Den Vater zur Welt bringen - Hosea Ratschiller - E-Book

Den Vater zur Welt bringen E-Book

Hosea Ratschiller

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Beschreibung

Was ist ein Vater? Wer hat ihn ans Kopfende gesetzt? Und sitzt er dort gut? Mit diesen Fragen wendet sich der Kabarettist Hosea Ratschiller an seinen Vater, den Schriftsteller und Lehrer Klaus Ratschiller. Sie teilen die leidenschaftliche Absicht, den klassischen Vaterbegriff aufzulösen in heutigen Situationen und Tätigkeiten, die sie „vatern“ nennen. So bringen sie den Vater zur Welt. Intim und politisch, komisch, erfinderisch und so aufrichtig wie möglich durchstöbern sie alte und neue Weltbilder und stellen fest: Der Vater ist für Nachkommende der erste Fremde, der bleibt. Und er braucht immer bessere Argumente, wenn Nachkommen diese unübersichtliche Welt bevölkern und befragen. Ein „Vatern der Vielen“ schlagen Ratschillers deshalb vor. Denn Demokratie braucht keine Oberhäupter, aber erhobene Häupter sehr wohl. Sie schreiben einander Briefe, führen intensive Gespräche im Wiener Augarten, erfinden Schreibspiele und sogar einen Mythos vom ersten Vater. Ihr Interesse füreinander und ihre Zuneigung zum Leben machen Mut, sich auf echte Begegnungen mit dem eigenen Vater einzulassen. Ein herzliches Plädoyer für das Erzählen, für Friedfertigkeit und Interesse.

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Inhalt

IVater

Das Geschenk …

Der Name des Vaters …

Das Spiel …

IIRausgehen

Ein neues Wort …

Ursprungstrottel …

Kommen und Gehen …

Abzweigen …

IIIvatern

Körper …

Loslassen …

Unsa

I

Vater

Dezember – Mai

nichts gestehen, nichts verschweigen, einfach bleiben

Das Geschenk

1

Abends habe ich meine Tochter gefragt, was eigentlich ein Vater ist. Die Leselampe war schon aus, der Hobbit wirkte noch nach und meine Frage entfaltete sich nebulöser als die Bergketten von Mittelerde. Umso klarer war ihre Antwort: „Ein Vater ist ein Mann, der ein Kind sehr liebhat.“ Gegrinst habe ich dann natürlich schon. Und vom Fensterbrett aus, im Streulicht der Straßenlaterne, hat der angebissene St. Nikolaus urteilslos zurückgegrinst. Mein Anliegen war sanft entlarvt worden. Ohne Häme wurde mir die Koketterie offenbart, mit der ich meine Tochter nach mir selbst fragte. Und so lag ich dann noch unbeschwerter neben diesem lieben Kind und sortierte meine Gedanken.

Vater werden war nicht schwer. Aber ist das wirklich in jener überschwänglichen Herbstnacht passiert? Nein, es war wohl dieser windige Morgen im August, an dem ich übermüdet zum Standesamt gestolpert bin und mit seligem Lächeln behauptet habe, ein Vater zu sein. Es gab auch eine Mutter, das konnte ich auf Verlangen dokumentieren. Ihr Beitrag zur Geburt war unübersehbar gewesen, erst durch ihre Kraft war alles ans Licht gekommen, nur meine Rolle blieb im Dunkeln. Ja, ich hatte beim Atmen geholfen und Gemütsruhe simuliert, aber die Hebamme war noch entscheidend sachdienlicher gewesen, und trotzdem hatte niemand ihre Vaterschaft auch nur in Betracht gezogen.

Bin ich also tatsächlich in einem zugigen Kreißsaal zum Vater erklärt worden, nur weil ich der einzige Mann im Raum war und bei der Geburt nicht allzu sehr im Weg stand? Oder habe ich die Vaterrolle nicht doch eher an mich gerissen, indem ich ungebeten das Fenster schloss, um meine Tochter vor Erkältung zu schützen, und mit dieser Eigenmächtigkeit alle für sie lebenswichtigen Frauen überging?

