen waren in vielen Fällen Mitglieder von Gewerkschaften, sie hatten enge Kontakte zur gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Linken und ein meist angespanntes Verhältnis zur »stalinistischen« oder »poststalinistischen« Linken in der Schweiz. Durch diese einzigartige Positionierung kam es immer wieder zu einem intensiven theoretischen, methodischen, aber auch ästhetischen Austausch zwischen den verschiedenen AkteurInnen, zwischen politischen Organisationen und zwischen sozialen Bewegungen. Über die TrotzkistInnen lassen sich Traditionen nachvollziehen, die das verbinden, was als »Neue« und »Alte« Linke oftmals als Gegensatz dargestellt wird. Gerade diese Verbindungen zwischen alter ArbeiterInnenbewegung und den neuen sozialen Bewegungen der ausgehenden 1960er-Jahre sind geprägt von einer Grenzverschiebung dessen, was zeitgenössisch als »politisch« im eigentlichen Sinne klassifiziert wurde, und was eben aus den Grenzen dieses »Politischen« herausfiel, was als gegenläufig, staatsgefährdend und aufrührerisch angesehen wurde.

Zweitens hielten sich die TrotzkistInnen der Nachkriegszeit selten an die oftmals physischen, mindestens aber geografischen, nationalstaatlichen Grenzen zwischen einzelnen Ländern. Im politischen und sozialen Kontext der Schweiz der 1950er- und 1960er-Jahre, der sehr stark vom Bezugsrahmen des Nationalstaates geprägt war, wurden politische Prozesse, die diesen Rahmen überwanden, anders wahrgenommen und mit besonderen Vorzeichen verhandelt. Das lässt sich beispielsweise an der permanenten Verknüpfung sozial- und gesellschaftskritischer Elemente mit dem »Ausland«, zumeist mit der Sowjetunion erkennen. Sei es die Kritik an der geplanten Beschaffung von Atombomben durch die Schweizer Armee oder die Skizzierung einer alternativen Vision der sozialstaatlichen Ausgestaltung in der Schweiz: Sofort wurde der Verdacht geäußert, dass Organisationen und Personen in Verbindung mit dem Ausland stünden beziehungsweise AgentInnen des Kommunismus seien. Sowohl die imaginierten als auch die tatsächlich reichlich vorhandenen transnationalen Aspekte der trotzkistischen Politik ermöglichen eine Untersuchung, die sich auf die internationalen Kontakte und auf grenzüberschreitende Debatten einlassen kann beziehungsweise auf diese ein besonderes Augenmerk legen sollte.

Und drittens kann auch dort, wo die Schweizer TrotzkistInnen nicht die Grenzen des Politischen erweiterten, sondern im Gegenteil in den vorhandenen Mustern und Rahmen politisierten, die Suche nach den Vorstellungen des Politischen und nach dessen Transformierbarkeit den Blick auf zentrale Aspekte lenken.

Gerade wenn man die geschlechtergeschichtliche Dimension einer Geschichte des Trotzkismus anschaut, wird dies besonders offensichtlich. Die trotzkistischen Organisationen waren von Männern dominiert. Es gab zwar einige wenige Frauen, die sich in diesen Organisationen politisch engagierten, und die TrotzkistInnen erwähnten an verschiedenen Stellen, dass die politische Teilhabe der Frauen und das Bürgerrecht grundlegende Voraussetzungen seien für einen emanzipatorischen Kampf. Und trotzdem tauchen Frauen in den schriftlichen Quellen fast nicht auf. In den trotzkistischen Organisationen redeten Männer mit Männern. Hier stellt sich die Frage nach dem Warum. Warum sind Frauenrechte, warum sind feministische Anliegen für eine solche linke Organisation nur peripher und maximal theoretisch von Bedeutung, und dies in einer Zeit, in der die bürgerliche Stimmrechtsbewegung ein beträchtliches mediales Echo auslösen konnte? Wie ist es möglich, dass Menschen, die sich für eine sozialistische Revolution und für die Überwindung der bürgerlichen Ordnung einsetzen, gleichzeitig sehr »bürgerliche« Beziehungsmodelle pflegen, die Rollenaufteilung klar erscheint und die Frauen in der Bewegung in erster Linie reproduktive oder repräsentative Funktionen innehaben? Wie gingen die Frauen selbst mit diesen Widersprüchen um und was hatten diese mit der weiteren Entwicklung der Organisation zu tun?

Die Abgrenzungspraktiken von »Politischem« und »Privatem« rücken hier ins Blickfeld. Was mit der neuen Frauenbewegung ab den 1970er-Jahren unter dem Slogan »Das Private ist politisch« propagiert wurde, war in den 1950er- und auch in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre noch weit weg von einer gesellschaftlichen Realität. Geschlechterbeziehungen, Lebensformen und Geschlechterverhältnisse hatten außerhalb eines sehr engen Verständnisses von Politik nur eine periphere politische Bedeutung, und das bis weit in die sogenannte »radikale« Linke hinein.

Die vorliegende Untersuchung möchte die trotzkistischen Organisationen also nicht als isoliertes Phänomen in den Blick nehmen. Viele der bisherigen Untersuchungen zu trotzkistischen Organisationen oder ganzen »Trotzkismen« einzelner Länder vermögen dies nur sehr bedingt zu leisten. Gesellschaftliche Veränderungen, weltpolitische Großlagen oder auch das soziale Klima kommen oftmals nur dann zur Sprache, wenn sie die Diskussionen in und um die trotzkistischen Organisationen unmittelbar betrafen. Ansonsten bleiben die historiografischen Erkenntnisse darauf beschränkt, wer sich mit wem verstritten hat und welche Fraktionen wann ihre Abspaltung von einer trotzkistischen Strömung bekanntgegeben haben. Nur beschränkt wird versucht, solche auf den ersten Blick partei- oder organisationspolitischen Dynamiken mit gesellschaftlichen Prozessen in Verbindung zu setzen.7

Die Geschichte des Schweizer Trotzkismus zwischen 1945 und 1968 muss im größeren Kontext der Schweiz im Kalten Krieg untersucht werden. Thomas Buomberger schreibt, die Quintessenz der Schweiz im Kalten Krieg suchend:

»Die Schweiz ist seit über 200 Jahren von einem heissen Krieg verschont geblieben. Nicht so vom Kalten Krieg: Die Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, war in der Schweiz kälter als anderswo. Die Kälte spürten insbesondere Linke, am meisten die Kommunisten. Wer sich als Kommunist zu erkennen gab, befand sich ab 1945 ausserhalb der politischen Gemeinschaft, wurde geächtet, überwacht und ausgegrenzt. Der Kommunismus war unschweizerisch, der Antikommunismus war identitätsstiftend und generierte einen helvetischen Konformismus.«8

