Ambra und die Legende der vier Pfade - Finn Schuck - E-Book
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Ambra und die Legende der vier Pfade E-Book

Finn Schuck

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Beschreibung

Das kleine Dorf Trevia: Hier lebt der fünfzehnjährige Ambra mit seiner Mutter und seiner Schwester. Sein Vater verschwand vor zehn Jahren spurlos und niemand weiß, warum. Doch eines Tages erhält Ambra einen Brief, der alles verändert. Um die Welt davor zu bewahren, in die Finsternis zu stürzen, muss er sich auf eine gefährliche Reise begeben. Doch kann man eine solche Aufgabe überhaupt allein bewältigen? Zusammen mit seinen Freunden Keno und Ophelia stellt er sich unzähligen Herausforderungen: in der Liebe, im Kampf gegen dunkle Mächte, aber auch in ihrer Freundschaft. Schon bald wird alles, woran sie glauben, auf den Kopf gestellt. Für Ambra ist jedoch nur eins wichtig: Was ist mit seinem Vater damals passiert und was hat er mit alldem zu tun?

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Der Beginn einer Reise

Kapitel 2

Der brennende Dornenbusch

Kapitel 3

Das Sternenmeer

Kapitel 4

»Pssst!«

Kapitel 5

Im Kolosseum

Kapitel 6

Ein eingehaltenes Versprechen

Kapitel 7

Training, Training, Training

Kapitel 8

Verrat

Kapitel 9

Geheimnis zweier Freunde

Kapitel 10

Das Feld

Kapitel 11

Ein eiskaltes Lachen

Kapitel 12

Das Ritual der Legenden

Kapitel 13

Die Rede

Prolog

In der Höhle schien ein schwaches Licht. Eine gekrümmte Gestalt saß vor einem Lagerfeuer und flüsterte vor sich hin. Sie war in einen lumpigen Mantel gehüllt und trug eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ihre müden Augen schauten aus einem schmalen Schlitz den tanzenden Flammen zu. Draußen stürmte es heftig und in der Ferne war das Jaulen von Wölfen zu hören.

Die Gestalt nahm ihre Hände aus den durchlöcherten Manteltaschen und verschränkte sie vor dem Feuer zu einem eigenartigen Symbol. Anschließend begann sie unverständliche Wörter zu flüstern. Sie wiederholte die Worte immer schneller und es schien fast so, als würden die Flammen langsam heller werden. Doch nicht nur das. Sie wuchsen auch, sodass nach kurzer Zeit ein großes Feuer in der Höhle loderte.

Die Gestalt nahm ihre Kapuze ab. Das Gesicht eines älteren Mannes kam zum Vorschein. Es war von tiefen Falten gezeichnet. Der Mann stand auf und schaute zufrieden in die hohen Flammen. Sein Blick wanderte zum hintersten Ende der Höhle, wo sich ein Teich befand. Mittig über dem Gewässer hing ein Tropfstein von der Felsendecke herab.

Der Mann ging zum Teich und kniete sich mühsam davor. Seine Augen richteten sich auf den Stalaktiten. An der Spitze des Steins hatte sich das herablaufende Wasser zu einem großen Tropfen gesammelt. Nun löste sich der Wassertropfen und fiel hinab in den Teich.

In diesem Moment sprach der Mann drei Worte in einer unbekannten Sprache. Der Tropfen leuchtete hell auf. Als er die Oberfläche erreichte, geschah etwas Seltsames. Der gesamte Teich begann zu glühen. An manchen Stellen brodelte er sogar. Der Mann schien nicht überrascht. Im Gegenteil, er wirkte zufrieden.

Allmählich begann sich etwas aus dem Wasser zu formen und auf einmal erhob sich aus der Mitte des Teiches ein Tier. Es war ein Adler. Im selben Moment erschütterte eine Explosion die Höhle und ließ die nun nassen Wände herrlich blau schimmern.