Waren das noch menschliche oder schon väterliche Gefühle, die eingesetzt haben, als ich instinktiv das Hemd auszog, um die Neugeborene an meiner Haut zu wärmen, begreifend, dass ich bis an mein Lebensende für sie da sein würde?

Jedenfalls bezeugte die eindeutige Mutter meine Vaterschaft, nur auf unseren gemeinsamen Verdacht hin, was dem Standesamt offenbar Respekt einflößte, und seither trägt dieses Mädchen meinen Namen. Niemand hat jemals angezweifelt, dass ich sie rechtmäßig zum Schwimmkurs anmelde oder zu verantworten habe, dass die Kleine sich in Mittelerde herumtreibt, obwohl sie erst acht Jahre alt ist. Wahrscheinlich gilt als lebendiger Ausweis, dass sie mir sehr ähnlich sieht, vor allem, wenn sie selig lächelnd Nikoläuse köpft. Ja, ich bin der Vater dieses Mädchens, daran kann es keinen Zweifel geben.

Gelassen erwartete meine Tochter den gewohnt robusten Schlaf. Neben ihr entfaltete sich in mir unaufhaltsam die Vielgestalt der Frage, was ein Vater eigentlich genau ist. Eitel plusterte sie sich auf, zeigte sich von allen Seiten und durchwirkte das Einsetzen der wieder einmal wärmsten Dezembernacht der Messgeschichte. Ich war nervös. Es waren nur mehr drei Wochen bis Weihnachten. Und ich brauchte dringend eine Idee.

Abgabetermine sind mir weder fremd noch lästig. Sie geben meinem unruhigen Berufsleben ermutigende Struktur. Aber Weihnachten bleibt trotz aller Routine die aufwühlende Deadline eines jeden Jahres. Alles, was ich heuer geben kann und will, verpacke ich am Vormittag des 24. Dezember so geschickt und elegant, wie mir das gerade möglich ist, und mache es dann den Menschen, die ich liebe, zum Geschenk. Ich will meinen Leuten zeigen, dass sie bemerkt werden, das ganze Jahr über, indem ich zum idealen Zeitpunkt ins Schwarze treffe. Die vielen Sonntage ohne Anruf, die vergessenen Geburtstage, mein Versagen in jeder Spielart des Smalltalks, zu Weihnachten wiege ich all das Versäumte auf und drücke mit durchdachten, unverschämt raumgreifenden Gesten meine vorbehaltlose Mitmenschlichkeit aus.

Dabei werden ohne Scheu meine Unfähigkeiten, Kenntnisse und Sehnsüchte offenbart. Nur von der Bühne ziele ich mit ähnlicher Hingabe auf Wirkung. Die Ideen kommen mir am verlässlichsten beim Spazierengehen, wenn ich mich an etwas Schönes erinnere, aber nicht deutlich genug, und die Gegenwart vervollständigt meine Erinnerung als Lückenfüller. In solchen Momenten bin ich ziemlich sicher, dass mir gerade etwas eingefallen ist.

Natürlich! Neuerdings lebe ich mit zwei weiteren Kindern zusammen. Die sehen einem anderen ähnlich, bekommen aber trotzdem wochentags von mir ihr Frühstück serviert, und ich hätte große Lust, mit deren Mutter irgendwann am Standesamt zu landen. Zusammengezogen sind wir erst vor zehn Tagen, morgen früh werde ich den Haferbrei wieder auf der elektrischen Kochplatte im Wohnzimmer anrühren. Drei Kinder werden dann ganz genau beobachten, in welcher Reihenfolge ich die Teller auf das Bügelbrett stelle, wie die Beeren diesmal verteilt sind und ob ich mir gemerkt habe, wer Zimt will und wer Butter dazu. Ich werde da sein, in unserer neuen Wohnung, und mich bemühen. Auch die Nikoläuse auf den Fensterbrettern im anderen Kinderzimmer habe ich mit Zuneigung ausgesucht, wann sie angebissen werden dürfen, das ist aber nicht mein Bier. Und wenn ich die Fenster der Kleineren schließe, um Zugluft zu vermeiden, bin ich mir nicht sicher, ob meine Fürsorglichkeit gerade eine Grenze überschreitet.

