Das Gottesmädchen - Ismael Wetzky - E-Book

Das Gottesmädchen E-Book

Ismael Wetzky

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Beschreibung

Ein außergewöhnlicher spiritueller Roman. Gott ist ein Mädchen. Zumindest für die dreiundzwanzigjährige Gisele König offenbart er sich in dieser Gestalt. Was als einfacher Besuch im Berliner Dom beginnt, wird zum unglaublichen – ein elfjähriges Mädchen gibt sich als Gott zu erkennen und verlangt von Gisele eine neue Form des Zusammenlebens zu schaffen. Als Philosophin sollte die Lösung dieser gewaltigen Aufgabe genau ihr Ding sein. Aber wer will schon für die Rettung von so vielen Menschenleben verantwortlich sein? Außerdem hat Gisele es schon schwer genug, mit sich selbst zurechtzukommen, geschweige denn mit dem Rest der Welt. Als jedoch sämtliche Kirchen, Tempel und Moscheen weltweit nicht mehr zu betreten sind und die Vatikanstadt einem gewaltigen Attentat zum Opfer fällt, spürt Gisele die Uhr in ihrer Brust ticken. Die Welt geht wirklich unter. Doch niemand scheint ihr zu glauben, und die Regierungsvertreter sind nicht daran interessiert, die Welt grundlegend zu verändern. Das Licht eines Neuanfangs leuchtet durch die Risse der Gesellschaft – aber wird Gisele in der Lage sein, ihre Mission zu beenden, bevor es zu spät ist? In diesem packenden Thriller über Religion, Freiheit und der Zukunft der Menschheit stellt sich die Frage nach dem ultimativen Sinn des Seins: Wer sind wir? Wer ist Gott? Und warum ist Sexualität wichtig, um all das zu verstehen? Thematisch ist dieses Buch ein Coming-of-Age-Roman im Spannungsfeld zwischen Thriller, Dystopie und Utopie, philosophisch-spirituellen Betrachtungen, sowie Gegenwarts- und Gesellschaftskritik. Ein spirituelles Buch der anderen Art!

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Inhaltsverzeichnis

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EPILOG

ANMERKUNG I

ANMERKUNG II

Ismael Wetzky

Das Gottesmädchen

Ismael Wetzky

DAS GOTTESMÄDCHEN

Roman

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2021 bei Joachim Wetzky

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-200-07977-9

Für meine Kinder

Jonah Salomon, Noah Noël und Magdalena Maitreya

»Alles ist heilig! Jeder ist heilig! Überall ist heilig!

Jeder Tag ist in der Ewigkeit! Jeder Mensch ist ein Engel!«

Allen Ginsberg

»Man hätte eine Sonne werden sollen

und ist ein Sparbuch geworden.«

Peter Sloterdijk

1

Noch immer werde ich gefragt, wie es ist, Gottes Prophetin zu sein. Eine gute Frage, auf die ich nie eine Antwort habe. Darum lasst mich gleich mal ein paar Dinge klarstellen.

Ja, ich habe den Begriff der Gottes_Anomalie erfunden und ja, Gott hat sich mir in Form eines Mädchens offenbart. Nein, ich hatte keine Ahnung, wo das alles hinführen würde und nein, ich war nicht dafür, den Vatikan niederzubrennen.

Die andere am meisten gestellte Frage ist, was ich gefühlt habe, als Gott das erste Mal mit mir sprach. Sie ist gleichermaßen schwierig zu beantworten. Als Philosophin mit Asperger-Syndrom habe ich es nicht so mit emotionalen Regungen. Wenn ich ein Gefühl bestimmen müsste, um meine erste Begegnung mit Gott zu beschreiben, dann würde ich es als Erleichterung benennen.

»Ab jetzt übernehme ich«, – so eine Ansage hätte ich mir von Gott gewünscht. Da war ich nicht anders als die meisten Menschen auch. Wenn Gott kommt, denkt man, wird alles gut. Der Meister dirigiert wieder selbst.

Pustekuchen. Natürlich hätte ich von allein darauf kommen können, dass Gott sich nicht einem Menschen offenbart, um dann die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Was mich zu der letzten Frage führt: Bist du ein gläubiger Mensch geworden?

Ich war nie besonders gläubig. Im Gegenteil. Ich machte mir in jenen Tagen nicht viel aus Religion und Esoterik. Chanten. Buddha. The Secret. Eckart Tolle. Sri Prana … War alles nicht so meins.

Doch an was glaube ich heute?

Nicht an einen strengen, übermächtigen Gott, so viel ist sicher. Diese Blase ist geplatzt. Aber ich denke, das ist okay für sie.

Da ist nun etwas anderes in meinem Herzen. Etwas Zartes. Subtiles. Etwas, das sich nicht mit dem Paukenschlag einer religiösen Überzeugung in den Raum werfen lässt. Etwas, das sich vielmehr wie Morgentau auf einer aufknospenden Blüte anfühlt.

Eigentlich beginnt diese ganze sonderbare Geschichte mit diesem leisen, elysischen Gefühl sanfter Lebensfreude. Damals, als ich einfach noch eine Doktorandin war und das Leben so scheinbar geordnet.

Ich hatte nämlich gerade mein Promotionsstudium begonnen. Was mich richtig glücklich machte, keine Frage. Zugleich jedoch bedeutete, den größten Teil meines dreiundzwanzigjährigen Lebens in einem Altbauzimmer in Berlin-Friedrichshain zu verbringen, um dort über Nietzsches These nachzudenken, das Christentum sei der Beginn des Nihilismus gewesen.

Warum ich gerade in Philosophie meine Doktorarbeit schrieb?

Seit ich denken konnte, faszinierte mich das Mysterium des Menschseins. Ihr wisst schon, was ich meine. All diese komplizierten Fragen: Warum sind wir hier? Wer sind wir? Wohin gehen wir?

Wie soll ich es ausdrücken, ohne dass es zu abgehoben klingt. In jenen Tagen gelangte ich zu der Überzeugung, dass Philosophie ebenso wie Religion nach dem größten Geheimnis suchte. Wenn auch aus anderen Motiven. Denn was ist Gott, wenn nicht das Unergründliche? Und was ist Philosophie, wenn nicht die unbeholfene Erklärung des Unergründlichen? Oder, um es mit Parmenides’ Worten auszudrücken: Die Frage nach dem Sein ist die Frage der Philosophie.

Solche Gedanken wogten in meinem Kopf wie Meereswellen auf und ab, als Chloë und ich uns an einem sommerlichen Abend auf den Weg machten, um einen Pulk Studenten in einem Kreuzberger Hinterhof zu treffen. Ich kannte die wenigsten von ihnen. Genau genommen kannte ich nur Chloë, meine Mitbewohnerin und ein paar Boys, von denen sie die ganze Zeit sprach.

»Man geht auf Partys, um Leute kennenzulernen«, hatte Chloë am Nachmittag zu mir gesagt. Sie lehnte in meinem Türrahmen und wiegte sanft ihr Becken. »Und du meine Liebe musst dringend jemanden kennenlernen.« Sie zwinkerte mir zu und ich konnte ihre golden-bronzenen Smokey Eyes bewundern, die perfekt zu ihren wasserblauen Augen passten. »Und du weißt, was ich meine, wenn ich sage, jemanden kennenlernen.« Wieder zwinkerte sie und lächelte dabei.

Chloë war neben der Philosophie eines meiner Lieblingsphänomene auf dieser Welt. Sie war einundzwanzig und damit zwei Jahre jünger als ich. Bei allem was sie tat, war sie so frisch und unbekümmert wie eine Kirschblüte. Ein betörender Duft von Anmut und Leichtigkeit strömte aus ihren Poren. Sie hätte eine Film-Diva aus den Sechzigern sein können – in einem Citroën-Cabrio neben Sam Rockwell sitzend, am Mittelmeer entlang fahrend, auf dem Weg nach Monaco-Ville.

Wir begegneten uns vor vier Jahren auf einem Empfang der englischen Botschaft in Berlin. Ihr Vater, Oliver Kirby, war persönlicher Referent des Staatssekretärs für den diplomatischen Dienst im Ministerium für auswärtige und Commonwealth-Angelegenheiten. Er besaß eine regelrechte Leidenschaft für Empfänge, in denen er sich hemmungslos betrinken und God save the Queen grölen konnte.

Mein Vater, Peter König, war ein etablierter Wirtschaftsprüfer, der seit dem Brexit nahezu achtzig Prozent seiner Aufträge von der britischen Regierung bekam. Er wurde regelmäßig dazu eingeladen, mitzufeiern – und zu meiner Schande – ebenso laut zu grölen wie Kirby. Er verließ die Empfänge zwar meist rechtzeitig bevor es ausartete, genoss es jedoch sichtlich, in Smoking oder Anzug auf einem dicken, weichen Teppich zu stehen und sich Anekdoten über das British Empire anzuhören.

Ich erinnere mich an seinen adretten Look, das smarte Lächeln und die frisierten Haare. Mir kam er damals wie ein Porzellanpüppchen vor. Mit einer Champagnerflöte zwischen Daumen und Zeigefinger, Hände schüttelnd, lächelnd und nie um ein höfliches Wort verlegen. Seit mein Dad einen Autounfall verursachte, bei dem meine Mutter ums Leben kam, waren diese Empfänge die einzigen Lichtblicke für ihn.

Bei meiner ersten Begegnung mit Chloë war ich gerade einmal neunzehn. Mein Vater war seit zwei Jahren Witwer und ich der Ansicht, einigermaßen über dem Verlust meiner Mutter hinweg zu sein. Was natürlich Bullshit war.

»Zigarette?«, fragte Chloë, nachdem wir einen jener exklusiven Abende beinahe überstanden hatten, unsere Füße von den hohen Absätzen längst taub waren und mein Kiefer vom vielen Lächeln schmerzte.

