Zwischen Schutt und Asche - Thomas Herzberg - E-Book
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Zwischen Schutt und Asche E-Book

Thomas Herzberg

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Beschreibung

Hamburg, Mai 1946: In einer Ruine nahe dem Bahnhof Altona werden die Leichen von drei jungen Frauen gefunden. Die Bevölkerung ist anfänglich schockiert, regelrecht in Aufruhr. Doch in einer nahezu vollständig zerbombten Stadt, die sich nur sehr schleppend von ihren Wunden erholt, geraten selbst abscheuliche Verbrechen schnell wieder in Vergessenheit – Hunger und Elend beherrschen den Alltag fast aller.

Allein die Kommissare Thiesen und Pfeiffer suchen immer verbissener nach einem Mörder, der sich hinter Korruption, Gleichgültigkeit und Habgier bestens zu verstecken weiß. Als sich ausgerechnet den britischen Besatzern plötzlich ein Mann stellt, der die schrecklichen Taten gesteht, scheint der Fall gelöst zu sein.

Nur wenige ahnen, dass damit erst die wahren Verantwortlichen aus ihrer Deckung gezwungen werden. Die Ereignisse überschlagen sich, ein tödlicher Wettlauf beginnt, dessen Ausgang bis zum Schluss völlig ungewiss bleibt …

"Zwischen Schutt und Asche" ist der erste Band der Reihe "Hamburg in Trümmern". Jeder Band ist in sich abgeschlossen.
Der zweite Band "Zwischen Leben und Tod" ist ebenfalls in allen Onlineshops erhältlich.

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Ähnliche


Zwischen Schutt und Asche

Hamburg in Trümmern 1

Kriminalroman

Thomas Herzberg

Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile ausdrücklich jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!

Mein besonderer Dank geht an:

Michael Lohmann (Lektorat, Korrektorat: worttaten.de)

Birgit aus dem Elsass (meine sehr engagierte Testleserin)

Covergestaltung: Chris Gilcher –http://buchcoverdesign.de

1

»Ich weiß nicht, was Sie erwartet haben, Herr Thiesen. Einen roten Teppich?«

»Was erwartet man als zukünftiger Leiter der Mordkommission? Nicht viel, aber zumindest ein Büro mit Fenster.«

Hans Maler konnte ein Schnaufen nicht unterdrücken. Vor einigen Wochen erst hatte man ihn – nach einem nicht enden wollenden Prozedere – zum neuen Chef der Hamburger Kriminalpolizei gemacht.

1946. Es war Mai. Der Zweite Weltkrieg, also die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht, lag gerade mal ein gutes Jahr zurück. Die alliierten Sieger wollten um jeden Preis verhindern, dass Überbleibsel der Naziherrschaft Schlüsselpositionen im neu zu errichtenden Deutschland einnahmen. Viele Posten waren bis heute unbesetzt, weil es schlichtweg zu wenig Männer mit halbwegs reiner Weste gab.

»Wenn es nach mir gegangen wäre, dann säße ein anderer auf Ihrem Stuhl«, sagte Hans Maler in gleichgültigem Ton.

»Der hat übrigens nur dreieinhalb Beine«, protestierte Hermann Thiesen kopfschüttelnd.

»Und selbst für den habe ich zwei Tage lang gekämpft! Für Ihren Schreibtisch und ein paar weitere, noch brauchbare Exemplare bin ich ’ne halbe Woche kreuz und quer durch Hamburg gefahren.«

»Dann verraten Sie mir am besten, warum ich es bin, der den Posten am Ende bekommen hat.« Thiesen hatte beschlossen, lieber das Thema zu wechseln. Dieses erste Gespräch mit seinem neuen Chef sollte zumindest angenehmer enden, als es angefangen hatte. »Ich habe vorher nie etwas mit Mord zu tun gehabt.«

»Können Sie mit der Wahrheit umgehen, Kollege?«

»Ob Sie’s glauben oder nicht – aber mit der Wahrheit kann ich immer noch am besten umgehen.« Thiesen schaffte es sogar, ein halbwegs ehrliches Lächeln zu produzieren.

Hans Maler schnaufte und schaute zur Decke, als er von Neuem begann: »Die Anweisung kam von oben – von den Engländern.«

»Warum?«

»Das wollte ich eigentlich Sie fragen. Wenn Sie es auch nicht wissen, dann kommt mir die Sache noch komischer vor.«

Thiesen rutschte vorsichtig auf seinem Stuhl herum. Zuerst wollte er nicht mehr nachhaken, dann siegte aber doch seine Neugier über die Vernunft: »Gibt es noch andere Gründe, die in Ihren Augen gegen mich sprachen?«

»Allerdings! Ihre Akte ist blitzsauber, und das, obwohl Sie schon seit acht Jahren der Hamburger Polizei angehören.«

»Ich würde das eher als positives Vorzeichen werten. Zumindest habe ich mir nichts zu Schulden kommen lassen.«

»Waren Sie Mitglied in der Partei?«

»Natürlich! Sie etwa nicht?«

»Zeigen Sie mir mal einen Polizisten, der heute noch im Dienst oder auch nur am Leben ist, der nicht Teil dieser braunen Einheitssch…« Den Rest verschluckte Hans Maler gepflegt.

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«

»Die meisten, von denen man nichts gehört hat, hatten Freunde in der Partei. Sie verstehen …?«

»Immer noch nicht! Aber vielleicht sollten wir das lieber lassen.« Hermann Thiesen hatte sich erhoben und schob den klapprigen Stuhl vorsichtig mit dem Fuß ein Stück beiseite. »Wahrscheinlich wäre es empfehlenswert, wenn wir uns offiziell darauf einigen, dass Sie mir die Leitung der Mordkommission übertragen haben, weil Sie keinen Besseren für diesen Posten gefunden haben. Jede andere Variante würde zu Irritationen führen.«

Hans Maler nickte nur und griff nach seiner Kaffeetasse, deren Henkel abgebrochen war. Er nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. »Zichorienkaffee, ich könnt kotzen«, presste er heraus. »Mittlerweile werden echte Kaffeebohnen fast mit Gold aufgewogen.«

»Wenn es nur Kaffee wäre! Ich habe das Gefühl, als ob es an allem mangelt, womit wir ein halbwegs komfortables Leben verbinden.« Thiesen stieß den Atem geräuschvoll aus. »Wenigstens ist der endlose Winter vorbei und damit auch ein großer Teil der schlimmsten Hungersnot.«

»Sei’s drum … noch Fragen?«

»Kann ich davon ausgehen, dass ich regelmäßig Bezugsscheine für die wichtigsten Dinge bekomme?« Thiesen setzte ein schräges Grinsen auf. »Mit Geld können Sie mich kaum bezahlen, solange man dafür nirgends etwas bekommt.«

»Das Einzige, wovon Sie ausgehen können, ist, dass ich alles versuchen werde, um meine Leute mit dem Nötigsten zu versorgen.« Hans Maler ließ seinen Kopf hängen und schüttelte ihn mechanisch. Plötzlich sah er wieder auf und musterte sein Gegenüber mit seltsamem Blick. »Sie wollten doch die Wahrheit, also bekommen Sie ein gutes Stück davon!« Der Kripochef lachte über seine Ankündigung und fuhr noch lauter fort: »Ich habe keine Ahnung, wie es überhaupt weitergehen soll. Aber wenn jemand in unserer Stadt herumlaufen und wahllos Menschen umbringen kann, dann brauchen wir wiederum einen anderen, der ihm auf die Finger klopft.«

»Klingt aufregend, wenn der Magen vor Hunger knurrt und die Beine weich wie Pudding sind.«

»Hören Sie auf, von Pudding zu reden! Da läuft mir sofort das Wasser im Munde zusammen.«

Eine weitere Sackgasse, musste Thiesen feststellen. Zeit für ein anderes Thema: »Aus wie vielen Männern wird die neue Mordkommission denn bestehen?« Sein Gesicht verriet, dass er die Antwort bereits kannte und nur eine Bestätigung seiner Vermutung einforderte.