Kein Wunder, dass ich manchmal, so wie jetzt in unseren ersten gemeinsamen Adventtagen, der Frage, was ein Vater eigentlich genau sein soll, unmöglich ausweichen kann, vor allem abends, fast als wäre alles wie immer. Die Deadline im Nacken, irgendwo rund um den Atlaswirbel, lasse ich nicht locker und will es von meiner Tochter noch genauer wissen. Die hat sich aber längst zur Seite gedreht und wiegelt demonstrativ ab. Sie murmelt: „Ein Vater ist ein Mann, der mit einer Frau ein Kind gemacht hat.“ Alles klar. Morgen kriegst du dein Frühstück als Erste. Gute Nacht.

Beim Warten auf leises, regelmäßiges Schnarchen, dieses Sesamöffnedich für das Felsentor zwischen Kinderzimmer und Erwachsenenleben, habe ich, in unser beider Halbschlaf hinein, überlegt, wie ich wohl selbst im Alter meiner Tochter einen Vater beschrieben hätte. In meinen Geschichten waren die Väter abenteuerlustig und genussfreudig wie Kapitän Langstrumpf, weise und warmherzig wie der Erzähler in Pu der Bär, rabiat, aber versöhnlich wie Pumuckls Meister Eder. Als Zweitklässler hätte ich, trotz dieser üppigen Palette, einen typischen Vater wahrscheinlich als strengen Mann mit Hut und Aktentasche gezeichnet, der spät heimkommt, zu einer liebevollen Mutter in Kochschürze. Ich hätte alles richtig machen wollen. Und ich war sicher, die Welt ist voll von diesen Leuten, obwohl sie mir niemals begegnet sind, bis heute nicht. Außerdem wusste ich mit acht Jahren genau, dass der heilige Josef der Vater von Jesus ist, aber irgendwie auch nicht. Ich wusste, dass in Österreich früher die allermeisten Väter Nazis waren, aber dann irgendwie doch nicht. Und ich wusste als Kind auch schon, dass man von einem Vater zwei Kugeln Eis bekommt, die dann sogar noch in Schokolade eingetaucht werden. Ich wusste, dass ein Vater fester schießen kann als jeder Freund, dass er nachts manchmal weint, dass man vereinbarte Uhrzeiten einhalten sollte, dass er eine rot gefärbte Haarsträhne hat, Philosoph ist und dass er mir viele schöne Geschichten vorliest. Denn auch ich habe einen Vater. Aber heuer fällt mir partout nicht ein, was ich ihm zu Weihnachten schenken soll.

Also von vorne. Bei diesem Mann bin ich aufgewachsen. Wir haben 13 Jahre lang zu zweit gewohnt. Als ich volljährig war, ist er ausgezogen. Ich bin das Kind von Außenseitern, der Enkel von Autoritären und der Schulfreund von Gläubigen. Meine Sprachen waren Kärntnerisch und Slowenisch. Von diesen Rändern aus habe ich mich mühsam dorthin durchgewurschtelt, wo ich eine Mitte vermutete. Unterwegs habe ich meine Sprachen beide verloren und ein paar Überzeugungen gewonnen. Mein Drang, alles richtig zu machen, ist immer noch groß.

