Abgeblockt - Myron Bolitar ermittelt - Harlan Coben - E-Book

Abgeblockt - Myron Bolitar ermittelt E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Brenda Slaughter ist schon zu Lebzeiten eine Basketball-Legende, ein großer Star. Und sie braucht dringend einen Beschützer. Denn irgendjemand bedroht ihr Leben. Myron Bolitar, Sportagent und erfolgreicher Privatermittler, übernimmt den Job zuerst aus beruflicher Neugier – und dann aus wachsendem privatem Interesse: Myron fühlt sich nicht nur seltsam zu Brenda hingezogen, er findet auch heraus, dass sie eine gemeinsame Vergangenheit teilen. Und ausgerechnet diese Vergangenheit scheint ein düsteres Geheimnis zu bergen. Für das einige bereit sind, über Leichen zu gehen ...

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Buch

Als Myron Bolitar, Sportagent und Privatdetektiv, von Manager Norm Zuckerman angesprochen wird, der dringend einen Beschützer für seine Star-Spielerin Brenda Slaughter sucht, ist er skeptisch. Zwar bewundert er die Basketball-Legende, doch als Bodyguard hat er sich bisher eher nicht gesehen. Aber Brenda hat noch keinen eigenen Agenten, und Myron wittert die Chance auf einen lukrativen Deal. Zudem stellt sich heraus, dass die beiden eine gemeinsame Vergangenheit verbindet. Denn die geheimnisvollen Drohungen gegenüber Brenda scheinen etwas mit dem Verschwinden ihres Vaters Horace zu tun zu haben – einst Myrons Trainer und dann auch ein enger Freund, den er aus den Augen verloren hat.

Noch während Brenda und Bolitar sich bei der Suche nach Horace Slaughter langsam näherkommen, überschlagen sich die Ereignisse. Denn die Spur führt zu einer von New Jerseys mächtigsten Familien – und zur Mafia. Brenda und mit ihr Bolitar geraten zwischen die Fronten eines leidenschaftlichen Eifersuchtsdramas und eines düsteren Erpressungsszenarios. Eines so tödlich wie das andere …

Der Autor

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Seine Thriller wurden in über 40 Sprachen übersetzt und erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Harlan Coben, der als erster Autor mit den drei bedeutendsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet wurde – dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award –, gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Er lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in New Jersey.

Mehr zum Autor und seinen Büchern unter www.harlancoben.com.

Harlan Coben

Abgeblockt

Myron Bolitar ermittelt

Thriller

Deutsch von Gunnar Kwisinski und Friedo Leschke

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »One False Move« bei Delacorte Press, an imprint of The Random House Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York.

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2017

Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Originalausgabe 1998

by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Anja Lademacher

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Th · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-17849-9V002

www.goldmann-verlag.de

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In Erinnerung an meine Eltern,

Corky und Carl Coben

zur Feier ihrer Enkelkinder

Charlotte, Aleksander, Benjamin und Gabrielle

Prolog

15. September

Der Friedhof überblickte einen Schulhof.

Myron schob die lockere Erde mit der Spitze seines Rockport-Schuhs beiseite. Noch gab es hier keinen Grabstein, nur einen Metallclip, an dem eine schlichte Karteikarte mit einem Namen in Großbuchstaben angebracht war. Er schüttelte den Kopf. Warum stand er hier wie das wandelnde Klischee aus einer schlechten Fernsehserie? Vor seinem inneren Auge lief die ganze Szene ab: Sintflutartiger Regen prasselt auf seinen gebeugten Rücken, den er vor lauter Kummer nicht bemerkt. Den Kopf gesenkt, mit feuchten Augen, vielleicht eine vereinzelte Träne, die über seine Wange läuft und sich mit den Regentropfen vereint. Dramatische Musik im Hintergrund. Die Kamera entfernt sich von seinem Gesicht und fährt langsam zurück, sodass allmählich seine hängenden Schultern, der stärker werdende Regen, weitere Gräber, der menschenleere Friedhof erscheinen. Schließlich erfasst die Kamera Win, Myrons loyalen Partner, der etwas entfernt steht, um seinem Kumpel in stillem Einverständnis die Zeit zu geben, alleine zu trauern. Dann friert das Bild ein, und der Name des Produzenten erscheint in gelben Großbuchstaben auf dem Bildschirm. Nach einer kurzen Pause wird den Zuschauern eine Vorschau der nächsten Folge aufgenötigt. Schnitt. Werbung.

Aber so würde es nicht kommen. Die Sonne schien wie am ersten Schöpfungstag, und der Himmel glänzte wie frisch gestrichen. Win war im Büro. Und Myron würde nicht in Tränen ausbrechen.

Warum war er hier?

Weil bald schon ein Mörder hierherkommen würde. Da war er sich sicher.

Myron ließ den Blick schweifen, hoffte auf etwas zu stoßen, das dem Ganzen so etwas wie einen Sinn verlieh, stieß aber nur auf weitere Klischees. Zwei Wochen waren seit der Beerdigung vergangen. Schon wuchsen Gras und Löwenzahn durch die Erde und reckten sich gen Himmel. Myron wartete, dass seine innere Stimme das übliche Gefasel über Gras und Löwenzahn abspulte, etwas über den Kreislauf der Natur, die Erneuerung und den Fortbestand des Lebens, aber zum Glück blieb die Stimme stumm. Er suchte in der strahlenden Unschuld des Schulhofs nach Anzeichen von Ironie – wie die verblasste Kreide auf dem schwarzen Asphalt, die bunten Dreiräder, die rostigen Schaukelketten, alles halb verdeckt von Grabsteinen, die wie stumme Wärter geduldig über die Kinder wachten, fast so, als würden sie sie zu sich rufen. Aber die Ironie trug nicht. Schulhöfe waren nicht unschuldig. Auch dort tummelten sich Schläger, zukünftige Soziopathen, aufkeimende Psychosen und junge Seelen, denen der Hass schon vor ihrer Geburt eingepflanzt worden war.

Okay, dachte Myron, genug nutzloses Geschwätz für heute. Irgendwie wusste er zwar, dass sein innerer Dialog vorwiegend der Ablenkung diente, ein philosophischer Taschenspielertrick war, der seinen brüchigen Geist davor bewahren sollte, wie ein trockener Zweig zu zerbrechen. Eigentlich wollte er in der Erde versinken oder spüren, wie seine Beine nachgaben, sodass er sich auf den Boden werfen, seine bloßen Hände in die Erde krallen, um Vergebung bitten und eine höhere Macht anflehen konnte, ihm noch eine letzte Chance zu geben.

Aber auch das würde nicht geschehen.

Myron hörte Schritte hinter sich. Er schloss die Augen. Es war, wie er erwartet hatte. Die Schritte kamen näher. Als sie stoppten, drehte Myron sich nicht um.

»Sie haben sie umgebracht«, sagte Myron.

»Ja.«

Ein Eisblock schmolz in Myrons Magen. »Fühlen Sie sich jetzt besser?«

Die Stimme des Mörders liebkoste Myrons Nacken wie eine kalte, blutleere Hand. »Die Frage ist doch, Myron, ob Sie sich jetzt besser fühlen?«

1

30. August

Myron zog die Schultern hoch und nuschelte: »Ich bin kein Babysitter. Ich bin Sportagent.«

Norm Zuckerman sah ihn ein wenig gequält an. »Soll das Bela Lugosi sein?«

»Der Elefantenmensch«, sagte Myron.

»Dann war es furchtbar schlecht. Und wer hat was von einem Babysitter gesagt? Habe ich das Wort Babysitter oder babysitten oder irgendeine Form des Verbs oder Substantivs oder überhaupt das Wort Baby oder sit oder …«

Myron hob die Hand. »Schon verstanden, Norm.«

Sie saßen im Madison Square Garden unter einem Basketballkorb auf zwei dieser Regiestühle aus Stoff und Holz, auf denen hinten der Name des Stars steht. Die Stühle standen auf einem hohen Podest, dass das Netz des Basketballkorbs beinahe Myrons Haare berührte. In der Platzmitte fand ein Modelshooting statt. Zwischen den Leuchten der Fotografen mit ihren weißen, regenschirmartigen Reflektoren, den Stativen und großen, knochigen Frauen mit kindlichem Aussehen liefen schnaufende und wichtigtuerische Gestalten herum. Myron wartete darauf, dass ihn jemand für ein Model hielt, worauf er wohl noch lange warten konnte.

»Eine junge Frau könnte in Gefahr sein«, sagte Norm. »Ich brauche deine Hilfe.«

Norm Zuckerman ging auf die Siebzig zu. Als Geschäftsführer von Zoom, einem Mega-Sportartikelkonglomerat, besaß er mehr Geld als Donald Trump. Vom Aussehen her glich er allerdings mehr einem Beatnik, der in einem LSD-Horrortrip gefangen war. Retro, hatte Norm Myron vor Kurzem erklärt, wäre angesagt. Norm war auf den Zug aufgesprungen und trug einen psychedelischen Poncho, eine gebrauchte Army-Hose, bunte Perlenketten und einen Ohrring mit einem baumelnden Peace-Zeichen. Groovy, Mann. Sein schwarzgrauer struppiger Bart sah aus wie eine Brutstätte für Käferlarven, und sein seit Neuestem lockiges Haar schien einer schlechten Produktion des Musicals Godspell entsprungen zu sein. Che Guevara lebte und trug jetzt Dauerwelle.