»Sie bekommen einen Assistenten.« Hans Maler schob eine dünne Mappe über seinen Schreibtisch und nickte zufrieden, als Thiesen sofort danach griff und sie aufschlug.

»Johann Pfeiffer«, nuschelte der Oberkommissar vor sich hin. »Der Kerl ist gerade mal vierundzwanzig!«, entfuhr es ihm dann erstaunt, nachdem er die ersten Zeilen überflogen hatte. »Hat der Bursche überhaupt einen Schulabschluss?«

»Einen besseren als Sie, falls Sie’s genau wissen wollen.«

»So genau wollte ich es eigentlich nicht wissen«, gab Thiesen leise zurück und blätterte weiter. »Ich sehe hier zwei Einträge. Er hat Schwarzmarktware an seine Kollegen verteilt.«

»Und Sie werden lange suchen müssen, um einen zu finden, in dessen Akte so etwas nicht steht.« Hans Maler lächelte gequält. »Natürlich abgesehen von Ihrem Musterexemplar.« Sein Ton verdeutlichte, was er, in schweren Zeiten wie diesen, über allzu gesetzestreue Polizisten dachte.

»Wo ist der Kollege?« Thiesen hielt es erneut für besser, das Thema zu wechseln. In absehbarer Zeit dürften sein neuer Chef und er vermutlich keine Freunde werden.

»Sollte bereits in Ihrem Büro auf Sie warten. Zumindest hat er die Anweisung.«

»Gut!« Thiesen nahm Haltung an und war im Begriff, sich zu verabschieden. »Gibt es sonst noch etwas?«

»Ihren ersten Fall. Die Akte liegt auf Ihrem Schreibtisch.«

»Worum geht’s?«

»Sie werden es nicht glauben – um Mord!«

»Sehr witzig! Was ist passiert?«

»Soll ich Ihnen vielleicht auch gleich den Mörder auf einem Silbertablett servieren?« Hans Maler schüttelte den Kopf und gab ein leises Stöhnen von sich. »Sie sind der neue Chef der Mordkommission und es ist Ihre Aufgabe, einen Täter schnellstmöglich zu finden und ihn hinter Schloss und Riegel zu bringen. Haben Sie das verstanden?«

»Natürlich, Chef!« Thiesen zog die Mundwinkel hoch und nickte angedeutet. »Schönen Tag noch, Herr Maler.«

Auf dem Weg in sein fensterloses Büro begegnete der Oberkommissar auf den Fluren nur vereinzelt ein paar Kollegen, die es offensichtlich allesamt eilig hatten. Die wenigsten schauten überhaupt auf und nahmen Notiz von ihrer Umgebung oder möglichen Details. Wegschauen, das hatte dieses Volk gründlich gelernt. Und es schien so, als würde diese zweifelhafte Fähigkeit das Kriegsende noch viele Jahre überdauern. Die meisten hatten einfach nur Angst und hofften, dass man sie nicht mit irgendeinem Kriegsverbrecher verwechselte und womöglich kurzerhand an einem Laternenmast aufknüpfte. Wobei davon auszugehen war, dass es in der Hamburger Polizei unverändert von NS-Verbrechern nur so wimmelte. Manche hatten falsche Namen angenommen und sogar mühevoll ihr Äußeres verändert, um selbst einer Gegenüberstellung mit Überlebenden des Wahnsinns standzuhalten. Trotzdem flogen jede Woche ein bis zwei Kollegen auf, denen man – sei’s zu Recht oder zu Unrecht – alle möglichen Gräueltaten vorwarf.

Hermann Thiesen musste seiner Bürotür einen kräftigen Tritt verpassen, bevor die sich widerwillig vor ihm auftat. Erneut schlug ihm sofort der muffige Geruch von Akten entgegen, die sich bergeweise in verschimmelten Holzkisten an den Wänden und mitten im Raum auftürmten: Überreste aus über einem Jahrzehnt an Mordermittlungen im Nazideutschland. Vermutlich hätte man den ganzen Stapel in den Hof fahren und anzünden können, ohne dabei etwas Werthaltiges zu zerstören. Thiesen zweifelte daran, dass er eine dieser Akten jemals wieder in die Hand nehmen, geschweige denn darin blättern würde.

Das einzige Licht im Raum stammte von einer trüben Glühlampe, die am Ende eines uralten Kabels in einer Keramikfassung von der Decke baumelte. Dieses muffige Loch hatte absolut nichts von einem Büro, dafür umso mehr von einem Archiv, besser noch: einem Akten-Friedhof. Und auch dieser Pfeiffer hatte sich noch nicht wie erwartet eingefunden. Ein perfekter Anfang! Gleich am ersten Tag unpünktlich zu erscheinen, warf einen dunklen Schatten auf die künftige Zusammenarbeit.

Thiesen schob sich vorsichtig zwischen zwei Reihen Kisten hindurch und ließ sich am Ende ganz behutsam auf seinem dreieinhalbbeinigen Stuhl nieder. Den Höhenunterschied hatte er schon bei seiner ersten Inspektion mit ein paar dicken Büchern ausgeglichen. Trotzdem kippelte er fortwährend von einer Seite zur anderen. Das machte es schwer, sich auf etwas Sinnvolles zu konzentrieren.

Im Vergleich zum Vortag – Thiesen hatte nur einen kurzen Blick in sein zukünftiges Büro geworfen und es danach wieder fluchtartig verlassen – hatte sich jedoch eine Sache verändert. Mitten auf seinem verstaubten Schreibtisch lag eine Akte, die vorher noch nicht dort gelegen hatte. Da war er sich ganz sicher. Gerade als er die erste Seite aufschlug, klopfte es energisch. Einen Atemzug später steckte ein junger Mann den Kopf durch die Tür und presste ein viel zu lautes »Moin!« heraus. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, schob sich der Kerl zwischen zwei anderen Stapeln hindurch und nahm auf einem davon Platz. »Pfeiffer, Johann!« Der Eindringling grinste und nickte dazu aufmunternd. »Schätze, wir müssen es in Zukunft miteinander aushalten.«

»Müssen wir?« Auch Thiesen war um ein Lächeln bemüht. Er wollte nicht gleich jede Chance auf ein freundliches Kennenlernen zunichtemachen. »Ist das so, ja?«

»So ist es, Chef!« Pfeiffer sprang auf und streckte seine riesige Pranke aus. Erst jetzt stellte Thiesen fest, dass es sich bei seinem zukünftigen Kollegen um einen wahren Riesen handelte. Von der Statur her könnte es dieser Bär in Menschengestalt vermutlich mit einem halben Dutzend ausgewachsener Raufbolde zugleich aufnehmen. Und das mit Sicherheit, ohne dabei selbst ernsthafte Blessuren davonzutragen.