Mit einem Satz erhob sich der Adler in die Lüfte. Majestätisch flog er durch die Höhle. Der Mann sagte nur ein Wort. Ein Wort, welches den Moment nicht besser hätte beschreiben können: »Magie.«

Der Adler landete auf einem kleinen Felsen, dem Mann gegenüber. Ein weiteres Mal flüsterte der Mann etwas und streckte danach seinen Arm aus. Wenige Sekunden später erschien, wie aus dem Nichts, eine Schriftrolle aus Pergament in seiner Hand. Der Mann ging auf den Adler zu und blieb vor ihm stehen. Er betrachtete den Vogel nachdenklich. Auch der Adler schaute den Mann aus seinen wasserblauen Augen an. Dann fing der Mann erneut an zu lachen. Er reichte dem Adler die Schriftrolle und dieser nahm sie behutsam mit seinem Schnabel auf. Anschließend machte der Mann auf dem Absatz kehrt, zog sich seine Kapuze über den Kopf und ging zum Ausgang der Höhle. Kurz bevor er diese verließ, drehte er sich nochmal um und zwinkerte dem Adler zu. Im nächsten Moment war er verschwunden.

Der Adler wartete, bis der Schneesturm vorüber war. Dann breitete er seine mächtigen Flügel aus und flog in die kühle Nacht hinaus.

Kapitel 1

Der Beginn einer Reise

Ambra schlug verwirrt die Augen auf. Wieso um alles in der Welt hatte er von einem Adler geträumt? Er musste über sich selbst lachen. So etwas hatte er noch nie erlebt.

Kopfschüttelnd sprang er aus dem Bett. Er musste sich beeilen. Sonst würde er schon wieder zu spät zur Schule kommen.

Hektisch zog er sich an und eilte ins Badezimmer. Danach schaute er schnell in die Küche, wo seine Mutter und seine kleine Schwester Aurora beim Frühstück saßen. Er rief ihnen ein kurzes »Tschüss« zu, schulterte seine Schultasche und lief dann zur Haustür hinaus.

Wie jeden Morgen rannte er den Weg entlang, der zur Schule führte. Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras und die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Auch dieser Tag würde sich nicht von den anderen unterscheiden. Aber hier in Trevia, im Norden des Landes Moratuwa gelegen, passierte nun einmal nicht viel.

Er hatte wenig Lust, die nächsten Stunden in einem staubigen Klassenzimmer zu verbringen. Frau Runa würde mit strengem Gesicht vor der Klasse stehen und ihnen etwas über die Geschichte von Moratuwa erzählen. Zum Sterben langweilig!

Atemlos betrat er die Schule und stürmte ins Klassenzimmer.

»Ambra Niara! Du bist schon wieder zu spät!«, rief die Lehrerin ihm entgegen.

»Entschuldigen Sie, Frau Runa. Wenn Sie wüssten, was mir auf dem Weg hierher passiert ist!« Ohne nachzudenken, plapperte er los: »Da waren Katzen auf Bäumen, Kinderwägen vor Autos und dann gab es da noch einen Brand, der …«

»Das ist mir egal! Selbst wenn der Bürgermeister höchst-persönlich auf einem geflügelten Schwein umhergeflogen wäre, würde das nicht entschuldigen, dass du zu spät bist! Und jetzt setz dich hin und hör auf, dir irgendwelche Ausreden auszudenken! In unserem Land fahren nicht einmal Autos, um Himmels willen!«

Mist! Daran hatte er nicht gedacht. Moratuwa zählte zu den wenigen Ländern der Welt, die der Fortschritt ausgelassen hatte. Nur ein einziges Mal hatte Ambra bisher ein Auto gesehen, als sich ein Mann auf der Durchreise hierher verirrt hatte. Sonst las er darüber immer nur in Büchern.

Aus der hintersten Ecke des Raumes ertönte ein leises Lachen. Ophelia und Keno, Ambras beste Freunde, kicherten um die Wette. Ambra ging grinsend zu den beiden und setzte sich an seinen Platz.

»Du warst auch schon mal besser, was Ausreden-Erfinden angeht, Ambra. Nicht gerade deine Sternstunde!«, presste Keno unter Freudentränen hervor.

Äußerlich war Keno das komplette Gegenteil von Ambra. Er war groß, sportlich, hatte grüne Augen und lange braune Haare, die er meist zu einem Zopf zusammengebunden trug. Ambra dagegen war durchschnittlich groß und nicht besonders kräftig. Seine blonden Haare und die blauen Augen hatte er, wie seine Mutter oft sagte, von seinem Vater geerbt.

Mittlerweile hatte sich Keno wieder eingekriegt, Ophelia jedoch bog sich noch immer vor Lachen.

