Commissario Conti und die Gier am See - Carlos Ávila de Borba - E-Book
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Commissario Conti und die Gier am See E-Book

Carlos Ávila de Borba

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Beschreibung

In Bardolino sind die Menschen in Aufruhr. Sie demonstrieren gegen einen Konzern, der auf den Filetstücken direkt am See ein Einkaufszentrum samt Casino bauen will. Der Konflikt eskaliert, denn für die Baugenehmigung geht die skrupellose Briefkastenfirma über Leichen. Commissario Luca Conti hat es plötzlich mit der Entführung eines Richters zu tun. Als der Architekt der Gemeinde ermordet aufgefunden wird, muss Conti das Netz aus Korruption und Gier am See entflechten. Wieder einmal führt ihn die Spur nach München …

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Carlos Ávila de Borba

Commissario Conti und die Gier am See

Kriminalroman

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Nicola Simeoni / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7814-7

Widmung

Für André Forjaz Auf die Freundschaft, die jede Distanz überwindet.

1. Kapitel

Das Bootshaus von Ex-Kommissar Mauro Manchini in Bardolino platzte aus allen Nähten. Vom Eingang bis zum langen Holzsteg, der zum Gardasee führte, standen überall Menschen herum. Er hatte zu seiner Abschiedsfeier die engsten Freunde und einige Arbeitskollegen eingeladen, die ihn in den letzten 30 Jahren als Leiter des Polizeireviers von Bardolino begleitet hatten. Nun stand eine große Reise an: Er wollte mit seiner Frau und einem anderen Ehepaar auf seinem Segelboot in die weite Welt hinausfahren.

Mauro Manchini erfreute sich so großer Beliebtheit, dass mehr Leute kamen als erwartet. Es fanden sich Freunde aus Bardolino und vom Gardasee ein, aber auch aus den Regionen Brescia, Verona, Venedig und dem Norden von Triest, aus Bozen und von der Brennergrenze in Österreich. Die Freunde brachten wiederum Freunde mit. Außerdem waren uneingeladen Leute aus Politik, Sport und Kultur gekommen, die es sich nicht entgehen lassen wollten, den ehemaligen Kommissar zu verabschieden, bevor er zu seinem Segeltörn aufbrach.

Obwohl Mauro Manchini einen Cateringservice mit dem Auftrag engagiert hatte, reichlich und nur das Beste zu servieren, gab es niemanden, der ohne eine italienische Köstlichkeit erschien. Die meisten schenkten Weine wie den Costalago Rosso Veronese, den Lugana oder den berühmten roséfarbenen Bardolino Chiaretto Classico. Aber auch seinen Lieblingsdigestif, den Grappa di Amarone, erhielt er mehrfach. Er könnte allein mit den Grappaflaschen den halben Laderaum des Segelbootes füllen.

Das Bootshaus war weiß gestrichen, hatte dunkelgrüne Fensterläden, zwei Eingänge und ein Obergeschoss mit einem kleinen Balkon, der einen weiten Blick über den Gardasee bot. Die rustikalen Holztüren ließen es massiv wirken, aber es war nicht groß. Groß war jedoch der schöne Garten mit seinen prächtigen Bäumen und den Blumenbeeten, die Manchini vom Haupteingang an der Via Santa Cristina bis zum Pas­seggio della Pua an der Seeseite in seiner Freizeit geschmackvoll angelegt hatte. Im Garten bildeten sich nun überall Gruppen, die sich angeregt unterhielten, und Man­chini ließ es sich nicht nehmen, ein paar Minuten mit jedem einzelnen Gast zu plaudern und insbesondere den Polizeikollegen und Mitarbeitern der Feuerwehr, des Rettungsdienstes und der Spurensicherung seine Anerkennung auszusprechen.

»Rede! Rede!«, begannen schließlich einige der Gäste zu skandieren.

Manchini, der Reden und Pressekonferenzen immer gehasst hatte, versuchte es zunächst zu ignorieren, doch die Stimmen wurden lauter und lauter und er hatte keine andere Wahl. Da ihm nichts anderes mehr übrig blieb, kletterte er widerwillig auf einen Stuhl, den einer seiner früheren Kollegen vom Kommissariat vor dem Hauseingang aufgestellt hatte.

Im Nu wurde es still, und alle Gäste wandten sich Man­chini zu.

»Liebe Freunde, zunächst einmal danke ich euch für euer Kommen. Es ist mir eine große Freude, diesen Augenblick mit euch zu feiern. Ich kann kaum glauben, dass es genau ein Jahr her ist, seit ich in den Ruhestand gegangen bin. Es kommt mir vor wie gestern. Über der Vorbereitung des Segelbootes und der Erledigung aller notwendigen Formalitäten für meine Reise habe ich sogar vergessen, meinen Ausstieg aus dem Berufsleben zu feiern, was wir hier heute nachholen. Und offenbar erinnert sich jeder an mich. Na ja, kein Wunder, wenn es ums Essen und Trinken geht.« Allgemeines Gelächter brach aus.

Manchini fuhr fort: »Ich möchte euch, insbesondere den Kollegen, die weiterhin im Dienst sind, für eure Freundschaft und Unterstützung in guten wie in schlechten Zeiten danken. Ohne eure Hilfe hätte ich wohl nicht den Ruhestand erreicht, vielleicht nicht einmal dieses Alter.«

Es wurde geklatscht.

»Die Umstrukturierung, die ihr im Polizeirevier vorgenommen habt, war wohlbedacht und notwendig. Wir müssen uns erneuern und Platz für neue Leute schaffen. Die Menschen in Bardolino und in der gesamten Region konnten mich schon nicht mehr sehen. Und um ehrlich zu sein, es kommt im Alter auch eine Zeit, in der das Herz bei so viel Aktion und Verantwortung zu versagen droht. Aber das Boot ist noch dasselbe, nur der Kommandant hat gewechselt.«

»Die Kommandantin!«, rief einer der Gäste.

»Ja, das stimmt. Die Kommandantin. Frau Doktor Francesca Ribaldi ist bestens geeignet, um das Amt der Polizeidirektion zu übernehmen.«

Es wurde laut gepfiffen. In den Köpfen der meisten Gäste tauchten die langen Beine von Frau Ribaldi und ihr sicherer Gang auf hohen Absätzen auf, der an Ornella Muti in ihren 30ern erinnerte.