»Wie groß sind Sie … zwei Meter?« Für Thiesen, der es – gut gemeint – auf rund einen Meter siebzig brachte, dürfte diese Zusammenarbeit in erster Linie mit Nackenschmerzen vom ständigen Hochschauen verbunden sein.

»Ein bisschen mehr als zwei.«

»Eltern, Kinder?«

»Mein Vater ist tot, meine Mutter …« Pfeiffer verschluckte den Rest. Für solche Informationen schien es ihm offenbar zu früh zu sein. »Und was Kinder betrifft: negativ, Kapitän.«

»Und wie sind Sie zur Polizei gekommen?« Hermann Thiesen deutete auf den Kartonstapel, was bedeutete, dass Pfeiffer sich wieder setzen sollte. »Erzählen Sie – was hat Sie in diesen Laden verschlagen?«

»Hab gehört, hier gibt es Arbeit und zumindest was zwischen die Zähne.«

»Das bekommen Sie als Dachdecker auch«, erwiderte Thiesen viel zu nüchtern. »Wahrscheinlich sogar noch besser, weil die meisten seit Kriegsende auf ein paar halbwegs unversehrte Dachziegel und trockene Füße hoffen.«

»Ist Ihr Dach auch kaputt, Chef?«

»Und wenn’s so wäre?« Thiesen blieb misstrauisch.

»Mein Vetter Waldemar hat ganz gute Kontakte. Falls Sie irgendwann was brauchen, dann besorgt er’s …«

»Das habe ich schon gehört!«

»Was haben Sie gehört?«

»Die Sache mit der Schwarzmarkt-Ware.«

»Welche Schwarzmarkt-Ware?« Pfeiffer schaute möglichst empört und schüttelte den Kopf. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass ich …«

»Ich will gar nichts sagen!« Thiesen war aufgesprungen und beugte sich über seinen Schreibtisch. Die Platte ächzte bedrohlich unter seinen Händen. »Wir sind hier, um Hamburg sicherer zu machen … Mörder zu finden.« Er zog die Mundwinkel hoch und fixierte Pfeiffers Augen mit eisigem Blick. »Es ist mir völlig egal, was Sie in Ihrer Freizeit treiben. Und wenn Sie der Schwarzmarkt-König vom Dammtor wären – solange Sie im Dienst sind, will ich davon nichts sehen und nichts hören.« Thiesen beugte sich noch ein weiteres Stück vor. Sein Schreibtisch war kurz davor zusammenzubrechen. »Haben wir uns verstanden, Kollege Pfeiffer?«

»Haben wir!« Der junge Kommissar hatte sich ebenfalls erhoben und klatschte in die Hände. Er deutete auf die Akte, die noch immer geöffnet vor Thiesen lag. »Ist das unser erster Mordfall?«

»Das ist mein erster Mordfall! Sie haben vorher etwas anderes zu tun.«

»Und das wäre?« Johann Pfeiffer schien regelrecht vor Energie und Schaffensdrang zu sprühen.

»Aufräumen! Sie können hier erst mal gründlich aufräumen, Kollege.«

2

»Das ist das letzte Teil von meiner Mutter.« Anna Thiesen hielt ihrem Mann die offene Hand entgegen, in der sich ein zierlicher Goldring befand. »Für ihre Kette habe ich heute kaum genug zu essen bekommen, um die Kinder und mich für den Rest der Woche sattzukriegen.«

Direkt nach Feierabend war Hermann Thiesen mit seinen Bezugsscheinen fast bis zum anderen Ende der Stadt gelaufen. Aber nirgends gab es mehr etwas. Selbst sein Dienstausweis und die Aussicht auf kleinere Vorteile hatten am Ende nicht geholfen. Die Geschäfte waren leergeräumt. Nicht mal mehr ein Brotkrümel, für den sich gefräßige Tauben gegenseitig umgebracht hätten, war irgendwo zu finden.

»Wie geht es Marie?«, erkundigte sich Thiesen mit vorsichtiger, fast zitternder Stimme. Deutlich war seine Angst herauszuhören, denn er konnte sich die Antwort bereits vorstellen. »Ist wenigstens das Fieber etwas heruntergegangen?«

»Ihr Kopf glüht noch mehr als gestern«, gab Anna ebenso leise zurück. Sie kämpfte mit Tränen. »Wenn wir nicht schnell irgendwo Penicillin auftreiben, dann bleiben uns nur noch die beiden Jungs.« Mit jedem Wort wurde ihre Stimme kraftloser. »Ich hab solche Angst, Hermann.« Mittlerweile liefen Sturzbäche über ihre Wangen und tropften auf den staubigen Boden zu ihren Füßen.

»Wenigstens hat es nicht geregnet, sonst würde wieder alles unter Wasser stehen.«

»Manchmal wünsche ich mir, dass eine der Bomben unser Haus getroffen hätte. Ein Volltreffer! Nur ein kleiner Moment Angst und man hat es hinter sich.«

»So was darfst du nicht sagen, Anna. Nicht mal denken!«

»Vielleicht kannst du mir verraten, welchen Sinn es hat, dass wir diesen ganzen Wahnsinn überlebt haben.« Anna schnaufte, sie klang verbittert. »Du hast immer gesagt, dass wir auf Gott vertrauen sollen, wenn es Bomben geregnet hat.« Sie funkelte ihren Mann wütend an. Ihre Angst und ihre Verzweiflung schienen ein Stück weit verflogen zu sein. »Auf Gott vertrauen! Und das, obwohl du nicht mal an ihn glaubst.« Sie deutete zur Zimmerdecke, durch die man nicht nur die oberen Stockwerke der Beinahe-Ruine, sondern an manchen Stellen sogar den Himmel sehen konnte. »Wo war dein Gott eigentlich, als die Engländer ihre Bomben geworfen haben?«

Thiesen keuchte und es war deutlich zu sehen, dass er seine Wut herunterschlucken musste, bevor er den Rest des Abends durch etwas Unüberlegtes zum Stummfilm degradierte. »Ich gehe jeden Tag dort raus und kämpfe dafür, dass diese Welt wieder besser wird. Eine bessere Welt und ein besseres Leben«, fuhr er noch ein Stück energischer fort. »Für unsere Kinder, für dich und am Ende vielleicht auch für mich.«

»Und was soll aus dieser Welt werden, wenn Marie stirbt? Hast du darüber mal nachgedacht?«, brüllte Anna. Ihre Spucke segelte quer durch den Raum. »Was ist, wenn sie es nicht schafft«, schluchzte sie, bis ihre Stimme zum ersten Mal kurz versagte. »Wo ist dann deine bessere Welt? Sag schon!«

»Ich mache mir in jeder Minute über nichts anderes Gedanken.« Auch Thiesen schien am Ende seiner Kräfte zu sein. »Vielleicht kann ich …«

»Was kannst du, Hermann? Was?« Anna zitterte vor Wut. »Und warum nur vielleicht?«

»Warte ab! Mir fällt schon was ein ...«

»Dann solltest du dich damit lieber beeilen. Viel Zeit bleibt uns nämlich nicht mehr.«

Den Rest des Abends hatten die beiden eng umschlungen auf dem winzigen Sofa gehockt. Die kleine Marie lag seit Stunden auf Thiesens Schoß und rührte sich kaum. Ihr Atem ging nur ganz flach, ihre Haut war kreidebleich. Nur ihr Kopf glühte und sah aus, als ob man ihn in rote Farbe getunkt hätte.