Der Antikommunismus des Kalten Kriegs war nicht einfach nur Einbildung oder eine Vorstellung, die im Begriff des »Kalten Krieges« schon ein Stück weit eingeschrieben ist, sondern prägte als Idee und Imagination ganz konkret die gesellschaftliche und politische Realität der Schweiz mit. Oder mit den Worten von David Eugster und Sibylle Marti gesprochen:

»Eine Untersuchung des Kalten Krieges als Epoche, die stark vom Imaginären mitgeprägt wurde, trägt der Tatsache Rechnung, dass die Blocksituation des Kalten Krieges als dichotome Spaltung der Welt in sämtliche Bereiche der Gesellschaft eindrang und einen zentralen Referenzpunkt selbst in davon abgekoppelten Debatten darstellte.«9

Die politischen Positionen, Vorstellungen und Projekte der TrotzkistInnen waren vor diesem Hintergrund zum einen immer selbst von der dichotomen Spaltung der Welt geprägt. Die TrotzkistInnen verorteten sich bewusst in der Blocksituation des Kalten Kriegs und die weltpolitischen Auseinandersetzungen stellten durchgehend einen zentralen Referenzpunkt dar. Zum anderen aber kontestierten die politischen Ideen der Schweizer TrotzkistInnen auch das eng umrissene »Denk- und Sagbare«, das, was öffentlich als legitim zum Ausdruck gebracht werden konnte, und – ganz wichtig – forderten in verschiedener Hinsicht das Denken in zwei ideologisch antagonistischen Blöcken heraus.

Auch die SPS hielt sich großmehrheitlich innerhalb der eng gesteckten Grenzen eines helvetischen antikommunistischen Konsenses auf. Ihre politische Positionierung während des Kalten Kriegs ist hiervon geprägt, wie Peter Huber feststellt: »Wegen ihrer marxistischen Ursprünge wurde die SPS von bürgerlicher Seite immer wieder in die Nähe des Sowjetkommunismus gerückt; die SPS trat die Flucht nach vorne an und antwortete mit einem eigenen, virulenten Antikommunismus, um ihre Staatsverträglichkeit unter Beweis zu stellen.«10 Hier tut sich eine zentrale Bruchlinie zwischen der Sozialdemokratie und dem Trotzkismus auf, welche die politischen Projekte der Schweizer TrotzkistInnen maßgeblich prägte.

Neben dem dominanten Antikommunismus beeinflusste der Kalte Krieg noch auf andere Weise die politischen Projekte der TrotzkistInnen. Und zwar veränderte der wirtschaftliche Aufschwung und die Fixierung einer Nachkriegsordnung die organisierte ArbeiterInnenbewegung in Europa drastisch. Diese Bewegung aber war die zentrale Adressatin der Politik der TrotzkistInnen, die weiterhin stark auf die ArbeiterInnenklasse und deren Rolle im Produktionsprozess fokussierten. Der politisch den sozialistischen Ideen am nächsten stehende Teil der ArbeiterInnenklasse begann nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Phase des Niedergangs einzutreten. Pierre Frank schrieb hierzu bereits 1974 in seiner »Geschichte der IV. Internationale«:

»In dieser Konjunktur ohnegleichen stagnierte die europäische Arbeiterbewegung, die am längsten organisiert war und alte marxistische Traditionen besass. Sie machte politisch sogar ausgesprochene Rückschritte: die sozialdemokratischen Parteien neigten dazu, sich formal selbst vom Sozialismus loszusagen und zu ›Volksparteien‹ zu werden, die kommunistischen Parteien ›wurden sozialdemokratisch‹, die linken Tendenzen der Sozialdemokratie zerfielen, und die revolutionären Avantgarden schrumpften auf ein Minimum zusammen. Die in Europa entstandene und über hundert Jahre alte sozialistische Bewegung war mit der Perspektive einer sozialistischen Revolution in Europa geschaffen worden, die der ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der anderen Weltteile vorangehen sollte; aber dieser alten Vorstellung entsprach sie nicht mehr.«11

Damit stoßen wir noch auf einen letzten Punkt, der für eine Untersuchung des Trotzkismus im Kalten Krieg unbedingt in Betracht gezogen werden muss. Die TrotzkistInnen dachten, schrieben, handelten und kämpften so, als ob sie die Partei einer zukünftigen sozialistischen Revolution seien. Sie organisierten sich in der Vierten Internationale, die während Jahrzehnten den Anspruch vertrat, Partei der Weltrevolution zu sein. Gleichzeitig waren die TrotzkistInnen in vielen Ländern, so auch in der Schweiz, eine verglichen mit diesem Anspruch äußerst schwache Kraft. Der eigene Anspruch korrelierte kaum mit den tatsächlichen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Dieser Widerspruch wirkte auf vielfältige Weise in die trotzkistische Bewegung zurück. Und dieser Widerspruch ist, das bleibt zu zeigen, ein zentraler Auslöser der Auflösungsprozesse im Schweizer Trotzkismus der 1960er-Jahre.

In jener Zeit kam es zu grundlegenden Neuformierungsprozessen in der politischen Linken. Für diese Prozesse waren die TrotzkistInnen nicht unerheblich, und gerade die von ihnen geprägten Projekte wie die Algeriensolidarität oder die Antiatombewegung trugen zur Transformation bei. Allerdings lösten sich in diesem Zuge auch die Organisationen der TrotzkistInnen auf, wobei einzelne Personen als zentrale AkteurInnen in den Bewegungen weiter wirkten und so die Entstehung einer »Neuen Linken« ebenfalls mitprägten.

Der Trotzkismus sollte ab den 1970er-Jahren in eine neue Phase des Wachstums eintreten. Die in der Westschweiz entstandene RML knüpfte an alte trotzkistische Traditionen an, rekrutierte sich aber vor allem aus der 68er-Bewegung. Einige ehemalige TrotzkistInnen von vor 1968 fanden in der RML dennoch eine neue politische Heimat. Die RML wurde innerhalb weniger Jahre zu einer der stärksten linksradikalen Kräfte in der Schweiz im 20. Jahrhundert und trug schließlich mit ihrem langsamen Aufgehen in ökologische Initiativen in den 1980er-Jahren maßgeblich zur Institutionalisierung der linksalternativen Bewegung bei. Sie trug einige der grundlegenden politischen Prämissen des Trotzkismus, offensichtlich weiterhin der lange gepflegten Skepsis der SPS gegenüber verpflichtet, in die Grüne Partei der Schweiz sowie in die Gewerkschaftsapparate und verhalf beiden zu einer Generation theoretisch hervorragend geschulter, effizienter und politisch vernetzter FunktionärInnen. Und mit ihnen kamen auch linke Anliegen, die bis in die Nachkriegszeit zurückreichen und damals von den TrotzkistInnen aufgebracht wurden, wieder in Berührung mit der erstarkenden ökologischen Bewegung und einer sich transformierenden Gewerkschaftsbewegung der 1990er-Jahre.