Heute bin ich zum Beispiel sicher, dass sich die Arbeitswelt, das Internet und Klimafragen durch Demokratie am wahrscheinlichsten in eine tragfähige Ordnung bringen lassen werden. Aber von der Demokratie wird man nicht einfach so berieselt, auch davon bin ich fest überzeugt, sie funktioniert nur dann, wenn man sich an ihr beteiligt. Für diese Beteiligung braucht man weder einen Studienabschluss noch irgendeine andere Erlaubnis. Was man jetzt schon weiß, was man bisher erfahren und erlebt hat, ist genug, es ist ausreichend, um sich ausdrücken zu dürfen. Lernen schadet nicht, aber man hat zu jedem Zeitpunkt volle Aufmerksamkeit verdient. Noch so eine Überzeugung von mir. Aber was soll ich auch sonst sagen, als Kabarettist. Ich verdiene mein Geld damit, abends zu erzählen, was ich jetzt schon weiß, was ich bisher erfahren habe und was ich von Tag zu Tag erlebe. Menschen zum Lachen zu bringen ist ein schöner Beruf, man darf nur den Mut nicht verlieren. Demokratie ist keine sichere Sache.

Als Kinderloser war ich weitgehend unbelasteter Konsument der staatlichen Ordnung und meiner ungeheuerlichen Privilegien als Österreicher. Große Töne von der Revolution habe ich gespuckt, bevor mir klar wurde, wie radikal erschöpft man sein kann, und dass man dann aber trotzdem noch Windeln wechseln muss. Ich bin ein Wohlstandskind.

Geburtsurkunde und Staatsbürgerschaft waren zernudelte Zettel voller Tassenränder, die ich zwischen Rechnungen und Magazinen kaum finden konnte, als ich am Standesamt zum Vater gestempelt werden sollte. Dafür hatte ich dann aber auch meinen Taufschein dabei. Als ich meine Dokumente, die notwendigen und die überflüssigen, überreichte, war mir, als würde die Beamtin, so wie ich selbst, durchschauen, dass diese Urkunden einen Hosea Ratschiller auswiesen, der wenig mehr war als eine Behauptung. Auf dem Papier hatte ich Distanz zu mir selbst.

Zu dieser Zeit fiel es mir leichter als heute, Lebensfeindlichkeit und Stumpfsinn der Leistungsgesellschaft unbeschwert zu kommentieren.

Als Vater bin ich traurig und zornig, wenn das Pensionssystem Frauen systematisch benachteiligt und in Altersarmut treibt. Ja, Idealismus ist anders, aber das Politische erschüttert mich erst wirklich, seit meine Tochter auf der Welt ist. Für das wendige Umschiffen von Klischees fehlt mir neuerdings die Kraft, ich stehe mit beiden Beinen mittendrin.

Ich bin ein müder, zorniger Vater. Und ich empfinde es als meine Pflicht, an Stadt und Land teilzunehmen. Aber wie? Geschichten haben mich immer fasziniert, Mythen und Wunder. Die Klimakatastrophe, künstliche Intelligenz und Österreichs Bundesverfassung sind im Kreise meiner Leidenschaften relativ neu.

Ideen wie die von Menschenrechten, von der Vorläufigkeit allen Wissens oder einer kritischen Öffentlichkeit haben mir geholfen, den Weg zur Mitte anzupeilen. Wenn all das, was mir zentral scheint, unter dem Jubel einer wachsenden Gemeinde von Gläubigen, an den Rand gedrängt wird, dann lebe ich in wachsender Sorge, die sich körperlich auswirkt. Beweisen kann ich meine Eindrücke von der Welt selten, nicht einmal die von Wien, aber ich versuche unter hohem Aufwand, sie zu argumentieren. Dabei pflege ich aufrichtig meine Bereitschaft dafür, dass mich Klügere, Erfahrenere oder Belesenere vom Gegenteil überzeugen. Ich möchte gern ein Vernünftiger sein.

Aber, wenn ich bemerke, für den Staat, den eine Mehrheit sich wünscht, wird ein Möchtegern wie ich gar nicht gebraucht, dann nimmt mir das Luft und Raum. Mein Anlauf zum Staatsbürger war lang und ich will es eigentlich gerne bleiben. Vielleicht ist das ja ein Vater, ein Erschütterbarer.