»Du brauchst nicht mich«, sagte Myron. »Du brauchst einen Leibwächter.«

Norm winkte ab. »Zu auffällig.«

»Warum?«

»Darauf würde sie sich nie einlassen. Also, Myron, was weißt du über Brenda Slaughter?«

»Nicht viel«, sagte Myron.

Er wirkte überrascht. »Was meinst du mit nicht viel?«

»Welches Wort hast du nicht verstanden, Norm?«

»Herrgott nochmal, du warst selbst Basketballspieler.«

»Na und?«

»Und Brenda Slaughter ist womöglich die beste Basketballspielerin aller Zeiten. Eine Pionierin in ihrem Sport – und außerdem natürlich das Pin-up-Girl, entschuldige die politisch unkorrekte Ausdrucksweise, für meine neue Liga.«

»So viel weiß ich.«

»Und Folgendes musst du außerdem wissen: Ich mache mir ihretwegen Sorgen. Wenn Brenda Slaughter etwas passiert, könnte die gesamte WPBA – und damit auch meine beträchtlichen Investitionen – den Bach runtergehen.«

»Na ja, wenn es sich um humanitäre Gründe handelt.«

»Schön, ich bin ein gieriges Kapitalistenschwein. Aber du, mein Freund, bist Sportagent. Es gibt keine Lebensform, die gieriger, widerlicher, schleimiger und kapitalistischer ist.«

Myron nickte. »Versuch ruhig, dich einzuschmeicheln«, sagte er. »Das hilft.«

»Du hast mich nicht ausreden lassen. Ja, du bist Sportagent. Aber ein verdammt guter. Sogar der beste. Zusammen mit deiner spanischen Schickse macht ihr eine unglaublich gute Arbeit für eure Klienten. Ihr holt alles für sie raus. Mehr, als sie eigentlich verdient hätten. Wenn du mit mir fertig bist, komme ich mir immer vor, als wäre ich vergewaltigt worden. So verdammt gut bist du. Du kommst in mein Büro, reißt mir die Klamotten vom Leib und machst mit mir, was du willst.«

Myron verzog das Gesicht. »Lass gut sein.«

»Aber ich kenne das Geheimnis deiner FBI-Vergangenheit.«

Tolles Geheimnis. Myron hoffte immer noch, irgendwo auf der Welt mal jemanden zu treffen, der noch nichts davon gehört hatte.

»Hör mir mal einen Moment zu, Myron, okay? Pass auf. Brenda ist ein nettes Mädchen, eine wunderbare Basketballspielerin – aber auch ein Stachel in meinem Allerwertesten. Sie kann gar nichts dafür. Wenn ich mit so einem Vater aufgewachsen wäre, wäre ich auch ein Stachel in meinem Allerwertesten.«

»Also ist ihr Vater das Problem?«

Norm drehte abwägend die Hand. »Gut möglich.«

»Dann besorgt euch eine einstweilige Verfügung«, sagte Myron.

»Schon erledigt.«

»Wo ist dann das Problem? Nehmt euch einen Privatdetektiv. Wenn er sich ihr weniger als hundert Meter nähert, ruft ihr die Polizei.«

»So einfach ist das nicht.« Norm blickte auf den Platz. Die am Fotoshooting beteiligten Personen wirbelten herum wie eingeschlossene Partikel, die plötzlicher Hitze ausgesetzt wurden. Myron nippte an seinem Kaffee. Gourmet Kaffee. Bis vor einem Jahr hatte er keinen Kaffee getrunken. Dann hatte er angefangen, bei einer dieser neuen Kaffeebars zu halten, die sich vermehrten wie schlechte Filme im Kabelfernsehen. Inzwischen stand Myron keinen Vormittag ohne seine Gourmet-Kaffeedröhnung durch.

Es ist ein schmaler Grat zwischen einer Kaffeepause und einer Opiumhöhle.

»Wir wissen nicht, wo er ist«, sagte Norm.

»Wie bitte?«

»Ihr Vater«, sagte Norm. »Er ist verschwunden. Brenda blickt ständig nervös hinter sich. Sie hat Angst.«

»Und du glaubst, ihr Vater ist eine Gefahr für sie?«

»Der Typ ist der Große Santini auf Anabolika. Er hat auch selbst gespielt. In der Pacific-10, glaube ich. Er heißt …«

»Horace Slaughter«, sagte Myron.

»Du kennst ihn?«

Myron nickte sehr langsam. »Ja«, sagte er. »Ich kenne ihn.«

Norm musterte sein Gesicht. »Du bist zu jung, um mit ihm gespielt zu haben.«

Myron sagte nichts. Norm hatte den Hinweis nicht verstanden. Das tat er so gut wie nie.

»Also, woher kennst du Horace Slaughter?«

»Spielt keine Rolle. Erzähl mir, warum du glaubst, dass Brenda Slaughter in Gefahr ist.«

»Sie wurde bedroht.«

»Womit?«

»Mit dem Tod.«

»Kannst du das etwas näher ausführen?«

Der Fotoshooting-Wahnsinn tobte weiter. Models präsentierten die neueste Zoom-Kollektion und zeigten dabei sämtliche Haltungen und Mienenspiele einschließlich Schmollmündern und vorgestülpten Lippen. Come on and vogue. Jemand rief nach Ted, wo zum Teufel steckte Ted, diese Primadonna, warum war Ted noch nicht umgezogen, ich schwöre, Ted bringt mich noch ins Grab.

»Sie hat Anrufe bekommen«, sagte Norm. »Ein Auto ist ihr gefolgt. Solche Sachen.«

»Und was genau soll ich tun?«

»Auf sie aufpassen.«

Myron schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ich ja sagen würde – was ich nicht tue –, du hast gesagt, sie will keinen Bodyguard.«

Norm lächelte und tätschelte Myrons Knie. »Jetzt kommt die Stelle, wo ich dich ködere, wie einen Fisch an den Haken.«

»Originelle Analogie.«

»Brenda Slaughter hat zurzeit keinen Agenten.«

Myron sagte nichts.

»Hat’s dir die Sprache verschlagen, mein Hübscher?«

»Ich dachte, sie hätte einen großen Ausrüster-Vertrag mit Zoom?«

»Sie stand kurz davor, als ihr alter Herr verschwunden ist. Er war ihr Manager. Aber sie ist ihn losgeworden. Jetzt ist sie auf sich allein gestellt. Sie vertraut meinem Urteilsvermögen, bis zu einem gewissen Grad. Das Mädchen ist nicht dumm, glaub mir. Mein Plan sieht folgendermaßen aus: Brenda kommt in ein paar Minuten. Ich empfehle dich ihr. Sie sagt Hallo. Du sagst Hallo. Dann haust du sie mit dem berühmten Bolitar-Charme vom Hocker.«

Myron zog eine Augenbraue hoch. »Das volle Programm?«

»Um Himmels willen nein. Ich will ja nicht, dass das arme Mädchen sich die Kleider vom Leib reißt.«

»Ich habe einen Eid geschworen, meine Kräfte nur für das Gute einzusetzen.«

»Das hier ist gut, Myron, glaub mir.«

Myron war nicht überzeugt. »Selbst wenn ich diesem ziemlich lausigen Plan zustimme, was ist nachts? Erwartest du, dass ich sie rund um die Uhr im Auge behalte?«

»Natürlich nicht. Da wird Win dir helfen.«

»Win hat Besseres zu tun.«

»Sag dem gojischen Lustknaben, dass er es für mich tut«, sagte Norm. »Win liebt mich.«

Ein aufgeregter Fotograf mit pseudoeuropäischer Affektiertheit kam hastig auf sie zu. Er hatte einen Ziegenbart und stacheliges blondes Haar wie Sandy Duncan an einem freien Tag. Duschen schien für ihn keine Priorität zu haben. Er seufzte wiederholt, um sicherzugehen, dass alle in der Nähe mitbekamen, dass er gleichermaßen wichtig wie auch verärgert war. »Wo ist Brenda?«, winselte er.

»Gleich hier.«

Myron drehte sich zu einer Stimme um, die wie warmer Honig auf sonntägliche Pfannkuchen rann. Mit langen, entschlossenen Schritten – nicht mit dem scheuen Mädchen-Gang der zu groß Geratenen oder dem unangenehmen Stolzieren der Models – rauschte Brenda Slaughter heran wie ein Hochdruckgebiet auf einer animierten Wetterkarte. Sie war sehr kräftig gebaut, mindestens ein Meter fünfundachtzig groß, und ihre Haut hatte die Farbe von Myrons Starbucks-Mokka Java mit einem kräftigen Schuss Magermilch. Sie trug verwaschene Jeans, die sich wunderschön und keinesfalls obszön an sie schmiegten, und einen Skipulli, dessen Anblick den Wunsch weckte, in einer schneebedeckten Blockhütte zu kuscheln.