»Ich liebe Frau Runa«, flüsterte sie. »Was in ihrem Kopf manchmal vorgeht!« Sie prustete erneut los. »Ein geflügeltes Schwein! Ich kann nicht mehr …«

Ambra und Keno schauten sich grinsend an.

Ophelia war vergleichsweise klein für ihre fünfzehn Jahre. Sie ging Keno gerade mal bis zur Brust. Ihre glatten schwarzen Haare reichten ihr bis zu den Schultern und ihre grauen Augen leuchteten voller Energie und Freude.

Den Rest des Unterrichts verbrachten die drei damit, sich lustige Geschichten über Frau Runa und die fliegenden Schweine auszudenken.

Nach der Schule schlenderten sie vergnügt zu der alten Windmühle am Rande des Dorfes. Hier waren sie ungestört. Das Gebäude war schon seit langem verlassen und niemand scherte sich darum. Für die drei Freunde war es der perfekte Treffpunkt.

Ambra öffnete die schwere Holztür und sie traten hintereinander ein. Vorsichtig kletterten sie eine große morsche Leiter hinauf, die zum Speicher der Mühle führte. Dieser lag direkt unter dem Dach. Ein Fenster, an dem das Glas fehlte, ermöglichte einen fantastischen Ausblick über das Dorf und die umliegenden Wälder.

Keno und Ophelia schmissen sich schwungvoll auf die Strohmatten, die sie sich vor einiger Zeit mitgebracht hatten. Es war eine Heidenarbeit gewesen, die Matten über die Leiter nach oben zu transportieren, aber jetzt, wo es geschafft war, brauchten sie sich nicht mehr auf den harten Holzboden zu legen.

Ambra stellte sich ans Fenster und schaute nachdenklich zum Himmel hinauf. Der Wasseradler aus seinem Traum fiel ihm wieder ein.

»Huhu, Erde an Ambra!«, riss ihn Ophelias Stimme aus seinen Gedanken. Sie wedelte mit den Armen. »Bist du da? Worüber denkst du denn so angestrengt nach?«

Ambra schüttelte den Kopf und seufzte. »Wisst ihr, ich habe heute Nacht von einem Adler geträumt. Da war ein Mann in einer Höhle. Und aus einem Wassertropfen …«

Ambra verstummte und sah gebannt aus dem Fenster. In der Ferne erschien etwas Glitzerndes am Horizont. Und es näherte sich rasch.

»Was ist das?«, fragte er und zeigte hinaus.

Seine Freunde erhoben sich und stellten sich neben Ambra.

»Sieht aus wie ein Engel, so wie das glitzert«, sagte Ophelia aufgeregt und drängte sich näher ans Fenster.

»Nein … das ist … Es sieht aus wie ein Adler!«, rief Keno und hielt sich eine Hand über die Augen, um besser sehen zu können. »Aber warum glitzert der so? Die Adler, die ich kenne, tun das nicht.«

»Wie viele Adler kennst du denn?«, fragte Ambra spöttisch.

Der Vogel war inzwischen so nahe, dass er nun deutlich sichtbar war. Sein ganzer Körper funkelte im Schein der Sonne.

»Wunderschön …«, flüsterte Ambra.

Im nächsten Moment hielten die drei den Atem an, denn der Adler flog jetzt direkt auf die Mühle zu.

»Schnell, weg vom Fenster!«, rief Ambra. Er trat einen großen Schritt zurück und zog die anderen beiden mit sich.

»Hey, ich kann selber gehen!«, entgegnete Ophelia genervt.

Im selben Moment flatterte der Adler durchs Fenster in den Speicher hinein und landete auf dem Boden.

Ophelia und Keno flüchteten sofort in die hinterste Ecke. Ambra aber starrte erstaunt den Vogel an, der vollständig aus Wasser zu bestehen schien und eine Schriftrolle im Schnabel trug.

»Das ist der Adler aus meinem Traum!«, rief Ambra aus.

Keno und Ophelia drückten sich ängstlich gegen die Wand.

»Was ist das denn?«, fragte Keno mit zitternder Stimme und deutete auf die Rolle im Schnabel des Adlers.

Ambra betrachtete den Adler interessiert. Der Adler starrte zurück und es sah so aus, als würde er ihm zuzwinkern. Konnte das sein?

Langsam näherte sich Ambra dem Vogel. Dieser bewegte sich nicht, sondern fixierte ihn mit seinen Augen. Ambra blieb vor ihm stehen und kniete sich auf den Boden. Zögerlich streckte er seine Hand aus.