Auch Manchini konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. »Ja, ich muss zugeben, das war ein guter Tausch!« Nach einer bewussten Pause endete er mit den Worten: »Abschließend möchte ich noch sagen: Ich bin mir bewusst, dass ich manchmal missverstanden wurde. Aber Verantwortung erfordert eine ausgewogene Sichtweise, und ich habe immer versucht, das Gesetz über Freundschaften und persönliche Wünsche zu stellen. Es waren 30 intensive und letztlich glückliche Jahre, denn ich glaube, dass wir die Aufgaben, die uns das Leben stellt, mit Leidenschaft und Freude erfüllen sollten.« Der Ex-Kommissar schluckte, strich sich langsam mit dem Finger über die Wange, als wollte er eine Träne zurückhalten, die sich aus einem Augenwinkel zu lösen drohte, hielt inne und blickte auf die vielen Freunde, die zu seiner Verabschiedung gekommen waren. Dann hob er das Glas Chiaretto in seiner Rechten und rief: »Prost!«

Auch im Garten wurden die Gläser erhoben, Toaste ausgesprochen und auf Manchini angestoßen. Er stieg vom Stuhl herunter und wurde überschüttet mit Umarmungen und vielfältigen Wünschen für die Reise.

Luigi, der seit 15 Jahren im Kommissariat arbeitete und jetzt der Älteste war, hegte eine große Bewunderung für Manchini. An Formalitäten und Respekt gewöhnt, wandte er sich fragend an ihn: »Entschuldigen Sie, Herr Kommissar, wissen Sie zufällig, wo Luca ist? Ich habe ihn überall gesucht, aber ich kann ihn nicht finden.«

»Ich habe ihn auch noch nicht gesehen«, antwortete Manchini und sah sich um. »Wenn er noch nicht da ist, muss es dafür einen zwingenden Grund geben.«

»Und jetzt? Warten Sie, bis er kommt?«

»Nein, der Plan wird wie vereinbart umgesetzt«, antwortete Manchini, ohne zu zögern.

Luigi nickte nur und wandte sich ab.

Nun kam die Party richtig in Gang. Jemand stellte Lautsprecher auf dem Balkon im ersten Stock auf, aus denen die Hits der 80er-Jahre klangen. Der Pelèr, der Nordwind am Gardasee, trug die Stimme von Gianna Nannini, die Bello e Impossibile sang, laut in den Garten und weiter in Richtung der Waikiki Beach Bar in Cisano.

Die letzten Sonnenstrahlen tauchten den Monte Baldo in ein zartrosa Licht. Auf dem See steuerten die letzten Boote den Hafen an. Die Konturen begannen zu verschwimmen, das Blau der Berge und des Wassers gingen ineinander über. Die sanfte Dämmerung wich bereits der Dunkelheit, als im Garten Desserts und Digestifs serviert wurden.

Plötzlich zischte am Ufer im Garten des Bootshauses der Schweif eines Feuerwerkskörpers in die Höhe, und am Himmel explodierten alle drei Sekunden die bunten Effekte eines Römischen Lichts, was die Aufmerksamkeit aller auf den Rand des Sees lenkte. Ein Raunen ging durch die Menge. Jetzt folgte eine Reihe unterschiedlich gefärbter Leuchtkugeln, die in den Nachthimmel geschossen wurden. Gleichzeitig sprühten leuchtende Fontänen lautlos eine Vielzahl von Formen und Farben in die Dunkelheit. In den Augen der Menschen spiegelte sich das Spektakel aus Licht, Farbe und Bewegung.

Gerade als das Feuerwerk zu Ehren Mauro Manchinis abklang, näherte sich das Boot der Wasserpolizei mit hoher Geschwindigkeit der Anlegestelle an der Werft Bardolino Yachting. Luca Conti sprang aus dem Boot, bevor Giorgio das Anlegemanöver beendet hatte. Der junge Kommissar führte die Anlegeleine durch den Eisenring am Ponton, warf Giorgio das Ende der Leine zu und eilte, ohne auf ihn zu warten, auf dem Passeggio della Pua Richtung Bootshaus. Angesichts der Menschenmenge auf der Seeseite des Bootshauses lief er am Lagerplatz der Werft nach rechts in die Via Santa Cristina zum Vordereingang des Bootshauses. Die Tür stand offen.

Luca trat ein und rief: »Onkel Mauro!«

Er ging den Korridor entlang und streckte den Kopf in die Küche, wo es aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Das Cateringpersonal hastete geschäftig hin und her, und überall lag schmutziges Geschirr herum. Aus den Lautsprechern auf dem Balkon ertönte Musik. Es war ein wildes Durcheinander.

»Wo ist mein Onkel?«, fragte er einen der Cateringmitarbeiter.

Der Kellner zuckte mit den Schultern. Er kannte weder Luca, noch wusste er, wer sein Onkel war, und machte sich mit seinem Tablett auf den Weg zum See.

Luca folgte ihm und begegnete einigen bekannten Gesichtern. »Hat jemand meinen Onkel gesehen?«

»Schaut her! Der frischgebackene Kommissar ist eingetroffen!«, rief einer der Gäste. »Dein Onkel war gerade noch hier. Das letzte Mal, als ich ihn sah, stand er auf einem Stuhl und hat eine Rede gehalten.« Ohne Luca weiter zu beachten, drehte er sich wieder zu seinen Gesprächspartnern um.

Wie soll ich Onkel Mauro in diesem Gewühl bloß finden, dachte Conti und schob den einen oder anderen Gast beiseite, bis er erneut ein bekanntes Gesicht entdeckte, den Besitzer des Ristorante Piccolo Doge ganz in der Nähe.

»Hallo, Gianfranco, weißt du, wo mein Onkel ist? Ich kann ihn nicht finden.«

»Hallo, Luca! Keine Ahnung, aber du hättest seine Rede hören sollen. Sie war gut, offenbar hat er seinen Sinn für Humor nicht verloren.«

»Ja, habe ich schon gehört. Hast du ihn danach noch mal gesehen?«

»Nein, aber irgendwo wird er schon sein. Mit dem Glas in der Hand, wie wir alle.« Gianfranco nippte an seinem Grappa. »Das Feuerwerk war eine tolle Überraschung, nicht wahr?«

Luca antwortete nicht, er sah Luigi und Pietro auf sich zukommen und ging ihnen entgegen.

»Hallo, Luca, Herr Kommissar. Schade, dass du so spät dran bist!«, rief Luigi.