Es gelang Myron, nicht laut Wow zu sagen.

Brenda Slaughter war nicht in erster Linie schön, sondern spannungsgeladen. Um sie herum knisterte es. Für ein Model war sie viel zu groß und breitschultrig. Myron kannte einige professionelle Models. Sie stürzten sich immer auf ihn – kicher – und waren lächerlich dünn, gebaut wie Bindfäden an Heliumballons. Brenda trug nicht Größe 36. Man spürte die Kraft dieser Frau, die Substanz, ihre Stärke, eine Macht, wenn man so will, und trotzdem war alles sehr feminin, was auch immer das heißen mochte, und unglaublich attraktiv.

Norm beugte sich vor und flüsterte: »Verstehst du jetzt, warum sie unser Poster Girl ist?«

Myron nickte.

Norm sprang von seinem Stuhl auf. »Brenda, Liebling, komm hierher. Ich möchte dir jemanden vorstellen.«

Als ihre großen braunen Augen auf Myrons trafen, zögerte sie kurz, dann kam sie auf sie zu. Myron, ganz Gentleman, stand auf. Brenda trat direkt auf ihn zu und streckte die Hand aus. Myron schüttelte sie. Ihr Händedruck war fest. Jetzt wo sie beide standen, bemerkte Myron, dass er nur drei bis fünf Zentimeter größer war als sie. Demnach war sie ein Meter achtundachtzig oder vielleicht ein Meter neunzig groß.

»Sieh einer an«, sagte Brenda. »Myron Bolitar.«

Norm gestikulierte, als wollte er die beiden enger zusammenschieben. »Ihr kennt euch?«

»Oh, ich gehe davon aus, dass Mr Bolitar sich nicht mehr an mich erinnert«, sagte Brenda. »Ist lange her.«

Myron brauchte nur ein paar Sekunden. Ihm war sofort klar, dass er sich zweifelsohne erinnert hätte, wenn er Brenda Slaughter schon einmal begegnet wäre. Die Tatsache, dass er es nicht tat, bedeutete, dass ihre letzte Begegnung unter ganz anderen Umständen stattgefunden haben musste. »Sie waren oft auf dem Platz«, sagte Myron. »Mit Ihrem Vater. Sie müssen damals fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein.«

»Und Sie waren gerade neu in der Highschool«, fügte sie hinzu. »Der einzige Weiße, der regelmäßig dort war. Sie haben das Team der Livingston High zur Meisterschaft geführt, sind dann auf der Duke University zum College-Nationalspieler geworden, wurden von den Boston Celtics in der ersten Runde gedraftet …«

Ihre Stimme versiegte. Myron kannte das. »Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie sich erinnern«, sagte er, wobei er bereits vor Charme platzte.

»Ich hab Sie als Kind dauernd spielen sehen«, fuhr sie fort. »Mein Vater hat Ihre Karriere verfolgt, als wären Sie sein eigener Sohn. Als Sie sich verletzt haben …« Wieder brach sie ab, ihre Lippen strafften sich.

Er lächelte, um zu zeigen, dass er verstand und ihr Mitgefühl schätzte.

Norm nutzte das Schweigen. »Also, Myron ist jetzt Sportagent. Ein verdammt guter. Der beste meiner Meinung nach. Fair, ehrlich, höllisch loyal …« Norm unterbrach sich plötzlich. »Habe ich diese Worte gerade zur Beschreibung eines Sportagenten verwendet?« Er schüttelte den Kopf.

Wieder kam der ziegenbärtige Sandy Duncan herüber. Er sprach mit einem französischen Akzent, der so echt klang wie der von Pepé Le Pew. »Monsieur Ssückermahn?«

Norm sagte: »Oui.«

»Ich brauche Ihre Hilfe, s’il vous plaît.«

»Oui«, sagte Norm.

Fast hätte Myron um einen Dolmetscher gebeten.

»Setzt euch doch«, sagte Norm. »Ich muss mal einen Moment weg.« Er klopfte auf die leeren Stühle, um das Gesagte zu unterstreichen. »Myron hilft mir, die Liga aufzubauen. Als eine Art Berater. Also sprich mit ihm, Brenda. Über deine Karriere, deine Zukunft, egal. Er wäre ein guter Agent für dich.« Er zwinkerte Myron zu. Sehr dezent.

Als Norm gegangen war, setzte Brenda sich auf den Regiestuhl. »Ist das alles wahr?«

»Zum Teil«, sagte Myron.

»Welcher Teil?«

»Ich würde Sie gern als Agent vertreten. Das ist aber nicht der Grund für meine Anwesenheit.«

»Aha?«

»Norm macht sich Sorgen um Sie. Er möchte, dass ich auf Sie aufpasse.«

»Auf mich aufpassen?«

Myron nickte. »Er glaubt, Sie sind in Gefahr.«

Sie spannte ihr Gesicht an. »Ich hab ihm doch gesagt, ich will nicht, dass mich jemand beobachtet.«

»Schon klar«, sagte Myron. »Ich soll undercover arbeiten. Psst.«

»Und warum erzählen Sie mir das?«

»Ich kann Geheimnisse schlecht für mich behalten.«

Sie nickte. »Und?«

»Und falls ich Ihr Agent werden sollte, kann ich mir nicht vorstellen, dass es sich auszahlt, wenn am Anfang unserer Beziehung eine Lüge steht.«

Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander, die länger waren als die mittägliche Schlange bei der Zulassungsstelle. »Was wollte Norm noch von Ihnen?«

»Dass ich meinen Charme spielen lasse.«

Sie blinzelte.

»Keine Sorge«, sagte Myron. »Ich habe einen feierlichen Eid geschworen, ihn nur für das Gute einzusetzen.«

»Da habe ich ja nochmal Glück gehabt.« Brenda hielt einen langen Finger an ihr Gesicht und tippte damit ein paar Mal an ihr Kinn. »Also«, sagte sie schließlich, »Norm glaubt, dass ich einen Babysitter brauche.«

Myron warf die Hände in die Luft und gab seine beste Norm-Vorstellung. »Wer hat was von einem Babysitter gesagt?« Es war besser als sein Elefantenmensch.

Sie lächelte. »Okay«, sagte sie mit einem Nicken. »Ich spiele mit.«

»Welch angenehme Überraschung.«

»Das sehen Sie falsch. Wenn Sie es nicht tun, engagiert Norm einen anderen, der vermutlich nicht so mitteilsam ist. So weiß ich wenigstens, woran ich bin.«

»Klingt logisch«, sagte Myron.

»Es gibt aber ein paar Bedingungen.«

»Das dachte ich mir schon.«

»Ich mache, was ich will und wann ich es will. Das ist kein Freifahrtschein, um in meine Privatsphäre einzudringen.«

»Natürlich nicht.«

»Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen sich eine Weile vom Acker machen, dann fragen Sie, ob Sie auf die Wiese oder in den Wald gehen sollen.«

»In Ordnung.«

»Und Sie spionieren mir nicht nach, wenn ich nichts davon weiß.«

»Okay.«

»Sie halten sich aus meinen Angelegenheiten raus.«

»Einverstanden.«

»Wenn ich eine Nacht wegbleibe, sagen Sie nichts.«

»Kein Wort.«

»Wenn ich beschließe, mich an einer Orgie mit Pygmäen zu beteiligen, sagen Sie nichts.«

»Darf ich wenigstens zugucken?«, fragte Myron.

Die Bemerkung brachte ihm ein Lächeln ein. »Ich will nicht schwierig klingen, aber ich habe genug Vaterfiguren in meinem Leben, danke schön. Ich möchte nur klarstellen, dass wir nicht vierundzwanzig Stunden am Tag miteinander abhängen oder etwas in der Art. Wir befinden uns nicht in einem Film mit Whitney Houston und Kevin Costner.«

»Manche Leute sagen, ich sehe aus wie Kevin Costner.« Myron schenkte ihr das zynische, bösartige Lächeln aus Annies Männer.

Sie sah durch ihn hindurch. »Vielleicht der Haaransatz.«

Autsch. Auf dem Platz rief der ziegenbärtige Sandy Duncan wieder nach Ted. Seine Clique folgte seinem Beispiel prompt. Der Name Ted hüpfte durch die Arena wie ein Flummi über den Platz.

»Dann sind wir uns einig?«, fragte sie.

»Absolut«, sagte Myron. Er verlagerte sein Gewicht. »Erzählen Sie mir jetzt, was eigentlich los ist?«

Auf der rechten Seite hatte Ted – es musste einfach ein Typ namens Ted sein – endlich seinen großen Auftritt. Er war nur mit Shorts von Zoom bekleidet, und sein Bauch war gewellt wie ein Reliefkarte aus Marmor. Er war Anfang zwanzig, sah auf Model-Art gut aus und blinzelte wie ein Gefängniswärter. Als er in Richtung Shooting stolzierte, fuhr er sich mit beiden Händen durch sein blauschwarzes Supermann-Haar, eine Bewegung, die seinen Brustkorb breiter, die Taille schmaler machte, und die glattrasierten Unterarme präsentierte.