Meiner ist es jedenfalls ganz sicher. Der Klaus ist der gescheiteste Mann, den ich kenne. Es gibt Menschen, von denen kann man viel lernen. Aber, nachdem man mit meinem Vater geredet hat, ist man lieber auf der Welt. Man muss ihm allerdings zuhören wollen, weil aufdrängen tut er sich nicht. Als Kind hatte ich mit seiner Zurückhaltung große Probleme. Ich wollte, dass mein Vater erfolgreich ist, dass alle sehen, was er für schöne Gedanken hat. Aber anstatt sich selbst durchzusetzen, hat er immer alles um sich herum gelten lassen, höflich und liebevoll. Im Rückblick wird klar, wie sehr ich davon profitiert habe. Aber der Wunsch des Kindes war, dass mein Vater im Anzug Vorträge halten würde. Und zu Weihnachten hat er sich, mir zuliebe, sogar einmal eine Krawatte umgehängt. Ja, zu Weihnachten wurden immer schon große Geschenke gemacht. Die selbstbewusste Einmischung ins Öffentliche, die ich mir tatsächlich von ihm erhofft habe, ist aber nie unter dem Christbaum gelegen.

Mein Vater mag seine Hemmungen. Und ich habe gelernt, sie zu lieben. Er kann seine Zurückhaltung mindestens so leidenschaftlich argumentieren wie ich meine Meinungen. So ist im Laufe unseres gemeinsamen Lebens ein Austausch entstanden, der mich fordert, inspiriert und mir lange Maß aller Dinge war. Inzwischen hat mein Vater tatsächlich ein paar seiner Geschichten veröffentlicht. Aber sogar dabei hat er sich zurückgehalten. In diesem Punkt unterscheiden wir uns grundsätzlich.

Als Kind schon habe ich Publikum gesucht und gefunden. Mit sieben war der Musiker Prince mein Vorbild. Gesungen und getanzt habe ich aber nie für mich allein. Heute bin ich sicher, dass es bei meinen Faxen immer auch ein bisschen darum gegangen ist, die Ideen meines Vaters zu verwirklichen. Der hat ein Leben lang gelesen. In unseren Wohnungen gab es nicht immer einen Kleiderschrank, aber die Räume waren bis zur Decke voller Bücher. Das Akademische, die Hochkultur und das Intellektuelle waren für mich nie ein anziehender Rahmen, vielleicht auch, weil der Zugang zu all dem für mich immer selbstverständlich vorhanden war. Als Jugendlicher wollte ich nie Teilnehmer einer offiziellen Kultur werden, sondern das, was da war, all das Bedeutungsvolle, immer nur aufbrechen, verspotten oder entlarven. Vielleicht war das die simple Rebellion des naseweisen Akademikerkindes, hanebüchenes Schülerkabarett. Womöglich steckte hinter meiner Entscheidung für die Showbühne aber auch eine Idee. Wenn mein Vater spannende Sachen gesagt hat, dann war mein Impuls, ich will das allen weitererzählen. Sonst wäre ich womöglich nicht Kabarettist geworden. Ich finde es albern zu leugnen, dass Eliten existieren und dass Kultur sogar elitäre Biotope braucht. Aber, wenn Demokratie funktionieren soll, dann muss neben dem Geld auch das Schöne, Interessante und Sinnvolle seine Wege hinauf und hinunter finden.

Mir selber reichen Stichworte, und ich fange schon an zu tanzen und zu springen, mein Vater aber will das Lexikon sein. Zeit meines Lebens war er für mich da, hat sich aufschlagen lassen und ich durfte blättern, auf den Seiten rumkritzeln, dann und wann sogar welche rausreißen. Wie man mit einem Kind redet, das habe ich von meinem Vater gelernt.

Wahrscheinlich haben meine Tochter und ich deshalb keine Angst vor Gesprächen, albernen und ernsten. Wir können nicht gut miteinander spielen, aber Worte, Stimmen und Geschichten, das ist unsere Welt. Vor dem Einschlafen sind bei uns die abstrakten Themen dran. Urknall, Eifersucht und Italien. Über solche Sachen reden wir mit geschlossenen Augen, Kopf an Kopf. Nach dem Zähneputzen beflügelt uns Erleichterung und keine große Frage scheint mehr unberührbar. Dann lesen wir gemeinsam ein paar Seiten und anschließend trauen wir uns jeden Gedanken zu.