»Okay«, antwortete ich, obwohl ich nicht rauchte.

Wir verzogen uns auf einen Botschaftsbalkon, inhalierten eine Zigarette und lauschten schweigend dem Gemurmel der Gäste, das gedämpft zu uns drang.

Wir verstanden uns auf Anhieb und unsere Begegnung entwickelte sich über die letzten vier Jahre zu einer richtigen Freundschaft. Erst trafen wir uns nur sporadisch, schon bald auch außerhalb der Empfänge. Es dauerte nicht lange, bis wir regelmäßig im Park quatschten und manchmal auch um die Häuser zogen, bis Chloë vor gut einem Jahr vorschlug, zusammenzuziehen.

Ich sagte sofort zu. Es war nicht des Geldes wegen – davon besaßen wir beide genug. Vielmehr verband uns etwas, das wir beide nicht benennen konnten. Trotz unserer divergierenden Persönlichkeiten suchten wir etwas, das nicht an der Oberfläche des Lebens zu finden war. Jede auf ihre Weise.

Aber vielleicht projizierte ich das nur auf Chloë. Sie befand sich damals im ersten Semester ihres Studiums und fand es megaaffig, noch bei ihren Eltern zu wohnen. Vielleicht stand es auch auf ihrer Bucket-List, einmal im Leben in einer Wohngemeinschaft zu leben. Wer kann das schon so genau sagen. Das Einzige, was zählte, war, dass sie mir guttat. Sie lockte mich aus meiner Komfortzone und ohne Chloë wäre ich an jenem Abend nicht am Maybachufer gelandet. Und wäre Gott vermutlich niemals begegnet.

2

Es war die schönste Juni-Nacht des Jahres, und nichts deutete darauf hin, dass ich in weniger als zwanzig Stunden mit Gott sprechen würde. Doch selbst wenn: Dieser Moment am Maybachufer mit Chloë, auf unseren Bikes unterwegs, umhüllt von einer Aura mondsicheliger, kosmischer Schwärze, lachend, entspannt. Mit diesen weichen Tritten auf unseren Pedalen – es war, als flögen wir direkt unserer Zukunft entgegen.

Wir fuhren mit unseren Fahrrädern das Ufer entlang. Mücken schwebten wie Balletttänzerinnen über dem Wasser auf und ab, und ich fühlte mich aufgehoben und geborgen wie schon lange nicht mehr.

Ummantelt von einer Sphäre gütigen Glücks, schrieb ich später in mein Tagebuch. La vie est belle.

»Heute ist der erste Tag unserer Zukunft, Gy. We made it«, rief Chloë aus.

Ihr englischer Akzent surrte durch die Luft wie eine sommerfrohe Libelle. Nur meine besten Freundinnen nannten mich Gy, und es machte mich glücklich, aus ihrem Mund meinen Spitznamen zu hören. Für alle anderen war ich Gisele.

»Oh Yeah«, stimmte ich in ihre Jubelrufe ein. »Wir sind die Königinnen der Stadt!«

»… für diese eine ganze Nacht«, ergänzte sie ausgelassen.

Wir lachten und warfen uns einen Blick zu.

»Und? Neue Pläne für die Semesterferien?«, fragte ich.

»Ich hab ein Praktikum bei Eckhaus Latta …«

»Die mit den Ugg-Boots?«

»Yes! The fashion of tomorrow. Ich bin so heiß auf den Job. Zwei Monate New York City. OMG! Das wird so gut.«

Ich zeigte mit dem Zeigefinger auf Chloë. »If you know, you know.«

Sie lachte und warf ihre Haare nach hinten. Ich streckte meine Faust in Richtung Chloë, und sie boxte auf meine, während unsere Bikes im Gleichklang nebeneinander schnurrten. Ich liebte es, Teil von Chloës Bling-Bling-Welt zu sein. Keine Sorgen zu haben, sich von der eigenen Schönheit durch das Leben tragen zu lassen.

»If you know, you know«, erwiderte sie.

»Dein Dad muss stolz auf dich sein.«

»Mein Dad hat mir letzte Woche siebentausend Euro überwiesen. Um die Welt zu entdecken, wie er meinte. Er hat gelesen, dass man das heutzutage so macht in meinem Alter. Nach Australien fliegen. Oder Dubai. Er ist so ein Snob.«

Chloë hob ihren Kopf und taxierte den Nachthimmel. »Weißt du, ich will eine der ganz großen Bitches werden.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ich werde eine der ganz großen Bitches.« Ein Schatten schob sich über ihre Augen. Dann schaute sie mich an. »Und du? Wie kommst du voran mit deiner Arbeit?«

»Kann nicht klagen. Gerade ist Philosophin Hypatia dran. Ich finde sie richtig gut. Sie galt im fünften Jahrhundert als eine der größten Wissenschaftlerinnen ihrer Zeit. Mathematik war für sie nicht einfach nur harte Wissenschaft, sondern die geheime Sprache des Universums. Sie nutzte beispielsweise Geometrie als ein meditatives Werkzeug, um den Dualismus zwischen Materie und Geist zu begreifen.«

»Das hätte mir mein Mathelehrer beibringen sollen, dann wäre ich in seiner Klasse nicht immer eingepennt. Was ist aus dieser Philosophin geworden?«

»Ein heiliggesprochener Bischof und seine Mönche hetzten sie nackt durch die Straßen von Alexandria. Sie zerfetzten ihre Haut mit gezackten Muschelstücken. Trennten ihre Arme und Beine ab und veranstalteten eine Parade mit ihren Exkrementen, damit ein jeder sehen konnte, dass die letzten Relikte des Heidentums getilgt worden waren.«

»Was für Motherfucker«, sagte Chloë. »Und darüber schreibst du? Why?«

Einen Moment lang schwieg ich. Unsere Reifen rollten knirschend über den Kies des Uferweges.

»Ich frage mich, was wohl geschehen wäre, wenn all diese Frauen nicht getötet worden wären. Hätte sich eine Kultur entwickelt, in der Geist, Seele und Ratio in Gleichklang existierten? All dieser Spuk alter, verbitterter Männer wäre vielleicht nie geschehen – all die Hexenjagden, Verfolgungen und Unterdrückungen im Namen Gottes.«

»Like this Trump-Shit«, sagte Chloë. »Vermutlich würde der Typ auch so manche Frau nackt durch die Straßen treiben, wenn er könnte.« Sie schaute mich an. »Hört sich nach einer geilen Netflix-Story an. Du musst das unbedingt schreiben. Und dann mit mir nach San Francisco fliegen und dich in die Sonne legen. San Fran ist soo romantisch.« Sie verdrehte ihre Augen und seufzte theatralisch.

Ich sah Chloë vor mir, wie sie mit dem Cable Car die Russian-Hill entlangfuhr. Mit einem weißen Sommerkleid von Dior, während sich ihre langen, blonden Haare in ihrer übergroßen Sonnenbrille verfingen und sie ihren Sommerhut mit einer Hand festhielt. Und sich weder für den Ausblick auf Alcatraz noch für die Golden Gate Bridge interessierte, sondern selbst ein Magnet mit einer ganz eigenen Anziehungskraft war.

»Hört sich nach einem Plan an«, erwiderte ich. »San Fran ist gebongt, wenn ich hier fertig bin.«

Wir lachten wieder. Oh, ich hätte die ganze Nacht lachen können.

»Du bist ein Freak, Gy«, Chloë legte ihren Kopf ein wenig zur Seite. »Ich wäre manchmal gern wie du. So intelligent. So anders intelligent. Himmel, ich meine, wir sind alle smart, wir werden alle mega Bitches. Aber du …, du legst irgendwie eine Schippe drauf.«

Ich verzog einen Mundwinkel.

»Ein verstaubtes Buchmädchen findest du smart?«

»Du hast ja keine Ahnung«, antwortete Chloë und schloss halb ihre Augen. Sie sah aus wie eine Raubkatze. Bereit für den Sprung. Bereit für ihre Beute.

»Was sagt dein Vater eigentlich zu deiner Schreiberei?«, wollte sie wissen.

»Es bricht ihm das Herz. Insgeheim versucht er noch immer, mich nach Oxford zu drängen, um Betriebswirtschaft zu studieren, oder so was. Er versteht nicht, dass ich sein Imperium nicht übernehmen will.«

»Aber er finanziert dich?«

»Klar, ich bin seine einzige Tochter.«

Und er hat meine Mutter getötet, fügte ich in Gedanken hinzu. Allein sein schlechtes Gewissen wird dafür sorgen, mich bis an sein Lebensende zu finanzieren.

Ich dachte an meinen Vater, Peter König, CEO von ´König & Young`, einem Wirtschaftsprüfungsunternehmen, das nun schon in zweiter Generation existierte. In einigen Jahren in dritter, wenn es nach ihm ginge.

»Tief in seinem Inneren weiß er, dass ich seinen Traum von einer Familiendynastie nicht teile. Es ist nicht meine Schuld, dass er keinen Sohn zur Welt gebracht hat.« Meine Augen brannten leicht, und ich versuchte mich auf den Weg zu konzentrieren.

Der fehlende Sohn war lange Zeit das Dauerthema in unserer Familie gewesen. Zumindest so lange, bis klar wurde, dass meine Mutter keine weiteren Kinder mehr bekommen würde. Ich überlegte, Chloë davon zu erzählen. Dann sah ich, wie sie ihr Handy checkte und sich nebenbei auf das Fahren konzentrieren musste, und ließ es.

»Meinst du, Felix wird da sein?«, fragte Chloë, als sie ihr Handy wieder in die Gesäßtasche ihrer Jeans-Shorts steckte.

Ich biss auf meine Oberlippe. Boys-Talk.

»Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll«, fuhr sie fort. »Er ist so …«

»Dumb ihn«, unterbrach ich sie. »Er ist ein dummer Junge. Wie die anderen auch.«

Chloë lachte, dann hustete sie.

»Und wenn es Liebe ist?«, fragte sie.

»Wenn es Liebe wäre, würdest du mir diese Frage nicht stellen«, antwortete ich und trat energischer in die Pedale.

Chloë blickte mich an. »Es ist die Nacht der Nächte, Gy. Wir sind frei. Wir haben es geschafft. Ich will feiern.« Sie streckte einen Zeigefinger steil nach oben in die Luft. Ihre Brüste zeichneten sich in einer weichen Bewegung auf ihrem Shirt ab.

»Und du solltest das auch tun. Außerdem ist Felix der einzige Boy, der Hemden von Dries van Noten trägt.«

Sie lachte, und mein Herz machte einen Sprung.

Das Flussufer wand sich um die Admiralbrücke und schlängelte sich in Richtung Landwehrkanal. Ich atmete tief ein. Die Nacht entkleidete sich wie ein orientalischer Traum. Mit halb geöffneten Augen sog ich den Duft der Blüten ein. Die ersten Sterne formten sich aus der Dunkelheit. Sie reihten sich wie eine Perlschnur auf, und ich öffnete meine Augen, um sie genauer zu bestaunen.

Was zur Hölle.

Reflexartig stieg ich mit meiner Ferse in die Bremse. Der Hinterreifen schlingerte, und für einen Augenblick befürchtete ich, das Gleichgewicht zu verlieren und eine harte Landung auf dem Kies hinzulegen. Doch mein Bike kam sicher zum Stehen und ich starrte wie gebannt in den Nachthimmel.

»Was los?«, hörte ich Chloë, die ebenfalls stehen blieb, doch ich konnte nur mit offenem Mund in den Himmel starren.

Eine Sternenspur leuchtender Objekte zog über das Firmament, sauber aufgereiht und einen Halbkreis bildend. Es mussten über hundert flirrender Kugeln sein. Sie flimmerten über den Nachthimmel und zogen eine unnatürlich perfekte Bahn.

Nur – es waren keine Sterne.

»Heilige Scheiße. Das ist abgefahren«, sagte Chloë.

Wir standen schweigend und regungslos nebeneinander. Das Wasser des Landwehrkanals gluckste und schwappte an das Ufer. Ein paar Gänse schnatterten und das ferne Rattern einer S-Bahn legte sich unaufdringlich über die Stille. Dann wusste ich, was es war.

»Ich hab darüber was gelesen«, sagte ich. »Diese SpaceX-Sache? Von diesem Tesla-Typen? Der Tausende Satelliten ins All ballern will?«

Wir schwiegen und beobachten, wie der Himmel neue Sterne gebar.

»Oh Gott ist das schön«, sagte ich. »Wie eine Himmelssymphonie.«

»Oder Krieg der Sterne. Je nachdem …« Chloë griff nach ihrem iPhone und machte ein paar Fotos von den Satelliten.

»Dir fehlt jeder romantische Sinn.«

Eine Ergriffenheit durchströmte meinen Körper, die mich verstummen ließ. Schweigend stand ich da. Umhüllt von einer Sommernacht und dem feuchten Atem des Flusses. Starrte in den Himmel. Begaffte dieses langsame Gleiten der Satelliten.

Dann explodierte einer von ihnen. Dann noch einer. Und noch einer.

Grellweiße Blitze flackerten auf. Rauchende Bruchstücke fielen vom Himmel.

»Was zum …«

In Zeitlupe fielen Dutzende Satelliten vom Firmament. Für ein paar Momente zeichnete sich ein phosphorartiger Schleier in den Himmel, der mich an einen Rohrschach-Test erinnerte. Zwei Jogger kamen uns entgegen. Aus einem der Kopfhörer schallte Madonna, die über Boys sprach, die einem Material-Girl die notwendige Aufmerksamkeit zu geben hätten. Ihre Blicke waren starr auf den Boden gerichtet, als sie an uns vorbeirannten.

Dann wieder Stille.

Der Atem des Flusses.

Am Firmament kräuselten sich die letzten Rauchfetzen.

»Das ist spooky«, sagte ich.

»Oh ja«, stimmte Chloë zu.

»Ich wusste gar nicht, dass diese Teile explodieren können.«

»Anscheinend schon.« Chloë zuckte mit den Schultern. »Ich glaub´ auf ein paar Satelliten mehr oder weniger kommt es bei denen nicht an.«

Ich konnte nicht aufhören, in den Nachthimmel zu blicken.

»Komm schon!«, drängte Chloë. »Ich brauch´ ein Bier.«

Widerwillig riss ich mich los, und wir traten in die Pedale. Wenig später bogen wir in die Manitiusstraße ein.

»Hier. Nummer fünfunddreißig.« Chloë deutete auf einen Häuserblock, an dem die ehemals grüne Farbe abblätterte.

Wir stiegen ab und schoben unsere Fahrräder durch einen mit Graffiti übersäten Hauseingang. Chloë sprach wieder von einem Boy, doch ihre Worte verloren sich in der Enge meiner eigenen Gedanken. Die Explosion der Satelliten kümmerte sie nicht weiter. Ein Bild mit dem iPhone geknipst, es als zu schlecht für Instagram empfunden und abgehakt.

Konnte man nicht mehr darin sehen? Kommunizierte die Welt nicht auf diese Weise mit uns? Über Bilder und Gesten?

Die Hoftür schlug hinter mir zu und quetschte den Hinterreifen ein. Es knackte, und das Rücklicht meines Fahrrads zerbrach.

»Fuck«, fluchte ich und stieg ab, um die Plastikteile aufzusammeln.

Chloë starrte mich an, dann griff sie in die Tasche ihrer Shorts und checkte das iPhone.

»Wir können«, sagte ich, nachdem ich fertig war.

Wir mussten durch eine weitere Hoftüre, und ich achtete darauf, dass der schwere Türflügel nicht wieder auf mein Rad krachte.

Als wir das hintere, dunkelgrün gestrichene Tor öffneten, schlug uns das überdrehte Gackern der Leute entgegen. Es roch nach Feuer und Sommer. Ein Mädchen kreischte auf, woraufhin einige andere zu lachen begannen. Ich blickte mich um. Der Hof sah verwaist aus. Ein halbes Dutzend verrosteter Fahrradskelette lehnte an den Häuserwänden. Das Laub des Vorjahres ließ den Boden bräunlich schimmern. Eine Katze mit struppigem, grauen Fell saß auf einem Fenstersims und beäugte uns misstrauisch, während sie eine ihrer Pfoten leckte.

Larissa lebte dort, erzählte Chloë auf der Fahrt. Ein Metalhead der alten Schule. Judas Priest, Dio, Accept und diesen ganzen Kram. Ich kannte sie flüchtig vom Sehen.

Zwei Dutzend Menschen quetschten sich auf ein paar zerfledderte Sofas und Holzkisten. In der Mitte qualmte ein verrußter Grill vor sich hin. Ich entdeckte Larissa, die sich abmühte, das Feuer in Schwung zu bekommen, und angestrengt in den Grill pustete. Ascheflocken klebten in ihrem Haar.

Ich lehnte mein Fahrrad an den Stamm einer Kastanie und sperrte es ab.

»Yo, Chloë«, rief ein Boy namens Leon und schmetterte seine rechte Hand auf die Brust. »War das ein Kanonenfeuer oder ist es das Klopfen meines Herzens?«

Chloë lachte und strich über ihre Haare.

Ich wusste, Leon stand auf Chloë. Alle Boys standen auf Chloë. Und ich wiederum kannte alle Boys, die auf Chloë standen – es war eines unserer Küchenthemen, wenn nicht das Thema. Boys, die auf Chloë abfuhren.

»Habt ihr die Satelliten gesehen?«, wollte Chloë wissen.

»Was für Satelliten?«, fragte Leon.

»Vergiss es. Nicht so wichtig.« Sie lachte und stemmte eine Hand in ihre Hüfte.

»Uh«, machte Leon und formte mit Zeigefinger und Daumen ein O, das er über ihren Kopf kreisen ließ. »Fühlst du dich verfolgt?«

Er wollte anscheinend einen Satelliten oder eine Drohne symbolisieren. Der Ausdruck seiner glasigen Augen ließ mich vermuten, dass er sich dabei originell und witzig vorkam. Chloë ging nicht darauf ein. Sie lebte in der Gegenwart und ließ sich nicht von der Schrulligkeit anderer Menschen herunterziehen.

Ihr Blick fuhr über die Leute. Sie nickte einigen zu, zeigte mit dem Zeigefinger auf jemanden und sagte etwas, worauf ein Lachen ertönte.

»The lady is in the house«, hörte ich Felix, der sich ihr von hinten näherte. »Jetzt kann die Nacht beginnen.« Er umfasste mit einer Hand ihren Bauch.

»Trink, my Lady«, flüsterte er und hielt ihr eine Flasche Bier an den Mund. Ihre vollen Lippen umschlossen den Flaschenhals, sie schloss halb ihre Augen dabei, ließ ihren Kopf einige Zentimeter nach hinten gleiten.

Ich wandte mich ab, betrachtete mein Bike, das kaputte Rücklicht und setzte mich auf einen umgedrehten Blecheimer.

Leon und Felix studierten an derselben Hochschule wie Chloë Grafik-Design und Visuelle-Kommunikation. In letzter Zeit waren sie sehr präsent in unseren abendlichen Küchen-Talk-Sessions. Chloë hatte ein Faible für beide. Leon war wohl der Intelligentere, aber Felix liebte das dolce vita und das gab den Ausschlag.