Brenda murmelte: »Eitler Pfau.«

»Das ist total unfair«, sagte Myron. »Vielleicht hat er ein Fulbright-Stipendium.«

»Ich habe schon mal mit ihm gearbeitet. Wenn Gott ihm ein zweites Gehirn schenken würde, würde es vor Einsamkeit eingehen.« Ihre Augen wanderten zu Myron. »Eins verstehe ich nicht.«

»Was?«

»Warum Sie? Sie sind Sportagent. Warum heuert Norm Sie als meinen Bodyguard an?«

»Ich habe mal …«, er wedelte unbestimmt mit der Hand, »für die Regierung gearbeitet.«

»Davon habe ich nie etwas gehört.«

»Ein weiteres Geheimnis. Psst.«

»Geheimnisse sind bei Ihnen nicht sehr gut aufgehoben, Myron.«

»Sie können mir vertrauen.«

Sie dachte darüber nach. »Na ja, Sie waren ein weißer Spieler, der es beim Basketball draufhatte«, sagte sie. »Also könnten Sie eventuell auch ein vertrauenswürdiger Sportagent sein.«

Myron lachte, und ein unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Er unterbrach es mit einem erneuten Versuch. »Erzählen Sie mir jetzt von den Drohungen?«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen.«

»Hat Norm sich das alles ausgedacht?«

Brenda antwortete nicht. Eine der Assistentinnen ölte Teds unbehaarte Brust ein. Ted präsentierte der Menge noch immer seinen Harter-Typ-Look. Zu viele Clint-Eastwood-Filme. Ted ballte beide Fäuste und spannte ständig die Brustmuskeln an. Myron beschloss, allen anderen zuvorzukommen und Ted sofort zu hassen.

Brenda schwieg noch immer. Myron entschied sich für ein anderes Vorgehen. »Wo wohnen Sie derzeit?«, fragte er.

»In einem Studentenwohnheim an der Reston University.«

»Sie studieren noch?«

»Medizin. Viertes Jahr. Ich habe gerade ein Urlaubssemester, um in der Profiliga spielen zu können.«

Myron nickte. »Haben Sie sich schon für ein Fachgebiet entschieden?«

»Pädiatrie.«

Er nickte wieder und beschloss, sich etwas weiter vorzuwagen. »Ihr Vater muss sehr stolz auf Sie sein.«

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Ja, ich glaube schon.« Sie setzte sich auf. »Ich muss mich jetzt für das Fotoshooting umziehen.«

»Wollen Sie mir nicht vorher erzählen, was los ist?«

Sie blieb sitzen. »Dad wird vermisst.«

»Seit wann?«

»Seit einer Woche.«

»Und gleichzeitig begannen auch die Drohungen?«

Sie ignorierte die Frage. »Sie wollen mir helfen? Dann finden Sie meinen Vater.«

»Ist er es, der Sie bedroht?«

»Kümmern Sie sich nicht um die Drohungen. Dad ist ein Kontrollfreak, Myron. Drohungen und Einschüchterungen sind da nur eine Möglichkeit.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Das müssen Sie nicht verstehen. Sie sind doch mit ihm befreundet, oder?«

»Mit Ihrem Vater? Ich habe Horace seit über zehn Jahren nicht gesehen.«

»Und wessen Schuld ist das?«

Die Worte und vor allem der verbitterte Tonfall überraschten ihn. »Was meinen Sie damit?«

»Bedeutet er Ihnen noch was?«

Darüber musste Myron nicht nachdenken. »Aber ja, das wissen Sie doch.«

Sie nickte und sprang auf. »Er steckt in Schwierigkeiten«, sagte sie. »Finden Sie ihn.«

2

Als Brenda zurückkam, trug sie Lycra Shorts von Zoom und das, was man allgemein einen Sport-BH nannte. Sie bestand aus Gliedern, Schultern und Muskeln, hatte viel Substanz. Die professionellen Models starrten sie wegen ihrer Größe an (nicht ihrer Länge – die meisten waren auch um die eins achtzig), und Myron dachte, dass sie wie eine explodierende Supernova in einem, na ja, Gasnebel wirkte.

Die Posen waren gewagt und Brenda sichtlich unangenehm. Nicht jedoch Ted. Er schlängelte sich um sie herum und schmachtete sie mit einem Blick an, der glühende Sexualität darstellen sollte. Zweimal konnte Brenda nicht an sich halten und prustete los. An Myrons Abneigung gegen Ted hatte sich nichts geändert, während Brenda ihm immer besser gefiel.

Myron nahm sein Handy und wählte Wins Privatnummer. Win war ein hochkarätiger Anlageberater bei Lock-Horne Securities, einem Finanzunternehmen, das mit altem Geld gegründet worden war und seine ersten Wertpapiere vermutlich auf der Überfahrt mit der Mayflower verkauft hatte. Wins Büro befand sich im Lock-Horne Building an der Ecke Park Avenue und 47th Street im Herzen Manhattans. Myron hatte sich dort eingemietet. Ein Sportagent in der Park Avenue – tja, das hatte Klasse.

Nach dem dritten Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter. Wins gelangweilte arrogante Stimme verkündete: »Wenn Sie auflegen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, werden Sie sterben.« Piep. Myron schüttelte den Kopf, lächelte und hinterließ wie immer eine Nachricht.Dann wählte er die Nummer seines Büros. Esperanza nahm ab: »MB SportsReps.«

Das M stand für Myron, das B für Bolitar und das SportsReps fand seine Erklärung in ihrer Tätigkeit, Sportler zu repräsentieren. Myron hatte sich den Namen ausgedacht, ohne auf die Hilfe von professionellen Marketingleuten zurückzugreifen. Trotzdem war er bescheiden geblieben.

»Irgendwelche Nachrichten?«, fragte er.

»Ungefähr tausend.«

»Irgendwas Wichtiges?«

»Alan Greenspan wollte deine Meinung zu möglichen Zinserhöhungen. Sonst nichts.« Esperanza, die ewige Klugscheißerin. »Und was wollte Norm?«

Esperanza Diaz – die »spanische Schickse«, um Norms Ausdruck zu verwenden – war von Anfang an bei MB SportsReps. Vorher war sie als Profi-Wrestlerin unter dem Namen Little Pocahontas bekannt gewesen. In einfachen Worten hieß das: Sie hatte in einem Bikini, der an Raquel Welchs Kleidungsstück in Eine Million Jahre vor unserer Zeit erinnerte, mit anderen Frauen vor einer Horde geifernder Männer gekämpft. Esperanza betrachtete den Wechsel in den Beruf der Sportagentin als Abstieg.

»Es geht um Brenda Slaughter«, setzte er an.

»Die Basketballspielerin?«

»Ja.«

»Ich hab sie ein paar Mal spielen sehen«, sagte Esperanza. »Im Fernsehen sieht sie heiß aus.«

»In natura auch.«

Es entstand eine Pause. Dann sagte Esperanza: »Ich glaube, sie nimmt Teil an der Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt?«

»Häh?«

»Ist sie dem männlichen Geschlecht zugeneigt?«

»Herrje«, sagte Myron. »Ich habe vergessen nachzugucken, ob sie ein Tattoo hat.«

Esperanzas sexuelle Präferenzen wechselten wie Politikermeinungen in einem Nicht-Wahljahr. Zurzeit schien sie auf Männer zu stehen, aber Myron nahm an, dass einer der Vorteile der Bisexualität war, jeden lieben zu können. Myron hatte damit kein Problem. In der Highschool hatte er fast nur Dates mit Mädchen, die sexuell in jeder Hinsicht sehr aufgeschlossen gewesen waren – nur nicht ihm gegenüber. Okay, der Witz war alt, blieb aber wahr.

»Spielt keine Rolle«, sagte Esperanza. »Ich mag David wirklich.« Ihr derzeitiger Beau. Es würde nicht halten. »Aber du musst zugeben, dass Brenda Slaughter heiß ist.«

»Hiermit zugegeben.«

»Könnte Spaß machen, für ein oder zwei Nächte.«

Myron nickte ins Handy. Ein geringerer Mann als er würde jetzt im Kopf ein paar scharfe Bilder heraufbeschwören von der kleinen, zierlichen Latina-Schönheit, die sich in leidenschaftlichen Zuckungen der atemberaubenden schwarzen Amazone im Sport-BH hingab. Nicht so Myron. Zu weltgewandt.

»Norm will, dass wir auf sie aufpassen«, sagte Myron. Er informierte sie. Als er fertig war, hörte er sie stöhnen.

»Was ist?«, sagte er.

»Mein Gott, Myron, sind wir Sportagenten oder Pinkertons?«

»Es geht darum, Klienten zu bekommen.«

»Und lass dir bloß nichts anderes erzählen.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«

»Nichts. Was soll ich also tun?«

»Ihr Vater wird vermisst. Er heißt Horace Slaughter. Sieh, was du über ihn herausfinden kannst.«

»Ich könnte hier Hilfe brauchen«, sagte sie.

