Das Flüstern der Moosglöckchen - Martha Kindermann - E-Book

Das Flüstern der Moosglöckchen E-Book

Martha Kindermann

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Beschreibung

Ich bin die Hüterin des Waldes. Ich bin das Herzstück des Evergreen Forest. Ich bin die Bewahrerin allen Lebens und das Mädchen, auf deren Haut am Morgen der Tau glitzert. Doch ich bin keine Laune der Natur, ich gehöre nicht in ein Labor, meiner Kräfte beraubt und der Spezies Mensch schutzlos ausgeliefert. Aber vor allem sollte mein Herz nicht aus dem Takt geraten, nur weil einer von ihnen nach Sommerregen duftet und mir einen Namen gegeben hat. Ich bin Linnea, das Moosglöckchen, das in seiner Nähe welken und sterben wird.

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: info(at)dunkelstern-verlag.de

2. Auflage

ISBN: 978-3-910615-47-2

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

PROLOG 6

KAPITEL 1 8

KAPITEL 2 17

KAPITEL 3 21

KAPITEL 4 31

KAPITEL 5 40

KAPITEL 6 46

KAPITEL 7 53

KAPITEL 8 61

KAPITEL 9 68

KAPITEL 10 78

KAPITEL 11 87

KAPITEL 12 90

KAPITEL 13 97

KAPITEL 14 103

KAPITEL 15 110

KAPITEL 16 119

KAPITEL 17 127

KAPITEL 18 137

KAPITEL 19 146

KAPITEL 20 153

KAPITEL 21 161

KAPITEL 22 168

KAPITEL 23 175

KAPITEL 24 190

KAPITEL 25 200

KAPITEL 26 206

KAPITEL 27 213

KAPITEL 28 222

KAPITEL 29 229

KAPITEL 30 237

KAPITEL 31 243

KAPITEL 32 255

KAPITEL 33 267

KAPITEL 34 275

KAPITEL 35 284

EPILOG 292

DANKSAGUNG 296

Bonuskapitel 298

»Mir ist lieber,

in einer von Geheimnissen

umgebenen Welt zu leben,

als in einer, die so klein ist,

dass mein Verstand sie begreift.«

Ralph Waldo Emerson

PROLOG

Ich war noch nie verliebt.

Das schiefe Grinsen eines Mannes hat mich nie so durcheinandergebracht, dass ich meine Muttersprache vergessen oder zu sabbern begonnen habe. Ich durfte nie die Sehnsucht spüren, die einen wahrlich liebenden Menschen übermannt, wenn die bessere Hälfte nicht da ist. Ich kenne all diese Gefühle nur aus Büchern und Filmen, habe mir immer eingeredet, dass ich nicht fähig sei zu lieben oder es mit all meinen schrulligen Macken nicht wert bin, geliebt zu werden.

Und jetzt ist es zu spät.

Scheiße!

Grüße an meine Mama, wo auch immer sie gerade steckt. Ich weiß, fluchen ist sündhaft, aber meine Situation lässt sich gerade nicht treffender beschreiben. Verzeih mir. Ich hab dich lieb.

Mein irdisches Leben ist zu Ende. Das Abenteuer, auf welches ich mich erst vor Kurzem einließ, vorbei, bevor es richtig Fahrt aufnehmen und mich verändern konnte.

Ich wollte mutig sein, über den sprichwörtlichen Tellerrand sehen und die Welt retten. Klingt utopisch und abgedroschen? Ist es, aber es erfüllte mich mit einer Lebendigkeit, mit einer Kraft, die nicht aus mir, sondern aus all den pulsierenden Mächten, die mich umgeben, stammte und am besten mit dem Wort Magie zu beschreiben ist.

Dies ist also nicht die romantische Biografie, die vom Glücklich-bis-ans-Ende-aller-Zeiten erzählt. Ich werde keinen Frosch küssen, keinen vergifteten Apfel essen und keine rote Kappe tragen, obwohl Rot eine tolle Farbe ist, keine Frage. Nein, ich habe mich für den einsamen Turm, den hundertjährigen Schlaf und die Schwefelhölzchen entschieden.

Und obwohl es für mich keinen Prinzen oder das allseits beliebte Happy End geben wird, hat diese Geschichte sehr viel von einem Märchen und ist es wert, erzählt zu werden.

Bereit?

Es war einmal ein kleines Mädchen, das den Wald und alles, was darin kreuchte und fleuchte, mehr liebte als alles andere auf der Welt. Ihre Eltern bewohnten eine bescheidene Hütte zwischen Kiefern und Eichen und das Mädchen war trotz der großen Entfernung zur nächsten Siedlung nie einsam.

Es erzählte den Seerosen Geschichten von Elfen und Kobolden, lauschte dem Wind, der die Gedanken der Bäume an ihre Ohren trug und spielte Fangen mit den Geistern des Waldes, die nur sie zu kennen schien.

Ihre kleine Welt war ein magischer Ort des Glücks im Einklang mit der Natur und ihren Wundern …

Bis ihre Eltern beschlossen in die große, unbekannte, beängstigende Stadt zu ziehen und das Mädchen ihre Wurzeln verlieren sollte.

Da lief sie tief in den Wald hinein, ohne zurückzublicken, ließ sich vom Wassergeist über den Fluss tragen, vom Nordwind über große bemooste Steinbrocken heben und wurde über die Jahre eine von ihnen.

Wenn die Sonne über den Kiefern aufging, glitzerten Tautropfen auf ihrer von Sommersprossen übersäten Haut, wenn der Himmel sich schwarz färbte, sah man die Sterne in ihren Augen funkeln und wenn die Moosglöckchen zu blühen begannen, färbte sich ihr nussbraunes Haar zart rosa. Keine Menschenseele hätte Linnea je zu Gesicht bekommen, wäre nicht …

KAPITEL 1

Fio

Dr. Fiorello, wachen Sie auf! Dr. Fio …«

Die sanften Wellen, die mich bis gerade eben so herrlich gewogen haben, werden plötzlich zu Presslufthammererschütterungen und die einlullende Frauenstimme bekommt einen schrillen und überaus nervigen Unterton.

»Dr. Fio, es reicht! Wenn Sie jetzt nicht endlich die Augen aufschlagen, hole ich Dr. Dimas und sie wird Ihnen ordentlich den Hintern versohlen!«

»Was?« Wie vom Blitz getroffen schrecke ich auf und muss feststellen, dass ich nicht auf einer Gondel dem Sonnenuntergang entgegen schippere, sondern am Bett einer Patientin eingeschlafen bin, und das im Beisein einer Kollegin.

Scheiße!

»Ein Wunder!«, meint sie mit hochgezogenen Augenbrauen, während sie die Hände wartend in die Hüfte stemmt und von oben auf mich herabsieht. »Sie sollten sich jetzt ganz schnell wieder in den Griff bekommen, Herr Doktor. Die Chefin ist bereits auf dem Weg und na ja«, sie legt den Kopf schief und deutet auf die Mitte des Patientenbettes, »sie sollte besser nicht sehen, dass sie mit unserer geheimnisvollen Fremden Händchenhalten und dabei ihre Bettdecke vollsabbern.«

»Ich habe doch nicht …«, will ich widersprechen, als ich ihre Unterstellung prüfe und mich frage, wann endlich der verdammte Boden unter mir aufreißen würde.

Ein nasser Fleck an der Stelle, an der bis eben mein sicher völlig zerknittertes Gesicht lag, beweist ihre Aussage und meine Finger streichen wie fremdgesteuert über Linneas zarte Hände.

Zarte Hände?