An diesem Nikolausabend in der neuen Wohnung genossen wir erleichtert das gemeinsame Schweigen. Der robuste Schlaf meiner Tochter erlöste uns von der leichten Turbulenz, die ich unserem Weg ins Träumeland zugemutet hatte. Als ich ihr Zimmer verließ, war mir klar, was ich dem Klaus zu Weihnachten schenken will. Wir schreiben gemeinsam ein Buch. Wär doch gelacht, wenn man so einen Vater nicht zur Welt bringen kann.

2

Wir verpacken für unser Leben gerne. Manchmal mit feinen Papieren und erlesenen Bändern, dann wieder plustern sich die kleinsten Schachteln oder Briefchen mittels greller Umhüllung auf, oder jemand versucht es diesmal ganz ohne Klebstoffzusatz und ausschließlich mit Alltagsmaterialien wie Zeitungen oder alten Hefteinbänden. Schlichtheit, eine weitere Möglichkeit, verlangt die allergrößte Sorgfalt.

Und ausgepackt wird langsam. Sehr langsam. Alle schauen bei jedem der Geschenke zu, was zur Geduldsfrage werden kann. Vielleicht greift dann doch jemand helfend ein und die Zuschauenden äußern mehr oder weniger ernstgemeinte Vermutungen, was den Inhalt betrifft. Ein Geschenk ist ein Einfall, nichts Ausgedachtes. Und als Einfall überschreitet es Grenzen, kümmert sich nicht um Festgefügtes.

Unter solchen Bedingungen sitze ich also hier – hinter mir der Weihnachtsbaum, zerfleddertes Seidenpapier, jedes Jahr der viel zu mächtige, sanft schwankende Haufen loser Hüllen, durchzogen von glitzernden Bändern. Auf dem Tisch die heuer besonders guten Weine, zum ersten Mal steirischer Gin, auch Tee und Kindersekt, Wasser. Der Käse zerrinnt bereits, weil es schon spät ist. Trauben, Feigen und Flugmangos, diese Wortreihe wird von Hoseas Tochter und meiner, die eineinhalb Jahre älter als sie ist, mit allergrößter Ironie bis zur Schlafenszeit wiederholt. Und nun kommen auch schon die teils selbstgebackenen, teils bekanntermaßen besten Kekse der Stadt. Ich spüre die Blicke: „Jetzt du!“

Die anderen lächeln sich vielsagend und mir aufmunternd zu. Sie sind die, die wissen, was ich auspacken werde, und die gespannt sind, was der Ahnungslose dazu sagen könnte. Ich öffne das Briefkuvert, einfacher geht es nicht: Das Kuvert ist die Verpackung und umhüllt einen Brief, dessen Inhalt von den beiden Mädchen aufgeregt als Hauptgeschenk angekündigt worden ist. Ich lese den kleinen Text meines Sohnes, der darin in wenigen Worten von sich erzählt, vom Chaos und von der Wichtigkeit des richtigen Schreibzeugs, vom mich Gernhaben und davon, dass er mit mir etwas schreiben will, dass es bereits einen interessierten Verlag gebe und dass es darin um das Vatersein gehen solle. Der vorletzte Satz lautet: Ich hoffe, du hast Lust. Der letzte ist einfach, schön und ein Geschenk in sich, nur für mich.

Währenddessen sitzen sie da, meine Frau und unsere Tochter und mein Sohn und seine Tochter, und warten. Schauen mich an. Wenn es sowas wie Weihnachtsstille gibt, dann ist das jetzt eine. Was wird der Beschenkte sagen? Natürlich ist der Moment zum Weinen und zum Schreien schön – kurz noch in Schwebe zwischen länger, sehr lange noch schweigen und jetzt, jetzt sofort zu sprechen beginnen – und ich lese die Karte ein zweites Mal, aber nun laut vor, meine Stimme zittert. Auch meine Stimme.