Myron rieb sich die Augen. »Ich dachte, wir wollten jemanden fest anstellen.«

»Und wer hat Zeit für sowas?«

Schweigen.

»Gut«, sagte Myron. Er seufzte. »Ruf Big Cyndi an. Aber mach ihr klar, dass es nur zur Probe ist.«

»Okey-dokey.«

»Und wenn ein Klient kommt, möchte ich, dass Cyndi sich in meinem Büro versteckt.«

»Ja, gut, geht klar.«

Er legte auf.

Als das Fotoshooting beendet war, kam Brenda Slaughter zu ihm.

»Wo wohnt Ihr Vater zurzeit?«, fragte Myron.

»Da, wo wir früher auch gewohnt haben.«

»Sind Sie dort gewesen, nachdem er verschwunden ist?«

»Nein.«

»Dann fangen wir da an«, sagte Myron.

3

Newark, New Jersey. Der üble Teil der Stadt. Fast überflüssig zu erwähnen.

Verfall war das erste Wort, das einem in den Sinn kam. Die Gebäude waren mehr als verfallen, sie schienen kurz davor, zusammenzubrechen oder wie unter einer Art Säureattacke zu schmelzen. Mit dem Konzept der Stadterneuerung war man hier ähnlich vertraut wie mit Zeitreisen. Die Umgebung erinnerte eher an eine Szene aus einer alten Wochenschau – Frankfurt nach dem Bombenangriff der Alliierten – als an ein Wohngebiet. Das Viertel sah noch schlimmer aus, als er es in Erinnerung hatte. Wenn Myron als Teenager mit seinem Vater diese Straße entlanggefahren war, hatten sich die Türen plötzlich verriegelt, als spürten auch sie die nahende Gefahr. Das Gesicht seines Vaters verdüsterte sich. »Drecksloch«, hatte er gemurmelt. Dad war in der Nähe aufgewachsen, was allerdings ewig her war. Sein Vater, der Mann, den Myron wie keinen anderen liebte und verehrte, die sanfteste Seele, die er je kennengelernt hatte, konnte hier seine Wut kaum beherrschen. »Guck dir an, was die aus dem alten Viertel gemacht haben«, hatte er gesagt.

Guck, was die gemacht haben.

Die.

Myrons Ford Taurus fuhr langsam am alten Basketballplatz vorbei. Schwarze Gesichter starrten ihn an. Sie spielten fünf gegen fünf, und neben dem Platz warteten jede Menge Kids darauf, gegen den Sieger zu spielen. Die billigen Kaufhaus-Basketballschuhe aus Myrons Tagen – von Thom McAn oder Keds oder Kmart – waren durch Modelle für über hundert Dollar ersetzt worden, die diese Kids sich eigentlich nicht leisten konnten. Myron empfand Gewissensbisse. Zu diesem Thema hätte er gern einen moralischen Standpunkt eingenommen, der den Verfall der Werte und den Materialismus angeprangerte, aber als Agent verdiente er unter anderem mit Sportkleidungs-Werbeverträgen seine Brötchen. Er fühlte sich nicht wohl dabei, wollte aber auch nicht scheinheilig sein.

Es trug auch keiner mehr Shorts. Alle Jugendlichen trugen blaue oder schwarze Jeans, die so weit unter dem Hintern hingen, als hätte ein Zirkusclown es auf einen Extra-Lacher abgesehen. Der Hintern wurde von Designer-Boxershorts bedeckt. Myron wollte nicht wie ein alter Mann klingen, der über den Modegeschmack der Jugend jammerte, aber im Vergleich dazu waren sogar Schlaghosen und Plateauschuhe praktisch. Wie sollte man anständig spielen, wenn man dauernd stehen bleiben musste, um sich die Hose hochzuziehen?

Aber die größte Veränderung lag in den Blicken. Myron hatte Angst gehabt, als er als fünfzehnjähriger Highschool-Schüler zum ersten Mal hierhergekommen war, aber er hatte gewusst, dass er sich dem größtmöglichen Wettbewerb stellen musste, wenn er besser werden wollte. Und das bedeutete, hier zu spielen. Am Anfang war er nicht willkommen. Ganz und gar nicht. Aber die Blicke neugieriger Ablehnung, mit denen er damals bedacht worden war, spotteten jedem Vergleich zu den tödlichen Blicken, mit denen diese Kids ihn durchbohrten. Ihr Hass war nackt, offen, voll kalter Resignation. Es mochte abgedroschen klingen, aber damals – vor weniger als zwanzig Jahren – war es hier anders gewesen. Vielleicht hatte es einfach mehr Hoffnung gegeben. Schwer zu sagen.

Als könnte sie seine Gedanken lesen, sagte Brenda: »Nicht einmal ich würde hier noch spielen.«

Myron nickte.

»Es war nicht leicht für Sie, oder? Hierherzukommen und zu spielen.«

»Ihr Vater hat es mir leicht gemacht.«

Sie lächelte. »Ich habe nie verstanden, warum er Sie so ins Herz geschlossen hatte. Eigentlich hasste er Weiße.«

Myron schnappte demonstrativ nach Luft. »Ich bin weiß?«

»Wie Pat Buchanan.«

Beide lachten etwas gezwungen. Myron startete einen neuen Versuch. »Erzählen Sie mir von den Drohungen.«

Brenda starrte aus dem Fenster. Sie fuhren an einem Stand vorbei, an dem Radkappen verkauft wurden. Hunderte, wenn nicht tausende Radkappen glänzten in der Sonne. Ein sonderbares Geschäft, dachte Myron. Eigentlich brauchte man nur eine neue Radkappe, wenn einem eine gestohlen wurde. Und die gestohlenen landeten dann an solchen Plätzen wie diesem. Ein geschlossener Mini-Geldkreislauf.

»Ich habe Anrufe bekommen«, fing sie an. »Meistens nachts. Einmal sagten sie, dass sie mir etwas antun würden, wenn sie meinen Vater nicht finden. Ein anderes Mal verlangten sie, dass ich meinen Daddy als Manager behalten soll, sonst …« Sie brach ab.

»Irgendeine Idee, wer das gewesen sein könnte?«

»Nein.«

»Eine Idee, warum jemand Ihren Vater sucht?«

»Nein.«

»Oder warum Ihr Vater verschwunden ist?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Norm hat mir erzählt, dass Ihr Auto verfolgt wurde.«

»Davon weiß ich nichts«, sagte sie.

»Die Stimme am Telefon«, sagte Myron, »war das immer dieselbe?«

»Ich glaube nicht.«

»Männlich, weiblich?«

»Männlich. Und weiß. Zumindest klang sie weiß.«

Myron nickte. »Wettet oder spielt Horace?«

»Nie. Mein Großvater war ein Spieler. Hat alles verloren, was er besaß. War zwar nicht viel, aber Dad würde sich nie darauf einlassen.«

»Hat er sich Geld geliehen?«

»Nein.«

»Sind Sie sicher? Selbst mit finanzieller Unterstützung hat Ihre Ausbildung einiges gekostet.«

»Ich habe Stipendien, seit ich zwölf bin.«

Myron nickte. Vor ihnen torkelte ein Mann über den Fußweg. Er trug Calvin-Klein-Unterwäsche, zwei unterschiedliche Skistiefel und eine dieser riesigen Russenmützen wie Doktor Schiwago. Sonst nichts. Kein Hemd, keine Hose. Er umklammerte eine braune Papiertüte, als wollte er ihr über die Straße helfen.

»Wann ging das los mit den Anrufen?«, fragte Myron.

»Vor einer Woche.«

»Wann ist Ihr Vater verschwunden?«

Brenda nickte. Sie wollte mehr erzählen. Myron erkannte es daran, wie sie ins Leere starrte. Er schwieg und wartete.

»Beim ersten Mal«, sagte sie leise, »verlangte die Stimme, dass ich meine Mutter anrufe.«

Myron wartete darauf, dass sie weitersprach. Als klar war, dass sie das nicht tun würde, fragte er: »Und haben Sie das getan?«

Sie lächelte traurig. »Nein.«

»Wo lebt Ihre Mutter?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe sie nicht gesehen, seit ich fünf Jahre alt war.«

»Wenn Sie sagen ›habe sie nicht gesehen …‹«

»Dann bedeutet es genau das. Sie hat uns vor zwanzig Jahren verlassen.« Jetzt drehte Brenda sich zu ihm um. »Sie sehen überrascht aus.«

»Das bin ich wohl auch.«

»Warum? Wissen Sie, wie viele von diesen Jungs hier von ihren Vätern verlassen wurden? Glauben Sie, eine Mutter könnte das nicht?« Sie hatte recht, aber es klang eher nach einer Rechtfertigung als nach echter Überzeugung.

»Also haben Sie sie nicht mehr gesehen, seit Sie fünf sind?«

»Genau.«

»Wissen Sie, wo sie wohnt? Eine Stadt, einen Bundesstaat oder sonst irgendetwas?«

»Keine Ahnung.« Sie bemühte sich, gleichgültig zu klingen.