Habe ich das jetzt gerade gedacht? Shit, ich brauche Abstand, einen Kaffee und – Abstand!

»Guten Morgen.« Die Tür fährt zur Seite. In letzter Sekunde kann ich mich loseisen und neben Schwester Poppy ans Fußende des Bettes zur Visite aufstellen.

Puh, war das knapp. Ich beginne zu schwitzen, sehe leicht verschwommen, weil mir das abrupte Aufstehen Schwindel beschert hat und versuche, möglichst unauffällig, die Reste meiner angetrockneten Spucke aus dem Mundwinkel zu wischen.

»Fio, wie schön dich zu sehen, ich habe dich letzte Nacht vermisst.«

Kann dieser Morgen eigentlich noch peinlicher werden? Ich bin sowas von am Arsch. Wie soll ich meiner Verlobten, die praktischerweise zugleich meine Geldgeberin ist, erklären, dass ich ihre Gesellschaft nur allzu freiwillig gegen die meines derzeitigen Forschungsobjekts getauscht habe? Zumal es sich nicht gerade um eine Laborratte handelt, sondern um das wohl faszinierendste und wunderschönste Geschöpf, das diese Erde mir jemals vor die Nase gesetzt hat.

»Narcissa«, beginne ich meinen lächerlichen Versuch, eine glaubhafte Erklärung zu formulieren, »gestern Abend …«

»Ist etwas sehr Merkwürdiges geschehen«, übernimmt Schwester Poppy und mich überkommt das dringende Gefühl, dass sie soeben versucht, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

»So? Etwas Merkwürdiges?«, wiederholt Narcissa wachsam. »Was kann so merkwürdig sein, dass mein Verlobter mich ohne eine Nachricht versetzt, seinen Pager ignoriert und den Posten der Nachtschwester übernimmt?« Die Kälte in ihrer Stimme kommt dem von Poppy angedrohten Hinternversohlen beängstigend nahe.

»Linnea hat gesprochen. Im Schlaf. Also, einfach so. Richtige Worte. Mit Buchstaben.« Poppys Lügen bringen mich zum Schmunzeln und ich nehme schnell die Hand vor Nase und Mund, um uns beide nicht zu verraten.

»Linnea?«, fragt Narcissa und kommt geschmeidig wie eine Siamkatze auf uns zu.

O Mann, seit wann jagt mir diese Frau eigentlich Angst ein? Wir kennen uns mittlerweile seit acht Jahren. Ich war ein Student ihres Vaters, wurde ihr eines Tages auf einer seiner zahlreichen Partys vorgestellt und noch am gleichen Abend von ihrer Familie quasi adoptiert. Seit jenem Tag fehlte es mir an nichts. Ich bekam einen Job, im wohl wichtigsten Forschungsinstitut unseres Landes und nach Beendigung meines Studiums den dezenten Wink des Professors, dass es an der Zeit sei, seiner Tochter einen Antrag zu machen. Ich tat es, weil es die logische Schlussfolgerung war. Und vielleicht auch, weil mir Professor Dimas nicht wirklich eine Wahl gelassen hätte. Wenn ich es mir so überlege, hatte ich wohl damals schon Angst. Heute eben vor seiner Tochter, der CEO des ‚Whim of Nature Conservatory‘, kurz WONC, und meiner zukünftigen Ehefrau.

»Ja, Linnea«, antwortet Poppy auf Narcissas Frage und ich bin ihr erneut dankbar für die Initiative. »Wir können das arme Ding doch nicht ewig Patientin 307 nennen, oder? Schließlich ist sie bereits seit zwei Wochen hier und da dachten wir …«

»Wir?« Mittlerweile ist Narcissa direkt vor mir stehen geblieben und starrt mich mit verschränkten Armen aus ihren schwarzen Augen nieder.

Wie komme ich aus der Nummer nur je wieder raus?

»Ja, wir«, sprudelt es gutgelaunt aus der quirligen Poppy. »Der Name war Dr. Fios Idee, weil …«

»Poppy, seien Sie doch bitte so gut und sprechen Ihren Vorgesetzten mit vollständigem Namen an. Das gebietet der Anstand, nicht wahr?« Sie würdigt Poppy keines Blickes und gibt weiterhin ihr Bestes, mir ein mieses Gefühl zu bescheren.

Warum eigentlich? Warum wirst du in Narcissas Gegenwart zum Schoßhündchen?

Weil sie älter ist als ich? Weil sie mehr zu sagen hat als ich? Weil sie mein verdammter Boss ist? Aber was noch viel wichtiger ist: Warum lasse ich zu, dass sie Poppy demütigt, obwohl ich mich selbst bei jedem in unserem Institut als Fio vorstelle und nichts, wirklich gar nichts auf meinen vollständigen Namen gebe? David Raffaele Fiorello. Mit dem Doktortitel vornweg, auf den ich ebenso pfeife, klingt dies doch schwer nach angeberisches, Cabrio fahrendes, überbezahltes Arschloch. Nein, danke!

»Sie haben recht, Dr. Dimas, ich bitte um Verzeihung«, entgegnet meine Lieblingskrankenschwester und nestelt nervös an der übergroßen Mohnblume herum, die heute ihre pechschwarzen Haare ziert.

Mann, Fio, hilf ihr, du Waschlappen! Schließlich ist die Namensgebung der Patientin 307 auf deinem Mist gewachsen.

»Reg dich ab, Schatz«, stelle ich mich dem menschgewordenen Drachen, der meine Lebensgefährtin ist, entgegen. »Poppy und ich sind Freunde und Fio ist mehr als in Ordnung. Außerdem hängt sie vehement den Doktor davor, obwohl ich auch darauf nicht bestehe.«

He, wow, für dieses zusammenhängende Statement kann ich mir wirklich mal still und heimlich auf die Schulter klopfen.

Poppy lächelt mich freundlich an, während Narcissas Augen zu schmalen Schlitzen mutieren und Dampf aus ihren Nasenlöchern zu kriechen scheint.

»Wir haben Patientin 307 Linnea genannt«, fahre ich fort, »weil ihr Haar so wunderschön hellrosa schimmert wie die Blüten der Moosglöckchen, zwischen denen ich sie gefunden habe.«

»Wunderschön?«

Gleich speit sie Feuer. Ich bin sowas von tot. Warum hab ich nicht einfach die Klappe gehalten?

»Du beschreibst das Haar einer Wilden, die im Wald verwahrlost, keine Steuern bezahlt und nun dem WONC auf der Tasche liegt, als wunderschön? Was läuft bei dir falsch, David?«

Die pure Verachtung schlägt mir entgegen, als sie das I meines Namens bewusst betont und anschließend die Zähne so fest zusammenbeißt, dass ich das Knacken ihres Kiefers hören kann.

»Ja, Narcissa, das tue ich. Dieses Mädchen ist ein Wunder. Das Land, auf dem sie lebt, dieses kleine Stück paradiesische Natur, dieses unberührte Fleckchen Erde, welches den Wald in seinem Urzustand zeigt und ein solches Phänomen hervorbringt, ist wun-der-schön. Ich finde kein anderes Wort, tut mir leid. Oder auch nicht. Denk doch, was du willst.« Okay, krass. Ich habe ihr soeben die Stirn geboten. Ich. Fio – mit oder ohne Doktortitel davor. Kaum zu glauben.