»Wo ist mein Onkel?«

»Ähm … na ja … Hast du das Feuerwerk gesehen?«

»Dieses dumme Feuerwerk ist mir völlig egal! Ich muss mit meinem Onkel sprechen! Es ist sehr dringend. Bitte sag mir einfach, wo er ist!«

»Dein Onkel ist nicht mehr hier«, sagte Luigi mit wissendem Grinsen im Gesicht. Manchini hatte ihn letzte Woche darum gebeten, ihm zu helfen, unbemerkt von der Party zu verschwinden. Luigi hatte Pietro, einem Polizeitaucher aus Collecchio, einer kleinen Stadt südlich des Gardasees, davon erzählt, und der war auf die Idee mit dem Feuerwerk gekommen. Weit konnte Manchini noch nicht sein, doch Luigi wollte nicht länger schweigen, vor allem weil er es genoss, im Gegensatz zu Luca eingeweiht zu sein. Er fühlte sich Luca überlegen seit der Umstrukturierung des Personals im Kommissariat, bei der Frau Ribaldi Vice Questore, Polizeidirektorin unter dem Leitenden Polizeidirektor, geworden war. Denn Manchini hatte nicht seinen Neffen, sondern ihn, Luigi, als Vice Questore Aggiunto, als der Polizeidirektorin beigeordneten Polizeirat, vorgeschlagen. Und das, obwohl Luca ihm in Sachen Qualifikation haushoch überlegen war. Luigi war bis dahin nur Funker gewesen. Nun residierte er mit Frau Ribaldi in den Büros im zweiten Stock mit Blick auf den See, wohingegen Luca im Erdgeschoss an einem Schreibtisch saß, von dem aus er durch die Gitterstäbe eines kleinen Seitenfensters auf die Fassaden der Pizzeria, der Eisdiele und der Yacht Bar sah.

»Was soll das heißen: Er ist nicht mehr hier?«, rief Conti aufgebracht.

»Du weißt doch, wie dein Onkel ist. Er mag keine großen Verabschiedungen. Er wollte unbemerkt gehen.«

»Was für eine absurde Idee! Die stammt sicher nicht von ihm! Er würde nicht gehen, ohne sich von mir zu verabschieden!« Luca war entsetzt.

»Er wurde abgeholt und wollte den Fahrer nicht warten lassen. Wohin er gefahren ist, weiß ich nicht. Warum kommst du auch so spät? Hat er dir etwa nichts gesagt?«, fragte Luigi hämisch.

»Du glaubst wohl, dass du meinen Onkel besser kennst als ich!«

»Na ja …«

»Ach, hör auf!«, grummelte Luca. »Ich bin zu spät gekommen, weil ich noch im Kommissariat war – im Gegensatz zu dir. Und jetzt haben wir Wichtigeres zu tun. Wir haben nämlich ein echtes Problem. Schau dir das an!«

Das Bild war nicht sehr deutlich, es war eine Fotokopie in verblassten Farben. Aber man konnte darauf dennoch erkennen, dass ein Mann, nur mit Unterwäsche bekleidet, an einen Baum gefesselt war.

»Mein Gott!«, rief Luigi aus. »Wer ist dieser Mann?«

»Einer der neuen Landschaftsbeauftragten im Rathaus.«

»Den kenne ich nicht.«

»Sein Name ist Virgilio Pastinato, er kam mit dieser Reformwelle, die das Rathaus und die Polizei umstrukturiert hat. Aber das ist noch nicht alles.«

»Was ist noch passiert?«

»Richter Stefano Fabbri, der am Gericht in Verona für die Region Gardasee zuständig ist, wurde entführt.«

2. Kapitel

Luca Conti fühlte sich zum ersten Mal machtlos, seit er Kommissar geworden war. Sein erster Impuls war, seinen Onkel anzurufen. Er zwängte sich durch die Feiernden im Garten Richtung Bootshaus, wo es ruhiger zuging.

Luigi mühte sich, mit Luca Schritt zu halten, Pietro lief mit etwas Abstand ebenfalls hinterher.

Als Luigi sah, dass Luca sein Handy aus der Tasche zog, mischte er sich ein. »Es macht keinen Sinn, ihn anzurufen, Luca. Der Kommissar wird nicht rangehen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Dein Onkel vertraute mir an, dass er das Telefon loswerden will, sobald er hier weg ist. Zumindest für ein paar Tage.«

»Und warum?«, fragte Luca und wurde erneut wütend. »Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn!«

»Er wollte diese Reise nicht mit dem Stress beginnen, dass ihn ständig Leute anrufen.«

Sie waren am Vordereingang angekommen.

»Leute? Welche Leute?« Luca blieb stehen, sah Luigi durchdringend an und versuchte ruhig zu bleiben. Nur weil Luigi Stellvertreter der Dottoressa geworden war, brauchte er nicht so zu tun, als wüsste er über alles Bescheid! Er nahm das Handy und rief seinen Onkel an, doch niemand antwortete. Luigi betrachtete ihn mit einem überlegenen »Ich hab’s dir ja gesagt«-Blick.

In Luca wurde der Wunsch, Luigi eine reinzuhauen, immer größer. Er brummte vor sich hin und steckte das Telefon ein. »Mann, hau ab, du Besserwisser!«, fuhr er ihn an und musste sich beherrschen, um ihn nicht wegzustoßen.

Pietro ging dazwischen und versuchte die Situation zu entschärfen. »Jungs, wir haben andere Probleme zu lösen. Es ist nicht die Zeit für Streitereien.«

Luca, dem Luigi schon lange auf die Nerven ging, vergaß Rangordnung, Alter und Respekt, schob Pietro beiseite, packte Luigi am Arm und schrie ihm direkt ins Gesicht: »Seit ich im Kommissariat bin, ignorierst du mich und erwähnst meinen Onkel in jedem Gespräch. Falls du es noch nicht bemerkt hast: Er ist im Ruhestand! Wenn du ihn so sehr vermisst, ist das dein Problem, nicht meins. Geh doch nach Hause und heul. Und sag deiner Frau, dass du ohne Mauro Manchini nicht leben kannst. Ich habe genug von deiner erbärmlichen Arroganz! Und vergleiche mich nicht immer mit meinem Onkel! Es ist mir völlig egal, dass du jetzt der offizielle Schuhlecker von Dottoressa Ribaldi bist! Hast du das verstanden, du Idiot?«

Luigi reagierte nicht.