»Sie hatten keinen Kontakt zu ihr?«

»Nur ein paar Briefe.«

»Mit Absender?«

Brenda schüttelte den Kopf. »Der Poststempel war aus New York City. Mehr weiß ich nicht.«

»Weiß Horace, wo sie wohnt?«

»Nein. In den letzten zwanzig Jahren hat er nicht einmal ihren Namen in den Mund genommen.«

»Zumindest nicht Ihnen gegenüber.«

Sie nickte.

»Vielleicht meinte der Anrufer gar nicht Ihre Mutter«, sagte Myron. »Haben Sie eine Stiefmutter? Hat Ihr Vater wieder geheiratet oder lebt er mit jemandem …«

»Nein. Nach meiner Mutter gab es niemanden mehr.«

Schweigen.

»Warum sollte sich jemand zwanzig Jahre, nachdem sie Sie verlassen hat, nach Ihrer Mutter erkundigen?«, fragte Myron.

»Ich weiß es nicht.«

»Irgendeine Idee?«

»Keine. Für mich ist sie seit zwanzig Jahren eine Art Geist.« Sie zeigte nach vorne. »Da vorne links.«

»Hätten Sie etwas dagegen, dass ich Ihr Telefon abhöre? Für den Fall, dass die nochmal anrufen?«

Sie schüttelte den Kopf.

Er bog, wie von ihr gewünscht, links ab. »Erzählen Sie mir etwas über Ihre Beziehung zu Horace«, sagte er.

»Nein.«

»Ich will Sie nicht aushorchen …«

»Es spielt keine Rolle, Myron, ob ich ihn geliebt oder gehasst habe. Sie müssen ihn finden, so oder so.«

»Sie haben doch eine einstweilige Verfügung, damit er sich von Ihnen fernhält, oder?«

Einen Moment sagte sie nichts. Dann: »Wissen Sie noch, wie er auf dem Platz war?«

Myron nickte. »Ein Wahnsinniger. Und vielleicht der beste Trainer, den ich je hatte.«

»Und der intensivste?«

»Ja«, sagte Myron. »Er hat mir beigebracht, nicht so raffiniert zu spielen. Das war nicht einfach.«

»Genau, und Sie waren nur irgendein Jugendlicher, den er mochte. Aber stellen Sie sich vor, wie das für mich gewesen ist. Sein eigenes Kind. Diese Intensität auf dem Platz, angetrieben von der Angst, dass er mich verlieren könnte. Dass ich weggehen und ihn verlassen würde.«

»Wie Ihre Mutter.«

»Genau.«

»Dieser Druck könnte sehr belastend gewesen sein«, sagte Myron.

»Versuchen Sie es mit erdrückend«, korrigierte sie ihn. »Vor drei Wochen waren wir bei einer Werbeveranstaltung mit einem Trainingsspiel an der East Orange High School. Kennen Sie die?«

»Klar.«

»Ein paar Typen unter den Zuschauern haben rumgepöbelt. Zwei Highschool-Kids aus dem Basketballteam. Vielleicht waren sie betrunken oder high oder einfach nur Arschlöcher, keine Ahnung. Jedenfalls fingen sie an, mir Sachen zuzurufen.«

»Was für Sachen?«

»Bildhafte, hässliche Sachen. Darüber, was sie gerne mit mir tun würden. Mein Vater ist aufgestanden und auf sie losgegangen.«

»Das kann ich ihm nicht verübeln«, sagte Myron.

Sie schüttelte den Kopf. »Dann sind Sie auch so ein Neandertaler.«

»Was?«

»Warum hätten Sie auf sie losgehen sollen? Um meine Ehre zu verteidigen? Ich bin fünfundzwanzig. Ich brauche diesen ritterlichen Mist nicht.«

»Aber …«

»Nichts aber. Diese ganze Sache, dass Sie hier sind … Ich bin keine radikale Feministin oder so, aber das ist doch alles sexistischer Schwachsinn.«

»Was?«

»Wenn ich einen Penis zwischen den Beinen hätte, wären Sie nicht hier. Wenn ich Leroy heißen würde und ein paar sonderbare Anrufe bekommen hätte, wären Sie nicht so scharf darauf, mich Ärmste zu beschützen, oder?«

Myron zögerte einen Moment zu lang.

»Und«, fuhr sie fort, »wie oft haben Sie mich spielen sehen?«

Der Themenwechsel erwischte ihn auf dem falschen Fuß. »Was?«

»Ich war drei Jahre hintereinander die beste College-Spielerin. Mein Team hat zwei nationale Meisterschaften gewonnen. Unsere Spiele wurden durchgängig auf ESPN gezeigt, und die Finalspiele der NCAA liefen sogar auf CBS. Ich war an der Reston University, nur eine halbe Stunde von Ihrer Wohnung entfernt. Wie viele von meinen Spielen haben Sie gesehen?«

Myron öffnete den Mund, schloss ihn wieder. »Keins.«

»Genau. Weiber-Basketball. Reine Zeitverschwendung.«

»Das stimmt so nicht. Ich gucke nur noch ziemlich wenig Sport.« Er merkte, wie lahm die Ausrede klang.

Sie schüttelte den Kopf und sagte nichts mehr.

»Brenda …«

»Vergessen Sie’s. Es war dumm, das Thema anzusprechen.«

Ihr Tonfall ließ wenig Raum für Entgegnungen. Myron wollte sich rechtfertigen, wusste aber nicht wie. Er entschied sich für Schweigen, eine Option, die er wohl häufiger wählen sollte.

»Die Nächste rechts«, sagte sie.

»Und was ist dann passiert?«, fragte er.

Sie sah ihn an.

»Mit den Arschlöchern, die Sie beleidigt haben. Was ist passiert, nachdem Ihr Vater auf sie losgegangen ist?«

»Die Security ist eingeschritten, bevor etwas passieren konnte. Die haben die Kids aus der Halle geschmissen. Und Dad auch.«

»Ich weiß nicht, was Sie mir mit dieser Geschichte sagen wollen.«

»Das war noch nicht das Ende.« Brenda hielt inne, sah zu Boden, sammelte sich kurz und hob den Kopf wieder. »Drei Tage später wurden die beiden Jungen – Clay Jackson und Arthur Harris – auf dem Dach eines Wohnhauses gefunden. Jemand hatte sie gefesselt und ihnen die Achillessehnen durchgeschnitten, mit einer Rosenschere.«

Myron wurde blass. Sein Magen machte einen Sturzflug. »Ihr Vater?«

Brenda nickte. »Solche Sachen macht er schon, seit ich klein bin. Nicht in dem Ausmaß, aber wenn mir jemand dumm kam, hat er es ihm heimgezahlt. Als kleines Mädchen ohne Mutter kam mir dieser Beschützerinstinkt ganz gelegen. Aber ich bin kein kleines Mädchen mehr.«

Myron griff unbewusst nach unten und fuhr mit der Hand hinten am Knöchel entlang. Die Achillessehne durchgeschnitten. Mit einer Rosenschere. Er versuchte, sich seinen Schock nicht anmerken zu lassen. »Die Polizei muss Horace doch verdächtigt haben.«

»Ja.«

»Warum wurde er dann nicht verhaftet?«

»Es gab nicht genug Beweise.«

»Konnten die Opfer ihn nicht identifizieren?«

Sie drehte sich zum Fenster. »Die hatten zu viel Angst.« Sie zeigte nach rechts. »Parken Sie dort.«

Myron fuhr rechts rüber. Menschen schlenderten über die Straße. Sie starrten ihn an, als hätten sie noch nie einen Weißen gesehen, was in diesem Viertel durchaus möglich war. Myron gab sich betont entspannt. Er grüßte die Passanten mit einem freundlichen Nicken. Einige nickten zurück. Andere nicht.

Ein gelbes Auto – falsch, ein Lautsprecher auf Rädern – rollte, einen lauten Rap Song plärrend, vorbei. Der Bass war so laut, dass Myron die Vibrationen im Brustkorb spürte. Er verstand den Text nicht, hörte aber die Wut, die aus ihm sprach. Brenda führte ihn zu einer Treppe. Zwei Männer lümmelten wie Kriegsversehrte auf den Stufen. Brenda stieg, ohne sie anzublicken, über sie hinweg. Myron folgte ihr. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er noch nie hier gewesen war. Seine Beziehung zu Horace Slaughter beruhte ausschließlich auf Basketball. Sie waren immer auf dem Platz oder in der Halle gewesen oder hatten sich gelegentlich nach einem Spiel eine Pizza geholt. Er war nie bei Horace zu Hause gewesen – und Horace nie bei ihm.

Natürlich gab es hier keinen Pförtner, kein Schloss, keine Klingel oder so etwas. Das Treppenhaus war schlecht beleuchtet, aber nicht so schlecht, dass man die abblätternde Farbe nicht sah, die an eine Schuppenflechte erinnerte. Die meisten Briefkästen hatten keine Klappe. Die Luft war so dick, dass man sie schneiden konnte.