»David!«

»Sie ist ein Rätsel, Narcissa. Eine Kuriosität. Und genau das untersuchen wir hier im Institut. Sie bekommt einen Namen, wie jede neue Pflanzenart, die wir entdecken, jeder Falter, der zum ersten Mal auf unserem Radar erscheint und jedes Menschenkind, das das Licht der Welt erblickt. Solange sie schläft und uns ihre Geschichte verborgen bleibt, nennen wir sie Linnea, das Moosglöckchen, auf deren Haut am Morgen der Tau glitzert.« Ich wage einen Schritt zur Seite und mache Narzissa die Sicht frei. »Sieh sie dir an! Eine Laune der Natur, aber kein Grund zur Eifersucht.«

»Eifersucht?«, kommt es zickig über ihre knallroten Lippen. »Du überschätzt deine Wirkung auf mich, David Fiorello. Ich kann es nur nicht leiden, wenn mein zukünftiger Ehemann vergisst, wo sein Platz ist. An meiner Seite. Ich erwarte dich heute Punkt 18 Uhr bei mir zu Hause. Es gibt etwas zu feiern. Ich koche.«

»Du kochst? Seit wann denn das?«, frage ich, während sich Narcissa zur Tür wendet.

»Seit mein Verlobter auf Wildkräuter zu stehen scheint, und ihm ein gemischter Salat wie ein Wunder vorkommen wird.«

Ha, ha, sehr witzig.

»Moss wird dich abholen, damit du nicht wieder die Zeit über deinen ‚Projekten‘ vergisst.« Und schon sehen wir ihren weißen Kittel und den streng gebundenen Zopf nur noch von hinten.

Ich fahre mir angespannt über den Nacken und kann ein genervtes Stöhnen nicht unterdrücken. Diese Frau. Kann man sie überhaupt jemals zufriedenstellen?

»Doktor Fio?«, reißt mich Poppy aus meiner Starre, »darf ich Sie etwas fragen?«

»Sie tun es auch, wenn ich Nein sage, oder?«

»Vermutlich«, flüstert sie verschwörerisch.

»Dann lassen Sie mal hören, Poppy. Aber vergessen Sie nicht: Die Uhr tickt. Ich muss noch nach William mit dem Federschopf sehen, Floras heilende Fischhäute austauschen und den blauen Riesenchampingon unter die Lupe nehmen. Und um Punkt 18 Uhr habe ich eine Verabredung.« Sie verdreht die übergroßen Puppenaugen.

»Womit wir beim Thema wären«, glaube ich, aus ihrem Gebrabbel herauszuhören. Okay, jetzt bin ich neugierig. »Warum wollen sie Dr.  Dimas heiraten?«

Wie bitte? Das hat sie nicht wirklich gefragt, oder?

Ich hebe den rechten Zeigefinger … will zu einer Antwort ansetzen … halte inne und versuche es schließlich so:

»Poppy, ich mag Sie, ehrlich. Aber das geht Sie rein gar nichts an. Kümmern Sie sich nun bitte um Linneas …«

»Sie lieben sie nicht«, fährt sie mir frech dazwischen.

Die Ehrlichkeit, die ich an der freundlichen Poppy bisher stets geschätzt habe, geht mir gerade mächtig auf den Zünder.

»Was wissen Sie schon von Liebe?«, kontere ich eiskalt. »Sie bewohnen ein winziges Zimmer mit Schrankküche hier im Institut, verlassen nie das Gebäude und sprechen mit Ihren Topfpflanzen.«

Shit. Das war fies. Vielleicht sollte sie doch meinen ArschlochCabrioNamen benutzen.

»Sie sind gemein!«

Sag ich ja. Und ich habe jedes Wort verdient, welches sie mir gleich an den Kopf schleudern wird.

»Aber ich weiß, dass Sie es nicht so gemeint haben. In Wahrheit sind Sie einfach nur sehr traurig und allein. Ich spreche vielleicht mit meinen Pflanzen, und sie auch mit mir, aber Sie haben nur ihre Arbeit, eine gruselige Frau, die Sie behandelt, als führe sie Sie an der kurzen Leine und mithilfe von Angst.«

»Angst?«, entfährt es mir skeptisch.

»Ja, sicher. Sie haben Angst, ihr den Laufpass zu geben, damit Ihren Job zu riskieren und sich Hals über Kopf wahrhaftig und echt zu verlieben. Dr. Fio, Sie gehen in ihrer Gesellschaft ein wie eine Orchidee, der das Sonnenlicht fehlt. Sie werden nie Blüten tragen, wenn Sie sich nicht abnabeln. Dr. Dimas ist …« Sie zögert.

»Ja?«

»Ich versuche es mal in mit der abgeschwächten Variante: wie eine mächtige Weide. Schön anzusehen, keine Frage. Beeindruckend und einschüchternd, absolut. Aber sie lässt Sie in ihrem Schatten verkümmern, entzieht Ihnen das Wasser. Bitte, werden Sie nicht wie sie.«

»Und das wäre wie genau?«, hake ich nach und frage mich ernsthaft, ob ich die Antwort verkrafte.

»Gemein, kaltherzig und egoistisch.«

Harte Worte.

»Verlieren Sie nie den Blick für Wunder wie Linnea. Hören Sie nie auf, den Dingen, die Ihnen am Herzen liegen Namen zu geben, und bitte, bitte – verpetzen Sie mich bloß nicht.«

Sie zwinkert mir zu, drückt mir Linneas Akte in die Hand und verabschiedet sich mit den Worten:

»Ich lasse Sie zwei mal ein paar Minuten allein. Fieberthermometer und Blutdruckmesser liegen auf dem Tisch. Sie übernehmen das doch sicher gern für mich, oder? Ich bin zum Tee mit meinem Christusdorn verabredet. Bis später.«

Und weg ist sie. Tolle Quote, Fio. Zwei Frauen, die dir sagen, wo es langgeht und dich dann bedröppelt stehen lassen. Vielleicht sollte ich mein Dasein tatsächlich überdenken, mir eine schweigsame Blume zulegen, die ich ohne Gewissensbisse wunderschön nennen darf und mich in die Einsamkeit des Waldes zurückziehen, wie Linnea es getan hat.

Linnea.

Ich lasse mich erneut auf dem Stuhl an ihrem Bett fallen und schlage die Akte auf.

Patientin 307. Größe: 168 cm. Gewicht: 53 kg. Geschätztes Alter, laut Handwurzelknochencheck: Anfang 20. Herkunft: unbekannt.

Ratlos, müde und seltsamerweise völlig durch den Wind streiche ich mir die braunen Haare aus dem Gesicht und schiebe meine Brille an die Stelle, wo sie hingehört.

Ich betrachte die schlafende Schönheit, deren Geheimnis ich nur zu gern lüften würde und greife erneut nach ihrer Hand, die sich leicht wie eine Feder in meine schmiegt.

Ihr Puls geht gleichmäßig, ihre Brust hebt und senkt sich, ihre Vitalwerte sind fast schon besser als gut … doch sie … schläft.

Ob sie mich hören kann? Meinen streichelnden Daumen spüren kann?

Moment. Was? Shit. Das sollte ich besser lassen! Behutsam lege ich die feingliedrige Hand zurück, die sich in meiner für einen Moment so unfassbar richtig anfühlte, dass mich nun eine bescheuerte Sehnsucht packt, die ich nicht zu erklären vermag. Wie kann man sich nach der Nähe eines Menschen sehnen, mit dem man bisher weder gesprochen, noch in seine, beziehungsweise, ihre Augen gesehen hat? Die Augen sind doch angeblich die Fenster der Seele, oder so. Ihre sind geschlossen. Geben keinen Einblick in ihr Innerstes und sperren mich aus. Dabei würde ich zu gern …

Stopp, Fio. Du Idiot. Noch vor wenigen Minuten hat dich deine extrem heiße Verlobte zum Essen am Abend zitiert, und du denkst an die mysteriösen Augen einer gänzlich fremden Frau, die zudem unter deinem Schutz stehen sollte? Schlag sie dir aus dem Kopf! Oder bist du krank? Einen auf Herzensbrecher machen und hübschen Mädchen nachstellen, ist doch sonst eher Moss‘ Ding.