1.3Was ist Trotzkismus und was sind TrotzkistInnen?

Bereits in den ersten Seiten dieser Einleitung und im Titel dieser Arbeit fällt mit dem »Trotzkismus« ein zentraler Begriff, den es an dieser Stelle sowohl als politisch-analytische Kategorie als auch als Quellenbegriff kurz zu beleuchten gilt.

Namensgeber des Trotzkismus ist der russische Politiker, Revolutionär und spätere Gründer der Roten Armee, Leo Trotzki. Während der Begriff »Trotzkist« zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine spezifische Position Trotzkis und einer Gruppe seiner engen AnhängerInnen in den Auseinandersetzungen in der russischen Linken bezeichnete, wandelte sich seine Bedeutung ab 1923 hin zu einer politischen Diffamierung, die von Joseph Stalin und seinen Verbündeten verwendet wurde, um divergierende politische Positionen in der jungen Sowjetunion zu verunglimpfen. Ab 1926 benutzte Stalin den Begriff, um die innerparteiliche Opposition rund um Leo Trotzki zu bezeichnen.12

1929 musste Trotzki nach einem Machtkampf mit Stalin, der nach dem Tod Lenins ausgebrochen war, aus der Sowjetunion fliehen. Er blieb allerdings politisch aktiv und versuchte international, seine AnhängerInnen zu mobilisieren. Kulminiert wurden diese Bemühungen in der Gründung der Vierten Internationale 1938, die eine Alternative zur 1919 als kommunistische Weltpartei gegründeten Dritten Internationale (Komintern) darstellen sollte.13

Ab diesem Zeitpunkt wurde das Wort »Trotzkist« von den damit bezeichneten Personen teilweise angeeignet und hin und wieder zur Selbstbezeichnung benutzt. Betont wurde mit der eigenen Verwendung des Begriffs insbesondere eine politische Differenz zu Stalin und seiner Herrschaft in der Sowjetunion. Dem Sozialismus in einem Land wurde die Notwendigkeit der Weltrevolution gegenübergestellt, dem sowjetischen Nationalismus einen besonderen Fokus auf den Internationalismus. Damit gab es vor dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich zwei verschiedene Kontexte, in denen der Begriff Anwendung fand. Einer davon war zur Diffamierung eines politischen Gegners, ein anderer zur Bezeichnung eines politischen Dissens zu den Entwicklungen in der Sowjetunion ab 1924.14

Um in der Sowjetunion oder in den Kommunistischen Parteien Westeuropas in den 1930er-Jahren als »Trotzkist« zu gelten, musste man gar nicht zwangsläufig die Schriften Trotzkis gelesen haben oder sich darauf beziehen.15 Vom später führenden britischen Trotzkisten Gerry Healy ist folgende Auseinandersetzung kurz vor seinem Ausschluss aus der Kommunistischen Partei 1937 überliefert: »›[…] Pollitt told me to see William Joss of the control commission [of the Communist Party] who said: ›These are Trotskyite questions.‹ I replied that I had never read a word of Trotsky in my life. Joss said: ›If you persist with them you will be expelled‹.«16

Andererseits wurde der Begriff des Trotzkismus nur teilweise zur Selbstbezeichnung übernommen. Manuel Kellner, der mit seinem Werk »Trotzkismus. Eine Einführung in seine Grundlagen – Fragen nach seiner Zukunft« eine der wenigen konzisen Überblicksdarstellungen über Geschichte und »Wesen« des Trotzkismus geschrieben hat, verweist gleich zu Beginn seiner Einleitung auf den wichtigen marxistischen Theoretiker Ernest Mandel, der jahrelanges Führungsmitglied der Vierten Internationale war, dem das Attribut »trotzkistisch« aber nie gefallen habe und der stattdessen die Bezeichnung »revolutionärer Marxist« bevorzugt habe.17

In den Eigennamen von als »trotzkistisch« einzuordnenden Organisationen taucht das »trotzkistisch« praktisch nie auf. Viel eher wurden Doppelbegriffe wie »revolutionäre Marxisten«, »internationale Kommunisten«, oder »bolschewistisch-leninistisch«, der von der sowjetischen Opposition ab 1926 herrührt, zur Eigenbezeichnung bevorzugt.18

Ein weiterer wichtiger, als trotzkistisch geltender Theoretiker, Daniel Bensaïd, schrieb 2002, dass man in Anbetracht der großen Spannbreite trotzkistischer Organisationen nicht mehr vom Trotzkismus im Singular schreiben könne, wenn man ein politisches Spektrum eingrenzen möchte:

»Trotzkismus im Singular verweist auf einen gemeinsamen historischen Ursprung, doch wirkt das Wort heute relativ abgenutzt. Trotz des Bezugs auf die programmatischen Grundlagen, die Trotzki in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ausgearbeitet hatte, haben die einschneidenden Ereignisse des Jahrhunderts zu Differenzierungen geführt, so dass man unterschiedliche, aus dem ›Trotzkismus‹ hervorgegangene Strömungen unterscheiden kann, deren Unterschiede manchmal größer sind als ihre Gemeinsamkeiten. Bei der Erbschaft ist die Pietät der Erben nicht immer die beste Garantie für ihre Treue und häufig gibt es in der kritischen Untreue eigentlich eine größere Treue als in der dogmatischen Bigotterie. Es ist somit realitätsnäher, von den trotzkistischen Strömungen und weniger vom Trotzkismus im Singular zu sprechen.«19

Verschiedene der trotzkistischen Strömungen beanspruchen bis heute, den »echten« Trotzkismus zu verkörpern, und die Diskussionen, welche inhaltlichen und theoretischen Positionen nun den »Trotzkismus« ausmachen und welche als »revisionistisch« zu gelten haben, halten seit Jahrzehnten an. So gibt es beispielsweise eine in den 1970er- und 1980er-Jahren erschienene, siebenbändige Briefsammlung der British Socialist Labour League (SLL) zur Spaltung der Vierten Internationale von 1953 und deren jahrzehntelangen Konsequenzen. Diese trägt schon im Titel, dass es immer auch um Abgrenzung von konkurrierenden Positionen geht, wenn der Begriff des Trotzkismus beansprucht wird. Die Sammlung läuft unter »Trotskyism vs. Revisionism«.20