Sie ging die Betonstufen hoch. Das Geländer war aus Industriestahl. Myron hörte einen Mann husten, als versuchte er, seine Lunge loszuwerden. Ein Baby schrie. Ein zweites stimmte ein. Im zweiten Stock bog Brenda nach rechts in den Flur. Die Schlüssel hatte sie schon in der Hand. Die Tür war stahlverstärkt. Sie hatte einen Türspion und drei Schlösser.

Brenda entriegelte zuerst die drei Schlösser. Sie ruckten geräuschvoll zurück, wie in einer Gefängnisszene in einem Film, nachdem der Wärter »Schließen!« gerufen hatte. Die Tür ging auf. Myron schossen zwei Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Zum einen, wie hübsch die Einrichtung war. Ganz egal, wie es außerhalb der Wohnung aussah, wie dreckig und verrottet es auf der Straße und sogar im Flur auch sein mochte, Horace Slaughter hatte nicht zugelassen, dass all dies sich durch die Stahltür schlich. Die Wände waren so weiß wie in einer Handcreme-Werbung. Die Fußböden sahen frisch gebohnert aus. Die Möbel waren eine Mischung aus hergerichteten Erbstücken und Neuerwerbungen von Ikea. Es war wirklich ein gemütliches Zuhause.

Das Zweite, was Myron auffiel, als Brenda die Tür geöffnet hatte, war, dass jemand den Raum verwüstet hatte.

Brenda eilte hinein. »Dad?«

Myron folgte ihr und wünschte, er hätte seine Pistole bei sich gehabt. Die Situation schrie nach einer Pistole. Er würde ihr signalisieren, leise zu sein, die Waffe ziehen, sich vor sie stellen und mit ihr durch die Wohnung schleichen, während sie sich ängstlich an seinen freien Arm klammerte. Er würde in jedem Zimmer den Pistolenschwung machen, mit gebücktem Körper und auf das Schlimmste vorbereitet. Aber Myron trug normalerweise keine Waffe. Nicht, dass er etwas gegen Schusswaffen hatte – wenn er in Schwierigkeiten steckte, freute er sich über ihre Gesellschaft –, aber eine Pistole war unbequem und kratzte wie ein Tweed-Kondom. Und ehrlich gesagt weckte ein bewaffneter Sportagent bei den meisten Klienten nicht unbedingt Vertrauen, und auf diejenigen, die darauf standen, konnte Myron gut verzichten.

Win hingegen trug immer eine Waffe – eigentlich mindestens zwei, von dem großen Arsenal an versteckten Waffen gar nicht zu reden. Der Mann war ein wandelndes Israel.

Die Wohnung bestand aus drei Räumen und einer Küche. Sie durchquerten sie eilig. Kein Mensch. Und keine Leiche.

»Fehlt irgendwas?«, fragte Myron.

Sie sah ihn verärgert an. »Woher zum Teufel soll ich das wissen?«

»Ich meine, irgendwas Auffälliges. Der Fernseher ist noch da. Der Videorekorder auch. Ich will wissen, ob die Ihrer Ansicht nach hier waren, um etwas mitgehen zu lassen.«

Sie sah sich im Wohnzimmer um. »Nein«, sagte sie. »Sieht nicht so aus.«

»Irgendeine Idee, wer das war und was er hier wollte?«

Brenda schüttelte den Kopf, ihre Augen begutachteten noch immer das Durcheinander.

»Hat Horace irgendwo Geld versteckt? Eine Keksdose unter einer Holzdiele oder so?«

»Nein.«

Sie fingen in Horace’ Zimmer an. Brenda öffnete seinen Wandschrank. Einen Moment lang stand sie nur schweigend da.

»Brenda?«

»Es fehlt eine Menge Kleidung«, sagte sie leise. »Und sein Koffer.«

»Das ist gut«, sagte Myron. »Dann ist er wahrscheinlich geflüchtet. Das verringert die Chance, dass ihm etwas zugestoßen ist.«

Sie nickte. »Aber es ist unheimlich.«

»Warum?«

»Es ist genau wie bei meiner Mutter. Ich kann mich noch erinnern, wie Dad genau an dieser Stelle stand und die leeren Kleiderbügel angestarrt hat.«

Sie gingen zurück ins Wohnzimmer und dann in ein kleines Schlafzimmer.

»Ihr Zimmer?«, fragte Myron.

»Ich bin nicht sehr oft hier, aber ja, das ist mein Zimmer.«

Brendas Augen fielen sofort auf einen Punkt neben ihrem Nachttisch. Mit einem leisen Stöhnen sank sie zu Boden. Sie fing an, ihre Sachen zu durchwühlen.

»Brenda?«

Sie wühlte immer hektischer und mit starren Blick. Nach ein paar Minuten stand sie auf und rannte ins Zimmer ihres Vaters. Dann ins Wohnzimmer. Myron wartete.

»Sie sind weg«, sagte sie.

»Was?«

Brenda sah ihn an. »Die Briefe, die meine Mutter mir geschrieben hat. Jemand hat sie gestohlen.«

4

Myron parkte das Auto vor Brendas Zimmer im Wohnheim. Abgesehen von einsilbigen Anweisungen hatte Brenda auf der Fahrt nichts gesagt. Myron drängte sie nicht. Er hielt und sah sie an. Sie starrte weiter geradeaus. Die Reston University war ein Ort mit grünen Rasenflächen, großen Eichen, Backsteingebäuden, Frisbees und Stirnbändern. Die Professoren trugen noch lange Haare, ungepflegte Bärte und Tweed-Jacketts. Der Campus vermittelte ein Gefühl von Unschuld, Illusionen, Jugend, von großer Leidenschaft. Aber das war das Schöne an solch einer Universität: Studenten diskutierten über Themen von Leben und Tod in einer Umgebung, die so abgeschieden war wie Disney World. Realität hatte in dieser Gleichung nichts verloren. Und das war okay so. Genau so sollte es sein.

»Sie ist einfach abgehauen«, sagte Brenda. »Ich war fünf Jahre alt, und sie hat mich einfach mit ihm alleine gelassen.«

Myron ließ sie reden.

»Ich erinnere mich an alles, was sie getan hat. An ihr Aussehen. An ihren Geruch. Wie sie von der Arbeit so müde nach Hause kam, dass sie es kaum geschafft hat, die Beine hochzulegen. Ich glaube, in den letzten zwanzig Jahren habe ich keine fünf Mal über sie gesprochen. Aber ich denke jeden Tag an sie. Ich denke darüber nach, warum sie mich im Stich gelassen hat und warum ich sie immer noch vermisse.«

Sie griff sich ans Kinn und wandte sich ab. Es war wieder still im Auto.

»Sind Sie gut, Myron?«, fragte sie. »Sind Sie ein guter Ermittler?«

»Ich glaub schon«, sagte er.

Brenda zog am Türgriff. »Können Sie meine Mutter suchen?«

Sie wartete nicht auf die Antwort, sie sprang aus dem Wagen und lief die Stufen hinauf. Dann verschwand sie im Backsteingebäude im Kolonialstil. Myron ließ den Wagen an und fuhr nach Hause.

*

In der Spring Street direkt vor Jessicas Loft entdeckte Myron einen Parkplatz. Er bezeichnete seine neue Behausung noch immer als Jessicas Loft, obwohl sie jetzt beide hier wohnten und er die Hälfte der Miete bezahlte. War schon merkwürdig.

Myron ging die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Als er die Tür öffnete, rief Jessica: »Ich arbeite.«

Er hörte kein Tastaturklackern, aber das hatte nichts zu sagen. Er ging ins Schlafzimmer, schloss die Tür und blickte auf den Anrufbeantworter. Wenn Jessica schrieb, ging sie nicht ans Telefon.

Myron drückte auf Play. »Hallo, Myron? Hier ist deine Mutter.« Als würde er die Stimme nicht erkennen. »Mein Gott, wie ich diese Maschine hasse. Warum nimmt sie nicht ab? Ich weiß doch, dass sie da ist. Ist es denn so schwierig für einen Menschen, den Hörer abzunehmen, Hallo zu sagen und eine Nachricht entgegenzunehmen? Wenn ich im Büro bin und das Telefon klingelt, dann gehe ich ran. Auch wenn ich arbeite. Oder meine Sekretärin nimmt die Nachricht entgegen. Aber keine Maschine. Ich mag keine Maschinen, Myron, das weißt du.« Eine Zeitlang fuhr sie in ähnlicher Manier fort. Myron sehnte sich in die Zeiten zurück, als Anrufbeantworter noch ein Zeitlimit vorgaben. Der Fortschritt hatte nicht nur gute Seiten.