»Sei vorsichtig!«, sagten Keno und Ophelia wie aus einem Mund.

Ambra schluckte, nickte dann aber. Plötzlich öffnete der Adler den Schnabel und ließ die Schriftrolle in Ambras Hand fallen. Dann senkte er den Kopf.

Ambra stutze. Obwohl der Adler gänzlich aus Wasser bestand, war die Schriftrolle komplett trocken.

Er öffnete das Pergament und las:

Lieber Ambra,

lange ist es her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Du wirst dich nicht mehr an mich erinnern können, denn du warst damals noch sehr jung. Ambra, du musst viele Fragen haben. Eines Tages werde ich sie dir alle beantworten. Versprochen. Doch jetzt ist nicht die Zeit dafür. Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich hatte deinem Vater versprochen, dich nicht vor deinem achtzehnten Lebensjahr einzuweihen, aber die Umstände zwingen mich dazu. Es ist nun an der Zeit, dass du deine Aufgabe und die deiner Familie antrittst. Mach dich auf den Weg und finde mich, Ambra. Die Sterne haben ihre Position bald erreicht und treffen sich in zwei Tagen dort, wo der Fuchs das Sternentor des Sees bewacht. Sie werden eine Linie bilden und dir in der Nacht den Weg weisen, um zu mir zu gelangen. Deine Mutter wird wissen, was ich meine. Ich habe Eagle gebeten, dich zu begleiten. Es steht uns eine düstere Zeit bevor, Ambra. Mögest du eine sichere Reise haben. Bis bald.

Ambra glitt die Schriftrolle aus den Händen. Ohne ein Wort kletterte er hastig die Leiter hinunter. Seine Freunde ließ er zusammen mit dem Wasseradler in der Windmühle zurück.

Auf dem Weg nach Hause überschlugen sich seine Gedanken. Wie war das möglich? Sein Vater war vor 10 Jahren spurlos verschwunden und seine Mutter hatte nie mit ihm darüber gesprochen, geschweige denn von einem mysteriösen Mann erzählt, der aus Wasser Tiere erschaffen konnte.

Eilig betrat er das Haus.

»Mama! Wo bist du? Es ist dringend!«

Er lief nacheinander die Zimmer ab, doch ohne Erfolg. Plötzlich ertönte ein dumpfes Pochen an der Tür am Ende des Ganges. Der einzige Raum, in dem Ambra noch nicht nachgesehen hatte.

»Mama?«

Langsam ging er auf die Tür zu und öffnete sie.

»Hey!? Geht›s noch?! Raus aus meinem Zimmer, Idiot!« Seine jüngere Schwester Aurora kniete mit einem Hammer in der Hand vor ihrer Zimmerwand. Sie war fünf Jahre jünger als Ambra und nur halb so groß wie er. Neben ihr lagen ein paar Nägel und ein Poster. Sie schaute ihn feindselig an.

Ambra seufzte. »Hast du Mama gesehen?«

»Sie wollte was nachschauen gehen. Hat irgendwas von der Dorfgrenze gemurmelt«, murrte Aurora genervt.

Sofort wandte Ambra sich um und rannte den Flur entlang.

»Wo willst du denn jetzt hin?«, rief Aurora ihm nach, doch Ambra knallte schon die Haustür hinter sich zu.

Er lief zur Dorfgrenze. Unterwegs traf er auf Keno und Ophelia, die aus Richtung der Mühle kamen. Der Wasseradler zog gemächlich seine Kreise über ihnen.

»Wir haben ihn gelesen«, sagte Ophelia vorsichtig und überreichte Ambra den Brief.

»Du weißt nicht zufällig, was mit dem ›Schlimmen‹ gemeint ist, oder?«, fragte Keno mit hochgezogener Augen-braue.

»Nein. Aber es stimmt: Ich habe viele Fragen. Und ich hoffe, dass meine Mutter mir wenigstens ein paar davon beantworten kann. Tut mir leid, ich muss los.«

Er ließ die beiden stehen und eilte weiter.

Wenige Minuten später entdeckte er seine Mutter. Sie stand auf einer Wiese am Rande des Dorfes, mit dem Rücken zu ihm.

Er lief auf sie zu.

»Mama?«, fragte er, als er bei ihr angekommen war, und stellte sich neben sie. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet und Ambra wunderte sich, wohin sie schaute.