Wie recht du doch hast, gruselige Stimme des Gewissens, die gefälligst ihre Klappe zu halten hat! Ich hab‘s kapiert: Anfassen ist tabu! Meine Faszination kann ich jedoch nicht per Knopfdruck ausschalten, verstanden? Noch nie habe ich ein derartiges Verlangen danach gespürt, ein menschliches Wesen kennen zu lernen. Noch nie habe ich eine Verbindung empfunden, in einem Ausmaß, das mir Angst macht und noch niemals war mein wohl erzogenes Herz in Anwesenheit einer Frau so aus dem Takt geraten. Lass mich also diese eine Frage stellen:

»Wer bist du, Linnea, und was um Himmels willen hast du mit mir vor?«, murmle ich.

Das waren zwei Fragen.

»Krümelkacker!«, fasele ich weiter. »Und nun, raus aus meinen Gedanken, sonst passiert hier gleich etwas.«

Ich glaube, ich sollte psychologische Hilfe beanspruchen, nehme ich mir vor.

»Selbstgespräche sind nur bis zu einem gewissen Grad unbedenklich.«

KAPITEL 2

Linnea

Bitte rede mit dir selbst! Fio, das ist doch dein Name, oder? Alles ist besser als diese beklemmende Stille. Ich ertrage sie nicht mehr!

Die meiste Zeit des Tages bin ich allein. Allein in einem geschlossenen Raum, der keine Sonnenstrahlen auf meine Haut lässt. Gefangen im eigenen Körper. Verdammt dazu still zu liegen, still zu sein, nichts, aber auch gar nichts zu sehen und Luft einzuatmen, die so giftig riecht, dass sie mir Angst macht. Eigentlich macht mir alles Angst. Keine Ahnung, wie lange ich hier schon gefangen bin, welche Tageszeit wir haben oder wann mir zuletzt der Wind um die Nasenspitze wehen durfte.

Woran ich mich erinnere, ist ein sirrendes Geräusch, ein stechender Schmerz im Nacken, an meinen Kopf, der auf einen bemoosten Stein knallt und eine Stimme. Seine Stimme. Fios Stimme.

»Ich werde auf dich aufpassen, Mädchen«, hatte er geflüstert, während mir die Sinne schwanden, und meine Welt in Dunkelheit versank.

Seitdem bin ich hier und warte. Warte, dass ich aufwache, dass ich eine Erklärung erhalte, dass man mir verrät, warum ich meinen Wald, meine Heimat, mit allem was ich liebe, verlassen musste und hier die Zeit verschlafe.

Am ersten Tag habe ich innerlich geschrien, wollte um mich treten, verstand nicht, was diese Fremden mit mir vorhatten und war dennoch machtlos. Wie sollte ich mich bemerkbar machen, wenn ich faul herumlag und keinen Finger, geschweige denn meine Stimme heben konnte? Mein Kopf pochte, als hätte sich der Specht darin eingenistet, und ich war kurz davor gewesen zu implodieren.

Am zweiten Tag hatte ich Angst bekommen. Was würden diese Unmenschen mit meinem Zuhause anstellen? Hatten sie mich gefangen genommen, um auch noch das letzte bisschen Paradies auf Erden zu vernichten? Die Kiefern zu roden, die Beeren zu zertreten, die Tiere zu töten, um ihre Macht zu demonstrieren, nur um dann ein Haus zu bauen? Ein großes Haus? War das ihr Plan? Und war ich dazu verdammt, stille Beobachterin zu sein?

Am dritten Tag war ich traurig geworden und Heimweh hatte Panik und Verzweiflung abgelöst. Ich vermisste das Gras zwischen meinen nackten Zehen, den Anblick der sich öffnenden Seerosen, die kühlen Nächte unter sternenklarem Himmel und den Geruch des Waldes nach einem herrlichen Sommerregen. Letzteres inzwischen nicht mehr ganz so schmerzhaft, da ein gewisser Jemand, der hin und wieder Selbstgespräche führt, von einer ganz ähnlichen Duftnote umgeben wird. Sommerregen. Ja, Fio – Entschuldigung, Dr. Fiorello – riecht nach Sommerregen und damit viel zu vertraut, als dass ich es mir eingestehen dürfte.

Heute habe ich schon lange aufgehört die Tage zu zählen, bin es leid, Angst zu haben oder mir Fragen zu stellen, die mir anscheinend niemand beantworten will. Ich habe meine Nutzlosigkeit akzeptiert.

Ich weiß nicht, was ich hier soll, warum Fio, Schwester Poppy und diese unangenehme Dr. Dimas um mich herumschleichen, mich beobachten oder meine Hand streicheln.

Alles, was sie tun, kommt mir fremd vor. Jedes Wort klingt, als könne es unmöglich an mich gerichtet sein und ich will nichts weiter, als zurück in mein Leben. Ein Leben in der Stille des Waldes. Allein, aber glücklich. Und ich war glücklich. Ich war stets auf der Hut, versteckte mich, sobald Menschen meine Lichtung betraten, und wusch mir den Schweiß des Tages erst ab, wenn der Mond sein fahles Licht über den See schickte und die Käuze ihr Lied anstimmten. Ich war frei gewesen. Sorglos, denn der Wald hatte mir gegeben, was ich brauchte, und nun ist alles anders.

Ich erinnere mich dunkel an eine Zeit, die nach all den Jahren vom grauen Schleier des Vergessens fast gänzlich verdeckt wird. Damals war ich noch ein kleines Mädchen, lebte mit Vater und Mutter in einer Hütte im Wald. Fernab aller Menschen. Ein einfaches Leben mit allem, was die Natur uns zu geben bereit war. Doch plötzlich verändert sich das Bild. Vater ist kaum mehr zu Hause, Mutter weint, packt unsere Habseligkeiten in Weidenkörbe und nimmt die gewebten Vorhänge ab, die das winzige Heim so gemütlich gemacht hatten.

Ich weiß nicht, was damals vorgefallen ist, warum meine Eltern unser Familienglück zerstören wollten, aber es riss mein kleines Herz in tausend Stücke.

Ich konnte mir ein Leben abseits des Waldes nicht vorstellen. Ich brauchte den weichen, vielschichtigen Boden unter meinen Füßen, der mir das Gefühl von Sicherheit gab. Ich brauchte klebriges Harz an meinen Händen, Stöckchen und Kiefernnadeln in meinen Haaren, grasgrüne Knie vom Spielen auf dem moosigen Untergrund und den Geist der Natur, der in mir Purzelbäume schlug. Ohne diese Dinge fühle ich mich wie ein halber Mensch, kann nicht atmen und werde von der Sehnsucht nach Vollständigkeit zerfressen. Damals wie heute.

Wer bist du, Linnea? Diese Frage ist einfach zu beantworten. Ich bin eine Tochter des Waldes und werde in diesem unwirklichen Gefängnis früher oder später eingehen, als wäre eine Armee Borkenkäfer unter meiner Haut am Werken.

Wenn du mich also tatsächlich für ein Wunder hältst, Fio, was ich, nebenbei bemerkt, wirklich sehr nett finde, dann bring mich zurück nach Hause und halte dein Versprechen.