Weihnachten ist immer ein guter Tag für uns gewesen, für meinen Sohn und mich und wahrscheinlich auch für die, die nicht immer dabei waren, manche sind irgendwann nicht mehr gekommen, andere kamen dazu. Wir mögen Geschenke. Zu Weihnachten geht es um die Geschenke! Das würde ich jedem Kind vorbehaltlos sagen. Und es geht um das Drumherum. Schenken ist Kraft-, manchmal auch Geduldssache oder eine Angelegenheit des Bastelns. Wir erfinden und bezeugen auf diese Weise, wie wir einander mögen und lieben. So erträumen wir uns ein Zusammenleben.

Beschenkt zu werden, etwas anzunehmen, etwas, das, wenn es richtig ist, nicht sofort wie angegossen sitzt, sondern sich wie alles, was wichtig wird, zuerst fremd anfühlt, und das manchmal verwundert und mitunter auch ängstigt, verlangt die Kräfte des Annehmens. Es gilt, die Schleife auseinanderzuziehen, das Geschenk zu öffnen, den Punkt, der einen trifft, auseinanderzuziehen wie ein Seidenpapierkügelchen, das eine Welt enthält. Das Geschenk ist eine gefaltete Ebene.

Und seit diesem Moment habe ich mit dem Kügelchen zu tun, das mich dazu eingeladen hat, darüber zu schreiben, wie zwei Väter, die auch Vater und Sohn sind, über das Vatersein nachdenken können. Was sie dazu zu sagen haben. Hosea hat mir, gleich nach dem Verlesen des Textgeschenks in die erneut eintretende und möglicherweise noch erwartungsvollere Stille hinein, Bedenkzeit eingeräumt, hat gesagt, dass ich nicht sofort antworten muss, dass ich es mir gut überlegen soll. Es war mir sehr klar, dass nur ein Ja gilt und dass das jetzt und sofort gesagt werden muss. Es ist ein Geschenk, das man nicht ablehnen kann.

Aber ich zuckte zurück, wie vielleicht immer schon im ersten Moment der Berührung, der Zärtlichkeit, auf jeden Fall wie immer, wenn ein zu großes Thema auftaucht. Im Leben hätte ich nicht gedacht, jemals über das Vatersein zu schreiben, geschweige denn, es zu wollen. Und natürlich blitzte beim ersten Lesen böse auf, dass Hosea bezüglich meiner Art und Weise, sein Vater zu sein, auch sehr schwierige Zeiten hatte. Ich auch. Nichts gestehen, nichts verschweigen und einfach bleiben, du bist der Beschenkte. Das waren meine ersten Gedanken, eine Art Blitzpoetik zur Arbeit am Vater-Thema.

Weihnachten gilt in den Kulturwissenschaften als das Hauptfest der Ambivalenz, geradezu als eine Festung, die über dem Abgrund schwebt. Dieses Fest ist aus mehr oder weniger bedeutungstragenden, irgendwo geklauten Elementen zusammengebastelt, zu denen, wie berichtet wird, nicht nur die Geburt eines Gottessohnes, sondern vor allem auch unzählige Geschichten von Kindsmorden gehören. Und doch: Dieses Fest, diese Erfindung, wenn nicht gar Lüge, erweist sich als haltbar, die Kritik daran ist Hosea und mir immer recht gegenstandslos erschienen. Unser Weihnachten ist eine Behauptung, die stets das Gute schafft, weil sie es will.

Im Unterschied zu der Weihnachtsaffirmation meines Sohnes wurzelt meine allerdings im religiösen Quellgebiet. Wo ich herkomme, ist es äußerst katholisch zugegangen. Die Gefühls- und Gedankenlage meiner Eltern, besonders die meines Vaters, war vom Widerstand gegen die Verweltlichung der Welt beseelt. Das Überwältigende einer religiösen Kindheit sind nicht nur die dabei erlittenen lebenslangen Schädigungen, sondern, wenn man es überlebt, die Erfahrung einer alle Körperregungen und Bestrebungen durchwirkenden Bedeutsamkeit von allem.