»Kommt schon, beruhigt euch, Jungs«, mischte sich Pietro wieder ein. »Wir haben noch …«

Aber Luca hörte ihm nicht länger zu. Er ließ Luigis Arm los, wandte sich um und verließ das Bootshaus, ohne sich noch einmal umzusehen. Er hätte ihm noch ganz andere Dinge an den Kopf werfen können, den wahren Grund für seine Beförderung beispielsweise, doch damit wäre er seinem Onkel in den Rücken gefallen. In einem langen Gespräch hatte Mauro Manchini Luca erklärt, was dahintersteckte. Er wollte es Luca ermöglichen, in Zukunft unabhängig arbeiten zu können und nicht von rein politischen Entscheidungen abhängig zu sein. Außerdem war so der Posten des Commissario Capo, des Hauptkommissars, frei geblieben. Mauro hoffte, dass Luca ihn eines Tages bekommen würde. Luigis Beförderung zum Stellvertreter des neuen Vice Questore Dottoressa Ribaldi hatte eher dazu gedient, ihn aus dem Kommissariat wegzuversetzen. Sein neuer Posten war rein dekorativ, wie eine Blumenvase oder ein Kleiderständer. Mauro hatte schon immer eine Abneigung gegen jede Art von Stellvertreter gehabt. Er war der Meinung, dass man den Posten des Vice Questore Aggiunto nur geschaffen hatte, um dem Amtsinhaber das Gefühl zu geben, wichtig zu sein. Eine schwache und nutzlose Position. Stellvertreter waren für ihn nicht mehr und nicht weniger als zweite Wahl, Leute, die wichtig sein wollten und schließlich ein bisschen von allem machten. Nebensächliches, vom Fotokopieren bis zum Lecken und Kleben von Briefmarken, war ihre Hauptaufgabe, und sie mischten sich in alles ein, was sie nichts anging. Sie besaßen die Tugenden der Geduld, der Beharrlichkeit, des jahrelangen Diensteifers und den unbedingten Willen, Ansehen und Anerkennung zu erlangen, aber sie waren keine Führungskräfte. Nein, sie waren weit davon entfernt. Luca hingegen war von Natur aus ein Anführer. Das wusste Mauro Manchini, und deshalb hatte er mit Luigis Beförderung zum einen Luca vor einem Posten bewahrt, der ihn unterfordern würde, und zum anderen verhindert, dass Luigi und Luca zusammenarbeiten mussten. Was Lucas Onkel jedoch nicht vorausgesehen hatte, war, dass Luigi seine Beförderung vollkommen verinnerlicht hatte und zu einem unausstehlichen arroganten Trottel geworden war.

Lucas Handy vibrierte in seiner Tasche. Er schüttelte die Gedanken von sich ab, blieb stehen und nahm den Anruf entgegen. Einige Sekunden lang hörte er zu und entschuldigte sich anschließend bei demjenigen, der am anderen Ende der Verbindung war.

Als er auflegte, holten ihn Luigi und Pietro ein, die ihm gefolgt waren.

»Geht ihr zurück zum Bootshaus, ich muss los.«

»Wie ›los‹? Wohin?«, fragte Luigi.

Luca antwortete nicht. Er holte einen Schlüsselbund aus der Tasche und sagte: »Wenn die Leute weg sind, schließt bitte ab.«

Luigi holte Luft und sagte: »Wir sind doch keine Türsteher! Wer hat angerufen?«

Luca lachte abschätzig, ging aber nicht auf seine Frage ein. »Werft bitte niemanden raus. Wenn der letzte Gast geht, macht das Licht aus, schließt die Tür und lasst den Schlüssel auf dem Briefkasten liegen.« Er tat so, als wollte er den Schlüssel Luigi zuwerfen, der seine Hände reflexartig öffnete, warf ihn dann jedoch zu Pietro und ging wortlos davon.

Als Luigi und Pietro am Bootshaus ankamen, war die Party noch in vollem Gange. Doch die Gäste wurden langsam unruhig und fragten sich, wo Manchini abgeblieben war. Schließlich bat Luigi um Ruhe und erklärte ihnen, dass der Kommissar nicht mehr da sei.

»Was heißt das, er ist nicht mehr da?«, rief jemand. »Das ist doch seine Party! Sag nicht, dass er seinen Ruhestand vergessen hat und immer noch auf Notfallanrufe reagiert.«

»Er holt bestimmt eine Katze von einem Baum!«, rief ein anderer, der so viel getrunken hatte, dass er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte.

»Der Commissario lässt ausrichten, dass er in Eile ist, weil sich seine Reisepläne geändert haben, und ihn jemand abgeholt hat, der nicht länger warten konnte.«

Das schien den Gästen Antwort genug zu sein und sie amüsierten sich weiter. Alle waren seit Jahren daran gewöhnt, dass Manchini von einem Moment zum nächsten wegen eines Notrufs verschwand. So war es während seiner gesamten beruflichen Laufbahn gewesen.

Luca Conti fand Giorgio, der das Polizeiboot bei Bardolino Yatching längst vollgetankt hatte, auf der Terrasse des neben der Werft liegenden Lido Cisano, dem Treffpunkt des Motorradclubs Bardolino. Er hatte sein Bier fast ausgetrunken. Luca bestellte bei der Kellnerin zwei Bier und setzte sich zu ihm.

»Und? Was sagt der alte Herr?«, fragte Giorgio.

»Er war nicht da.«

»Wie, er war nicht da?«

»Ich bin so froh, dass du mich angerufen hast, Giorgio. Ich hatte keine Lust, im Bootshaus zu bleiben und mich von den Betrunkenen und vor allem dem Trottel Luigi nerven zu lassen.«

»Wie kommt’s?«

»Luigi genießt es, wenn er glaubt, mehr zu wissen als ich, vor allem, was meinen Onkel angeht. Aber ich habe mit Mauro noch vor der Party gesprochen. Und es ist nun mal so, ich war zu spät und habe nicht angerufen. Da nimmt mein Onkel dann keine Rücksicht. Aber es ist alles in Ordnung.«

»Die Sache mit dem nackten Mann am Baum konnten wir nicht vorhersehen. Oder das, was mit dem Richter passiert ist.«

»Der Landschaftsbeauftragte war nicht nackt. Oder hast du ein Bild, das ich nicht kenne?«

»Nein, nein. Aber ich denke, dein Onkel hätte bleiben können, bis du kommst.«

»Er hat getan, was er tun musste. Ich weiß, dass die Leute auf ihn warten. Das ist schon okay.«

»Vielleicht hast du recht.«

»Mir geht es gut, Giorgio. Und wir sollten uns daran gewöhnen, die Dinge selbst zu lösen. Mein Onkel wird uns nicht mehr ständig den Arsch retten.«

»Aber du musst zugeben, dass er der Beste war. Der Mann war in seinem Job einfach fantastisch und als Mensch absolut großartig.«

»Hat der verdammte Luigi dich bezahlt, damit du mich auch noch nervst?«

»Nein. Ich gebe einen Dreck auf Luigi. Aber es ist die Wahrheit. Weißt du eigentlich etwas über die Pläne deines Onkels?«

»Ja, natürlich. Und um ehrlich zu sein, ich sterbe vor Neid.«

»Warum? Was hat er vor?«, fragte Giorgio neugierig und trank einen Schluck Bier.