Ein anderes Beispiel: Die führende Persönlichkeit der Socialist Equality Party in the United States, David North, definiert den Begriff des Trotzkismus in seiner hagiografisch veranlagten Biografie des britischen Trotzkisten Gerry Healy von 1992 gar nicht erst. Er wird von Beginn weg vorausgesetzt. Allerdings spricht North an verschiedenen Stellen positiv vom »orthodoxen Trotzkismus«.21

Wenn es einen orthodoxen Trotzkismus gibt, muss es zwangsläufig auch einen revisionistischen oder paradoxen Trotzkismus geben. Angesichts dieser Begrifflichkeiten wird deutlich, dass zwischen den trotzkistischen Strömungen offensichtlich ganz ähnliche Diskussionen stattfanden und heute immer noch stattfinden, wie sie in der sozialistischen Linken während des gesamten 20. Jahrhunderts zu finden waren. Es sind dies die Diskussionen um einen »Revisionismus« einer vormalig quasi reinen Lehre, die sich seit 1896, ausgehend von Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie, durch die Geschichte des Marxismus ziehen.22

In der Untersuchungsperiode der vorliegenden Arbeit gestaltet sich die Ausgangslage allerdings noch etwas anders. Die hier ins Zentrum gerückte Geschichte des Schweizer Trotzkismus setzt während des Zweiten Weltkriegs ein. Wenn sich auch die »Stammbäume« der trotzkistischen Strömungen im Verlaufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts je länger, desto mehr zu verästeln beginnen, so zeigt sich die Situation unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch bedeutend weniger verworren. Trotzki war 1940 ermordet worden, und auch wenn es bereits unter seiner Führung zu heftigen Streitigkeiten über die politische Ausrichtung, zu Ausschlüssen von Sektionen und zu Spaltungen gekommen war, so war Trotzki doch eine relativ unumstrittene Führungsfigur und die Vierte Internationale die zentrale Bezugsgröße seiner AnhängerInnen.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sammelten sich die trotzkistischen Organisationen unter dem Banner dieser Internationale. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Bewegung auch ohne ihren verstorbenen Namensgeber an einem gemeinsamen politischen Projekt festhalten wollte. Zwar waren heftige Unstimmigkeiten über gewählte Strategien und Taktiken der Bewegung bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich spürbar, allerdings kam es bis 1951 zu keinen Spaltungen und erst 1953 zur Existenz von zwei konkurrierenden Vierten Internationalen. Von 1953 bis heute haben immer mindestens zwei internationale Organisationen für sich beansprucht, die Ideen Leo Trotzkis zu repräsentieren und die wahren Nachfolger der von Trotzki maßgeblich geprägten ursprünglichen Vierten Internationale von 1938 zu sein.23

Es lassen sich für die unmittelbare Nachkriegszeit bis in die 1960er-Jahre hinein dennoch einige Merkmale des Trotzkismus benennen, die ihn in ihrer Kombination von anderen sozialistischen oder anarchistischen Strömungen und auch vom Linkssozialismus unterscheidbar machen und somit einen Analysebegriff definieren können.24 Teilweise sind diese Merkmale auch auf die trotzkistischen Strömungen ab den 1970er-Jahren anwendbar. Andere dieser Merkmale werden später nicht mehr von allen in trotzkistischer Tradition stehenden Organisationen so vertreten.

Erstens sahen sich trotzkistische Organisationen und die TrotzkistInnen als Einzelpersonen in irgendeiner Weise mit der Vierten Internationale verbunden. Auch nach der Spaltung von 1953, die später in dieser Arbeit noch ausführlich behandelt wird, beanspruchten beide entstandenen Teile der Vierten Internationale die wahre Vierte Internationale zu sein. Damit einher ging eine intensive theoretische Orientierung an Leo Trotzki und seinen Schriften, die neben den marxistischen Klassikern von Marx, Engels und weiteren einen sehr prominenten Platz in den strategischen und taktischen Diskussionen und den politischen Analysen einnahmen.

Zweitens sahen sich die TrotzkistInnen der Nachkriegszeit in der Tradition der zentralen Figuren der Oktoberrevolution und als HüterInnen der Errungenschaften derselben sowie der kommunistischen Ideale. »Wer das Wesen des trotzkistischen Segments innerhalb der radikalen Linken verstehen will, muss dessen Selbstverständnis als authentische Fortsetzung des Bolschewismus der russischen Revolutionsperiode und der Kommunistischen Internationale in den ersten Jahren ihrer Existenz ernst nehmen«, schreibt Peter Brandt in seiner kurzen Überblicksdarstellung über den Trotzkismus in Deutschland.25

Drittens sah die trotzkistische Bewegung in keinem der real existierenden sozialistischen Länder die eigene politische Vision verwirklicht. Die trotzkistische Bewegung lehnte es damit ab, Verantwortung für einen existierenden Staat und dessen Taten oder dessen Ausgestaltung zu übernehmen. Gerade die Opposition Trotzkis gegenüber der Politik Stalins und die spätere Kritik an der Sowjetunion und ihrem Staatsapparat entband die TrotzkistInnen davon, die brutalen Konsequenzen des Stalinismus erklären oder rechtfertigen zu müssen.26

Im Gegenzug hatten die TrotzkistInnen damit auch keine Erfolge im größeren Sinne vorzuweisen und ihre Behauptung, dass eine Revolution unter Führung trotzkistischer Organisationen einen anderen Ausgang nehmen würde, musste zwangsläufig eine hypothetische sein. Gerade ihr positiver Bezug auf die Oktoberrevolution und die Anfänge der Sowjetunion ließ in der Perspektive anarchistischer und sozialdemokratischer Organisationen nicht immer klar werden, wie konkret eine trotzkistische Alternative zur sozialistischen Realität in der Sowjetunion ausgesehen hätte. Eine Leserin des britischen, von TrotzkistInnen beeinflussten Zeitungsprojekts »The Newsletter«27 schrieb in Bezug auf eine ihrer Meinung nach beschönigende Lesart der Ereignisse nach der Oktoberrevolution: »Trotskyism as a myth, or system of myths, is no more than unsuccessful Stalinism – Stalinism without the Sputnik.«28

Viertens ist der starke internationale Fokus der trotzkistischen Programme zu nennen. Im Urkonflikt zwischen Stalin und Trotzki rund um die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in nur einem Land angelegt, manifestierte sich der internationalistische Aspekt trotzkistischer Politik auch Jahrzehnte später. TrotzkistInnen dachten, organisierten und kämpften, gerade im Vergleich zu anderen politischen Strömungen der Linken, mit einem besonderen Fokus auf den Internationalismus. Dazu gehörte auch das Pflegen eines mehr oder weniger dominanten internationalen Netzwerks und einer relativ gut organisierten internationalen Organisation, wie sie die Vierte Internationale darstellte.29