Chloë und Felix bewegten sich sanft zu Reggae Klängen, die aus einem Bluetooth-Lautsprecher drangen, der an einem Ast der Kastanie befestigt war. Ihr kleiner Tanz wurde durch die plötzlich emporlodernden Flammen des Grills auf groteske Weise an die dunklen Wände eines Hauses projiziert, sodass ich mich an ein römisches Amphitheater erinnert fühlte. Funken stoben durch die Nacht.

Ich schob den Blecheimer ein Stück nach hinten und lehnte mich an den Stamm der Kastanie. Sphären von verrauchter Luft zogen an meinem Gesicht vorbei. Wie aus dem Nichts strich die zerzauste Katze um meine Beine. Sie sprang auf meinen Schoß, schloss die Augen und begann zu schnurren.

Ich beobachtete die Szenerie, während meine Fingerspitzen über das Fell der Katze strichen. All diese Stimmen. All diese vielen Welten. Ich schloss die Augen und ließ es zu, dass mich die Geräusche überfluteten. Die Welt machte einen unglaublichen Lärm.

»Warum schreibst du das?« fragte mich Chloë.

Eine gute Frage. War mir bewusst, was mich antrieb?

Es hieß, der Philosoph Empedocles wurde vor zweitausendfünfhundert Jahren in den Krater von Ätna geworfen, nachdem er öffentlich seine religiösen Überzeugungen kundtat, die eng mit einer Reinkarnationslehre verknüpft waren. Und Seneca, der Jüngere, philosophierte darüber, warum es weise sei, als Herrscher mit Güte und Milde zu regieren. Er wurde von Kaiser Nero dazu verurteilt, sich selbst zu töten.

Der Philosoph Abraham ibn Daud fand heraus, dass Kaiser Konstantin das Neue Testament gefälscht hatte. Er wurde umgebracht. Der Philosoph Siger von Brabant war der Ansicht, dass die individuelle Seele nach dem Tode sterben würde. Dafür wurde er von der Kirche verurteilt und später heimtückisch erstochen.

Jan Hus wurde als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Peter Ramus, Gegner der aristotelisch-scholastischen Philosophie, wurde in der Bartholomäusnacht ermordet.

Giordano Bruno lehrte die Unendlichkeit des Weltraums und wurde zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt.

Lucilio Vanini vermutete, dass Gott ein unendliches, ewiges Sein sei. Ein Gott, der die Welt erschaffen hat und in ihr tätig ist, indem er alles ist. Ihm wurde die Zunge herausgerissen, bevor er auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.

Uriel da Costa gelangte zu dem Schluss, dass die Vorstellung einer unsterblichen Seele unbiblisch sei. Er bekam drei Dutzend Geißelhiebe auf den Oberkörper, danach musste er sich vor eine Kirche legen, damit alle Besucher des Gotteshauses über ihn hinwegschreiten konnten. Danach erschoss er sich.

Der Philosoph Marquis de Condorcet sprach sich für die Einführung des Frauenwahlrechts sowie der Gleichberechtigung aller Menschen aus und starb im Kerker von Clamart.

Der Zweite Weltkrieg. Antonio Gramsci. Stanisław Ignacy Witkiewicz. Walter Benjamin. Kurt Grelling. Edith Stein. Jean Cavaillès. Dietrich Bonhoeffer. Miki Kiyoshi.

Etliche weitere Namen spukten durch meinen Kopf. Von Menschen, die sich umbrachten, weil ihre Gedanken zu groß waren für die Welt. Weil sie nicht mehr in der geistigen Enge leben konnten, nachdem sie in das Mysterium eingeweiht worden waren.

Wie schrieb Simone Weil: »Dunkle Nacht. Vielleicht muss der Mensch die Prüfung der fortwährenden Hölle durchlaufen, bevor er Zutritt zur Ewigkeit erhält?«

So viele Menschen waren für ihre Überzeugungen gestorben, so viele Menschen hatten sich gegen eine falsche herrschende Ordnung gerichtet. Mit ihrem Geist, ihren Gedanken und ihren Worten. Und sind dafür auf Scheiterhaufen verbrannt, gefoltert und in den Selbstmord getrieben worden.

Und wie stand es um mich?

Nichts und niemand verlangte mir im Grunde etwas ab. Alles war beliebig. Nichts provozierte mehr. Für keine Wahrheit konnte man noch hingerichtet werden. Allen war alles egal.

Konnte und wollte ich mich Philosophin nennen im Angesicht der Taten früherer Menschen, die ihr Leben dafür ließen?

Als ich meine Augen wieder öffnete, saß Chloë auf dem Schoß von Felix. Sie küssten sich und seine Hand war unter ihrem Shirt verschwunden. Ich dachte an ihre honigmelonengroßen Brüste – und dass sie selten einen BH trug.

»Es macht die Boys wahnsinnig, wenn sich die Nippel durch das Shirt drücken«, sagte sie einmal während einer unserer langen Küchentalks.

Ihr Blick fuhr beiläufig über meine Brüste. Auch ich benutzte selten einen BH. Aber das lag daran, dass sie so flach waren wie eingefallene Cremetörtchen.

Weitere Funken stoben in die Luft, zerplatzten an den Blättern des Kastanienbaumes.

Mich überkam das Verlangen nach einem Schluck Alkohol. Vorsichtig setzte ich die Katze neben mir auf den Boden, die sogleich unberührt eine ihrer Pfoten leckte. Dann stand ich auf und ging zu Larissa, die sichtlich stoned auf der zerschlissenen Couch saß. Sie hielt eine leere Bierflasche in der Hand und stierte mit halb geschlossenen Augen in das Feuer.

»Habt ihr Wein?«, fragte ich.

»Weißnich«, nuschelte sie. »Vielleichtdrüben.« Sie deutete vage in eine Richtung. Mit einer ungelenken Bewegung setzte sie die Bierflasche an ihre Lippen und ließ sie, nachdem sie bemerkt hatte, dass diese leer war, auf den Boden kullern. Sie sah unglaublich dumm aus in diesem Moment. Wie ihr diese Strähne ins Gesicht hing, die nur halb ihren schiefen Mundwinkel verdecken konnte.

Sofort flutete eine Schamesröte meine Wangen. Ich wollte nicht so denken. Begann nicht alles Unheil, weil Frauen die ganze Zeit schlecht über andere Frauen sprachen, dabei jedoch immer so scheiß freundlich taten?

War das nicht auch einer der Gründe, warum ich schrieb?

Oberflächlich betrachtet lebte ich in einem Land der Gleichberechtigung und Freiheit. Doch unter dieser neonsüßen Oberfläche pulsierte nach wie vor die tief sitzende Angst vor dem Weiblichen. Noch immer waren weite Teile der Kultur mit Vernichtungsfantasien dem Femininen gegenüber überflutet und das Schlimmste war: Es war fast niemanden bewusst. Und was noch schlimmer als das Schlimmste war: Auch Frauen nahmen teil an ihrer Vernichtung - freiwillig entblößt, hysterisch, nackt. Mit großen Augen und prallen Brüsten. Instagram-Bitches, Pseudo-Influencerinnen und Model-Lolitas.

Und damit meine ich jetzt nicht Künstlerinnen wie Ester Dean, die eine selbstbestimmte Sexualität einfordern. Drop it low, girl! Ich rede von den Bunnys. Den TV-Topmodels, die hohläugig und abgemagert sich der maskulinen Linse anboten, für ein bisschen Fame und Glory.

Ich dachte an die Heilige Mutter Maria, auch über sie wollte ich schreiben. Eine Frau, deren faszinierende Beredtheit, ihre Autorität und ihre Intelligenz sukzessive durch die Kirche aberkannt wurde. Die von Kirchenvätern domestiziert und mundtot gelogen wurde, bis sie schließlich als gehorsame, stillende Kindfrau und selig lächelnde Jungfer als Randfigur der Geschichte endete.

Einzig einige wenige vergessene Mariendarstellungen zeugten noch davon, welch machtvolle Frau diese Maria gewesen sein musste. Eine Prophetin und Erlöserin, eine Heilerin. Eine Gebieterin der Hölle, wie sie auch genannt wurde.

Ich fing Chloës Blick auf, die kurz zu mir herüberschaute und für eine Sekunde meinte ich, etwas wie Triumph in ihren Augen zu sehen. Dann rutschte sie noch ein Stück tiefer in Felix’ Schoß.

All the boys love Chloë Ellen Kirby.

Ich konnte es verstehen. Ihretwegen fing ich im Winter an, den Shuffle zu lernen. Nichts in meinem Leben hat mich mehr angemacht, als Chloë den Melbourne Shuffle tanzen zu sehen. Es elektrisierte mich. Wie ihr langes Bein in die Luft stob, während das andere sich unwiderstehlich sexy nach hinten zog. Und sie dabei lächelte wie eine leibhaftige Madonna.

Zwei Monate liefen bei mir zu Hause YouTube Tutorials, um den Electro Swing Shuffle hinzubekommen, den T-Step und den Running Man, den Roach Stomper und den Polly Pocket.

Irgendwann hatte ich es raus und ich drehte mich wie ein Sufi-Derwisch, der sich mit seinem Tanz Gott annähern wollte. Dann ließ ich es wieder. Es ergab keinen Sinn, für mich allein zu tanzen, wenn es doch für Chloë sein sollte. Ich fragte mich, ob sie davon etwas mitbekommen hatte, von der Musik und meinem täglichen Rumgehopse im Zimmer, aber ich glaubte nicht.

Ich sah mich um. Wein war keiner zu finden. Ich erspähte eine Kiste Becks neben einer aufgeschlitzten Couch, auf der ein Junge gerade einem Mädchen Geschichten erzählte.