Dass Gott, der himmlische Vater, alles sieht, ist natürlich blöd, aber die Tatsache, dass alles mit Gott zu tun hat, jede Geste, jeder Wollfaden, jedes verglimmende Licht, jeder Ton und jede Regung, dass wirklich alles feierlich und großartig und schrecklich werden kann, weil es mit dem Göttlichen zu tun hat, dieser Totalitarismus hat auch erhebendes Potential und der so ergriffene Kinderkörper glüht. Kindsein heißt von Gott Vater wahrgenommen werden.

Weihnachten war die Belohnung für die Jahr für Jahr intensiven Vorbereitungsarbeiten im Advent. Es schmerzte längst einiges vom Beten. Der Rosenkranz ist die Hölle für einen langsam erstarrenden Bubenkörper, nur ein Kügelchen bewegt sich in deiner Hand, und die Gebete dringen in einen und aus einem, die unendlichen. Es dauert alles unerträglich lang, bis Gott-Sohn endlich in der Krippe liegt!

Von der fünfköpfigen oder durch die Großeltern oder auch eine Tante vermehrte Familie wurden sonntags schöne Lieder gesungen. Maria durch ein Dornwald ging. Kyrie eleison. Ich stellte mir Marias weiße Haut vor und die Dornen, ein Gespenst zwischen stacheligen Baumstämmen. Während ich in die Lichter der Adventskerze starrte, wartete ich darauf, die Kerzen endlich ausblasen und vielleicht sogar die Fingerkuppe ins heiße Wachs legen zu dürfen, was nicht gern gesehen wurde. Auch die Tatsache, dass man einen Wollfaden in ein kleines Schächtelchen legen konnte, wenn man einen Tag lang brav gewesen war, und diese in der Adventszeit gesammelten Wollfäden dann das Christuskind in der Krippe weicher liegen ließen, war nicht harmlos. Und ich wartete träumend auf die Geschenke, obwohl es natürlich um das größte Geschenk überhaupt ging, die Menschwerdung Gottes. Was trug Maria unter ihrem Herzen? Kyrie eleison. Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen, das trug Maria unter ihrem Herzen. Das Leben sei das größte aller Gottesgeschenke. Ich hatte keine Wahl und nahm an, dass das stimmte. Bewaffnete Indianer wären mir allerdings lieber gewesen.

Die Krippe meiner Kindheit hatte mein Vater gemeinsam mit meiner Mutter gebastelt. Das Häuschen war mit Rinde gedeckt, im Giebel der Stern mit Schweif und die Heilige Familie aus Sperrholz. Das Kindlein gebettet auf struppigem, von ein paar Wollfäden durchzogenem Stroh. Die Figuren, zu denen noch zwei Hirten und zwei Schafe, Ochs und Esel kamen, habe, der Legende nach, mein Vater gezeichnet und ausgesägt, die Mutter, die nicht zeichnen hätte können, habe sie dann fein ausgemalt. Ich war „zu jener Zeit“ ahnungslos, insofern war dieser elterliche Schöpfungsakt ein rarer Bericht über das, was vor meiner Geburt geschehen sein könnte, und das Schema für Überlegungen, was wohl zu meiner Geburt geführt haben mag.

Mein Vater hatte handwerkliches Geschick. Ich erinnere mich an den Puppenkasten für meine zwei Jahre ältere Schwester und daran, dass er ihn, wegen des unvermeidlichen Baulärms spät in der Nacht – dann, wenn alle Kinder schlafen –, zusammengebaut habe, und ich sehe das Matador-Riesenrad noch vor mir, das er, was damals mein Hauptgeschenk war, zusammengebaut hatte. Deswegen die Blasen auf den Fingern, die er uns Kindern zeigte.