Schließlich beruhigte Mom sich. »Ich habe nur angerufen, um Hallo zu sagen, mein Schnuckelchen. Wir reden später.«

Die ersten gut dreißig Jahre seines Lebens hatte Myron bei seinen Eltern in Livingston gewohnt, einem Vorort in New Jersey. Als Kleinkind hatte er im Kinderzimmer oben links angefangen. Im Alter von drei bis sechzehn hatte er im Schlafzimmer oben rechts gewohnt, von sechzehn bis vor wenigen Monaten im Keller. Natürlich nicht die ganze Zeit. Er war vier Jahre auf der Duke University in North Carolina gewesen, hatte die Sommer mit Arbeit in Basketballcamps verbracht, war außerdem gelegentlich bei Jessica oder Win in Manhattan gewesen. Aber sein wahres Zuhause war immer, tja, bei Mommy und Daddy gewesen – seltsamerweise freiwillig, obwohl manche Leute glaubten, eine eingehende Therapie hätte tieferliegende Motive freilegen können.

Diese Situation hatte sich vor ein paar Monaten geändert, als Jessica ihn gefragt hatte, ob er bei ihr einziehen wollte. Es kam in ihrer Beziehung selten vor, dass Jessica den ersten Schritt machte, und Myron war irrsinnig glücklich, berauscht und völlig von Sinnen gewesen. Seine Verzagtheit hatte nichts mit Bindungsangst zu tun – diese spezielle Phobie quälte Jessica, nicht ihn –, aber in der Vergangenheit hatte es schwierige Zeiten gegeben, und um es auf den Punkt zu bringen, solche Verletzungen wollte Myron sich nicht noch einmal zuziehen.

Er traf sich noch rund einmal die Woche mit seinen Eltern, besuchte sie entweder zum Essen oder bestellte sie auf eine Tour in den Big Apple. Er sprach auch fast jeden Tag mit seiner Mutter oder seinem Vater. Das Komische war, dass Myron sie mochte, obwohl sie zweifelsohne eine Plage waren. So verrückt es sich auch anhörte, er genoss es wirklich, Zeit mit seinen Eltern zu verbringen. Uncool? Klar. Hip wie jemand, der auf dem Akkordeon Polka spielte? Total. Aber so war es nun mal.

Er nahm sich ein Yoo-Hoo aus dem Kühlschrank, schüttelte es, riss es auf, nahm einen großen Schluck. Süßer Nektar. Jessica rief herein: »Wozu hast du Lust?«

»Ist mir egal.«

»Willst du ausgehen?«

»Hast du was dagegen, wenn wir uns einfach was bringen lassen?«, fragte er.

»Nein.« Sie erschien im Türrahmen. Sie trug sein Duke-Sweatshirt in Übergröße und eine schwarze Strickhose. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Einzelne Haare waren entkommen und fielen ihr ins Gesicht. Als sie ihn anlächelte, schlug sein Herz schneller.

»Hi«, sagte er. Myron war stolz auf seine klugen Gesprächseröffnungen.

»Wie wäre es mit Chinesisch?«, fragte sie.

»Ist in Ordnung, klar. Hunan, Szechuan, Kantonesisch?«

»Szechuan«, sagte sie.

»Okay. Szechuan Garden, Szechuan Dragon oder Empire Szechuan?«

Sie überlegte einen Moment. »Das vom Dragon war das letzte Mal ziemlich fettig. Versuchen wir es mit dem Empire.«

Jessica kam durch die Küche auf ihn zu und gab ihm einen kurzen Wangenkuss. Ihr Haar roch nach Wildblumen nach einem Sommersturm. Myron umarmte sie kurz und nahm die Take-away-Speisekarte aus dem Schrank. Sie überlegten, was sie nehmen sollten – die süßsaure Suppe, ein Shrimps-Gericht, ein Gemüsegericht –, und Myron bestellte. Die üblichen Sprachschwierigkeiten traten auf – warum stellten die niemanden ein, der Englisch sprach, zumindest für die telefonischen Bestellungen?, – und nachdem er seine Telefonnummer sechsmal wiederholt hatte, legte er auf.

»Hast du was geschafft?«, fragte er.

Jessica nickte. »Der erste Entwurf wird bis Weihnachten fertig.«

»Ich dachte, die Deadline wäre im August.«

»Soll heißen?«

Sie setzten sich an den Küchentisch. Küche, Wohnzimmer, Esszimmer, Fernsehzimmer waren ein großer Raum. Die Decke war viereinhalb Meter hoch. Sehr luftig. Steinwände mit freiliegenden Metallträgern gaben dem Ort einen Look, der irgendwie künstlerisch, irgendwie aber auch wie eine Bahnhofshalle wirkte. Mit einem Wort, das Loft war einfach geil.

Das Essen kam. Sie unterhielten sich über ihren Tag. Myron erzählte von Brenda Slaughter. Jessica hörte auf ihre eigene Art zu. Sie gab ihm das Gefühl, er sei der einzige Mensch auf der Welt. Als er fertig war, stellte sie ein paar Fragen. Dann stand sie auf und schenkte sich aus dem Brita-Wasserfilter ein Glas Wasser ein.

Sie setzte sich wieder. »Ich muss Dienstag nach L. A.«, sagte sie.

Myron sah sie an. »Schon wieder?«

Sie nickte.

»Wie lange?«

»Keine Ahnung. Ein bis zwei Wochen.«

»Du warst doch gerade erst da.«

»Ja, und?«

»Für diesen Film-Deal, oder?«

»Genau.«

»Und warum fliegst du wieder hin?«, fragte er.

»Ich muss etwas für dieses Buch recherchieren.«

»Hättest du letzte Woche nicht beides erledigen können?«

»Nein.« Jessica sah ihn an. »Stimmt was nicht?«

Myron spielte mit einem Essstäbchen herum. Er sah sie an, wandte den Blick ab, schluckte und sprach es dann aus: »Ist das hier für dich Arbeit?«

»Was?«

»Unser Zusammenleben.«

»Myron, es sind nur ein paar Wochen. Zum Recherchieren.«

»Und nächstes Mal ist es eine Lesereise. Oder ein Autorentreffen. Oder ein Film-Deal. Oder weitere Recherchen.«

»Du möchtest also, dass ich zu Hause bleibe und Plätzchen backe?«

»Nein.«

»Was ist es dann?«

»Nichts«, sagte Myron. Dann: »Wir sind schon lange zusammen.«

»Zehn Jahre, wenn auch mit Unterbrechungen«, fügte sie hinzu. »Und?«

Er wusste nicht, wie er fortfahren sollte. »Du reist gerne.«

»Ja.«

»Ich vermisse dich, wenn du weg bist.«

»Ich vermisse dich auch«, sagte sie. »Und ich vermisse dich, wenn du geschäftlich unterwegs bist. Aber unsere Freiheiten – die sind wichtig. Außerdem …«, sie beugte sich etwas vor, »gibt es immer eine großartige Wiedervereinigung.«

Er nickte. »Darin bist du gut.«

Sie legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Das soll jetzt keine halbseidene Psychoanalyse werden, aber der Umzug war für dich eine große Veränderung. Das verstehe ich. Aber ich finde, bisher läuft es großartig.«

Sie hatte natürlich recht. Sie waren ein modernes Paar mit atemberaubenden Karrieren, dem die Welt offen stand. Die Trennungen gehörten dazu. Seine quälenden Zweifel waren ein Nebenprodukt seines angeborenen Pessimismus. Eigentlich lief alles bestens – Jessica war zurückgekommen, sie hatte ihn gefragt, ob er bei ihr einziehen wollte –, trotzdem wartete er nur darauf, dass etwas schieflief. Das war zu einer Besessenheit geworden, die er abstellen musste. Besessenheit deckte keine Probleme auf und löste sie schon gar nicht, vielmehr konstruierte sie sie aus dem Nichts, nährte sie, vergrößerte sie.

Er lächelte. »Vielleicht ist das nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit«, sagte er.

»Oh?«

»Oder eine List, um mehr Sex zu bekommen.«

Sie musterte ihn mit einem Blick, bei dem seine Stäbchen sich aufrollten. »Könnte funktioniert haben«, sagte sie.

»Ich zieh mir schnell was Bequemeres an.«

»Aber nicht wieder die Batman-Maske.«

»Oh, komm schon, du kannst den Batgürtel tragen.«

Sie überlegte. »Okay, aber ich will dich nicht mittendrin rufen hören: ›Weiter geht’s nächste Woche im gleichen Programm.‹«

»Abgemacht.«

Jessica stand auf, ging zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß. Sie umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Wir haben es gut, Myron. Vermasseln wir es nicht.«

Sie hatte recht. Als sie aufstand, sagte sie: »Komm, lass uns den Tisch abräumen.«

»Und dann?«

Jessica nickte. »An die Batstangen.«

5

Als Myron am nächsten Morgen auf die Straße trat, fuhr eine schwarze Limousine vor. Zwei riesige Typen – halslose Muskelprotze – zwängten sich aus dem Auto. Sie trugen schlecht sitzende Business-Anzüge, was in Myrons Augen aber nicht die Schuld des Schneiders war. Typen mit einem solchen Körperbau wirkten immer schlecht angezogen. Beide präsentierten Fitnessstudiobräune, und obwohl er das nicht mit eigenen Augen sehen konnte, hätte Myron gewettet, dass ihre Brüste so glatt rasiert waren wie Chers Beine.

Einer der Muskelprotze sagte: »Steigen Sie ins Auto.«