»Vor einem Jahr haben mein Onkel und ein Freund im Hafen von Genua eine spektakuläre Beneteau Oceanis 48 mit 14 Metern Länge von einem Ehepaar gekauft, das die Jacht kaum benutzt hat, und beschlossen, eine lange Segelreise zu machen. Sie sind dann mit dem Boot zur Marina di Porto Mirabello in La Spezia gesegelt, um die Feinabstimmung vorzunehmen. Sein Freund, ein ehemaliger Marinekapitän, war sofort startklar, aber mein Onkel musste noch den Funkschein, den Sportseeschifferschein und das Sicherheitstraining machen, das braucht man für Langstreckenfahrten.«

»Wow! Ich wusste, dass er segeln will, aber nicht, dass er es so professionell macht.«

»Mein Onkel hat schon immer davon geträumt. Ich wusste, dass sein Freund ihn auf der Party abholt und sie direkt nach La Spezia fahren, wo das Boot bereitsteht. Sie wollen den günstigen Wind nutzen, um flott voranzukommen und in Palma de Mallorca anzulegen. So lautet der Plan. Ich bin nicht enttäuscht, dass er nicht gewartet hat. Ganz im Gegenteil, ich hätte es auch so gemacht.«

Giorgio verstand. Er wusste, dass Segeln neben dem Windsurfen auch Lucas große Leidenschaft war. Doch auf ihn warteten andere Herausforderungen: die Aufgaben im Kommissariat. Er hob sein Glas und stieß mit Luca an. »Auf die Segler! Prost!«

Die Kellnerin kam vorbei, sah die leeren Gläser und fragte: »Noch zwei?«

Giorgio nickte und wandte sich anschließend Luca zu. »Und jetzt? Was machen wir?«

»Wir müssen handeln, aber heute können wir nichts mehr tun. Die Situation ist heikel, wir sollten aufpassen, dass wir keine unnötigen Gefahren heraufbeschwören und keine voreiligen Schlüsse ziehen«, antwortet Luca mit dem unguten Gefühl, dass er wie an der Akademie nur theoretische Grundsätze von sich gab.

»Du hast recht. Wir haben schon viel erlebt, aber so eine Entführungsgeschichte, ich glaube, das hatten wir noch nie.«

»Was geht bloß in den Köpfen dieser Leute vor?«, fragte Luca entrüstet.

»Glaubst du, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Entführungen gibt?«

»Ich weiß es nicht. Es ist noch zu früh, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Mal sehen, ob wir weitere Informationen erhalten. Normalerweise lassen sich die Täter in Entführungsfällen etwas Zeit, bevor sie sich ein zweites Mal melden«, antwortete Luca.

Die Kellnerin brachte die Biere, und Giorgio bat sie: »Maribella, kannst du mir vielleicht eine Zigarette besorgen?«

»Klar«, antwortete die Kellnerin und ging zurück zum Tresen.

»Sag nicht, du hast wieder mit dem Rauchen angefangen.«

»Nicht richtig. Aber ganz damit aufhören will ich auch nicht. Ab und zu eine, wie bei so vielem im Leben, kann doch nicht schaden.«

Eine Weile sagte keiner der beiden mehr etwas. Luca nippte an seinem Bier, während Giorgio genüsslich die Zigarette rauchte.

Lucas Gedanken kehrten zurück zu Luigi. »Ich weiß nicht, wie ich Luigi loswerden soll«, klagte er. »Er glaubt jetzt, das Kommissariat gehöre ihm.«

»Nach dem, was ich mitbekommen habe, ist es das Beste, wenn du ihn ignorierst. Er gehört zu den Menschen, die unausstehlich und dümmer als dumm werden, wenn sie davon überzeugt sind, eine Hauptrolle bekommen zu haben. Vergiss ihn, Luca. Du hast im zweiten Stock des Kommissariats nichts verloren, dafür bist du viel zu gut. Und wenn du die Beine von Dottoressa Ribaldi sehen willst, solltest du wissen, dass sie immer pünktlich um 9 Uhr zur Arbeit kommt. Sie macht um exakt 12.30 Uhr Mittagspause, trinkt um 15.30 Uhr ihren Cappuccino im Café Italia und geht um 17 Uhr.«

Luca lachte herzhaft. »Ich bin froh, dass du da bist.« Er hob sein Bierglas und stieß mit Giorgio an: »Salute! Alla Dottoressa!«

Als Luca am Bootshaus ankam, war es weit nach Mitternacht. Er hatte die Zeit im Lido Cisano absichtlich vertrödelt, um nicht erneut auf Luigi zu stoßen. Giorgio hatte ihm dankenswerterweise Gesellschaft geleistet.

Alle Gäste waren heimgekehrt, der Schlüssel lag wie verabredet auf dem Briefkasten, und es war bereits mehr oder weniger aufgeräumt. Luca fühlte sich einsam. Onkel Mauro war nun weg, und wann er zurückkehren würde, stand in den Sternen.

Luca beschloss, eine Runde zu surfen. Beim Surfen konnte er loslassen und einen klaren Kopf bekommen. Am besten in der Dunkelheit, wenn niemand mehr auf dem See war. Er holte die Tasche mit seinem Surfbrett und öffnete den Reißverschluss. Da entdeckte er einen Umschlag, der mit Klebeband auf dem Board befestigt war. Darauf stand in der unverwechselbaren Handschrift seines Onkels: »Für Luca«.

Er riss den Brief sofort auf.

Bardolino, 16. Oktober

Lieber Luca,

es ist schon seltsam, diesen Brief zu schreiben, wo du doch gerade vor ein paar Minuten nach unserem Abendessen bei Oma Theresia aufgebrochen bist. Die Fellnase Rotti sitzt zu meinen Füßen, Oma schaut mir über die Schulter und weiß nicht genau, was ich tue. Das Feuer brennt, ich trinke einen Grappa und ich könnte nicht stolzer auf dich sein.

Die Zeit für meine ersehnte Segelreise ist gekommen, und ich werde dich bald verlassen. Aber ich will es auf keinen Fall versäumen, dich wissen zu lassen, wie viel du mir bedeutest und wie beeindruckt ich von dem Mann bin, zu dem du geworden bist. Ich bewundere deinen Mut und deine Aufrichtigkeit und vor allem die Liebe, die du für deine Freunde und deine Familie empfindest. Ich verstehe, dass es für dich nicht einfach war, von der Anwaltslaufbahn zur Polizeiakademie zu wechseln und in meine Fußstapfen als Kommissar zu treten. Und eines ist sicher: Du hast dir deinen Platz selbst erkämpft.

Ich hatte eine gute Zeit bei der Polizei und bis jetzt ein interessantes Leben, aber ich lebe mit einem tiefen Bedauern, das ich auch auf der Reise nicht loswerden kann. Ich werde es mir nie verzeihen, dass ich die Leute, die für den Tod deiner Eltern verantwortlich sind, nicht gefasst habe. Ich habe dir das nie erzählt und wir haben nie darüber gesprochen, doch es belastet mich sehr zu wissen, dass diese Mörder nach all den Jahren immer noch auf freiem Fuß sind. Jeden Tag tricksen sich Kriminelle durch die Maschen des Gesetzes. Wir haben sie einfach nicht zu fassen bekommen. Das tut mir sehr leid.