»Es ist eine Schande, dass wir nicht mal Medikamente für eine Lungenentzündung bekommen«, flüsterte Anna, die aufgestanden war und sich in der anderen Ecke des Zimmers auf einen Stuhl gesetzt hatte, um Socken zu stopfen. »Der Krieg hat alles kaputtgemacht, alles …«

»Nicht uns, Anna! Er hat uns nicht geschafft.«

Thiesens Frau schüttelte müde den Kopf und lächelte ihn mitleidvoll an. »Noch nicht, Hermann … noch nicht. Der nächste Winter kommt bestimmt, und wenn alles so bleibt, wie es ist, dann wird es spätestens im Dezember vorbei sein.«

Weil Hermann Thiesen darauf nichts zu antworten wusste, kraulte er weiter Maries Kopf. Gedankenversunken betrachtete er den winzigen Ofen, den er im vergangenen Winter einem alten Mann abgekauft hatte. Dafür waren die goldene Uhr von Annas Vater und sogar der Ehering ihrer Mutter draufgegangen. Danach hatte er tagelang altes Möbelholz in den Ruinen gesammelt, um es anschließend, mitten im Wohnzimmer, bis unter die Decke aufzuschichten. In seltenen Momenten – das Tauwasser lief ausnahmsweise nicht die Wände hinab – hatten sie es manches Mal fast ein bisschen kuschelig gehabt. Augenblicke des Glücks, in denen er unter der dicken Wolldecke seine Anna mal wieder richtig in den Arm genommen hatte – und weit mehr als das.

»Wie ist dein neuer Chef eigentlich?« Zum ersten Mal an diesem Abend sprach Anna über seine Arbeit. Ein Funken Normalität füllte ihre Stimme – jenseits von Maries Krankheit, Hunger und all den übrigen Problemen.

»Scheint ganz nett zu sein«, log Thiesen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er wollte seine Frau keinesfalls noch weiter beunruhigen und damit womöglich eine zusätzliche Baustelle eröffnen, die ihr Sorgen bereitete. »Ich hab sogar mein eigenes Büro. Mit Aussicht in Richtung …«

»Hast du auch Mitarbeiter – Untergebene?«

»Einen!« Thiesen grinste breit. »Auch ein Johann, wie unser Kleiner. Nur dass der Kerl mindestens zwei Meter groß ist und aussieht, wie ein Kleiderschrank. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, der Kollege kann bestens auf mich aufpassen.«

Anna lächelte vorsichtig. Schließlich wusste sie, dass ihr Mann sehr empfindlich reagierte, wenn es um seine schmächtige, geradezu knabenhafte Statur ging. »Johann also ... und wie weiter?«

»Pfeiffer! Übrigens mit drei F ... falls du fragen willst.« Jetzt lachten sie beide. »Und dazu ein ausgewachsenes Schlitzohr, wie’s scheint. Gerade mal vierundzwanzig, aber …«

»Also genau zehn Jahre älter als du«, stellte Anna mit süffisantem Lächeln fest. »Ich weiß noch, wie du damals …«

»Du hast nächste Woche auch Geburtstag!«, unterbrach Thiesen sie etwas zu grob. Plötzlich wirkte sein Gesicht traurig. »Dann hast du mich wieder eingeholt! Aber ich überlege noch, ob ich dir in diesem Jahr ein Brillantcollier oder einen neuen Pelzmantel schenke.«

»Erwarten würde ich beides!«, prustete Anna heraus und nahm ihrem Mann damit gleichzeitig seine Schwermut. »Ich wäre schon zufrieden mit einem Paar warmer Socken.«

Thiesen nickte zuerst, schüttelte dann aber wieder den Kopf, um endlich die trüben Gedanken zu vertreiben.

»Und du bist tatsächlich Leiter der Mordkommission?« Auch Anna schien bemerkt zu haben, dass ein Themenwechsel anstand.

»So ist es, mein Schatz.« Thiesen flüsterte nur. Zum ersten Mal seit Stunden räkelte sich die kleine Marie zaghaft auf seinem Schoß. Er strich ihr sanft über das verschwitzte Haar und wickelte die Decke noch ein Stück fester um ihren dürren, völlig entkräfteten Leib.

»Hat das auch irgendwelche Vorteile, außer mehr Arbeit?« Anna war eine schlaue Frau. Sie hatte bis kurz vor Kriegsende an einem Gymnasium Deutsch und Mathematik unterrichtet. Als Lehrerin hatte sie ihre Freiheiten lange Zeit genutzt, um wie am Fließband Flugblätter für den Widerstand herzustellen. Irgendwann wurde die Sache zu heiß und sie musste Thiesen versprechen, sofort damit aufzuhören. In Sippenhaft hätte ihnen vermutlich nicht einmal mehr ein Schutzengel helfen können. Und das, während ihre Kinder in irgendeinem Heim verhungert oder als Flakhelfer verheizt worden wären.

»Was ist jetzt? Ist so ein Chefposten auch mit Vorteilen verbunden, oder nicht?«

Thiesen kannte seine Frau und wusste, dass er ihr nur selten etwas vormachen konnte. Außerdem ging sie mit der Wahrheit oft viel nüchterner um, als wenn sie ihn beim Lügen ertappte und danach zur Strafe völlig ignorierte.

»Ich kann es dir noch nicht sagen, Anna. Aber wenn nicht alles restlos kopfsteht, dann sollte doch mehr Verantwortung am Ende auch entsprechend belohnt werden. Ich hoffe es zumindest!« Thiesen war nicht mal selbst von dieser Vermutung überzeugt und auch das Gesicht seiner Frau wirkte eher skeptisch. »Ich denke, das Zauberwort lautet Geduld.«

»Geduld«, wiederholte Anna nachdenklich. Kurz darauf verriet ihre trotzige Miene, dass jeden Augenblick etwas Neues folgen würde: »Ich gehe morgen auf den Schwarzmarkt und versuche, den Ring meiner Mutter gegen Penicillin einzutauschen. Geduld ist ein Luxus, den wir uns nicht erlauben können, Hermann!«

»Das tust du nicht!«, erwiderte Thiesen viel zu laut und bereute es im nächsten Moment schon, weil die kleine Marie auf seinem Schoß leise protestierte. »Ich will nicht, dass du zwischen all diesen Banditen herumschleichst. Am Ende zieht dir womöglich noch einer was über den Schädel. Danach ist im günstigsten Fall nur der Ring passé …«

»Dann nimm du ihn«, gab Anna flüsternd zurück. Mit wütender Miene und zitternden Fingern hielt sie ihrem Mann das winzige Schmuckstück entgegen. »Wenn du morgen Abend nicht mit Penicillin nach Hause kommst, dann gehe ich übermorgen los. Wer weiß, vielleicht bin ich sogar froh, wenn mir einer den Schädel einschlägt.«

»Wo sind unsere Jungs?«, fragte Thiesen eine Weile später. Manchmal war es besser, Dinge nicht bis zum Ende zu diskutieren. Insbesondere dann nicht, wenn das Ergebnis ohnehin feststand.