»Buri Khalifa, war fett die Show. Größtes Gebäude der Welt. War eine mega Aussicht.«

Das Mädchen lächelte brav. Sie war in meinem Alter. Ich beobachtete, wie sie den Jungen fixierte. Wie sie über seine Witze kicherte. Wie sie ihren Körper im Rhythmus seiner ausschweifenden Atembewegungen synchronisierte. Seit wie vielen Jahrhunderten lauschten Mädchen schon still, während Jungs etwas von den größten Türmen der Welt erzählten?

Fuck it.

Wann begann es, dass uns Frauen eingetrichtert wurde, wir hätten rein zu sein, lieb zu sein, verständnisvoll zu sein? Das Gefäß zu sein, die ruhige, unsichtbare Frau?

Ich nahm eine Flasche und suchte nach etwas, mit dem ich sie öffnen konnte. Meine Wangen waren gerötet. Ich konnte dieses Mädchenlächeln nicht ertragen, weder bei mir noch bei anderen.

Ich drückte den Kronkorken der Flasche an die Bierkiste und schlug mit der flachen Hand darauf. Der Deckel sprang ab, und weißer Schaum spritzte heraus. Ich hielt das Bier schnell an meinen Mund. Ein paar Spritzer tröpfelten auf den Sneaker des Boys, der das gar nicht mitbekam.

Das Mädchen sah mich mit Rehaugen an und machte eine entschuldigende Geste.

Oh ja, dachte ich. Entschuldige dich dafür, dass ich das Scheißbier über den Schuh deines Typen gespritzt habe.

»Leute«, rief jemand hinter mir.

Ich drehte mich um und sah einen rothaarigen Typen, der durch das Eingangstor gelaufen kam und seine Hand in die Luft streckte.

»Die Bullen kommen«, japste er.

Aus den Augenwinkeln sah ich den Schatten dunkler Gestalten durch das erste Hinterhoftor eilen. Die Cops reagierten empfindlich auf unangemeldete Partys, selbst wenn es sich um ein einsames Hinterhofgelage handelte.

Ich sah den Jungen vor mir aufspringen. Seine Flasche fiel zu Boden und zerbrach in zwei Teile. Ohne sich umzudrehen, hastete er davon.

»Lauf!«, rief ich zu dem Mädchen. »Mach das du wegkommst!«

Sie stand halb auf und schaute mit ihren großen, braunen Augen in Richtung des Tors. Ich schüttelte den Kopf. »Los jetzt! Lauf!«

Mit ungelenken Schritten stakste sie davon.

»Was geht?«, rief Chloë.

Ich sprang über eine Bierkiste, packte sie am Handgelenk. »Komm, schnell!«

Der Hinterhof besaß etliche Ausgänge. Ich deutete auf den, der am weitesten von dem aufgeregt wedelnden Jungen entfernt war.

»Komm!«, wiederholte ich

Wir liefen los.

Vor der Tür drehte ich mich um und sah mehrere schwarz gekleidete Polizisten durch das Tor stürmen. Larissas Schrei gellte durch die Nacht. Ein Schwarm aggressiv leuchtender Funken stob auf, als jemand den Grill umschmiss. Das dunkle Bellen der Polizei-Aufforderungen hallte durch den Hof.

Ich rannte durch die Tür, die Leon mir aufhielt, Chloë wie einen Welpen hinter mir herziehend. Ohne nachzudenken, hasteten wir die Straße entlang. Hinter uns ertönte das Heulen einer Sirene.

»Hier rein!«, rief ich und deutete auf einen Hauseingang. Wir drückten uns in den Nachtschatten des Eingangs. Mein Herz raste. Neben mir schnaufte Chloë, die sich an Felix’ Arm festkrallte.

Ein paar Häuser weiter rief eine Männerstimme etwas Unverständliches. Eine Tür knallte. Jemand kreischte.

Ein Polizeiauto fuhr im Schleichtempo an uns vorbei. Ich hielt den Atem an. Blaues Licht fiel auf unsere Schuhspitzen.

Dann blieb das Auto stehen.

3

»Lasst uns knutschen. Schnell«, raunte Leon und griff nach meinem Arm.

»Was?« Ich zog meinen Arm weg. »Spinnst du?«

»Mach einfach. Los.«

Bevor ich verstand, was er von mir wollte, packte mich Leon und drückte seine Lippen hart auf die meinen. Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich sehen, dass Chloë und Felix sich ebenfalls küssten.

»Was treibt ihr da?«, gellte uns eine barsche Männerstimme an.

Das grelle Licht einer Taschenlampe fuhr über unsere Körper. Ein Polizist beäugte uns misstrauisch aus dem Fahrzeug heraus.

»Nichts«, antwortete Leon. »Wir gehen nur aus.«

Die beiden Polizisten im Auto wechselten ein paar Worte.

»Treibt es nicht zu bunt«, sagte der Polizist schließlich. Dann glitt seine Fensterscheibe wieder nach oben und das Polizeiauto fuhr langsam weiter.

Stille.

Wir warteten ab.

Das Auto bog um eine Ecke.

Wir sahen uns an und brachen in Gelächter aus. Chloë, Leon, Felix und ich.

»Und dann sind wir Helden …«, rief Chloë und drehte sich um ihre Achse.

»… für eine Nacht«, warf ich ein und wir fielen uns in die Arme. Ihr Parfüm bedeckte mich wie eine sanfte französische Meereswelle. Eine Prise Côte d’Azur. Ein Versprechen juvenilen Glücks für die Unendlichkeit geschaffen.

»Lasst uns los«, sagte Leon und griff nach meiner Hand. »Die kommen bestimmt wieder.«

Wir rannten durch die Liberdastraße, dann durch die Reuterstraße in Richtung Sonnenallee. Die beiden Boys gaben johlende Geräusche von sich, und das quietschende Lachen von Chloë ließ mich zusammenzucken.

Meine Hand schmerzte leicht in dem festen Griff von Leon. Er war nicht wirklich mein Typ.

»Haha, wie genial«, rief Felix und riss seine Faust in die Luft. Seine Augen leuchteten wie die eines kleinen Jungen.

In der Ferne hörten wir das gequälte Wimmern einer Sirene.

»Die sind voll gefickt.« Leon lachte.

Er schaute mich an. Ich verstand seinen Blick.

»Ob sie mit aufs Revier müssen?« Chloë zog ihre perfekt halbrunden Augenbrauen nach oben. »OMG.«

»Hey Leute«, rief Leon uns zu. »Wir können zu mir. Meine Eltern sind in Amsterdam, ziehen sich irgend so eine Theaterkacke rein.«

»Oh Mann, wie geil«, sagte Felix. »Lass uns das tun.«

»Du lebst noch bei deinen Eltern?«, fragte Chloë.

»Und?«, gab Leon zurück. Ein Schleier der Verunsicherung huschte über seine Augen. »Ist ´ne abgefahren große Bude. Warum sollte ich ausziehen?«

Chloë erwiderte nichts darauf, sondern drückte sich enger in den Arm von Felix.

Ich machte mich von Leon los, indem ich so tat, als müsste ich meine Socken hochziehen, die in meinen Chucks verrutscht waren. Dabei drückte ich ihm die Flasche Bier in die Hand, die ich immer noch festhielt.

Während ich am Boden kauerte und an meinem Schuh nestelte, huschte ein Rudel Partygänger an uns vorbei. Die Ladys in Leopardenröcken gekleidet, die Boys in Skinny Ripped Jeans und sexy, ärmellosen Shirts. Sie beachteten uns nicht weiter, waren vollends in ihren verwaschenen Night-Talk vertieft.

»Hast gesehen, wie Richie drauf war?«

»Oh. My. God! Das war unlügbar, der beste Moment.«

»Die neue Season ist sick as fuck.«

»Ich liebe dich, Sis.«

»Geiles Boyfriend-Material am Start gewesen, nich’ wahr?«

Das knirschende Geräusch einer zersplitternden Bierflasche.

Zigarettenrauch.

Hysterisches Lachen.

War das unser aller Schicksal?

Als betrunkene Individuen durch eine nicht enden wollende Nacht der Beliebigkeit zu stolzieren?

Ich hoffte nicht.

Und doch übte ich den Shuffle, zog mehrere Tausend Male meine Beine zu einem Beat in die Luft. Stellte sogar einen Abend ein Video von mir auf TikTok. Scarecrow Pose to the left and Scarecrow Pose to the right. Ich löschte es am nächsten Tag wieder.

Ich stand auf, und Leon wollte mir die Flasche zurückgeben.

»Behalt’ sie.« Ich mochte kein Bier. Es veranstaltete nur Unruhe in meinem Kopf.

Leon bedachte mich mit einem spöttischen Blick und trank die Flasche in einem Zug leer. Dann stellte er sie auf einen Stromkasten.

Wann waren wir nur alle zu Suchenden geworden? Rastlos, unstet, voll diffusem Drang nach Action und Liebe. Suchende, die sich über die Suche lustig machten.

Die Laternen warfen ihr gelbliches Licht auf den Boden, als wir weiter durch die Straßen eilten. Ein Typ mit schwarzem Hoodie ging an uns vorbei, ein Spliff glühte auf.

Ein Schriftsteller schrieb einmal: Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten.

Ich mochte das.

Es war die Epoche des Glaubens, es war die Epoche des Unglaubens.

Wir gingen an einem Club vorbei. Musikfetzen drangen aus der halb geöffneten Tür. Es hörte sich an wie Depeche Mode. Where’ s the Revolution?

Es war die Saison des Lichts, es war die Saison der Dunkelheit.

Ich hörte das Singen der Vögel, ihr vergebliches Gezwitscher gegen die Hektik der Stadt, dann ein Autohupen in der Ferne, das betrunkene Gelaber anderer Clubgänger.

Wir gingen alle direkt in den Himmel, wir alle machten uns in die andere Richtung auf.

Beinahe Mitternacht.