Ich hoffe, ich werde eines Tages erfüllt von schönen Reiseerlebnissen zurückkehren. Ich bin bei guter Gesundheit und wünsche mir, dass das Glück und die guten Winde auf unserer Seite sein werden. Ich muss dich unbedingt wiedersehen!

Du bist der Sohn, den ich nie hatte, und der Stolz meines Lebens.

In Liebe

Onkel Mauro

PS: Das Bootshaus gehört jetzt dir. Oma hat einen Umschlag für dich mit den entsprechenden Dokumenten. Ich weiß, wie sehr du dieses Haus liebst, und es könnte nicht in besseren Händen sein.

3. Kapitel

Um 8 Uhr morgens klopfte es dreimal an die Zimmertür, und Luca wachte auf.

»Guten Morgen, Luca«, begrüßte ihn Großmutter Theresia durch die halb geöffnete Tür. »Ich bin froh, dass du nach Hause gekommen bist.«

»Guten Morgen, Oma«, antwortete Luca müde, drehte sich auf die andere Seite und hätte gerne noch weitergeschlafen.

»Ich habe dich heute Nacht gar nicht gehört.«

»Ich wollte dich nicht wecken.«

»Und, wie war die Party von Onkel Mauro? Ich bin sehr neugierig.«

»Es war okay.«

»Was hältst du davon: Ich stelle dein Frühstück auf die Gartenterrasse – heute ist so ein schöner Tag –, und dann erzählst du mir alles. Magst du lieber Spiegelei oder ein weiches Ei?«

»Spiegelei. Zwei, bitte!«

»Dann steh auf. Rotti weiß, dass du hier bist, er rennt wie verrückt durchs ganze Haus.«

»Ja, ich komme gleich runter. Danke, Oma.«

Luca hatte kaum geschlafen. Nachdem er Onkel Mauros Brief gelesen hatte, hatte er noch lange auf dem Balkon des Bootshauses gesessen. Der Brief klang für ihn eher nach einem Abschied als nach einer persönlichen Botschaft, und er war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Auch um die Nachricht von den Entführungen hatten seine Gedanken gekreist. Die Art und Weise, wie man den Landschaftsbeauftragten von Bardolino an den Baum gefesselt hatte, war eine pure Demütigung. So intensiv Luca den Scan des Fotos, der ihnen per E-Mail am Abend zugegangen war, auch betrachtet hatte, es war ihm nicht gelungen, herauszubekommen, wo das Foto aufgenommen worden sein könnte. Der Scan war so schlecht, dass er nicht einmal erkennen konnte, um welche Baumart es sich handelte. Die Information über die Entführung von Richter Stefano Fabbri war von einer verzerrten Frauenstimme auf den Anrufbeantworter eines der Polizeitelefone gesprochen worden. Die Nummer war nicht identifizierbar. Jeweils zwei Streifenpolizisten waren gleich darauf aufgebrochen, um die Familien und Arbeitskollegen zu befragen, die Wohnungen und die Arbeitsplätze der beiden zu untersuchen und nach Überwachungskameras in der Nähe zu fahnden. Luca konnte nichts weiter tun außer abzuwarten. Nachdem er auf dem Balkon eine Weile vor sich hin gegrübelt hatte, hatte er sich im Bootshaus ins Bett gelegt und versucht zu schlafen. Doch er war zunehmend unruhiger geworden. Und als er an seine Großmutter gedacht hatte, die allein zu Hause war und sich sicher Sorgen machte, war er aufgestanden und nach Verona gefahren.

Nach einer erfrischenden Dusche ging Luca nun auf die Gartenterrasse, wo ihn ein leckeres Frühstück erwartete. Rotti, der braune Labrador Retriever, sprang vor Freude an Luca hoch. Zwischen ihnen gab es keinerlei Spielereien wie Pfote geben oder auf Kommando über den Boden rollen. Dennoch hatten die beiden eine enge Verbindung, seit Luca Rotti mit einem gebrochenen Bein gerettet hatte. Sie würden sich gegenseitig bis in die Hölle und zurück verteidigen.

Oma Theresia setzte sich neben ihn, nippte an ihrem Tee und fragte neugierig: »Wie war’s? Erzähl doch mal!«

»Die Party lief ganz gut. Es sind viele Leute gekommen. Viel mehr als erwartet.«

»Und wie ging es Onkel Mauro? Es kommt nicht alle Tage vor, dass man eine Abschiedsparty feiert, um in die Welt hinauszusegeln.«

»Es ging ihm gut. Ich glaube, er hat den Abend sehr genossen. Er hat sogar eine Rede gehalten.«

»Eine Rede? Das klingt gar nicht nach ihm.«

»Ja. Stell dir vor. Und danach haben sie ein stilles Feuerwerk gezündet.«

»Ein stilles Feuerwerk?«, wiederholte sie erstaunt. »Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt.«

»Es ist noch nicht üblich, aber das gibt es.«

»Was die Leute alles so erfinden …« Oma Theresia schüttelte ungläubig den Kopf. »Mauro hatte Glück, dass du da warst und ihm sicher sehr bei der Bewirtung der vielen Leute zur Hand gegangen bist. Du musst müde sein, Luca.«

»Nein, es geht mir gut. Er hatte einen Cateringservice engagiert, der war sehr professionell«, antwortete Luca. Er bemühte sich, nicht ins Detail zu gehen, um seine Großmutter nicht zu belügen. Sie würde sich Sorgen machen, wenn sie wüsste, dass Onkel Mauro abgereist war, ohne sich von ihm zu verabschieden.

»Onkel Mauro hat einen Umschlag für dich dagelassen. Ich hole ihn.«

»Den kannst du mir später geben, Oma. Es muss nicht jetzt gleich sein. Trink lieber deinen Tee.«

»Nein, besser sofort, sonst vergesse ich es noch.«

Sie stand auf, und Luca bemerkte, dass ihr Gang an Leichtigkeit verloren hatte. Wie doch die Zeit verging … Gestern erst, so kam es ihm vor, hatte sie ihm noch bei seinen Hausaufgaben geholfen und mit ihm als Teenager über alles Mögliche, von Sport bis Politik, gesprochen. Luca hatte das Liceo Classico mit Auszeichnung abgeschlossen und war einer der Besten der Schule gewesen. Dann war die große Enttäuschung gekommen: Er hatte das Jurastudium nach der Hälfte abgebrochen, um auf die Polizeiakademie zu gehen. Oma Theresia hatte sich alle Mühe gegeben, ihn umzustimmen, aber es war ihr nicht gelungen, und schließlich hatte sie sich mit seiner Entscheidung abgefunden. Und jetzt war Onkel Mauro weg. Und mit ihm die Leichtigkeit in Lucas Leben. Onkel Mauro war immer die Stütze der Familie gewesen – nun trug Luca die Verantwortung.