Besonders die strategischen Auseinandersetzungen innerhalb des Trotzkismus wurden in erster Linie anhand weltpolitischer Themen geführt. Die Frage nach dem Charakter der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, den Möglichkeiten eines Dritten Weltkriegs oder die Unterstützung von antikolonialen Befreiungsbewegungen waren Themen, die zu den heftigsten Diskussionen und teilweise auch zu Spaltungen und Neuformationen innerhalb des trotzkistischen Spektrums geführt haben. Auch für die Entwicklung der Schweizer Organisationen waren die international geführten Auseinandersetzungen entscheidend.30

Fünftens erachteten die TrotzkistInnen die sozialdemokratischen Parteien grundsätzlich als korrumpiert und nicht mehr in der Lage, den Kampf der ArbeiterInnenklasse anzuführen. Das bedeutete nicht, dass sie in keinem Fall in oder mit sozialdemokratischen Organisationen arbeiteten. Etwas anders stellt sich das Verhältnis zu den kommunistischen Parteien dar. Hier wurde intensiv diskutiert und die Spaltung von 1953 fußte maßgeblich auf der Frage, inwiefern ein Eintritt in die kommunistischen Parteien und die Bildung eines linken Flügels in diesen eine sinnvolle Strategie sein könnte.31

Mit diesen fünf Charakteristika ist die trotzkistische Bewegung natürlich nicht abschließend definiert. Sie helfen aber dabei, das zu fassen, was auf den folgenden Seiten dieser Arbeit behandelt werden soll. Gleichzeitig ist »Trotzkismus« im vorliegenden Fall nicht einfach eine analytische, nachträglich den Organisationen und Personen zugeschriebene Kategorie, sondern taucht auch als Quellenbegriff auf und wird als solcher von unterschiedlichen AkteurInnen verwendet.

Die Schweizerische Bundespolizei hatte in längeren Hintergrundberichten die politischen Eigenheiten des Trotzkismus herausgearbeitet und sprach in ihren Berichten von der »Trotzkistenbewegung«.32 Jost von Steiger, eine der führenden Personen des Schweizer Trotzkismus der Nachkriegszeit, sprach über die Marxistische Aktion der Schweiz (MAS) als die »Schweizer Trotzkistengruppe«33 und ein ostdeutscher Stasi-Agent in den Reihen der Vierten Internationale lieferte »Berichte zu den Trotzkisten« nach Ostdeutschland.34

In anderen Kontexten, etwa den politisch etwas breiter angelegten, aber dennoch von den trotzkistischen Kreisen geprägten Organisationen, auf die im Verlaufe dieser Arbeit noch spezifischer eingegangen wird, wurde auf Attribute wie »Trotzkismus« wenn möglich verzichtet. Auch in der Zeitung der TrotzkistInnen in der Schweiz, dem »Arbeiterwort«, wurde höchst selten vom »Trotzkismus« gesprochen. Dennoch sind keine größeren Auseinandersetzungen oder gar Abwehrreaktionen gegenüber dem Begriff auszumachen und die Verbindung zur Vierten Internationale wurde sowohl in den Organisationen als auch in der Zeitung gegen außen betont.35

Damit ist der Begriff – in seiner historischen Verwendung im hier untersuchten Zeitrahmen – relativ unumstritten. Er wird von politischen Gegnern und Verbündeten verwendet und auch von den mit dem Begriff Bezeichneten nicht abgelehnt. Es wissen die in der politischen Linken aktiven Personen, wer die »Trotzkisten« sind, und diese selbst heben an verschiedenen Stellen ihren theoretischen Trotzki-Bezug hervor. In diesem Sinne wird auf den kommenden Seiten mit dem Begriff gearbeitet.

1.4Die Schweizer TrotzkistInnen erforschen

1.4.1Zur bisherigen Forschung

Ein zentrales Element des Trotzkismus war seit seiner Entstehung seine stark internationale Ausrichtung. Es existieren verschiedene Untersuchungen, die den Trotzkismus in seiner transnationalen Dimension in den Blick nehmen oder die Vierte Internationale ins Zentrum des Interesses stellen sowie die Geschichte des Trotzkismus mit Fragen zu seiner Gegenwart und seinen theoretischen Grundlagen verknüpfen. Besonders hervorzuheben ist hierbei die extensive Überblicksdarstellung zum internationalen Trotzkismus von Robert J. Alexander. Aus diesem Werk stammt auch die einzige epochenübergreifende englischsprachige Überblicksdarstellung zum Trotzkismus in der Schweiz.36

Zu verschiedenen nationalen trotzkistischen Strömungen existiert ebenfalls bereits eine solide Forschungsgrundlage. Oftmals geprägt von Personen, die selbst innerhalb der trotzkistischen Bewegung aktiv waren und teilweise immer noch sind, sind zu unterschiedlichen Strömungen sowie zu thematischen Schwerpunkten wie der trotzkistischen Unterstützung für den antikolonialen Kampf, den Revolutionen der 1940er- und 1950er-Jahre oder dem trotzkistischen antifaschistischen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs Forschungsarbeiten entstanden.37

Zu führenden Persönlichkeiten der trotzkistischen Bewegung nach dem Tod von Leo Trotzki existieren verschiedene biografische Arbeiten. Besonders hervorzuheben ist hierbei die Biografie zu Ernest Mandel, verfasst von Jan Willem Stutje.38

Die Konfliktlinien des internationalen Trotzkismus und seiner nationalen Sektionen wiederum verliefen zumeist entlang weltpolitischer Auseinandersetzungen und Fragestellungen – sei es um die »richtige« Einschätzung der (post-)stalinistischen Sowjetunion39 oder sei es um die Befürwortung oder Ablehnung von Titos Alleingang in Jugoslawien,40 die jeweils eigene Aufmerksamkeit in der Erforschung des Trotzkismus erfahren haben.