»Ich werde auf dich aufpassen, Mädchen«, hast du geflüstert.

Doch ich bin nicht für ein Leben hinter Mauern gemacht. Ich kann ohne meine Wurzeln nicht überleben. Ich brauche die Sonne, den Nordwind und den Wassergeist, um am Leben zu bleiben. Ich bin ein Teil von ihnen, seit ich vor vielen Jahren mein menschliches Dasein abgelegt habe. Ich bin kein normales Mädchen, keine normale Frau. Und ich kann nur ein Wunder sein, wenn ich den echten Sommerregen riechen darf.

Bring mich zurück, Fio, mit der warmen Stimme, der mir einen Namen gegeben hat. Bring mich zurück und rette mein wun-der-schönes Leben. Bitte!

KAPITEL 3

Fio

Klopf, klopf«, lärmt Moss, als die Tür zu Linneas Zimmer aufgleitet und er ungefragt eintritt. »Der Chauffeur ist da, Fio.«

Klar. Hätte ich mir ja denken können, dass Narcissa zu kindischen Methoden greift, um meinen Arsch heute Abend sicher an ihrem Tisch zu wissen. Warum sie allerdings Moss Furet, ihren penetranten Schoßhund, in diese Sache reinzieht, ist mir schleierhaft. Aber he, dass es die beiden nur im Doppelpack gibt, hatte ich schon vor Jahren akzeptieren müssen und sollte mich nicht mehr daran aufreiben.

»Ich hab‘s gleich, Moment«, raune ich genervt, weil mir der Umstand seiner Anwesenheit entschieden gegen den Strich geht. Ich bin 29 Jahre alt und brauche keinen verdammten Babysitter, der mich zum Essen abholt.

Seufzend schiebe ich das dunkle Brillengestell an die passende Stelle auf meiner Nase. Ich sollte mich echt entspannen. Solange ich in diesem Raum sein, Linnea beobachten und meine Ruhe haben durfte, war alles in bester Ordnung.

Das ist nicht normal, Fio, wettert mein Unterbewusstsein.

Ach, halt die Klappe! In weniger als einer halben Stunde muss ich den glücklichen Verlobten spielen, die Kochkünste meiner zukünftigen Frau loben, die auf einer Skala von eins bis zehn bei, sagen wir mal, minus zwei liegen, und etwas feiern, von dem ich noch keine Ahnung habe. Scheiße, ich will das nicht!

»Sag mal, lebst du hier, Fio?«, fragt Moss plötzlich, während er das zusätzliche Kissen, welches mir Poppy unaufgefordert vorbeigebracht hat, an Daumen und Zeigefinger in die Luft hebt.

»So ein Quatsch«, entgegne ich scheinbar gelassen, aber meine Stimme klingt alles andere als überzeugend. Weil ich das Moosglöckchen nicht aus den Augen lassen wollte, hatte ich meine derzeitigen Studienunterlagen samt rollbarem Aktenschrank hier untergebracht und sogar die dürftigen Mahlzeiten am Bett meiner Patientin eingenommen. »Ich arbeite viel, möchte meine Forschungsarbeit nicht vernachlässigen und da ist es hin und wieder praktisch, wenn …«

»Forschungsarbeit?«, fragt Moss lachend, legt das Kissen zurück und kommt mit verschränkten Armen auf mich zu. »Die Kleine da nennst du Forschungsarbeit?«

Ich schaue ihn dümmlich an und zucke regelrecht zusammen, als er mir zwar freundschaftlich, aber kräftig eine Hand auf die Schulter schlägt.

»Alter, die Hübsche da ist vieles, aber ganz sicher nicht deine Forschungsarbeit. Erzähl das deiner Großmutter. Jetzt versteh ich, warum Narcissa so reagiert hat.«

»Wie hat sie denn reagiert?«, hake ich so beiläufig wie möglich nach und tausche unterdessen Kittel gegen Holzfällerhemd.

»Du lebst echt auf einem anderen Stern, mein Freund, was dein hässliches Hemd mal wieder beweist. Kariert ist sowas von out, Kumpel. Du siehst aus wie ein verbitterter Einsiedler, der gleich auf seinen verrosteten Truck klettert, um mit der Flinte auf Wildschweinjagd zu gehen.«

»Sagt der Mann mit dem Dreitagebart und der schulterlagen Surfermähne«, murmle ich einen Konter in meinen Hemdkragen. »Was hat sie denn nun gesagt, Moss?«

»Mmh«, beginnt er gedehnt und schleicht um Linneas Bett herum, als wäre er es, der zur Jagd geht, »wenn ich es dir sage«, wieder baut er eine Kunstpause ein und lässt meine Augenbrauen damit genervt nach oben fahren, »machst du mir ihre Nummer klar, sollte sie aufwachen. All right?«

Keine Ahnung, warum mich sein dämlicher Kommentar so wütend macht, aber ich muss mich ernsthaft zusammenreißen, ihn nicht vom Bett wegzuzerren und gegen die nächste Wand zu drücken.

Cool down, Fio. Cool down.

»Moss«, beginne ich so ruhig, wie es mir in meiner Wut möglich ist, »dir ist klar, dass ich sie im Wald gefunden habe, oder? So viel hat Narcissa dir mit Sicherheit gesteckt.« Sein Schulterzucken bestätigt meine Vermutung. »Gut, dann kannst du dir ja vielleicht auch denken, dass sie weder über ein Handy, noch über eine Glasfaserverbindung, geschweige denn ein Profil auf einer Dating-Website verfügt.«

Hu, ich wollte nicht lauter werden, ehrlich nicht und doch hatte ich die letzten Worte beinahe geschrien.

»Reg dich ab, Bro«, versucht Moss, mich zu beruhigen. »Das war ein Witz.«

Ha, ha, ich lach mich tot. Nicht.

»Obwohl …«

»Alter! Finger. Weg. Von. Linnea. Verstanden?« Dieser Ausbruch war ebenfalls nicht so geplant. »Lass uns gehen! Ich habe die Vermutung, dass du in ihrer Gegenwart nur auf dumme Gedanken kommen würdest.«

Moss lacht erneut, folgt jedoch meiner Aufforderung, sich auf den Ausgang zuzubewegen.

»Fio, ich habe die Vermutung, du bist schon längst auf dumme Ideen in ihrer Anwesenheit gekommen und solltest sie dir schnellstmöglich aus dem Kopf schlagen.«

Mit diesen Worten lässt er die Tür zur Seite gleiten und schiebt mich in den nahezu leergefegten Flur des WONC – weg von Linnea. In mein Leben, als der Mann an Narcissa Dimas‘ Seite. Das Leben als Dr. David Raffaele Fiorello, welches mich irgendwann definitiv zu einem Cabrio fahrenden Arschloch machen wird.

***

Nachdem ich die nervenaufreibende Autofahrt in Moss‘ schwarzem Sportwagen, überstanden habe, stehen wir nun vor Narcissas schicker Loftwohnung, und Moss betätigt den Klingelknopf.

»18:07 Uhr, Fio.« Mehr kommt nicht aus der Gegensprechanlage, bevor ein Summen ertönt und uns den Weg frei macht. Super, ich freu mich auch schon, dich zu sehen, Schatz, denke ich und gewähre Moss den Vortritt. Reine Schutzmaßnahme.

Schlappschwanz!

Pfft, von dir lass ich mir gar nichts andichten, Gewissen. Du hast nur die große Klappe, wenn du mich runtermachen oder meine Entscheidungen anzweifeln kannst. Danke, aber ich hatte einen harten Tag.