»Karl hat sich nach dem Essen Johann geschnappt. Sie wollten zu den Ruinen runter und Feuerholz sammeln. Der nächste Winter kommt bestimmt«, fügte Anna in verbittertem Ton hinzu.

»Ich will nicht, dass die beiden im Schutt rumklettern und ihr Leben für ein paar Bretter riskieren.«

»Das will ich auch nicht, Hermann, aber ich denke, wir sollten ihnen zumindest das Gefühl geben, etwas Wichtiges zu tun – ein Teil der Sache zu sein.« Anna schnaufte wie eine Dampflok. »Unser Großer wird nächsten Monat zwölf. Da wird es …«

»Mein Gott!« Jetzt keuchte auch Thiesen. »Die Jahre sind wie im Fluge vergangen.« Er rieb sich die hohe Stirn. Seit Kriegsende wollten auf seinem Kopf kaum mehr Haare wachsen. Er überlegte sogar schon, ob er nicht auch den Rest einfach mit seinem stumpfen Rasiermesser entfernen sollte. Ein gründlicher Abwasch, der ihm zumindest das morgendliche Kämmen ersparen würde. »Dann wird unser Johann im Dezember ja schon neun.«

»Zehn!« Anna lachte. »Und jetzt verstehst du vielleicht auch, warum die beiden eine Aufgabe brauchen. In den letzten Kriegsmonaten hat man Kinder an die Front geschickt, die jünger waren.« Sie schaute irgendwo ins Nichts, in ihren Augen schimmerten Tränen. »Die meisten davon sind nicht zurückgekommen.«

Thiesen schüttelte den Kopf und fluchte in sich hinein. Häufig stellte er sich die Frage, warum seine Frau am Ende immer recht behielt. Trotzdem fiel es ihm schwer, den Mund zu halten und sich die Niederlage einzugestehen. »Ich werde ab morgen jeden Abend selbst ein bisschen Holz mit nach Hause bringen. Vielleicht müssen sie dann wenigstens nicht jeden Tag in den Ruinen umhergeistern.«

Anna nickte nur. Kurz darauf hielt sie einen von Thiesens Socken empor. Durch das Loch am Hacken passten vier ihrer Finger, fast die ganze Hand. Zum ersten Mal an diesem Abend huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, das ein wenig an frühere Tage erinnerte. An glückliche Momente, satte Momente, Zeiten, in denen sie sich damit beschäftigt hatten, ihre Zukunft zu planen. Heuer reichten solche Pläne bestenfalls bis zum nächsten Abend, weil man nicht wissen konnte, was einen tagsüber erwartete. »Ich war heute bei Doktor Fichte. Er unterrichtet ab nächste Woche wieder.«

»Du meinst deinen alten Rektor, von damals?«

»Genau! Bald eröffnet er ein neues Gymnasium, drüben, am Güterbahnhof.«

»Und was kann er dir bieten?« Diese Zeiten ruinierten wirklich jedes noch so edle Gemüt. Selbst Thiesen konnte sich dieser traurigen Entwicklung immer weniger widersetzen. Kaum jemand tat mehr etwas, ohne dafür eine konkrete Gegenleistung zu erwarten. »Er glaubt doch nicht etwa, dass du kostenlos unterrichtest, oder?«

»Ich habe alles mit ihm besprochen.« Plötzlich klang Annas Stimme ganz anders, regelrecht euphorisch. »Wenn ich ein paar seiner Stunden übernehme, dann können Karl und Johann jeden Tag mitkommen. Essen bekommen sie auch … vorausgesetzt, es ist was Essbares vorhanden.«

»Und du? Traust du dir das denn schon wieder zu?«

»Warum sollte ich nicht?« Anna musterte ihren Mann misstrauisch. Ihr Mund stand offen, was darauf hindeutete, dass sie noch nicht fertig war. Und weil Thiesen seine Frau viel zu gut kannte, traute er sich nicht einmal, zu antworten, sondern deutete nur mit Blicken auf Annas leeren Jackenärmel.

»Du meinst, weil ich nur einen Arm habe?« Sie schüttelte den Kopf, sah enttäuscht aus. Nur einen Atemzug später begann sie mit energischer Stimme aufs Neue: »Die englische Bombe hat mir vielleicht den Arm genommen, aber nicht meinen Mut.« Anna lächelte verhalten. »Wenn ich mit einer Hand deine Socken stopfen kann – sie schaute auf den Stopfpilz hinunter, der zwischen ihren Knien klemmte –, dann bin ich wohl auch in der Lage, Schüler zu unterrichten. Oder zweifelst du etwa daran?«

»Nein! Das war doch nur eine Frage«, rechtfertigte sich Thiesen vorsichtig. »Aber ich lasse mir nicht verbieten, dass ich mir Sorgen um dich mache. Ich bin schließlich immer noch dein Ehemann!«

3

Als Thiesen am nächsten Morgen das Büro der neuen Hamburger Mordkommission betrat, erwartete ihn ein gut gelaunter Johann Pfeiffer. Der junge Mann hatte regelrechte Wunder vollbracht, wobei die Frage im Raum stand, wo er all die Kisten mit Akten wohl gelassen haben könnte. Vielleicht hatte er tatsächlich zur finalen Lösung gegriffen und den ganzen Krempel verbrannt. Sei’s drum!

»Guten Morgen!« Thiesen platzierte seine Aktentasche, in der sich nichts anderes als zwei trockene Scheiben Brot und ein kleines Stück Käse befanden, auf seinem Schreibtisch. »Sieht ja schon ganz manierlich aus«, quittierte er die Arbeiten und lächelte dazu gequält.

»Moin, Chef!« Johann Pfeiffer hielt ihm die Hand entgegen. Mit der anderen wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Ganz schöne Schufterei, aber ich denke, dass es sich gelohnt hat.« Er ließ seinen Blick durch den Raum kreisen und deutete gelegentlich auf eine Stelle, an der sich besonders viel verändert hatte.

»Dann sollten wir uns an die Arbeit machen«, stellte Thiesen mit müder Stimme fest. Er versprühte alles – nur keinen übertriebenen Arbeitseifer.

»Was ist los? Geht’s Ihnen gut?«

»Eher nicht, wenn Sie’s genau wissen wollen.«

»Kann ich irgendwie helfen?« Johann Pfeiffer schob einen letzten Stapel Kisten mit dem Fuß beiseite und baute sich direkt vor seinem Chef auf, als ob er für den sofort zu kämpfen bereit wäre.

»Ihr Vetter, dieser Waldemar, kommt der auch an Penicillin heran?« Bereits auf dem Weg ins Präsidium hatte Thiesen eine Entscheidung getroffen. Und zwar eine von der Sorte, die ihm seit jeher besonders schwerfiel. Schon als Anna ihm einen Kuss zum Abschied gab und ihm danach den Ring ihrer Mutter in die Hand drückte, spürte er, wie letzte Bedenken in ihm zusammenbrachen.