»Schau, hier ist er.«

Luca bedankte sich und legte den Umschlag auf den Tisch, ohne ihn weiter zu beachten. Sein Handy begann zu vibrieren, auf dem Display erschien »Francesca Ribaldi«. Er drückte auf die grüne Taste.

Ohne eine Begrüßung fragte die Dottoressa: »Wo bist du, Luca?«

»In Verona.«

»Ich weiß, es ist Sonntag, und es tut mir leid, aber du musst so schnell wie möglich in mein Büro kommen. Es ist dringend.«

»Okay, verstanden. Ich bin gleich da.«

»Wer war das?«, fragte Oma Theresia.

»Die Chefin. Ich muss los!«

»Du hast noch gar nichts gegessen, Luca. Ein halbes Ei ist kein Frühstück! Weiß diese Dame nicht, dass heute Sonntag ist?«

»Doch, Oma. Aber ich muss trotzdem los. Ich nehme den Kaffee mit. Wir sehen uns später.« Luca streichelte mit der Hand über den Kopf und den Rücken des Hundes, ging zu seiner Großmutter, küsste sie auf die Wange und sagte leise: »Sei la migliore nonna del mondo! Ti voglio tanto bene. – Du bist die beste Oma der Welt! Ich hab dich sehr lieb.«

Als Luca seinen Nissan Pick-up auf der Rückseite des Rathauses von Bardolino anhielt, kam es ihm vor, als ob die Stadt in der Nacht überfallen worden wäre. Auf der gesamten Uferpromenade, dem Lungolago, und den angrenzenden Straßen lagen Flyer herum, die von einem leichten Wind angehoben und noch weiter in den Ort getrieben wurden. Und überall waren Aufkleber: an den Schaufenstern der Restaurants, auf den Bänken und Steinsitzen an der Promenade, an den Laternenpfählen, den Bäumen, den Fischerbooten, an der Brücke und auf den Mülleimern – einfach überall! Luca hob ein paar Flyer auf und betrachtete auch die Aufkleber an den Fenstern des Rathauses zur Seeseite hin. Auf allen standen immer die gleichen zwei Werbebotschaften in goldenen Buchstaben:

»Demnächst in Bardolino: GOLDEN LAKE CASINO RESORT!« Und: »Demnächst in Bardolino: GOLDEN LAKE SHOPPING PLAZA!«

Luca stieg eilig die Treppe zum Büro der Dottoressa hinauf.

Als er eintrat, blickte die Dottoressa erleichtert auf und begrüßte ihn mit einer Entschuldigung: »Hallo, Luca. Gut, dass du hier bist. Es tut mir leid, dass ich dich anrufen musste, aber du hast das Chaos draußen gesehen! Und bei den Entführungen haben wir auch noch keine Spur.«

Luca steckte die Flyer, die er auf der Straße aufgelesen hatte, in seine Tasche. Auf dem großen Besprechungstisch in der Mitte des Büros lagen Stapel von Papieren, Aufklebern und Aktenordnern. Die zwölf Stühle waren zur Seite geschoben, und eine Frau, die er vom Sehen kannte, weil er ihr im Gebäude hin und wieder begegnet war, beugte sich über den Tisch.

Die Dottoressa stellte sie einander vor. »Vielleicht seid ihr euch schon begegnet? Carolina, das ist Commissario Luca Conti. Luca, das ist Carolina Gennaro, die Sekretärin der Stadtverwaltung.«

Luca gab ihr die Hand.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Luca. Ich glaube, wir haben uns im Haus schon mal gesehen.«

»Freut mich auch!«

Carolina war alles, was Dottoressa Ribaldi nicht war. Klein, mittleren Alters, stämmig, Brillenträgerin mit Gläsern dick wie ein Flaschenboden und Vertreterin von Kurzhaarfrisuren – orangen Kurzhaarfrisuren. Sie arbeitete seit zehn Jahren für die Stadtverwaltung und war stets über alle genehmigten, abgelehnten und noch nicht abgeschlossenen Projekte der Gemeinde auf dem Laufenden.

»Was für ein Wahnsinn ist das da draußen?«, fragte Luca und trat ans Fenster.

Carolina nahm ihre Arbeit wieder auf, und die Dottoressa stellte sich neben ihn.

»Weißt du, wer hinter dieser Kampagne stecken könnte?«, hakte Luca nach.

»Keine Ahnung! Aber das ist doch völlig übertrieben, oder?«, entgegnete die Dottoressa.

Luca nickte. »Und wirklich geschmacklos!«

»Ich habe heute Morgen um 6 Uhr einen Anruf erhalten, und als ich hier ankam, konnte ich es nicht glauben. Die Flyer sind auch in die Briefkästen der Stadtverwaltung gestopft worden. Carolina wird uns gleich auf den neuesten Stand bringen.«

Luca sah durch das Fenster, wie die Leute stehen blieben, die Aufkleber und Flyer betrachteten und aufgeregt miteinander sprachen. Einige Touristen zeigten sich über die Papierflut entrüstet, und die Einheimischen versammelten sich vor den Türen der Geschäfte und versuchten zu verstehen, was geschehen war.

»Sehen Sie! Hier ist der Ausdruck der E-Mail mit dem ersten Antrag«, sagte Carolina laut. »Ich erinnere mich gut daran, als wäre es gestern gewesen.«

Luca und die Dottoressa traten an den Konferenztisch.

»Um was für einen Antrag geht es?«, fragte Luca.

In der nächsten Stunde informierte Carolina Gennaro den Commissario und die Dottoressa über die Hintergründe. Eine Briefkastenfirma versuchte seit einiger Zeit, eine Genehmigung für den Bau eines Casino-Resorts und eines Einkaufszentrums in Bardolino auszuhandeln. Die erste Anfrage war von der Gemeinde abgelehnt worden. Nach massivem Drängen der Antragsteller war das Baugesuch erneut auf die Liste der ausstehenden Verfahren gesetzt worden, aber ohne Aussicht auf Erfolg. Aus den Unterlagen, die Carolina in chronologischer Reihenfolge auf dem Tisch ausgebreitet hatte, ging hervor, dass das Unternehmen auf der Genehmigung des Projekts beharrte. Es handelte sich um zahlreiche E-Mail-Anfragen, die von Monat zu Monat häufiger geworden waren. Seit Beginn dieses Jahres hatte die Stadtverwaltung wöchentlich nicht nur E-Mails, sondern auch eine Vielzahl von Briefen und Vorschlägen erhalten.