Die Geschichte des Trotzkismus spezifisch in der Schweiz ist für gewisse Phasen seiner Existenz bereits relativ gut erforscht. Die Anfänge der trotzkistischen Bewegung in der Schweiz von 1930 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sind durch David Vogelsanger in seiner 1986 publizierten Dissertation »Trotzkismus in der Schweiz. Ein Beitrag zur Geschichte der Schweizer Arbeiterbewegung bis zum Zweiten Weltkrieg« sowie in der dieser zugrunde liegenden Lizenziatsarbeit untersucht worden.41

Vogelsanger zeichnet die Entwicklung des Trotzkismus in der Schweiz von seiner Organisierung als Linke Opposition der Kommunistischen Partei der Schweiz von 1930 bis 1933 hin zur eigenständigen Organisierung im Rahmen der Marxistischen Aktion der Schweiz (MAS) ab 1933 bis 1939 nach. Weiter liefert er eine Überblicksdarstellung des Schweizer Trotzkismus im Zweiten Weltkrieg sowie eine grobe Skizze der Entwicklungen von 1944 bis 1985. Vogelsanger betont, dass die Entwicklung des Schweizer Trotzkismus immer parallel zu den internationalen Entwicklungen des Trotzkismus und der Auseinandersetzungen mit dem Stalinismus verlief. Seine Untersuchung basiert zum einen auf schriftlichen Quellen zur MAS, zum anderen auf Gesprächen und Interviews mit damals noch lebenden ZeitzeugInnen, die in den schriftlichen Quellen Verborgenes zutage fördern konnten. Ein Teil dieser Gespräche liegt transkribiert im Schweizerischen Sozialarchiv und konnte für die vorliegende Arbeit ebenfalls konsultiert werden.42

Neben Vogelsanger hat auch Michael Rüegg den Trotzkismus der 1930er-Jahre besonders in den Fokus gerückt.43 Die Forschung zum Trotzkismus der Zwischenkriegszeit zeigt, dass der Schweizer Trotzkismus in europäischer Perspektive gewissermaßen ein Nachzügler war. Erst im Jahr 1933 wurde eine erste formelle Organisation unter dem Namen Marxistische Aktion der Schweiz (MAS) gegründet. Diese sollte laut ihrem Programm organisatorisch sowohl von der SPS als auch von der KPS unabhängig sein, aber angesichts der faschistischen Bedrohung eine möglichst breite Einheitsfront gegen den Faschismus anstreben. Die MAS hatte bis ins Jahr 1939 Bestand. Danach zerfiel die Organisation. Dies hatte mehrere Gründe. Einerseits hatten sich alle Hoffnungen der TrotzkistInnen, das Weltgeschehen könnte sich zu ihren Gunsten entwickeln, mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus einerseits und dem einen neuen Höhepunkt erreichenden stalinistischen Staatsterror in der Sowjetunion andererseits zerschlagen. Zudem gab die ArbeiterInnenbewegung in der Schweiz ihren Widerstand gegen das Bürgertum je länger, je mehr auf. Als Ecksteine dieser »Kapitulation« aus Sicht der TrotzkistInnen sind das Bekenntnis der SPS und der KPS zur Landesverteidigung 1935 und 1936 sowie das Friedensabkommen in der Metallindustrie 1937 zu nennen.44

1944 wurde die MAS von ehemaligen Mitgliedern erneut gegründet. Die Neuorganisation der Schweizer TrotzkistInnen nach dem Zweiten Weltkrieg hat Jean-François Marquis mit seiner Studie zur Proletarischen Aktion für die Zeit von 1945 bis 1949 intensiv bearbeitet.45

Jean-François Marquis zeichnet in dieser 1983 verfassten Lizenziatsarbeit die inhaltlichen Debatten nach, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg zur Neugründung der trotzkistischen Organisationen MAS und anschließend der Proletarischen Aktion (PA) führten. Gestützt auf das Organisationsarchiv beschäftigt sich Marquis mit den Organisationsstrukturen und dem Funktionieren der PA. Er analysiert die verschiedenen Städte-Sektionen hinsichtlich der gewerkschaftlichen Organisierung und ihren Bezug auf Parteien und Organisationen. Und er beschäftigt sich mit dem Programm und den Analysen der Zeit zwischen 1945 und 1949.

Für die Zeit zwischen 1949 und der Gründung der Revolutionären Marxistischen Liga (RML/LMR) 1969 sind nur grobe Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Schweizer Trotzkismus vorhanden, die sich nur teilweise auf Quellenmaterial stützen.46

Damit sind die Jahre nach 1949 bislang nur ungenügend erforscht. Aus der MAS ging 1951 die Sozialistische Arbeiterkonferenz (SAK) hervor, welche den Grundstein zu einer neuen Arbeiterpartei darstellen sollte und sich als Sammlungsbewegung einer dissidenten Linken jenseits von SPS und PdA verstand. Die 1953 in Sozialistischer Arbeiterbund (SAB) umbenannte Organisation hielt sich bis in die 1960er-Jahre. Beide Organisationen waren zwar nicht Teil der Vierten Internationale, waren aber maßgeblich durch TrotzkistInnen geprägt.47

Für die Periode zwischen 1969 und den 1980er-Jahren liegt mit Benoît Challands Darstellung der RML und ihrer Nachfolgeorganisation Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) für die Westschweiz eine intensive Bearbeitung vor.48 Für den deutschsprachigen Teil der Schweiz liefert Frank Nitzsche eine Darstellung der politischen und organisatorischen Entwicklungen mit einem Fokus auf den Bezug der trotzkistischen Bewegung zur Neuen Linken.49

Mit den ab 1968 eine neue Qualität annehmenden Studierendenprotesten veränderte sich das politische Klima in der Schweiz, und die vorgängig relativ stabilen politischen Konstellationen brachen auf. Die TrotzkistInnen konnten, neben maoistischen Organisationen, die verhaltene Reaktion der PdA auf die Unruhen nutzen und einen gewissen Einfluss insbesondere in deren Jugendorganisationen erlangen. Daraus erklärt sich auch, wieso die Zeit nach 1968 hinsichtlich der Tätigkeiten trotzkistischer Organisationen bereits umfassender untersucht wurde. Ausgehend von der Westschweiz formierte sich die trotzkistische Bewegung in der Schweiz ab 1969 neu. Gezielt suchte die neu gegründete RML den Kontakt in die Deutschschweiz und konnte in den folgenden Jahren Berner, Basler und Zürcher Sektionen mit beträchtlicher Stärke aufbauen. Die RML und ihre prägende Figur, Charles-André Udry, hatten enge Kontakte zum Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale. Die Mitgliederzahlen der RML lagen während der 1970er-Jahre zwischen 300 und 400 Personen. Dazu kam ein enger SympathisantInnenkreis, der die unmittelbare Reichweite der Organisation auf bis zu 1200 Personen erhöhte.50