»Du musst fortgehen, nicht wahr, Ambra?«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.

»Woher weißt du das?«, fragte er erstaunt.

»Ich habe Eagle gesehen. Ich weiß, dass Libra ihn nicht schicken würde, wenn nicht etwas Schlimmes passiert wäre.«

»Libra?«, fragte Ambra verwirrt.

»Libra war der beste Freund deines Vaters. Er lebt an einem großen See hoch im Süden von Moratuwa«, meinte seine Mutter und schaute Ambra an.

Zögernd übergab Ambra seiner Mutter die Schriftrolle und fragte: »Weißt du, was Libra mit dem Fuchs meint, der das Sternentor bewachen soll?«

»Es gibt eine fuchsähnliche Steinformation, welche am Ufer von Libras See steht. Legenden zufolge wurde sie von zwei Freunden geschaffen und soll als Hinweis auf ein geheimes Versteck dienen. Sie weist denjenigen den Weg, die auf der Suche nach Antworten sind.«

»Antworten worauf?«, entgegnete Ambra und schaute sie verwirrt an.

»Antworten auf die Fragen, welche sich die Menschen in ihrem tiefsten Inneren stellen.«

Ambra schaute trübe zu Boden. Er verstand immer noch nicht. »Wann muss ich gehen?«, fragte er und blickte auf.

»So bald wie möglich«, sagte seine Mutter. Sie hatte Tränen in den Augen.

Ambra schloss sie in seine Arme. Er wollte nicht gehen. Er wollte seine Mutter nicht allein lassen. Und er wollte Trevia nicht verlassen. Es gab so vieles, was ihm hier am Herzen lag. Seine Schwester und natürlich seine Freunde Keno und Ophelia. Wahrscheinlich würde er sogar Frau Runa vermissen. Aber es musste sein.

Ambra hatte so viele Fragen. Doch, wie Libra geschrieben hatte, jetzt war nicht die Zeit für Antworten. Eine Sache aber wollte er wissen, und er würde erst gehen, wenn er darüber Gewissheit erhalten hatte.

»Mutter?«

»Ja, Liebling?«

»Was ist mit Vater geschehen?«, fragte er vorsichtig.

Seine Mutter hatte nie darüber geredet. Jedes Mal, wenn Ambra nachgefragt hatte, war sie in Tränen ausgebrochen.

»Er … er hatte eine Aufgabe zu erfüllen und hatte keine Möglichkeit wiederzukommen. Mehr weiß ich nicht. Eins weiß ich jedoch sicher: Er hat dich geliebt, Ambra. Er hat euch beide geliebt, dich und deine Schwester. Und es hat ihm das Herz gebrochen, uns zu verlassen. Aber er war überzeugt davon, dass es keinen anderen Ausweg geben würde.«

Ambra löste sich aus der Umarmung und schaute dem Horizont entgegen. Es war spät geworden. Dunkle Wolken hatten sich am Himmel zusammengezogen und die ersten Tropfen fielen auf die beiden herab.

»Ich laufe nach Hause und packe meine Sachen«, sagte er.

Seine Mutter nickte und ließ ihn gehen.

Auf dem Weg traf er Keno und Ophelia wieder. Sie standen an einer Hausecke und bewarfen den Wasseradler abwechselnd mit Steinen, die sie vom Boden aufnahmen.

»Was tut ihr denn da!?«, rief Ambra entsetzt und lief auf die beiden zu.

»Hey, Ambra!«, antworte Ophelia mit strahlendem Lächeln. »Sieh mal!« Sie hob einen weiteren Stein auf und warf ihn dem Adler entgegen. Eagle fing ihn geschickt mit dem Schnabel auf und schluckte ihn hinunter. Dann begann er glücklich zu krächzen. Als Ambra genauer hinsah, erkannte er, dass sich bereits ein Dutzend Steine in Eagles durchsichtigem Körper befanden.

»Er ist echt unglaublich!«, meinte Keno und grinste. »Es wundert mich nur, dass ihn noch kein anderer aus dem Dorf gesehen hat. Können sie ihn etwa nicht sehen?«

Ambra hatte sich bereits das Gleiche gefragt.