»Meine Tochter ist krank. Todkrank … verstehen Sie, was ich meine?«

»Natürlich, Chef!« Johann Pfeiffer machte zum ersten Mal an diesem Morgen ein ernstes Gesicht. »Wie viel brauchen Sie denn?«

»Ich hab keine Ahnung. So viel wie möglich.«

»Haben Sie was Vernünftiges zum Tauschen?«

Thiesen zog den Ring mit trauriger Miene aus der Tasche und hielt ihn seinem Kollegen entgegen. »Das ist alles, was wir noch haben. Sollte mehr erforderlich sein, dann weiß ich auch nicht weiter.«

Pfeiffer griff mit spitzen Fingern nach dem Ring und hielt ihn gegen das Licht der trüben Glühlampe, um den kleinen Brillanten besser taxieren zu können. Sein nachdenkliches Gesicht verhieß zunächst nichts Gutes. Thiesen glaubte schon, dass auch dieser Vorstoß wieder nur in einer Sackgasse enden würde. Und das, obwohl er nie zuvor so weit über seinen eigenen Schatten gesprungen war.

»Das Teil ist viel zu wertvoll«, stellte Johann Pfeiffer völlig unerwartet fest. »Wenn man den Gerüchten trauen darf, dann wird es in den nächsten Monaten noch schlimmer.«

»Das kann man sich kaum vorstellen. Ich sehe da keinen Spielraum mehr nach oben.«

»Heben Sie das Teil lieber auf – man kann nie wissen.«

»Und wie, gottverdammt, soll ich jetzt an das Penicillin herankommen?« Thiesens Gesicht leuchtete rot vor Verzweiflung. »Sie haben mich anscheinend nicht verstanden, es geht höchstens um Tage, vielleicht nur um Stunden. Danach ist meine Kleine …«

»Das lassen Sie mal schön meine Sorge sein«, unterbrach Pfeiffer seinen Chef. »Heute Abend hat Ihre Tochter ihr Penicillin – das ist ein Versprechen!«

Thiesen wollte diese Illusion nicht mit weiteren Fragen torpedieren und zog es deshalb vor, dienstlich zu werden. »Unser Büro ist komplett …« Er nickte anerkennend einmal durch den ganzen Raum, konnte sich jedoch ein Lachen nicht verkneifen. »… vielleicht sollten wir uns dem aktuellen Fall widmen.«

Johann Pfeiffer ließ sich auf einem der Kartons nieder und klatschte mit erwartungsfroher Miene in die Hände. »Worum geht’s denn?«

»Wir haben drei tote Frauen, alle in Altona. Das ist Ihre alte Heimat, oder nicht?«

Pfeiffer nickte widerwillig. Auf weitere Erklärungen schien er zunächst verzichten zu wollen. »Wie alt?«

»Die älteste ist schätzungsweise Mitte dreißig. Die zweite hat der Pathologe auf etwa zwanzig geschätzt.« Der Oberkommissar machte eine Pause und schluckte schwer. »Die letzte war fast noch ein Kind.«

»In Altona liegt doch kaum mehr ein Stein auf dem anderen«, stellte Pfeiffer mit freudlosem Lachen fest. »Wo hat man die Leichen denn gefunden ... und wann?«

Thiesen schlug die Akte auf und studierte den Bericht ein weiteres Mal. »Alle im selben Keller, in der Nähe von St. Petri. Ist mir gestern gar nicht aufgefallen«, sinnierte er vor sich hin. »Passiert ist es vor über einer Woche – wird Zeit, dass wir der Sache auf den Grund gehen, bevor ...«

»St. Petri ist eine der wenigen Kirchen, die die ‚Operation Gomorrha‘ unversehrt überstanden haben«, unterbrach Pfeiffer seinen Chef. »Meine Mutter hat von einem Wunder gesprochen und meinte, dass die Bomben so gut wie alles zerstört hätten, aber nicht den Glauben an Gott. Den nicht! Nein, nein ...«

»Und wie erklärt sich Ihre werte Frau Mutter dann, dass fast alle anderen Kirchen nur noch Trümmerhaufen sind?«

»Das müssen Sie sie lieber selbst fragen. Bei solchen Dingen kann sie schnell ungemütlich werden.« Pfeiffer musste lachen. »Sie wissen doch, wie Mütter sind.« Als er feststellte, dass Thiesen nur müde den Kopf schüttelte, ruderte er zurück: »Ist Ihre Mutter etwa …?«

»25. Juli 1943 … sie hat die amerikanischen Bomben nicht überlebt. Aber vielleicht war’s auch eine englische.«

»Das spielt am Ende auch keine Rolle.« Johann Pfeiffer wich Thiesens Blick aus und klopfte mit der Faust auf eine der letzten Kisten. »Es hat so viele erwischt – ich kenne eigentlich niemanden, der nicht einen seiner Lieben verloren hat.«

»Meine Mutter war todkrank, lag im Sterben«, stellte Thiesen nüchtern fest, für diese Tatsache viel zu fröhlich. »Die Bombe ist durchs Dach eingeschlagen und hat das komplette Haus pulverisiert. Ein schneller und gütiger Tod, wie ihn sich die meisten wünschen.«

»Wissen Sie, welcher Engländer für Altona zuständig ist?« Pfeiffer schien das Thema wechseln zu wollen. Vermutlich war es auch besser so.

»Das finden wir schnell heraus. Aber solange keine Tommys betroffen sind, hält der Rest ohnehin gepflegt die Füße still.« Thiesen verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Denen ist es völlig egal, ob wir Deutschen uns hier gegenseitig die Schädel einschlagen oder nicht.«

»Und wie wollen wir vorgehen?« Pfeiffer stand wieder direkt vor seinem Chef, die Hände in die Hüften gestemmt. Unbändiger Tatendrang strömte aus jeder seiner Poren. »Wo fängt man denn an, wenn man es mit Mord zu tun hat?«

»Vermutlich am Tatort, ich hab doch selbst keine Ahnung.« Thiesen schaute in das erstaunte Gesicht seines Kollegen. »Erzählen Sie’s nicht weiter – ich habe mir diesen Job nicht ausgesucht, ich hatte es vorher nie mit etwas anderem als Eigentumsdelikten zu tun.«

»Zwei Ahnungslose und ein Mord – Tschuldigung – drei Morde.« Pfeiffer lachte schallend und klopfte seinem Chef auf die Schulter. »Das riecht für mich nach ’ner aufregenden Geschichte.«

»Maul halten! Wir rücken ab.«

Wenig später marschierten die Kommissare schon den Holstenwall in Richtung Landungsbrücken hinunter. An dieser Stelle Hamburgs waren die Aufräumarbeiten – insbesondere die der Engländer, mit schwerem Gerät – bereits weit vorangeschritten. Manch eine Ecke versprühte fast schon wieder so etwas wie Normalität, wenn man von der Vielzahl der rundherum emporragenden Ruinen mal absah. Die beiden Männer passierten mit langen Schritten den Millerntordamm und bogen kurz darauf in die Helgoländer Allee ein. Die einzigen Fahrzeuge, die in unregelmäßigen Abständen vorbeifuhren, waren englische Militärjeeps. Einige Soldaten musterten die Einheimischen grimmig und hätten vermutlich am liebsten auf den einen oder anderen angelegt. Andere Uniformierte winkten spielenden Kindern oder jungen Frauen fröhlich zu und warfen Kaugummis oder Zigaretten in die Menge. Thiesen dachte häufig darüber nach, wie sich wohl deutsche Soldaten in einem besetzten London verhalten hätten. Er kannte ein paar der Gerüchte aus Polen, Frankreich und anderen Ländern, in denen die deutsche Wehrmacht im Laufe eines nicht enden wollenden Weltkriegs gewütet hatte. Von Kaugummis oder Zigaretten war dort nie die Rede gewesen.