Seit 2018 liegen zur RML die Resultate eines von ehemaligen Mitgliedern initiierten ZeitzeugInnenprojekts vor. Über 100 ehemalige AktivistInnen haben mittels schriftlicher Fragebögen Beiträge und Reflexionen zu ihrer Zeit in der Organisation und ihrer politischen Entwicklung verfasst. Eine Synthese der Resultate wurde von Jacqueline Heinen erarbeitet und auf Französisch sowie auf Deutsch veröffentlicht.51 Die Studie bietet eine fruchtbare Grundlage für weitere Untersuchungen zur RML, weist allerdings einige methodische Mängel bezüglich der Konzeption der Fragebögen auf.52

Zur Geschichte der Schweizer TrotzkistInnen im Kontext des Kalten Kriegs ist 2018 bereits ein Sammelband erschienen, der im Rahmen einer universitären Lehrveranstaltung an der Universität Zürich entstanden ist, die ich selbst begleitet und unterstützt habe. Die aus studentischen Arbeiten hervorgegangenen Aufsätze liefern in verschiedener Hinsicht neue Erkenntnisse zum Wirken, Denken und Handeln der Schweizer TrotzkistInnen im Kalten Krieg und basieren auf den Archivbeständen zu einzelnen Schweizer Trotzkisten.53

Auf die im von Gleb Albert, Monika Dommann und mir herausgegebenen Aether-Band54 publizierten Forschungsresultate und erste Ordnungen der umfassenden Quellenbestände konnte ich für die vorliegende Arbeit zurückgreifen. Einige der Kapitel dieser Dissertation bauen damit auf den Erkenntnissen aus den Aether-Aufsätzen auf. Unter anderem wird von den AutorInnen der Aufsätze hervorgehoben, dass sich ExponentInnen des Trotzkismus auch als politische AktivistInnen jenseits des europäischen Rahmens hervortaten und in transnationalen Netzwerken wichtige Rollen einnehmen konnten. So übten europäische TrotzkistInnen praktische Solidarität bereits im Indochina-Krieg, im Algerienkrieg und in den lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen.55

Gerade die Bewegungen und Konflikte im globalen Süden spielten für die NachkriegstrotzkistInnen eine entscheidende Rolle, wobei ihre Bemühungen, die antikolonialen Auseinandersetzungen theoretisch einzuordnen, und ihre praktischen Solidaritätsaktionen zur Herausbildung der »Dritte-Welt-Solidarität« der Neuen Linken beitrugen und dieser in gewissen Punkten auch vorgriffen.56

In der Schweiz waren die TrotzkistInnen beim Aufbau und der Durchführung der Algeriensolidarität während des Algerienkrieges maßgeblich beteiligt, sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. Sie beherbergten algerische Politiker und Aktivisten, vermittelten zwischen französischen und deutschen AktivistInnen Kontakte und führten öffentlichkeitswirksame Solidaritätsaktionen für die algerische Befreiungsbewegung durch. Schweizer TrotzkistInnen brachten durch ihren Aktivismus globalpolitische Anliegen, die von anderen politischen Kräften ignoriert wurden, in den schweizerischen politischen Diskurs ein und prägten diesen so mit.57

Inwiefern die internationalen trotzkistischen Netzwerke für den Aufbau und die Ausrichtung der Schweizer Algeriensolidarität ausschlaggebend waren, habe ich bereits in einem 2019 erschienenen Aufsatz in einem Sammelband zu Phänomenen transnationaler politischer Gewalt ausgeführt.58

Zu den prägenden Figuren und Akteuren des Schweizer Trotzkismus der Nachkriegszeit existiert ebenfalls bereits eine gewisse Grundlage an Literatur. So ist Heinrich Buchbinders Rolle als federführender Teilnehmer der anti-atomaren »Accra Assembly« in Ghana 1962 bereits teilweise untersucht.59 Christian Groß hat sich zudem mit den Motivationsstrategien im jahrzehntelangen politischen Engagement Buchbinders auseinandergesetzt und sich mit politischen Erfolgen und dem Scheitern als prägende Kategorien politischer Betätigung beschäftigt.60

Auch zu Hans Stierlin, langjährigem trotzkistischem Führungsmitglied und zugleich Gründer und Patron der Firma Sibir, existiert neben journalistischen Artikeln auch eine auf Quellen basierende Untersuchung zu seiner Doppelrolle als Unternehmer und Aktivist.61

Eine ergänzende Perspektive auf das Wirken der Schweizer TrotzkistInnen liefert Hadrien Buclin, der in seiner Dissertation das Wirken linker Intellektueller zwischen 1945 und 1968 ins Zentrum stellt. Hier tauchen Figuren wie Heinrich Buchbinder, Jost von Steiger, aber auch Max Arnold oder Alexander Euler ebenfalls auf und werden in spezifischen Diskussionen in der politischen Linken der Schweiz verortet.62 Andere ExponentInnen des Schweizer Trotzkismus wurden bisher erst peripher untersucht. Zu Walter Kern existiert ein längeres Interview über seine politische Vergangenheit, während eine der am längsten in der Schweizer trotzkistischen Bewegung aktiven Personen, Jost von Steiger, bislang noch praktisch unerforscht blieb.63

1.4.2Wo sind Spuren zu finden?

Auch wenn Jost von Steiger bislang kaum in den Fokus der Forschung zum Schweizer Trotzkismus gerückt wurde, sind die Archivbestände zu seiner Person durchaus umfangreich. Neben den 1,8 Laufmetern seines Personennachlasses stammen auch große Teile der Bestände zu den trotzkistischen Organisationen aus seinem Privatarchiv. Beide Bestände liegen im Schweizerischen Sozialarchiv. Sie bilden eine zentrale Grundlage für die vorliegende Arbeit.

Auch zu weiteren TrotzkistInnen sind Quellenbestände vorhanden. Hervorzuheben sind die Personennachlässe von Heinrich Buchbinder, Hans Stierlin und Alexander Euler, die alle im Archiv für Zeitgeschichte archiviert sind. Die Nachlässe sind mit 39 Laufmetern (Heinrich Buchbinder), 23,4 Laufmetern (Alexander Euler) und 10 Laufmetern (Hans Stierlin) enorm umfangreich – gerade im Vergleich mit den Körperschaftsarchiven von SAK/SAB und PAS, die jeweils nur ca. 0,3 Laufmeter umfassen.