Mmh, ist klar.

»Schön, dass ihr endlich kommt, Männer. Die Tannine sind jedoch bereits aus dem Rotwein geflüchtet. Gänzlich. Na ja, selbst schuld. Ich habe ihn noch bei bester Temperatur genießen können.«

Mann, wie ich ihr nerviges, aufgesetztes Gequatsche über Wein hasse, das meist nur aus kümmerlichem Halbwissen besteht und ihre Mitmenschen dümmer dastehen lassen soll, als sie es tatsächlich sind. Tannine, pfft. Der Wein schmeckt einen Grad wärmer noch ebenso gut. Poppys Frage, warum ich dieses Zauberwesen ehelichen will, kommt mir erneut in den Sinn und klatscht mir deftig in die Fres…

»Setz dich bitte, Moss«, säuselt Narcissa ihrem Gast zu und weist ihm seinen Platz auf einem der durchsichtigen Designerstühle an ihrem protzigen Designerglastisch mit Unterbodenbeleuchtung. Pornös, wenn ihr mich fragt.

Dich fragt niemand, Fio.

Auch gut.

»Danke für die Einladung, Narcissa«, schleimt Moss. »Ich weiß gar nicht, auf was ich mich mehr freue – von dir bekocht zu werden oder auf den Grund hinter dem heutigen Abend.«

Moss hängt seit dem Tag, an dem ich ihm das erste Mal begegnet war an Narcissas Rockzipfel, ist wie eine Art verkorkster Bruder oder höriger bester Freund für sie – keine Ahnung. Ich wurde aus ihrer skurrilen Beziehung noch nie schlau. Aber dieser Ton eben, ihr gegenüber – nee, das geht einen Tick zu weit!

Bist du jetzt eifersüchtig?

Und wenn schon. Noch ist sie meine Verlobte.

Noch?

Raus. Aus. Meinem. Kopf.

»Schön, dass wenigstens ein Mann im Raum mein Engagement schätzt und sich darüber freut, hier sein zu dürfen. Hab ich recht, Fio?«

Ihre Spitzen lasse ich einfach an mir abprallen und verwandle die Worte in Bla-Bla-Blas oder Bli-Blu-Blubs.

»Fio? Hörst du mir überhaupt zu?«

Bla-Bla … Was?

»Oh, jaaaa«, versuche ich, die Situation zu retten, »ich bin verstummt vor Neugier und Aufregung. Ist das zu fassen, Schatz?« Ich hauche ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und nehme dann ebenfalls auf einem der super unbequemen, dafür besonders hochpreisigen Stühle Platz.

»Erwartest du eigentlich noch weitere Gäste für diese … Feier?«, werfe ich ein, obwohl ich den Anlass immer noch nicht kenne. »Lässt dein Vater sich mal wieder blicken?« Eine Frage aus purer Höflichkeit, da ich die Antwort ohnehin kenne.

»Wo denkst du hin, Fio?«, bestätigt Narcissa meine Vermutung. »Er ist viel zu beschäftigt, das weißt du doch. Außerdem hat er mal wieder einen Hexenschuss und wenig Lust auf Geselligkeit. Ich soll dich grüßen.«

Immerhin etwas. Seit mein Schwiegervater in spe das Institut verlassen und sich seiner privaten Forschung zugewandt hat, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Er igelt sich in seiner riesigen Villa am Stadtrand ein und will niemanden hören oder sehen. Komischer Kauz. Komischer, wahnsinnig intelligenter Kauz mit großen Visionen, dem ich viel zu verdanken habe. Ich sollte seine Entscheidung zum Einsiedlertum einfach akzeptieren. Also … anderes Thema:

»Was hast du denn Schönes für uns gezaubert?«

Alles klar, das war zu viel des Guten. Ich werde nicht mehr über Moss schimpfen. Meine Heuchelei ist genauso abstoßend.

»Geduld, mein Lieber. Ich musste den ganzen Tag warten und halte es einfach nicht mehr länger aus.«

Ihre Tonlage ist von ‚beängstigende Businesslady‘ zu ‚kreischender Teenie‘ gewechselt und sie lässt sich genüsslich auf ihren Stuhl sinken, während sie die dunkel lackierten Fingernägel auf die Glasplatte trommeln lässt. Ekliges Geräusch.

»Daddy«, sie zieht das Wort in die Länge, klemmt anschließend die Unterlippe zwischen die Zähne und schlägt die Augenlider nieder, »da wir gerade von ihm sprachen … hat still und heimlich ein Gebot für das unberührte Land, welches Fio vor zwei Wochen im Rahmen seiner Forschung gesäubert hat, abgegeben und den Zuschlag erhalten. Er möchte, dass wir es roden, eine nette Villa darauf errichten und unseren Familienwohnsitz darauf gründen. Hund, Kinder, Putzfrau – alles, was man so zum Glücklichsein braucht. Na gut, die Kinder müssen vielleicht noch ein wenig warten. Ich bin gerade mal 30, da kann ich meinen Körper noch nicht für so etwas wie Kinder ruinieren.«

Sie lacht und ich weiß nicht, welche Emotion zuerst aus mir herausbrechen wird. Aber da braut sich ein gewaltiger, unaufhaltsamer Sturm in mir zusammen, der wahrscheinlich schon die letzten acht Jahre stetig neues Futter bekam und jetzt – ja, in genau dieser Sekunde – zu einem Blizzard der Stufe zehn angeschwollen ist.

Ich atme mit all meiner verbliebenen Selbstbeherrschung tief ein und setze möglichst ruhig an:

»Zuerst, Narcissa, du bist bereits 32 und dein Körper würde durch ein Kind nicht ruiniert, sondern wachsen, Wunder vollbringen und hinterher ebenso schön sein, wie bisher, glaub mir.«

Glaube ich mir denn? Eine Patientin des WONC, der während der Schwangerschaft Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen wuchsen, sah nach der Geburt ihrer heute drei Söhne schon ein wenig, sagen wir mal, verändert aus. Sie hat ihre Modelmaße von vorher nie wieder erreicht und gab an, sie könne ihre Brüste inzwischen zusammengefaltet in ihren BH legen. Nicht, dass ich diese Informationen jemals hatte bekommen wollen … Narcissa wird es auch niemals erfahren, sollten wir eines Tages tatsächlich über Kinder nachdenken.

»Zweitens, wie kommst du darauf, dass ich ein Haus bauen will, auf einem Stück Land, das uns dein – durch chronische Abwesenheit glänzender und ach so gestresster – Vater geschenkt hat, noch dazu eine Villa? Narcissa, ich brauche weder Prunk, noch Vorgarten, geschweige denn eine Putzfrau, wie du so schön sagst. Im Übrigen solltest du diesen Beruf, den viele fleißige Frauen und auch Männer mit Hingabe erledigen, nicht so herunterspielen. Geh du mal acht Stunden täglich fremder Leute Dreck wegmachen. Das verdient größten Respekt.«

»Fio, so meinte ich das doch gar …«

»Drittens und definitiv der wichtigste Punkt meiner Ausführung«, fahre ich ihr dazwischen, mittlerweile nicht mehr ganz so beherrscht wie geplant, »seid ihr beiden völlig bescheuert?«

Ihr Mund klappt sprachlos nach unten und wäre Moss nicht anwesend, würde sie mir in diesem Moment sicherlich die letzten Tannine ins Gesicht schütten.