»Hier sind wir«, sagte Leon. Wir standen vor einem Altbau.

»My fancy dreamer.« Chloë strich mir über die Haare. »Komm, lass uns ein bisschen Party machen.«

Wir rumpelten durch das Treppenhaus. Mit sichtlicher Genugtuung steckte Leon den Schlüssel in die Tür.

»Et voilà«, verkündete er und ließ uns eintreten.

Die Wohnung war schlicht und opulent zugleich. Bauhaus-Style. Gar nicht mal so übel. Im Flur standen zwei Venini Vasen auf einer weißen Kommode. Ich konnte diese Teile nie ausstehen. Meine Mutter war besessen von diesen unnützen Dingen gewesen. Vasen für zweitausend Euro. Ein Teppich im Wert eines Autos. Lampen, die aussahen, wie die von Ikea, nur fünfzehnmal so teuer.

Ich strich wehmütig mit den Fingerspitzen über eine der Vasen.

»Uh, vorsichtig«, sagte Leon, und ich zog meine Hand zurück.

Wir warfen uns auf ein riesiges, dunkelgraues Sofa.

Leon kam mit ein paar Gläsern und zwei Flaschen Wein aus der Küche zurück. Er entkorkte eine der Flaschen, einen Rotwein Tignanello, und schenkte uns ein.

»Deine Eltern sagen nichts, wenn du ihren teuren Wein aufbrauchst?«, fragte ich.

»Das ist der Feierabendwein, da werden die Flaschen nicht gezählt.« Er stellte den Wein auf den Couchtisch. »Sie würden was sagen, wenn ich den Château Montrose oder den Petrus vernichten würde.«

Er war so stolz darauf, die Rituale der Upper Class in Fleisch und Blut verinnerlicht zu haben, dass ich innerlich die Augen verdrehte.

Er setzte sich neben mich. Ohne mich anzusehen, legte er einen Arm um meine Schulter.

»Hast du Fury gesehen letztes Wochenende?«, fragte er Felix.

»Ob ich ihn gesehen habe? Ich habe ihn verehrt.«

»Reichweite von zwei Meter. Mann, was für ein Tier.« Leon rückte von mir ab und streckte seine Arme aus. Er ballte die Fäuste, drückte seine schmale Brust raus und reklamierte: »I'm a gypsy: no education, no schooling, nothing. I don't care what people think of me.«

Die beiden klatschten ab.

»Von was reden die?«, fragte Chloë.

»Ich hab nicht den blassesten Schimmer«, antwortete ich.

Leon nahm ein Glas in die Hand. »Cheers. Auf die Freundschaft.«

»Auf die Liebe«, rief Chloë und hob ihr Glas.

Wir stießen an. Chloë blinzelte mir über den Rand ihres Weinglases zu, während Felix geistesabwesend seine Hand auf ihren Oberschenkel legte.

»Gegen wen wird Fury als Nächstes fighten?«, fragte Leon.

»Wollt ihr die ganze Nacht nur labern?«, erkundigte sich Chloë und schnippte mit den Fingern.

»Die Fridays rufen zu einer Mega-Demo auf«, erzählte ich. »Kommt ihr auch?«

»Oh no«, sagte Leon und hielt sich die Hand vor die Stirn. »Fridays sucks.«

»Was ist nur los mit dir?«, wollte ich wissen.

»How dare I.« Leon schnitt eine Grimasse.

»Ich finde es unsauber, sich über sie lustig zu machen. Was machen wir denn schon? Wir sollten uns an ihr ein Vorbild nehmen.«

»Und die Weltrevolution auszurufen? Wieder einmal?« Leon gab ein grunzendes Geräusch von sich und sah mich an.

»Die Revolution ist lange überfällig«, sagte ich und hielt seinem Blick stand.

»Ihr habt keine Ahnung von den Prinzipien des freien Marktes und wollt wirklich mit den Abgehängten die Rückkehr in den Sozialismus proklamieren? Wir müssen vorwärts, Mädels, nicht rückwärts.«

»Der freie Markt ist eine Fantasie alter Männer mit Erektionsstörungen.« Chloë zeigte Leon den Finger.

»Tatsächlich? Und wo glaubst du, kommt dein Wohlstand her? Und was wird mit ihm passieren, wenn die Sozis an die Macht kommen?«

»Ok, Boomer«, gab Chloë zurück.

Wir brachen in Gelächter aus und klatschten uns ab.

Leon presste seine Lippen zusammen.

»Du warst noch nie bei den Fridays, oder?«, fragte ich.

»Natürlich nicht«, antwortete er.

»Ne, der ist FDP«, meinte Chloë und legte eine Hand auf mein Knie.

»Wir könnten Wahrheit oder Pflicht spielen«, fuhr Felix dazwischen. »Ich hab nämlich null Bock auf Politikgelaber.«

»Pflicht«, sagte Chloë und gab ein lautes, glucksendes Lachen von sich. Sie sah Felix an. »Erfüllst du deine?«, fragte sie und zog ihn an sich.

Ich sah zu, wie sich Chloës voller Mund auf die Lippen von Felix drückte. Wie sie langsam ihre Augen schloss und ihre Fingerspitzen über seinen Nacken fuhren. Seine Hand strich über die Innenseiten ihrer knappen Shorts.

Ich stand auf und ging auf die Toilette. Sperrte die Tür hinter mir ab und setzte mich auf den Badewannenrand. Lange konnte ich hier nicht bleiben. Ich musste eine Entscheidung treffen.

Letztendlich beschloss ich noch ein Glas Wein zu trinken und abzuwarten. Was anderes blieb mir nicht übrig, es sei denn, ich ging, aber dazu hatte ich auch keine Lust.

Ich stand auf, betätigte die Spülung und betrachtete mich im Spiegel. Eine Schönheit war ich nicht. Nicht im Sinne einer Chloë Ellen Kirby. Es war mehr das Aussehen einer Lindsay Wixson, mit ihren Zahnlücken und überproportionierten Gesichtsteilen. Oder der Look einer Tanja Dziahileva, mit ihren Elfenohren und ihrer Babynase, oder einer Antonia Wesseloh, mit ihren aggressiven Augenbrauen. Ich seufzte und sperrte die Tür auf.

Leon stand vor der Toilette.

Ich wich zurück und stieß mit der Wirbelsäule an den Türrahmen. Der Schmerz durchzuckte mich schnell und gleißend. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

Leon stand gelassen vor mir, eine Hand in seiner Hosentasche, seine Lippen zu schmalen Schlitzen verzogen.

»Hey«, sagte er.

»Hey«, erwiderte ich.

Ich hielt ihm die Tür auf. Er griff danach.

Bevor ich meine Hand wegziehen konnte, umfasst er sie. Sanft, aber fest. Sein Gesicht war regungslos, seine Stirn glänzte matt. Mit der anderen Hand griff er in meinen Nacken und zog mich an ihn heran.

Seine Lippen verharrten einen Moment vor den meinen. Dann drückte er mein Gesicht auf seines und küsste mich. Sein Mund war fordernd, und seine Zunge drängte sich in den meinen. Ich schloss die Augen. Diese Nacht schrie förmlich nach einer wilden Sache.

Sein Körper drängte sich gegen den meinen. Seine Hände fuhren hastig über meinen Rücken, meinen Po und meine Oberschenkel.

Abrupt beendete er den Kuss, packte mich an der Hüfte und drehte mich um, sodass ich mit dem Bauch gegen die Wand gedrückt wurde. Seine Hand pushte meinen Kopf fest gegen die teure Tapete. Die Sehnsucht mich fallen zu lassen, breitete sich in mir aus wie eine überlaufende Frühlingsknospe. Mein ganzer Körper lechzte nach Berührungen und Küssen.

Das abgehackte Keuchen Leons drang an mein Ohr.

Es war eine der drängendsten Fantasien von Jungs: Das Objekt ihrer Begierde gegen etwas zu drücken und von hinten zu nehmen. Und wie ich erstaunt feststellen konnte, schien dies für viele Frauen vollkommen in Ordnung zu sein.

»Mich macht es an, so begehrt zu werden«, sagte Chloë, als wir vor etwa einem Jahr, an einem Nachmittag zu fünft in der Uni-Mensa saßen. Ich aß manchmal in Chloës Mensa in der Lietzenburger Straße, meist mit ein paar Kommilitoninnen von ihr.

»Wenn er sich nicht mehr beherrschen kann und an nichts mehr anderes denkt. Uh, das ist hot«, stimmte Lara, eine Kommilitonin Chloës, zu.

»Aber geht es wirklich um dich in diesem Moment? Sind wir nicht einfach austauschbar?«, fragte ich.

»Ich gebe ihm gern das, was er will. Und mir gefällt es, wenn ich ihm gefalle.« Chloë zuckte mit den Schultern. »Man muss es nicht komplizierter machen, als es ohnehin schon ist.«

»Behandeln sie uns nicht wie Bitches, indem sie all diese dummen Sachen wiederholen, die sie auf den Porno-Seiten sehen? Was ist schön daran, sein Ding bis in den Rachen gesteckt zu bekommen?«

»Wenn es ihn geil macht?« Stefanie, eine flüchtige Freundin von Chloë, zuckte mit den Schultern. »Jungs sind eben Jungs, die kann man nicht ändern.«

Chloë zwinkerte ihr zu. »A girl is a gun«, sagte sie und die beiden wackelten auf diese bitchy Art mit ihren Oberkörpern.