»Ist alles okay?«, fragte Ophelia und sah Ambra prüfend an. »Du bist so still.«

»Es ist nichts«, antwortete er und sah weg. Er konnte die Vorstellung, seine Freunde zu verlassen, kaum ertragen. Vielleicht würde er von seiner Reise gar nicht mehr wiederkehren? Nein! Er würde zurückkehren. Daran glaubte er fest. Daran musste er glauben.

»Macht›s gut, Freunde«, rief er ihnen zum Abschied zu und lief schnell nach Hause.

Am Abend saß Ambra mit seiner Familie am Essenstisch. Er hatte Aurora immer noch nichts von seinem Vorhaben erzählt, aus Angst, sie würde ihn nicht gehen lassen. Sie würde es nicht verstehen, dachte er und aß schweigend sein Käsebrot.

»Rory, Schatz …«, begann seine Mutter vorsichtig. »Dein Bruder wird für eine Weile fort sein.«

Aurora sah Ambra fragend an. »Warum?«

»Ich … ich …«, stammelte Ambra.

»Er hat eine Einladung von einer Schule außerhalb Moratuwas bekommen«, antwortete seine Mutter. »Die Zeit wird schnell vergehen und ehe du dich versiehst, ist er wieder da.«

Aurora wurde blass. »Du auch noch?«, flüsterte sie und sah traurig zu Boden.

Ambra wusste nicht, was er sagen sollte. Doch ruckartig hob Aurora ihren Kopf wieder.

»Wisst ihr was? Ich find›s gut, dass er geht! Ich mag ihn sowieso nicht!«, rief sie wütend. Sie sprang vom Tisch auf und lief aus dem Raum.

Kurz darauf hörten sie das Knallen ihrer Zimmertür.

»Mach dir keine Sorgen. Sie wird es verstehen«, sagte seine Mutter.

Ambra fühlte sich trotzdem schuldig. »Mama, ich … Ich werde im Morgengrauen aufbrechen«, meinte er zögerlich. Er war unschlüssig, ob es die richtige Entscheidung war.

»Ich verstehe …«, entgegnete seine Mutter und begann erneut zu weinen.

Ambra ging stumm auf sein Zimmer. Er wollte es seiner Mutter nicht noch schwerer machen. Traurig sah er aus dem Fenster und erblickte den Adler auf einem Baum gegenüber dem Haus.

Er legte sich in sein Bett und schlief erschöpft ein.

Früh am Morgen nahm Ambra seine Sachen und schlich zur Tür. Seine Mutter und seine Schwester schliefen noch. Er wollte sich und ihnen den Abschied ersparen.

Als er nach draußen trat, erschrak er heftig. Zwei vermummte Gestalten waren urplötzlich aufgetaucht und standen nun vor ihm. Regungslos standen sie da. Dann nahmen sie ihre Kapuzen ab und enthüllten ihre Gesichter.

»Wussten wir›s doch!«, rief Keno und stellte sich direkt vor ihm auf. Ophelia gesellte sich neben ihn. Beide trugen Rucksäcke auf ihren Schultern.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte Ambra und sah sie entgeistert an. Er sprach leise, um die Anwohner nicht aufzuwecken. Aus Erfahrung wusste er, dass seine Nachbarin, Frau Maylar, besonders unbehaglich werden konnte.

»Wir kommen mit dir, ist doch klar!«, entgegnete Ophelia gähnend und schaute Ambra mit entschlossenen Augen an.

»Seid ihr müde?«, fragte er seine Freunde überrascht. Keno und Ophelia nickten gemächlich.

»Wie hätten wir denn schlafen können, wenn wir wissen auf was für eine gefährliche Reise du dich ohne uns begeben willst? Also? Wo finden wir den Fuchs, der das ›Sternentor des Sees‹ bewacht?«, fragte Keno und grinste.

Ambra fühlte sich für einen Moment überfordert. Dann aber erzählte er seinen Freunden alles, was er von seiner Mutter erfahren hatte. Auch, dass sie Richtung Süden gehen mussten, um zu Libra und dessen See zu gelangen. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit seinen Freunden zu diskutieren. Sobald sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten, konnte sie keiner mehr davon abbringen.

»Das heißt, wir haben zwei Tage, um dorthin zu gelangen, richtig?«, meinte Ophelia nachdenklich.

»So ist es«, bestätigte Ambra.

»Dann lasst uns aufbrechen!«, rief Keno und setzte sich sofort mit großen Schritten in Bewegung.