»Linneas Wald ist heiliger Boden. Heiliger, unberührter Boden, von dem wir noch in hundert Jahren lernen können. Dort wachsen Pflanzen, die es zwischen all dem Beton und Teer der Großstädte nicht mehr gibt. Es leben Tierarten darin, die man für ausgestorben hielt und nur ein totaler Vollidiot würde diese Gabe des Schicksals, diesen letzten wichtigen Strohhalm, der womöglich unsere Sicht auf das Leben im Einklang mit der Natur endlich revolutionieren könnte, dem Erdboden gleichmachen und eine beschissene Villa darauf errichten. Narcissa, du solltest aufhören Gott zu spielen, die Arbeit in einem der wichtigsten Unternehmen, welches sich mit den ökologischen Reichtümern unserer Erde beschäftigt, endlich wörtlich nehmen und erwachsen werden.«

»I-Ich«, stottert Moss und will sich gerade erheben, »lass euch beide dann mal allein.«

»Setz dich, Moss!«, schreien Narcissa und ich wie aus einem Mund und bringen ihn zum Schweigen.

Die Spannung in der offenen Wohnküche mit 360 Grad Rundumblick über die Lichter der Stadt ist spürbar und wir sind nur ein weiteres hartes Wort von einer Messerattacke oder einem ähnlich brutalen Szenario entfernt.

Narcissa sprühen Funken aus den Augen, ihre Nasenlöcher sondern bereits zum zweiten Mal an diesem herrlichen Tag Rauch aus und ich habe alle Hände voll damit zu tun, unter ihrem Todesblick nicht einzuknicken.

»Raus hier, Fio!«, schreit sie mich endlich an. »Du wirst die hier«, sie packt ihre Brüste der Körbchengröße 75 C mit beiden Händen und schlägt die eigenen Fingernägel wütend hinein, »eine ganze Weile nicht mehr zu fassen bekommen!«

Denkt sie, dass ich mich jetzt entschuldige, um mein Spielzeug zurückzubekommen? Im Ernst?

Du stehst schon ziemlich auf ihre Brüste.

Ja, und? Es gibt wichtigere Dinge als Brüste.

Ach ja? Welche?

Klappe, oberflächlicher Honk!

»Ruf an, sobald du deine Meinung geändert und zu schätzen gelernt hast, was Daddy uns für ein Geschenk gemacht hat. Bis dahin …« Sie spielt umständlich an ihren Händen herum, »kannst du dir den hier«, nun drückt sie mir den hochkarätigen Verlobungsring in die Hand und stellt sich mit einer Hand auf seiner Schulter neben den gänzlich verwirrten Moss, »in deiner winzigen Studentenbude auf eine deiner potthässlichen …«

»Wage es nicht, etwas über meine Möbel zu sagen, Narcissa! Jedes dieser Einzelstücke …«

»Hast du mit deinen eigenen Händen erschaffen? Würg. Ich weiß! Und jedes dieser Einzelstücke würde sich hervorragend auf einem großen Feuer machen.«

»Ich würde es wirklich vorziehen, die Flocke machen zu dürfen!«, versucht Moss einen weiteren Fluchtversuch.

»Setz dich, Moss!«, brüllen wir erneut in scheinbarerem Einklang. Doch nichts ist hier im Einklang. War hier je im Einklang.

»Du!«, bringe ich durch zusammengebissene Zähne hervor und lasse Narcissas überhebliche Visage nicht aus den Augen.

»Was, Fio? Was willst du mir sagen? Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um einmal reinen Tisch zu machen. Mit offenen Karten zu spielen und darüber zu reden, was du eigentlich, verdammt noch mal, in deinem kümmerlichen Leben erreichen willst. Ohne mich bist du ein Niemand. Ein ganz gewöhnlicher, nerdiger Wissenschaftler, der seine Bücher, Kriechtiere, Patienten und Naturphänomene mehr liebt, als seine eigene Verlobte. Ich erwarte, dass ich die Nummer Eins in deinem Leben bin. Wenn du mir diese Aussicht nicht bieten kannst, Fio, dann ist dort die Tür!«

Wow, das hat gesessen.

Ich würde ihr gern etwas Schlagfertiges entgegenfeuern, mit den gleichen unfairen und gemeinen Mitteln spielen wie sie, aber ich stelle gerade die letzten acht Jahre meines Lebens gänzlich in Frage und weiß nicht, ob ich träume oder endlich aufgewacht bin.

»Also schön«, murmle ich resigniert und gehe ein paar Schritte rückwärts. »Ich hoffe, wir können morgen wie zwei Menschen miteinander reden, die eine gemeinsame Vergangenheit haben.« Ernüchterung schleicht sich in meine Stimme. »Sich nach einem Streit den Ring vom Finger zu ziehen und die beleidigte Leberwurst zu spielen, ist nicht nur kindisch, sondern absolut unter deinem Niveau. Schönen Abend.« Mit diesen letzten Worten wende ich mich um und steuere die Wohnungstür an.

»Ich könnte jeden haben, Fio. Jeden. Du magst süß und klug und zärtlich sein, der absolute SchwiegermutterLiebling. Aber möglicherweise warte ich schon zu lange darauf, dass mein Frosch endlich zum Prinzen wird, mir ein Schloss baut, mich auf Händen über die Schwelle trägt und mich behandelt wie die Prinzessin, die ich in Daddys Augen schon immer war.«

Nein. Auf gar keinen Fall werde ich mich nach diesem Frosch-Vergleich noch einmal umdrehen.

Ich halte kurz inne, schüttle ehrlich enttäuscht den Kopf und verlasse das Irrenhaus der selbstverliebten Professorentochter, die viel zu lange Teil meines kümmerlichen Lebens war.

Ich werde ins WONC fahren, meine Sachen packen und mir einen neuen Teich suchen. Ich bin gern ein Frosch. Ein süßer, kluger und zärtlicher Frosch, damit das klar ist.

Eine Frau braucht für mich keine goldenen Kleider, Diamantohrringe und eine schwarze Seele, um eine Prinzessin zu sein. Soll sich Narcissa eine Erbse unter ihr Wasserbett legen und sich einen anderen Fußabtreter suchen. Ich behalte mein Holzfällerhemd, werde Möbel auch in Zukunft selbst zimmern und ein Mädchen finden, das bereit ist, einen Frosch zu lieben. Vielleicht ist dieses Mädchen ja schon in greifbarer Nähe und wartet nur darauf, dass ich sie wachküsse.

KAPITEL 4

Fio

Ich stürme die Treppen hinunter wie ein Typ, den man gerade vorm Altar hat stehen lassen und renne los.

War es das jetzt? Ist Schluss mit Narcissa oder treibt sie nur wieder eine ihrer berühmten Machtspielchen mit mir, weil sie ganz genau weiß, dass ich zu ihr zurückgekrochen komme?

Keine Ahnung. In mir toben so widersprüchliche Gefühle, die ich nicht erklären kann, dass ich am liebsten auf einen Turm klettern und meinen Frust in die Welt hinausschreien möchte.

Aber so etwas machen nerdige Frösche nicht. Wir fressen unseren Ärger in uns hinein, geben klein bei oder stürzen uns in Arbeit, um ja keine Gefühlsausbrüche zuzulassen.

Ich denke eindeutig zu viel nach!

Was würde Mister Oberflächlich – Moss – an meiner Stelle tun? Sich ein junges hübsches Ding für die Nacht suchen, viel trinken und morgen mit reinem Gewissen aufstehen und nicht zurückblicken? Tja, ich bin aber nicht Moss. Abgesehen davon hatte er, soweit ich weiß, noch nie eine Beziehung, die diese Bezeichnung überhaupt verdient hätte.