Meine Stirn legte sich in Falten. »Denkt ihr danach nicht: Hey, ich wollte einfach nur geliebt werden? Und nicht von hinten genommen werden und alle möglichen Dinge in meinen Po gesteckt bekommen?«

»Gisele, Schätzchen«, sagte Chloë, »ich will dir nicht zu nahe treten, aber … ich meine, hast du schon mal was mit einem Jungen gehabt? Außer rumzuknutschen?«

Während ich mich mit beiden Händen an der Wand abstützte und Leon seine Hose öffnete, drangen aus dem Schlafzimmer die kehligen Laute von Chloë. Ich stellte mir vor, wie sie sich anstrengte, um Felix zu befriedigen. Sah sie vor mir, wie sie auf ihm saß, leicht verschwitzt und mit roten Bäckchen.

Leon nestelte an meiner Shorts herum.

Er bemerkte nicht, dass ich mit den Gedanken woanders war. Er bemerkte gar nichts. Er dachte nur an sich und wie er ihn mir gleich reinstecken würde, in meine trockene, nicht bereite Vagina, um sich nach einigen Stößen in mir zu entleeren.

Wenn ich einen Sohn bekomme, dachte ich, werde ich ihm alles über die Vagina beibringen.

Leons Hand fuhr durch mein Schamhaar.

O nein, so würde es heute nicht passieren. Und schon gar nicht raw dogged.

»Hör auf«, sagte ich und presste meine Stirn an die Wand.

Er reagierte nicht. Seine Finger tasteten unbeholfen weiter.

»Leon. Stopp.«

»Wassup?« Er verharrte. Ich spürte, wie er ärgerlich wurde. Und ich konnte dahinter seine Angst fühlen, dass er mich doch nicht ficken konnte. So kurz vor dem Ziel.

»Ich will es nicht. Lass mich los.«

»Oh, fuck, Gisele. Lass es uns einfach tun. Wir können später reden.«

»Warum holst du dir nicht einfach einen runter? Warum brauchst du mich dazu?«

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihm den Vorschlag machen sollte, ihm einen runterzuholen. Um ihn zu besänftigen. Um es wiedergutzumachen.

Allein dieser Gedanke ließ einen Zorn in meinen Bauch entstehen, von dem ich selbst überrascht war. Was taten wir Frauen nur für Dinge, um die Boys zu besänftigen?

Ich wusste, dass Leon mein Zögern bemerkte. Wie er eine Chance witterte, doch noch zum Abschluss zu kommen.

A girl is a gun.

Ein Haufen Scheißdreck ist sie.

Ich stieß mit dem Becken gegen seinen Leib und griff nach meiner Shorts.

»Lass mich jetzt!«

»Du bist abartig, Gisele. Das kannst du nicht tun.«

»Was kann ich nicht tun?«

»Mich so stehen lassen!«

Ich drehte mich um und sah ihn mit heruntergezogener Hose vor mir stehen. Aus einem der Räume drangen die Laute von Chloë zu uns.

»Ach, ich kann das nicht tun? Weil Leon nämlich das Scheißrecht hat, ihn mir reinzustecken, wann immer er Lust hat? Der vor der Scheißklotür wartet und meint, mich an die Wand drücken zu können? Und vermutlich noch denkt, das würde mich aufgeilen? Was ist los mit dir?« Ich funkelte ihn an. Überrascht von mir selbst.

Was ich eigentlich sagen wollte, war: Ich will das so nicht, Leon. Ich brauche da mehr Vertrauen zu. Mehr … Liebe. Gern mit dir, wenn wir es in Liebe tun.

»Du blöde Bitch.« Leon griff nach seiner Hose und zog sie hoch. Mit dem Shirt in der Hand drehte er sich um und verschwand wortlos in seiner Bauhaus-Wohnung.

Schnell knöpfte ich meine Shorts zu, schnappte meine Schuhe und machte, dass ich wegkam. Zum Glück hatte ich es mir abgewöhnt, eine Handtasche oder einen Bag zu tragen. Sonst müsste ich jetzt noch einmal in das Wohnzimmer und seinen gekränkten Jungenblick ertragen.

Ich knallte die Wohnungstür hinter mir zu, damit Chloë wusste, dass die Sache nicht gut gelaufen war. Fuck it.

4

Die Nacht schleicht sich so leicht in unsere Herzen, dachte ich, als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fiel. Und einer nach dem anderen gleitet in die Dunkelheit.

Bedächtig stieg ich die Treppen hinab. Eine Stufe nach der anderen. Unten auf dem Gehsteig bohrte ich die Fäuste in die Taschen meiner Shorts. Die nächtliche Sommerhitze war überwältigend und ein leichter Schweißflaum überzog meine Haut.

Ich atmete ein.

Was für eine Scheiße.

Ich atmete aus.

Meine Gedanken begannen sich in verschiedene Richtungen auszufasern. Nicht gut. Ich wusste, was da kommen wollte. Ein Zustand, den meine Therapeutin vor einigen Jahren als beginnende Panikattacke definierte.

Heute nicht, dachte ich.

Ich spürte die feste Hand Leons noch immer an meinem Nacken. Mit welcher Selbstverständlichkeit er mich gegen die Wand gedrückt hatte. Mit welcher Erwartungshaltung er annahm, dass ein Flirt das Signal sei, seine Hose herunter zu lassen, um mich dumpf von hinten zu nehmen.

Babe.

Bitch.

Ich atmete ein.

Ich dachte daran, wie erstaunlich viele Definitionen es für die Vagina gab. Und für welche sich die Boys entschieden. Im indischen Tantra galt die Yoni als Pforte, um in subtile und kausale Erwachens-Zustände zu gelangen. Im Elisabethanischen Zeitalter war sie nur das Loch. Sigmund Freud sah in der Vagina dentata das schaurige Sinnbild weiblicher Macht und männlicher Angst. Und in der Pornoindustrie ist die Vagina die beliebig austauschbare Körperöffnung für den virtuellen Dick des Mannes. Auf Facebook sah ich ein Meme, in dem sie als Wurstfach betitelt wurde.

Ich persönlich glaube, die Vagina machte den Männern Angst. Über einhundertvierzig Millionen Mädchen und Frauen fehlten in jenen Tagen weltweit, weil sie aufgrund der Bevorzugung männlicher Nachkommen und Vernachlässigung zu Tode gekommen waren. Einhundertvierzig Millionen. Verdammte Scheiße, überlegt mal. Es wurden über dreißigtausend Kinderehen am Tag vollzogen. Und es lebten sechshundertfünfzig Millionen Mädchen und Frauen auf der Erde, die noch während ihrer Kindheit verheiratet wurden.

Aber was genau machte den Männern solche Angst?

Ich steckte die iPods in die Ohren. Drückte auf Feels Like Summer von Childish Gambino, zog über den menschenleeren Gendarmenmarkt. Ein schwaches, violettes Licht umhüllte die Kuppel des Deutschen Doms, ein Neongrünes umgab das Schauspielhaus.

Die Nacht trug mich auf die Friedrichstraße, bis Unter den Linden. Ein Transporter, dessen orangefarbener Lack ordentlich vom Rost zerfressen war, hielt am Straßenrand. Ein Mann beugte sich aus dem Fenster und rief einer Frau etwas zu. Ich nahm die Kopfhörer aus den Ohren. Er fragte nach dem Weg, denn die Frau deutete die Allee hinunter. Dann lachte sie. Auch der Fahrer stimmte mit ein. Für einen Moment sahen sie sich in die Augen. Dann fuhr der Fahrer weiter und die Frau schaute ihm hinterher. Ob beide noch für einen Augenblick an den anderen dachten, mit einem wehmütigen Ton in ihrem Gemüt?

Ich steckte die iPods wieder in die Ohren und klickte auf einen Song von John Lennon. Ich ging weiter.

Am Tränenpalast klopften ein paar Jungs ihre Tags auf eine Hauswand. Sie schreckten auf, als sie mich bemerkten, lugten über ihren Mundschutz und sprühten weiter.

An der Oranienburger Straße sah ich den Sexarbeiterinnen dabei zu, wie sie mit ihren langen Beinen, die in Lackstiefeln steckten, die bis zu den Unterschenkeln reichten, ihre Kirschmünder feilboten.

An einem Spätkauf am Hackeschen Markt blieb ich stehen. Blinkende Neonlampen spiegelten sich im Fenster wieder.

»He Süße«, erklang eine Stimme hinter mir. »Netter Arsch.«

Ich ignorierte die Worte und trat in den Laden. Hinter der Theke saß ein arabisch aussehender Mann, der mich kurz musterte und dann wieder auf sein Handy starrte. Ich zog mir ein Wasser aus dem Kühler, eine Packung Kaugummi in gelber Verpackung und legte einen Fünfer auf den Tresen. Der Typ hinter dem Tresen gab ein paar Münzen zurück, ohne dabei aufzuschauen.

Ich ging weiter.

Ich glaube, es waren Nächte wie diese, in denen mir die Brüchigkeit der Dinge bewusst wurde. Ich meine wirklich bewusst. Die Medien schrieben seit Jahrzehnten davon. Wir alle redeten von Wandel und System Change. Aber nun wurde es wahr in meinem Herz und ich sah die Menschen der Neuzeit in einem anderen Licht: Tätowierte Nomaden, die stolz darauf waren, ihr Essen aus einem Spätkauf an der Warschauer Straße zu besorgen. Hyperindividualisten auf der Suche nach einer zündenden Idee, einem neuen Skript, einem StartUp, einem Dutzend Tinder-Matches und etwas Abwechslung von ihrem Job an der Scannerkasse vom Supermarkt. All die zersplitterten, atomisierten Wesen, die die Gitterstäbe des Neoliberalismus mit teurem Brokat überklebten.

Sonderbarerweise verletzten Leons Worte mich nicht. Sie drangen nicht in mich ein. Prallten einfach ab, an der Atmosphäre, dieser sonderbaren Nacht.

Babe.

Bitch.

Es war im Grunde dasselbe.