»Vielleicht halten wir einen der Jeeps an und fragen, ob uns die Tommys wenigstens bis zum Fischmarkt mitnehmen können. Schließlich sind wir Polizisten, fast so etwas wie Kollegen.« Pfeiffer wartete keine Antwort ab, sondern winkte einem der Soldaten, der mit seinem Jeep in langsamer Fahrt auf sie zusteuerte. Eilig holte er seinen Dienstausweis heraus und wedelte damit herum.

»Sprechen Sie etwa Englisch?«, erkundigte sich Thiesen in skeptischem Ton.

»Natürlich!«, gab Pfeiffer fröhlich zurück und lief auf den Soldaten zu, der mit seinem Jeep stehengeblieben war und ihn argwöhnisch musterte. Danach hörte Thiesen nur noch ein paar Worte und konnte es kaum glauben, als Pfeiffer ihn zu sich rief. »Er nimmt uns mit. Außerdem meint er, dass die Durchfahrt vielleicht sogar bis zum Bahnhof Altona frei ist.«

»Nicht schlecht«, flüsterte Thiesen anerkennend, nachdem auch er auf der Rückbank des Jeeps Platz gefunden hatte. »Ich hab zuerst gedacht, dass es schwer werden könnte, mit so einem Jungspund wie Ihnen …«

»Das wird es noch früh genug, Chef! Warten Sie ab.« Pfeiffer lachte röhrend und deutete kurze Zeit später auf zwei junge Frauen, die mit hohen Schuhen und Seidenstrümpfen auf dem Bürgersteig flanierten. »Das Leben ist nicht vorbei!«, brüllte er gegen den Lärm des Motors an. »Warten Sie ab, es kann wieder schön werden«, fügte er augenzwinkernd hinzu, während er den beiden Frauen zuwinkte, die stehengeblieben waren und sich umgedreht hatten. »Es ist nicht vorbei, Chef! Noch nicht …«

4

 

 

 

Der Jeep rumpelte kurze Zeit später die Palmaille der Elbe entlang, Richtung Altona herunter. Die Kommissare waren fast an ihrem Ziel angekommen. Von Zeit zu Zeit konnte man zwischen den Ruinen einen Blick aufs Wasser erhaschen. Ein riesiger Frachter glitt vorbei, vermutlich auf dem Weg gen Nordsee. Aus seinen Schornsteinen quollen schwarze Rauchwolken, die eine leichte Brise zu den Docks hinübertrug.

Der Hamburger Hafen, das Tor zur Welt.

Blieb nur die Frage, wie lange es dauern würde, bis dieses Tor wieder in beide Richtungen passierbar wäre. Heuer waren es im besten Falle Almosen, die auf dem Wasserweg die einst so prächtige Hansestadt erreichten. Vom ehemaligen Handel in alle Welt war so gut wie nichts mehr übrig.

Pfeiffer klopfte dem Beifahrer auf die Schulter und bat ihn darum anzuhalten. Kurz darauf stapften er und Thiesen die Mathildenstraße hinauf. Eilig passierten sie den Friedhof und bogen dahinter in Richtung St. Petri ab.

»Sie haben recht, die Kirche hat tatsächlich so gut wie nichts abbekommen«, stellte Thiesen nüchtern fest. »Wäre für manch einen deutlich besser gewesen, als in einem Luftschutzbunker zu ersticken.«

»Bei uns um die Ecke haben sie nach der zweiten großen Welle von Bombern über neunhundert Menschen aus einem Keller gezogen. Von einer Handvoll alter Männer abgesehen, nur Frauen und Kinder.«

»Alle tot?«

»Natürlich! Was denn sonst?«

Ein ohrenbetäubender Knall unterbrach diesen Austausch von Horrorgeschichten. Kurz darauf stieg, höchstens einen halben Kilometer entfernt, eine riesige Staubwolke auf.

»Blindgänger! Das passt ja.«

Thiesen reckte sich und erklomm sofort eine weitestgehend intakte Bank, um einen besseren Blick zu erlangen. »Das muss irgendwo hinterm Bahnhof gewesen sein, vielleicht Stresemannstraße«, murmelte er nachdenklich. »Spätestens morgen früh wissen wir’s.«

»Wahrscheinlich ein englischer Wohnblockknacker … zweitausend Pfund, würde ich schätzen.« Pfeiffer lachte verbittert. »Von den Dingern liegen noch Tausende im Schutt und warten darauf, dass sie ein paar Trümmerfrauen oder Kinder, die an den Zündern herumspielen, in den Tod reißen können.«

»Das wird uns noch viele Jahre begleiten – vielleicht sogar Jahrzehnte.« Auch Thiesen fiel in das freudlose Lachen ein. »Dieser Krieg wird ganz Deutschland lange Zeit in Atem halten. Wer weiß, ob wir diesen schwarzen Fleck in unserer Vergangenheit jemals loswerden.«

»Da drüben scheint es gewesen zu sein, da hängen noch die Planen, mit denen man den Tatort abgesperrt hat.« Johann Pfeiffer deutete auf die andere Straßenseite hinüber. Dort ragte eine Ruine empor, deren Erdgeschoss allerdings relativ intakt erschien. Vermutlich eines der wenigen Häuser, die nicht direkt von einer Bombe getroffen, sondern nur indirekt in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Thiesen marschierte mit langen Schritten über die Straße. Auf der anderen Seite musste er ein paar Kindern ausweichen, die Verstecken oder Fangen spielten. So genau war das nicht zu erkennen. Pfeiffer folgte ihm ebenso eilig und sah seinen Chef nur noch von hinten; der stieg die steinernen Stufen in den Keller hinab.

»Das sieht nicht gut aus«, stellte der junge Kommissar fest, nachdem er durch den halb eingestürzten Kellerschacht bis zum Himmel hinaufsehen konnte. »Würde mich nicht wundern, wenn uns der ganze Mist über den Köpfen zusammenstürzt.«

»Warum sollte das ausgerechnet jetzt passieren?«, erkundigte sich Thiesen mürrisch. »Es sei denn, Sie reden es noch herbei.«

»Weil es immer irgendwann passiert, Chef! Jeden Tag, wenn man den Zeitungen glauben darf.«

»Ich wusste nicht, dass Sie auch Zeitung lesen.«

»‘Die Zeit‘, falls Sie’s genau wissen wollen.«

»Die wird doch von den Engländern kontrolliert. Auf der Titelseite können wir die neuesten Wunder des Wiederaufbaus bestaunen und auf der letzten Seite teilt man uns mit, dass noch immer haufenweise Kinder in den Randbezirken verhungern. Aber bis dahin lesen anscheinend die wenigsten.«

»Sie können auch alles schlechtreden, Chef.«

»Hier haben die Frauen gelegen.« Thiesen deutete nach unten, auf ein paar Kreidestriche, die allmählich wieder zu verblassen schienen. Den letzten Kommentar seines jungen Kollegen ignorierte er damit vollständig. »Alle nebeneinander, so wie’s aussieht.«

»Ich frage mich nur, warum niemand Fotos gemacht hat«, überlegte Pfeiffer laut und blieb kopfschüttelnd stehen, um den Kellerraum näher zu inspizieren.