»Warte, Keno!«, zischte Ophelia und lief ihm hinterher.

Ambra wollte gerade losgehen, da hörte er eine Stimme hinter sich.

»Ambra?«

Er drehte sich um. Aurora stand in der Tür und schaute ihn mit schläfrigen Augen an. Als sie bemerkte, dass er seinen Rucksack auf dem Rücken trug, brach sie in Tränen aus.

»Es tut mir leid, was ich gesagt habe, ich will nicht, dass du gehst! Bitte, lass mich nicht alleine. Du bist doch mein großer Bruder. Ich liebe und brauche dich!«

»Aurora …«, begann Ambra und kniete sich hin, um ihr ins Gesicht schauen zu können. Es brach ihm das Herz, sie so zu sehen. »Ich liebe dich. Dich und Mama. Nur wartet auf mich eine Reise. Ein Abenteuer, welches ich antreten muss. Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich niemals freiwillig verlassen würde. Mama und du, ihr seid für mich das Wichtigste auf der Welt. Doch es geht nicht anders, ich muss gehen. Aber ich verspreche dir, dass ich dir Briefe schreiben werde und so schnell wie möglich zurückkomme. Großes Indianer-Ehrenwort.«

Aurora hatte aufgehört zu weinen und nickte zaghaft. Ambra wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. Danach öffnete er seine Arme für eine letzte Umarmung. Aurora fiel ihm um den Hals und drückte ihn, so fest sie konnte.

»Komm bitte heil zurück, okay?«, flüsterte sie leise.

»Mach ich.«

Daraufhin drehte sich Aurora um und ging ohne ein weiteres Wort zurück ins Haus. Ambra stand auf und lief seinen Freunden nach.

Sie warteten an der Dorfgrenze auf ihn. Eagle saß auf Ophelias Schulter und säuberte seine Wasserfedern.

Ambra schaute seine Freunde ernst an und fragte: »Bereit?« Beide antworteten zeitgleich: »Bereit!«

Ein allerletztes Mal drehte er sich um und ließ seine Augen über das Dorf schweifen.

Auf Wiedersehen, sagte er in Gedanken und ging los.

Kapitel 2

Der brennende Dornenbusch

Sie waren bereits einige Stunden unterwegs. Am späten Nachmittag wanderten sie an einer Wiese entlang, auf der lauter Apfelbäume standen.

»Trödel nicht so!«, rief Keno der müden Ophelia zu. Mit großen Schritten stapfte er Ambra hinterher.

»Hetz mich nicht!«, erwiderte Ophelia genervt. Sie nahm einen Apfel auf, der am Wegrand lag, und schmiss ihn Keno hinterher. Dieser konnte noch rechtzeitig ausweichen, sodass der Apfel Ambra am Hinterkopf traf. Eagle erhob sich erschrocken von Ophelias Schulter und flatterte in die Luft. Ambra blieb stehen und drehte sich zu seinen Freunden um.

»Leute, bitte. Ich verstehe ja, dass ihr gereizt seid, weil ihr wenig geschlafen habt, aber könnten wir aufhören, uns mit fauligem Obst zu bewerfen? Das bringt doch auch nichts«, versuchte Ambra die Situation diplomatisch zu lösen und rieb sich den schmerzenden Kopf. »Wie wäre es, wenn wir unser Lager aufschlagen, bevor es dunkel wird?«

»Und wo?«, fragte Keno. »Die Wiese ist vom Regen heute früh noch nass.«

»Da!«, rief Ophelia, die inzwischen zu ihnen aufgeschlossen hatte. Sie zeigte auf einen Wald, der in der Ferne zu sehen war. »Vielleicht finden wir ja dort einen trocknen Platz«, meinte sie und schaute ihre Freunde hoffnungsvoll an.

»Na gut, einen Versuch ist es wert«, entgegnete Keno mürrisch und ging weiter, ohne auf seine Freunde zu warten.

Ambra sah ihm irritiert hinterher. »Was ist denn mit dem los?«, fragte er.

»Weiß ich auch nicht«, Ophelia zuckte mit den Achseln. »Aber eins weiß ich: Wir sollten ihn nicht alleine in den Wald gehen lassen. Keno sieht zwar stark und mutig aus, aber ich weiß, dass er ein ganz schöner Angsthase sein kann.«

Die beiden zogen ihre Rucksäcke fester und gingen ihrem Freund hinterher.