Meine emsigen Gedanken huschten zu meiner Großmutter. In ihrem letzten Lebensjahr hatte sie oft von Sex und Liebe gesprochen. Vielleicht wollte sie ihrer Tochter noch etwas mitgeben und konnte es nicht ertragen, wie sie immer mehr in ihrem Beruf als Anwältin für Vaters kleines Imperium verloren ging.

»Jeder Mann ist sexbesessen«, hatte sie gesagt und ihre Tochter eindringlich angesehen. Auch wenn sie mich bei diesen Talks nie eines Blickes würdigte, hatte ich immer das Gefühl, sie spräche zu mir. »Die Rastlosigkeit des Mannes entsteht, weil er vergessen hat, wie man liebt und er die sexuelle Kontrolle über sich verloren hat.«

Ich spürte Leons Finger in meinem Nacken und wie er sich hart gegen meinen Po gedrückt hatte. Wie er zum Porno-Boy wurde.

Kein zeitintensives Spiel der Verführung. Keine Geheimnisse. Keine Enthüllung. Keine Sinnlichkeit. Die Frau wurde nicht als eine Göttin verehrt. Als ein geheimnisvolles Wesen mit ureigenen Gesetzen und Ritualen, welches geduldig geöffnet werden möchte.

Stattdessen wurde die Frau herabgewürdigt auf ein sechs mal sechs Zentimeter großes Tinderbild, dem man ein Super-Like geben konnte oder auch nicht.

Ich sah in die Augen der Boys und ich sah maschinelles Abreagieren, zwanghaftes Ejakulieren, raue Lustbefriedigung – alles entblößt, alles entwürdigt, alles erniedrigt.

Ich checkte mein Handy.

Auf Chloës Instagram waren die Bilder von heute Nacht zu sehen. Sie lag mit Felix im Bett, ihre Haare perfekt zerzaust. Mit einer Hand hielt sie ein Stück der Bettdecke über ihre Brüste, mit der anderen schoss sie das Bild. Wunderschön war sie mit ihren vollen Lippen, ihren hohen Wangenknochen und den langen, glänzenden Haaren.

Ein anderes Bild zeigt Chloë und mich auf unseren Bikes, im Hintergrund das Maybachufer. Wir schauten mit großen Augen in die Kamera.

Untertitel: The last ride of the bitches.

Hottieeeee!!!, kommentierte ein Boy.

How cute, ein anderer.

Ich ging weiter. An der Humboldt-Universität lehnte ein Pärchen an der Mauer und hielt sich eng umklammert. Um sie herum ergoss sich der Sommer wie eine überreife Blüte. Das Licht der Straßenlaternen ließ ihre Bewegungen unglaublich sexy aussehen. Die Hand des Mannes lag auf ihrer Brust. Ich wandte den Blick ab.

Vor der Neuen Wache versammelten sich ein paar Obdachlose. Zwei von ihnen lagen, ausgeknipst vom Fusel vor dem verschlossenen Portal. Ein paar andere nuschelten ihren trunkenen Kauderwelsch in die Nacht. Sie unterhielten sich, auch wenn ihr Dialog keinen Sinn machte. Nicht für mich zumindest. Ich trottete weiter.

Am Alexanderplatz schütteten ein paar Snags und Drag-Queens rosaroten Sekt in Plastikbecher. Ihr neonsüßes Brabbeln kitzelte in meinen Ohren. Es roch nach Haarspray und Zuckerwatte.

Wir alle waren zu Schatten mutiert, durch die Unterwelt der großen Stadt pflügend, nicht wissend, wer wir sind und woher wir kamen. Was gottverdammt noch mal der Sinn dieses ganzen obskuren Spiels war.

Wie konnten wir Menschen so leichtfertig mit dieser Bürde umgehen? Als ein Geschöpf geboren zu werden, das nicht wusste, wer es war und was es tun sollte – und sich dessen bewusst war. Weshalb waren wir nicht mit dem seligen Schlummer des Nicht-Wissens bedacht?

Wie Halbwesen trieben wir durch eine Welt, die wir ungeschickt nach unserem Angesicht deformierten.

Ein junges Paar mit kahl geschorenen Köpfen und roten Lederjacken lehnte an einer Laterne. Der Mund der Frau stand offen, ihre Lippen voll und rissig, ihre Pupillen geweitet zu Schwarzen Löchern. Sie waren wohl auf MDMA.

Erfuhren sie Gott? Erhoben sie sich über die Grenzen ihrer Existenz? Oder fielen sie gerade weit dahinter? Wer mochte das beurteilen? Und warum dachte niemand mehr nach?

Seit der europäischen Renaissance setzte sich eine immense Abneigung gegen alle philosophischen, spirituellen und psychologischen Vorstellungen von höheren Prinzipien durch. Das Göttliche wurde immer feindseliger betrachtet. Ebenso das Prinzip der Einheit und das Prinzip der Unteilbarkeit.

Stattdessen gebar sich die Philosophie der Verlorenen: Hyperindividualismus, Gesetzlosigkeit, Verantwortungslosigkeit und völliger Mangel an Integrität. Was für ein globaler Mummenschanz. Niemand mehr fühlt sich einer höheren Idee verpflichtet, niemand mehr wurde von Weisheit ergriffen.

Ich betrat den S-Bahnhof.

Ein Obdachloser kam mir entgegen. Seine langen, verfilzten Haare hingen in sein Gesicht und bedeckten fast vollständig seine Augen. Ein rotgrauer Bart, der wie Eisenwolle aussah, wucherte an seinem Kinn entlang. Er schob einen Einkaufswagen, vollgepackt mit vor Dreck erstarrten Kleidern und Plastiktüten. Das spitze Gesicht eines Hundes lugte aus dem Schlafsack hervor. Am Ende des Einkaufswagens hing eine Flagge der Europäischen Union an einer Eisenstange hinunter.

Der Obdachlose schob den Wagen mit einer Hand. Mit der anderen gestikulierte er wild in der Luft. Sein Zeigefinger stach auf unsichtbare Punkte ein. Ein Grinsen legte die dunkel gefleckten Zähne des Mannes offen.

Ich zuckte zusammen, als er unvermittelt in den Raum sprach.

»Heute Nacht hab’ ich geträumt, ich küss’ die Präsidentin und sie war sehr angetan von mir.« Sein Kichern verpasste mir eine Gänsehaut. »Fritzi, hat sie gesagt, du bist ein mannstoller Kerl. So was brauch’ ich öfter.« Sein Kopf zitterte wie ein Wackel-Elvis, den man sich vorne auf das Armaturenbrett seines Autos klebte. »Aber vielleicht hab’ ich auch was anderes geträumt.« Er gab ein schmatzendes Geräusch von sich.

Dann erblickte er mich und erstarrte.

»Präsidentin«, sagte er. »Was machen ihre Hoheit an diesem verrohten Ort?« Mit seinem Zeigefinger machte er eine missbilligende Geste, dann schlurfte er weiter, etwas Unverständliches brabbelnd.

Partypeople zogen vorbei, während ich dem Alten hinterher starrte. Was hatte ihn zu diesem zwielichtigen Geheimnis der Nacht gemacht? Ich stellte mir vor, wie er in den 50er-Jahren auf den Nachkriegsstraßen spielte. Wie er mit Patronen in der Tasche und toten Mäusen im Kanister nach Hause kam. Welche Gespenster haben dich erlegt, Fritzi?

Ich ging weiter. Meine Gedanken in Sphärenlichtern versunken. Denken, sagte Peter Sloterdijk, ist etwas Ähnliches wie das Navigieren von Schiffen, es hat eine nautische Dimension. Der Philosoph ist somit ein Nautiker, er ist –

Ich stieß hart gegen eine Schulter.

Ein Boy mit einer Burger King-Tüte starrte mich an. Ich stolperte einen Schritt zurück.

»Hey«, rief der Boy. Seine rot geäderten Augen taxierten mich. »Ich bin Richi. Willst du Pommes?«

Neben ihm standen zwei weitere Boys in Skinny Jeans und Vans Sneaker. Sie grinsten.

»Hallo? Ich spreche zu dir. Magst du ein paar Pommes?«

»Nein danke«, erwiderte ich und wandte mich ab.

»Bist du sicher? Sie sind wirklich gut.«

Ich ging weiter.

Der Boy lief mir nach und hielt mir die zerknitterte Tüte unter die Nase. Eine Wolke aus lauwarmen Fett und Alkohol kam mir entgegen. Ich zog die Nase kraus.

»Ignorier ihn nicht«, rief einer seiner Kumpel. »Er ist nett zu dir.«

Ich schlug ihm die Tüte aus der Hand. »Soll ich die Bullen rufen? Idiot?«

»What the fuck.« Der Boy fiel auf die Knie und sammelte die Pommes ein, die verstreut auf dem Boden lagen. Er stopfte sich ein paar in den Mund.

»Schlampe«, brabbelte er undeutlich.

Seine beiden Buddies hielten sich gegenseitig fest vor Lachen.

Ich eilte aus dem S-Bahn-Gebäude. An den Tram-Gleisen verlor ich beinahe das Gleichgewicht und hielt mich im letzten Moment mit der Hand an einem Geländer fest.

»Uh-hu«, hörte ich die Boys hinter mir. Ihr Lachen klang wie das Gurren erstickender Tauben.

Ich hetzte weiter.

Was für Scheißtypen.

Aber ich war auch stolz auf mich. Dass ich nicht eingeknickt war, sondern dem Typen gezeigt hatte, was Sache ist.

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Die warme Luft umschloss mich wie die Fetthaut eines gestrandeten Orcas. Ich bog in eine Straße Richtung Rosenthaler Platz ein. Grüppchen von Menschen schoben sich durch die Straßen. Aus den Kneipen drang Gelächter. Ich hörte ein Glas auf den Boden fallen und der Dunst von Zigaretten und Schweiß flatterte mir entgegen.