Vielleicht sollte ich umdrehen, mich entschuldigen, Narcissa den Ring zurück an ihren Finger stecken und …

Du bist armselig, Fio!

Keuchend halte ich an, stütze mich an einen Ampelpfeiler und lausche meiner inneren Stimme, die ihren Standpunkt anscheinend schon definiert hat.

Was willst du sehen, wenn du morgen in den Spiegel guckst? Den Schatten hinter Narcissa Dimas oder einen starken, unabhängigen, klugen Mann, der zum ersten Mal in seinem Leben eigene Entscheidungen treffen darf? Der das Wörtchen Nein in seinen Wortschatz aufgenommen und seiner narzisstischen Verlobten die Stirn geboten hat?

Junge, wenn du jetzt umdrehst, kannst du ihr auch gleich deine Eier in den Briefkasten werfen und ein Halsband mit Strasssteinen beilegen.

Verschnaufpause zu Ende. Ich glaube, die ältere Lady neben mir hat meine abgefahrenen Gedanken belauscht. Sie mustert mich, als hätte ich vor, ihre Handtasche zu klauen.

Zu meinem Glück springt die Ampel in diesem Moment auf Grün und ich setze meinen Marathon fort.

Je länger ich renne, desto befreiter fühlen sich meine Lungen, auch wenn meine Oberschenkel brennen wie Feuer. Ich laufe ziellos weiter und weiter, blende meine Mitmenschen und leider auch den Straßenverkehr aus, was mir einige feindliche Hupsignale einbringt.

Als mein Handy vibriert, stoppe ich abrupt, lehne mich an ein nahegelegenes Geländer und versuche zu Atem zu kommen, bevor ich den Anruf entgegennehme.

Es ist Poppy. Seltsam. Wir haben mittlerweile 19:30 Uhr und sie weiß genau, dass ich am Abend mit Narcissa verabredet war. Hoffentlich ist alles in Ordnung.

»Poppy?«, keuche ich ins Telefon.

»Astern, Primeln und Vergissmeinnicht«, bringt sie flüsternd hervor, »Verzeihung, Dr. Fio, ich wollte Sie nicht bei – dem – unterbrechen, was Sie da gerade tun. Bitte vergessen Sie meinen Anruf.«

Etwas dumpfer vernehme ich: »Wer geht denn aber auch bitte an sein Handy, während er horizontale Sportübungen mit der Chefin ausführt?«

Was? Ich kann ein Lachen nicht unterdrücken.

»Poppy«, schreie ich ihr entgegen, in der Hoffnung, dass sie ihr Telefon noch nicht aus der Hand gelegt hat. »Poppy, ich bin gerade durch die halbe Stadt gerannt. Sie haben mich nicht in einem äußerst intimen Moment gestört. Denn ich bin absolut ihrer Meinung: Mein Telefon hat im Schlafzimmer nichts zu suchen.«

Oje, die arme Poppy muss total verstört sein.

»Aber dank Ihnen habe ich einen Grund zu lachen, und den brauche ich heute Abend ganz dringend.« Wieder beben meine Bauchmuskeln freudig und ich füge ein ehrlich gemeintes »Danke« an.

»Dr. Fio?«, fragt Poppy immer noch verhaltener, als es normalerweise ihre Art ist, »bitte lassen Sie uns nie wieder über diesen Vorfall reden. Ich habe Bilder im Kopf, die mir Schweißausbrüche bescheren.«

»Einverstanden, Poppy«, steige ich schmunzelnd auf ihre Bitte ein. »Ich habe keine Ahnung, worüber wir gerade sprachen. Also noch mal: Warum haben Sie denn eigentlich zu so ungewöhnlicher Zeit angerufen?«

Es wird still am anderen Ende der Leitung und ich lasse mir jedes gesagte Wort noch einmal durch den Kopf gehen, um möglicherweise den Grund dafür in meiner Antwort zu finden.

»Ich habe mit Linnea Karten gespielt, als …«

Ich muss schon wieder lachen. Keine Ahnung, was ich damit zu kompensieren versuche, aber Poppy spielt ernsthaft mit einer Komapatientin Karten?

»Was ist so lustig, Dr. Fio?«, fragt sie ernst.

»Poppy, Sie wissen, dass Linnea schläft, oder? Sie kann nicht einmal die Karten in der Hand halten, geschweige denn Ihnen eine würdige Gegnerin sein.«

»Also, erstens spielen wir Solitär und das klappt wirklich gut. Zweitens, Sie haben ja nie Zeit, Chef, also suche ich mir eben anderweitig Gesellschaft, und drittens: Ich glaube, Linnea geht es nicht gut.«

»Warum sagen Sie das nicht gleich?«, kommt es nun nervös aus meinem Mund.

»Sie haben Paarungsgeräusche von sich gegeben und dann gelacht.«

Meine Schultern beginnen erneut verdächtig zu zucken. Poppy ist so herrlich naiv.

»Das waren keine Paarungsgeräusche, zum wiederholten Mal, Poppy. Und jetzt sagen Sie mir bitte, was los ist«, fordere ich freundlich.

»Vielleicht sollten Sie es sich ansehen.«

»Gut. Sobald ich herausgefunden habe, wo genau ich mich befinde, schreibe ich Ihnen.«

»Sollte ich fragen, warum sie orientierungslos durch die Stadt rennen, Herr Doktor?«

»Wissen Sie was?«, revidiere ich meine Äußerung, als ich meine Umgebung eingehend analysiert habe, »ich bin nur zwei Querstraßen vom WONC entfernt und in Windeseile bei Ihnen.«

***

Einem Kreislaufkollaps nahe, stehe ich nur wenige Augenblicke später in Linneas Zimmer und verarbeite den skurrilen Anblick, der sich mir bietet.

Poppy hat eine Stehlampe neben Linneas Bett drapiert, Knabberzeug und zwei Gläser undefinierbaren Inhalts bereitgestellt und streicht der Schlafenden gerade beruhigend über den Kopf. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich meine Kollegin/Lieblingskrankenschwester/gute Freundin für äußerst gruselig halten.

Zum Glück kenne ich sie schon, seit sie vor vier Jahren eine Ausbildung im WONC begonnen hatte und mit ihren sechzehn Jahren schnell zum Inventar gehörte.

Da sie an Agoraphobie leidet, verlässt sie nie das Gebäude und wandelt 24 Stunden täglich durch die Flure. Sie ist so etwas wie die gute Seele des Hauses. Jeder liebt sie, respektiert sie und schätzt ihre hingebungsvolle Arbeit. Die Panikstörung spielt keine Rolle. Poppy ist anders, aber glücklich. Und das ist mehr, als ich von mir behaupten kann. Ich bin mittlerweile seit fünf Jahren an dem Ort, den ich als Assistenzarzt zum ersten Mal betrat. Aber zum ersten Mal schnürt mir die Sicherheit dieses Gebäudes die Luft ab. Zum ersten Mal frage ich mich, was es da draußen noch gibt. Was ich verpasst habe, während ich mein Leben der Forschung widmete und nur zum Schlafen nach Hause ging.

Mimimi. Armer, unglücklicher Fio. Heulst du jetzt?

Hast du mich schon jemals heulen gesehen?

Ja, sicher, erst letzte Woche, als du mit Narcissa diesen Film gesehen hast … du weißt schon …. an der Stelle, als …

Da hatte ich etwas im Auge.

Mmh, klar. In beiden, oder? Und diese Fremdkörper ließen sich nur mit ganz viel Salzwasser ausspülen, dass dir in Wasserfällen aus deinen Rehäuglein floss.