Solche umfassenden Nachlässe sind zum einen ausgesprochen hilfreich zur Erforschung des Wirkens der jeweiligen Personen, zum anderen stellen sie den Forschenden vor spezifische Herausforderungen. Gerade die Durchdringung und Bearbeitung des Buchbinder-Nachlasses war eine sehr zeitintensive Angelegenheit. Die Gefahr besteht, dass die Rolle, das Gewicht und die Bedeutung Buchbinders für die trotzkistische Bewegung tendenziell über- und die anderer AkteurInnen möglicherweise unterbewertet wird. Die vorliegende Arbeit ist aber keine Biografie über eine Person wie Buchbinder – was ein spannendes Projekt mit viel Potenzial darstellen würde –, sondern widmet sich der trotzkistischen Bewegung in der Schweiz als Ganzes. Es ist unbestreitbar, dass Heinrich Buchbinder darin für die 1950er- und 1960er-Jahre eine führende Rolle eingenommen hat, doch war er nicht alleine.

Weitere für die vorliegende Arbeit wichtige Quellenbestände haben eine ganz andere Entstehungsgeschichte als die Personennachlässe und die Bestände zu einzelnen Organisationen, die beide Material enthalten, das von den jeweiligen Urhebern selbst über Jahrzehnte gesammelt und archiviert und dann in einem Übernahmeprozess von den Archiven erschlossen und für die Forschung zugänglich gemacht wurde.

Diese zweite Kategorie von Quellenbeständen, die für die vorliegende Arbeit hinzugezogen wurden, umfassen Materialien, die durch die staatliche Überwachung von politischem Aktivismus, von Organisationen und von Einzelpersonen entstanden sind. Diese Dokumente und Akten können, so argumentiere ich an anderer Stelle, für die Erforschung sozialer Bewegungen zentral sein, gleichzeitig sind sie aufgrund ihrer Entstehung zwangsläufig problematisch und zu problematisieren. Insbesondere muss bei der historischen Arbeit mit diesen Beständen reflektiert werden, wie diese entstanden sind.64

Diese Bestände selbst haben nämlich wiederum eine turbulente Geschichte. Erst 1989 ist bekannt geworden, dass sowohl auf Bundesebene als auch in diversen Kantonen hunderttausende Personen fichiert wurden. Das heißt, es wurden zu diesen Menschen Akten angelegt und Buch über ihre Tätigkeiten, Reisen und Lebensereignisse geführt. Die Fiche selbst ist dabei eigentlich nur ein Teil der durch die Überwachung produzierten Akten. Diese »Karteikarten« beinhalten Einträge in knapper Form, die dann jeweils wieder auf Dossiers und weiterführende Informationen verweisen. Für die vorliegende Arbeit konnten Dutzende Fichen als auch die dazugehörenden Staatsschutzdossiers von Einzelpersonen und Organisationen konsultiert werden.65

Diese Fichen und die dazugehörenden Dossiers verleiten aufgrund ihrer nüchternen Sprache, ihrer nach Datum geordneten Struktur und des damit einhergehenden Gefühls, sie beschrieben, erfassten und konservierten damit Tatsachen, zur wenig hinterfragten Übernahme ihres Inhaltes. Deshalb werden im Folgenden die Angaben in Fichen und Dossiers immer wieder persönlichem Erleben und weiteren Quellenbeständen gegenübergestellt, um an entscheidenden Stellen nicht nur die Tätigkeiten der TrotzkistInnen nachzuvollziehen, sondern auch Wesen, Versäumnisse und Prädispositionen der politischen Überwachung herauszuarbeiten. Denn die Fichen sagen nicht nur etwas über die Überwachten aus, sondern mindestens ebenso viel über die Überwachenden. Die Archivbestände aus den Staatsschutzaktivitäten werden für die vorliegende Arbeit mit den Personen- und Organisationsbeständen kombiniert und wo möglich in Beziehung gesetzt.66

1.4.3Gelebte und erzählte Geschichte

Die vorliegende Arbeit kann noch aus einer weiteren Ressource schöpfen. Und zwar sind dies die Erinnerungen und Erzählungen ehemaliger AktivistInnen, die in den nachfolgend verhandelten Organisationen und Zusammenschlüssen mitwirkten oder mit ihnen in Kontakt kamen. Grundsätzlich können zwei verschiedene Entstehungsprozesse solcher Erinnerungsfragmente unterschieden werden:

Erstens sind dies die von ehemaligen TrotzkistInnen selbstständig produzierten oder im Austausch mit Forschenden entstandenen autobiografischen Skizzen und retrospektiven Überlegungen. In diese Kategorie gehören die veröffentlichten Werke »Begegnung mit dem Teufel« von Walter Kern67 sowie »Trotzki an der Goldküste« von Jürg Ulrich68. Beide waren Mitglieder im Sozialistischen Arbeiterbund (SAB) und haben jeweils gegen Ende ihres Lebens autobiografische Skizzen verfasst.

Jost von Steiger wiederum hat anlässlich des Buchprojekts von Jean-François Marquis69 einige Erinnerungen vor allem bezüglich der Organisationsstrukturen und ihrer Entwicklung niedergeschrieben.70

Darüber hinaus hat er in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre für ein nie fertiggestelltes Buchprojekt zur politischen Linken in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg längere Interviews gegeben, die ebenfalls biografischen Charakter haben und die allgemeinere Gedanken zu seinem politischen Aktivismus, den veränderten Rahmenbedingungen und dem persönlichen Älterwerden enthalten.71 Auch für das archimob.ch-Projekt wurde Jost von Steiger interviewt, darin beschränkt er sich aber mehrheitlich auf Erinnerungen zur Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs.72

Jost von Steiger begann zudem in den 1990er-Jahren mit autobiografischen Arbeiten, die zwar nie fertiggestellt wurden, allerdings in Entwürfen im Nachlass vorhanden sind. Sie drehen sich hauptsächlich um seine eigene Motivation, über 50 Jahre politisch aktiv gewesen zu sein73, die Ursprünge der trotzkistischen Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg74 sowie persönlichere Überlegungen zu Fragen der Liebe und Sexualität.75

Neben diesen bereits in den Archiven zu findenden biografischen Notizen und Retrospektiven wurden für die vorliegende Arbeit verschiedene Interviews, meistens lebensgeschichtliche Interviews, mit ZeitzeugInnen geführt. Im Rahmen dieser Untersuchung sind nun sechs dieser Interviews verarbeitet. Sie sind vor allem für die Teile des Buches interessant, in denen es um den Einfluss und die Wirkungen der TrotzkistInnen auf soziale Bewegungen und die Politisierung junger Menschen geht. Denn alle sechs Interviewten bezeichnen und bezeichneten sich nicht als »TrotzkistInnen«, noch waren sie in den Kernorganisationen der TrotzkistInnen offiziell Mitglied. Allerdings, das zeigen die Interviews, waren sie sehr wohl vom Denken und den politischen Konzeptionen der TrotzkistInnen beeinflusst und standen vielfältig im Kontakt mit den für den Trotzkismus in der Schweiz zentralen Personen.