»Das ist doch verrückt!«, sagte Luca, nachdem er einige der Dokumente überflogen hatte. »Wer sind diese Leute?«

»Das wissen wir nicht. Alles kommt von diesem einen Unternehmen: A&C Ltd. Wir haben dem Unternehmen nicht viel Beachtung geschenkt, nachdem der Antrag abgelehnt worden war. Aber anscheinend bestehen sie weiterhin auf den Bau dieses Resorts und des Einkaufszentrums.«

»Gibt es keine Namen von Unternehmensleitern, keine Adresse?«

»Doch. Es gibt Namen. Ich weiß aber nicht, ob sie echt sind.«

Die Dottoressa mischte sich ein: »So wie es aussieht, werden wir heute lange arbeiten müssen. Ich habe allerdings jetzt schon Hunger und schlage vor, erst zu Mittag zu essen und dann weiterzumachen.«

»Wir könnten ja Pizza bestellen«, sagte Luca.

Carolina zuckte mit den Schultern. Die Dottoressa willigte ein und rief den Pizzaservice der Fratelli Baseggio in der Via Giuseppe Verdi an.

4. Kapitel

Der Junge vom Pizzaservice Fratelli Baseggio brachte die Bestellung in Rekordzeit. Dottoressa Francesca Ribaldi nahm das Essen an der Eingangstür entgegen und trug es in ihr Büro. Die Bestellung bestand aus drei im Holzofen gebackenen Pizzas: Capricciosa, Diavolo und Siciliana. Die rechteckigen Pizzastücke bestachen durch ihren knusprigen Boden und einen großzügigen Belag. Der Parmigianokäse darauf wirkte leicht und locker. Sie hätten nicht besser aussehen können und dufteten köstlich.

Nach dem zweiten Biss in ein Stück Capricciosa bemerkte Luca einen Umschlag, der zwischen den Pizzakartons lag. »Ich wusste gar nicht, dass die Lieferdienste die Rechnung in einem schönen Kuvert bringen. Wie raffiniert!«

»Welche Rechnung?«, fragte die Dottoressa und holte die handgeschriebene Quittung, die der Lieferbote ihr gegeben hatte, aus ihrer Gesäßtasche.

»Vielleicht ist es die Kopie«, kommentierte Luca scherzhaft und reichte der Dottoressa den Umschlag.

Sie öffnete, nahm drei Blätter heraus, und ihre grünlichen Augen weiteten sich. Erschrocken schlug sie ihre Hand vor den Mund. »Das kann doch nicht wahr sein!«, rief sie aus und gab Luca zitternd die drei Blätter.

Luca erkannte sofort, um was es ging. Die drei Seiten waren unten nummeriert und zeigten eine Bildabfolge in schlechter Qualität, als wollte ihnen jemand eine Geschichte in drei Akten erzählen und damit eine Botschaft senden. Wieder schienen es nur Kopien oder Scans der Originale zu sein. Das erste Bild: Ein nur mit Unterhose bekleideter Mann war an einen Baum festgebunden. Das zweite: Ein Baum stand im Zentrum des Bildes und am rechten Rand waren die Beine eines Mannes zu erkennen, der aus dem Bild gezogen wurde. Das dritte Bild: nur der Baum.

Was zum Teufel …, dachte Luca, als er die Rückseite der Blätter untersuchte und sie gegen das Licht hob, um zu prüfen, ob es irgendwelche Abdrücke gab. »War der Pizzalieferant zu Fuß unterwegs?«, fragte er die Dottoressa.

»Ja, ich glaube schon«, antwortete sie.

Luca warf die Blätter auf den Tisch, sprang auf und rannte aus dem Büro. Er stürmte die Treppe hinunter, um den Lieferanten noch zu erwischen. Er hastete aus dem Kommissariat ins Freie, weiter über die Piazzetta und durch die engen Gassen Bardolinos, bis er schließlich am Pizzaladen der Fratelli Baseggio ankam. Nach kurzer Begrüßung erfuhr er, dass der junge Pizzabote noch nicht zurückgekehrt war. Luca schlug das ihm freundlich angebotene Getränk aus, denn er war zu ungeduldig, er konnte nicht untätig herumstehen.

Er verließ die Pizzeria und ging über die Piazza Guerrieri und den öffentlichen Garten von Borgo Bardolino, passierte die Passage nach dem Ristorante Divino und bog nach links in die Via San Martino hinunter zur Marina. In der Nähe des Capitello dei Marinai-Denkmals hielt er an und sah sich um. Einige Mitarbeiter der Stadt säuberten die Straßen von den Flugblättern und Aufklebern. Die Aktion war immer noch in aller Munde und die Empörung groß. Luca betrachtete die Leute in der Biglietteria Navigarda und ließ seinen Blick weiter nach hinten zur Mauer des Hafenpontons schweifen. Dort entdeckte er einen jungen Mann, der neben dem sperrigen Pizzakoffer saß und aus einer Waffel einen farbigen Berg Eiscreme löffelte.

Conti lief auf ihn zu und fragte ihn ohne Umschweife: »Warst du es, der die Pizza ans Kommissariat geliefert hat?«

»Ja, vor etwa zehn Minuten. Warum? Stimmt etwas nicht?«, antwortete der Junge nervös, vermutlich weil er bei einer Pause im Jachthafen erwischt worden war, obwohl er direkt zur Arbeit hätte gehen sollen.

»Nein, es ist alles in Ordnung. Aber zwischen den Pizzakartons steckte ein Umschlag. Wer hat dir den gegeben?«

»Ach das. Es war ein Typ, der an der Tür stand. Er wollte wissen, ob die Pizzas fürs Kommissariat bestimmt sind, und fragte mich, ob ich den Umschlag mitnehmen könnte, es würde jemand darauf warten. Er wollte ihn in den Briefkasten stecken, glaube ich.«

»Hast du gesehen, wohin er ging?«

»Nicht wirklich. Er ist mit einer schwarzen Vespa losgefahren, kurz bevor die Dame zur Tür kam, um die Bestellung entgegenzunehmen.«

»Wie sah er aus?«

»Vielleicht etwa so groß wie Sie. Er trug einen geschlossenen schwarzen Helm mit dunklem Visier, Jeans und einen dunklen Pullover. Ich glaube, braun. Oder dunkelgrau.«

»Braun oder dunkelgrau?«, hakte Conti nach, der bei dem Jungen eine Mischung aus Unsicherheit und Nervosität bemerkte.

»Es war eine dunkle Farbe. Aber nicht schwarz.«

»Was kannst du mir noch sagen? Ist dir etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«