»Wer sollte die denn machen? Solche Sachen werden in Zukunft wohl an uns hängenbleiben. Besser gesagt: an Ihnen.« Thiesen musste lachen und versuchte Pfeiffers wütendem Blick auszuweichen. »Ich glaube ohnehin nicht, dass uns der Fundort weiterhelfen wird.«

»Warum nicht?«

»Die rechtsmedizinische Untersuchung wurde bei den Engländern gemacht, aber einer unserer Leute war auch dabei.« Thiesen überlegte einen kurzen Moment. »Ein Doktor Schacht, glaube ich.«

Statt weitere Fragen zu stellen, schaute Pfeiffer seinen Chef nur erwartungsfroh an, bis der fortfuhr: »Ach so, die waren sich alle einig darüber, dass der Fundort der Leichen keinesfalls mit dem Tatort übereinstimmt.«

»Warum sind die sich da so sicher?«

»Mein Gott! Sie können einem aber auch Löcher in den Bauch fragen«, knurrte Thiesen, während er sich auf den Boden des Gemäuers konzentrierte. »Ich hab doch bis jetzt noch nicht mal selbst den Bericht gelesen.«

Pfeiffer schlurfte durch den Staub und schob gelegentlich einen Stein zur Seite, als wollte er damit den Fundort der Frauen von störendem Unrat befreien. Dann kniete er sich hin und wischte vorsichtig mit der Hand über den glatten Steinboden. Als das nicht reichen wollte, senkte er den Kopf noch weiter, um Sand und Staub beiseite zu pusten. »Das kann nicht sein!«, stellte er jetzt in energischem Ton fest.

»Was kann nicht sein?«, erkundigte sich Thiesen und ließ ein genervtes Stöhnen folgen. »Hören Sie auf, immer nur solche Halbsätze herauszuquetschen.«

»Mindestens eine hat entweder noch gelebt oder kann erst ein paar Minuten tot gewesen sein«, gab Pfeiffer völlig unbeeindruckt zurück. »Hier ist alles voll Blut, wo soll das denn sonst bitte herkommen?«

Thiesen ging neben seinem Kollegen ebenfalls in die Knie, auch auf die Gefahr hin, seine einzige intakte Hose zu ruinieren. Kurz darauf wischte er mit den Fingern vorsichtig über die Stelle, auf die Pfeiffer immer wieder deutete. »Sie haben recht, die Sache ist eindeutig.«

»Und ändert vielleicht etwas an dem Blickwinkel, mit dem wir diesen Ort betrachten sollten.«

»Inwiefern?«

»Keine Ahnung! Sie sind der Chef.«

»Ich hab doch gesagt, Sie sollen mit Ihren Andeutungen aufhören, wenn hinterher nur heiße Luft folgt.«

»Aye, aye, Sir! Werde mich nicht mehr melden, bevor ich nicht alles lückenlos beweisen kann.«

»So war das auch nicht gemeint! Sind Sie etwa eine Mimose?«

»Nicht dass ich wüsste, aber vielleicht schaffen Sie es ja, eine aus mir zu machen.«

 

Eine ganze Weile durchforsteten die Kommissare schweigend den Kellerraum, ohne dabei auf weitere Spuren zu stoßen. Irgendwann griff Thiesen in seine Manteltasche und förderte ein Wunderwerk der Technik zutage.

»Ist das etwa eine Kamera?«, erkundigte sich Pfeiffer in basserstauntem Ton.

»Na, wie ein Toaster sieht es wohl nicht aus, oder?«

»Wo haben Sie die denn her?«

»Ist meine eigene«, presste Thiesen heraus und streichelte das wertvolle Utensil vorsichtig. »Im letzten Monat wollte ich sie gegen zwei Laib Brot und eine Salami tauschen. Aber ich hab’s einfach nicht übers Herz gebracht.«

»Ich würde vielleicht noch einen halben Schinken obendrauf legen«, bot Pfeiffer lachend an.

»Und ich würde sie dann lieber in die Elbe werfen, bevor sie Ihnen in die Hände fällt. Wer weiß denn, was Sie damit vorhaben?«

»Soll ich die Kreidelinien noch ein bisschen freilegen – für ein vernünftiges Foto?«

»Ist nicht nötig, mir geht es im Moment nur darum, den Gesamteindruck aufzufangen. Ich weiß nicht, wofür. Aber vielleicht kann uns das irgendwann helfen.«

»Wer hat eigentlich die Leichen gefunden?«, wollte Pfeiffer wissen. Seine Rechte verschwand in seiner Hosentasche und kehrte mit zwei Streifen Kaugummi zurück. »Wollen Sie eins, Chef?«

Thiesen schaute seinen Kollegen verwundert an und griff wortlos nach dem Kaugummi, das er eilig auswickelte und in seinem Mund verschwinden ließ. »Ein paar Kinder haben einen Schupo hergeführt. Keine Ahnung, ob die auch die ersten hier am Fundort waren.«

»Haben wir eine Adresse?«

»Wollen Sie mich verarschen, Pfeiffer? Welches der Trümmer-Kinder hat denn eine Adresse?«

»Meine ja nur. Ich kenne schon ein paar, die …«

»… dann fragen Sie die doch!«, unterbrach Thiesen seinen Kollegen mit gespielter Fröhlichkeit.

 

Auf der Straße blieben die Kommissare zunächst stehen, um staubfreie Luft in ihre Lungen zu saugen. Pfeiffer spuckte mehrfach aus und musste sich die strafenden Blicke zweier Frauen gefallen lassen, die ihn naserümpfend umrundeten. Auf der anderen Straßenseite marschierte eine ganze Horde von Kindern vorbei, etwa fünfzig an der Zahl. Ein Stück weiter bogen sie nach links ab, Richtung Elbe. Vorneweg und genauso am Ende der Gruppe versuchten jeweils zwei Lehrerinnen, die Meute einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Eine einzelne, ältere Lehrkraft, die an der Spitze lief, bemühte sich, ein gemeinsames Lied anzustimmen, scheiterte mit ihren Versuchen jedoch kläglich und ließ es schließlich bleiben.

»Die sind vermutlich auf dem Weg zur Schulspeisung«, bemerkte Pfeiffer lachend, während er den Kindern immer noch hinterherschaute. »Langsam wird es besser, seit Februar haben wir sogar wieder eine Bürgerschaft.«

»Die von den Engländern ernannt wurde«, erwiderte Thiesen gequält. »Eine tolle Regierung, die uns von unseren Besatzern vor die Nase gesetzt wird.«

»Im Herbst sollen freie Wahlen stattfinden.« Johann Pfeiffer schien sich seine Euphorie nicht nehmen lassen zu wollen. »Die ersten demokratischen Wahlen seit 1933 … keine Ahnung, was Sie eigentlich erwarten.«