Der Friedhof der vergessenen Bücher - Carlos Ruiz Zafón - E-Book

Der Friedhof der vergessenen Bücher E-Book

Carlos Ruiz Zafón

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Beschreibung

Eine letzte Reise in die magische Erzählwelt von Carlos Ruiz Zafón Der Friedhof der vergessenen Bücher ist der geheimnisvolle Ort, um den das gesamte Erzähluniversum von Carlos Ruiz Zafón kreist: Eine tief unter Barcelona verborgene Bibliothek, in der die Bücher darauf warten, ihre Seele an ihren Leser weiterzugeben. Im 2001 erschienenen Roman »Der Schatten des Windes« entführte uns Carlos Ruiz Zafón zum ersten Mal in dieses magische Labyrinth und schuf einen Weltbestseller. Zafóns letztes Projekt war es, diesen Ort in Erzählungen weiter wachsen zu lassen. Es entstand ein Geheimfach von Geschichten, das hier zum ersten Mal vollständig geöffnet wird. Es war sein großer Wunsch, diese Texte in einem Buch zu sammeln, nun wurde es zum letzten Geschenk an seine Leser und Leserinnen. Mit sieben bislang unveröffentlichten Erzählungen.

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Seitenzahl: 197

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Carlos Ruiz Zafón

Der Friedhof der vergessenen Bücher

Erzählungen

 

Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen und Peter Schwaar

 

Über dieses Buch

 

 

Der Friedhof der vergessenen Bücher ist der geheimnisvolle Ort, um den das gesamte Erzähluniversum von Carlos Ruiz Zafón kreist: Eine tief unter Barcelona verborgene Bibliothek, in der die Bücher darauf warten, ihre Seele an ihren Leser weiterzugeben.

 

Sein letztes Projekt war es, diesen Ort in Erzählungen weiter wachsen zu lassen. Es entstanden Geschichten, die hier zum ersten Mal vollständig veröffentlicht werden. Es war sein großer Wunsch, diese Texte in einem Buch zu sammeln, nun wurde es zum letzten Geschenk an seine Leser.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Carlos Ruiz Zafón wurde 1964 geboren in Barcelona und starb 2020 mit nur 55 Jahren in Los Angeles. Seine ersten Erfolge feierte er mit drei Schauerromanen, auf die der Roman »Marina« folgte, der wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand. Die Krönung seines Werkes bilden die bewunderten Romane um den Friedhof der vergessenen Bücher, die Millionen Leser auf der ganzen Welt fanden: »Der Schatten des Windes«, »Das Spiel des Engels«, »Der Gefangene des Himmels« und »Das Labyrinth der Lichter«.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Kurz darauf verlieren sich Vater und Sohn, Dunstgestalten, im Gedränge auf den Ramblas, ihre Schatten gehen für immer unter im Schatten des Windes.

Blanca und der Abschied

(Aus den niemals stattgefundenen Erinnerungen eines gewissen David Martín)

1

Ich habe schon immer die Fähigkeit mancher Menschen zum Vergessen beneidet, für die die Vergangenheit wie Winterkleidung oder ein Paar alter Schuhe ist – man muss sie nur ganz hinten in den Kleiderschrank verbannen, damit sie nicht auf leisen Sohlen zurückkommen können. Ich hingegen hatte das Pech, mich an alles und jedes zu erinnern und umgekehrt jedem in Erinnerung zu bleiben. Ich erinnere mich an eine frühe Kindheit voller Kälte und Einsamkeit, untätige Stunden, in denen ich das Grau der Tage betrachtete und jenen schwarzen Spiegel, der den Blick meines Vaters verhexte. An Freunde erinnere ich mich kaum. Ich kann die Gesichter anderer Kinder aus dem Ribera-Viertel heraufbeschwören, mit denen ich manchmal auf der Straße spielte oder mich prügelte, aber es ist keines darunter, das ich aus dem Land der Gleichgültigkeit zurückholen wollte. Keines außer jenem von Blanca.

Blanca war vielleicht ein, zwei Jahre älter als ich. Ich lernte sie an einem Apriltag vor dem Hauseingang kennen, als sie an der Hand eines Dienstmädchens vorbeikam, das ein paar Bücher in dem kleinen Antiquariat gegenüber der im Bau befindlichen Konzerthalle abholen sollte. Der Zufall wollte es, dass die Buchhandlung an jenem Tag erst um zwölf öffnete, das Dienstmädchen aber bereits eine halbe Stunde früher da war. So blieb ein Meer des Wartens von dreißig Minuten, die, ohne dass ich es ahnte, mein Schicksal besiegeln sollten. Von mir aus hätte ich es niemals gewagt, das Wort an sie zu richten. Ihre Kleidung, ihr Duft und ihre vornehme Erscheinung eines reichen Mädchens, das in Seidentüll förmlich versank, ließen keinen Zweifel daran, dass dieses Geschöpf nicht in meine Welt gehörte und ich noch viel weniger in die ihre. Zwischen uns lagen nur ein paar Schritte, aber eine himmelweite Kluft unsichtbarer Gesetze. Ich beschränkte mich darauf, sie anzusehen, wie man heißbegehrte Dinge in einer Vitrine oder dem Schaufenster eines dieser Geschäfte bestaunt, deren Eingangstüren scheinbar einladend offen stehen, während man doch weiß, dass man niemals ihre Schwelle überschreiten wird. Ich habe oft gedacht, dass ich Blanca niemals aufgefallen wäre, hätte mein Vater nicht solchen Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild gelegt. Mein Vater war der Ansicht, dass er im Bürgerkrieg genug Schmutz und Elend für neun Leben gesehen habe, und obwohl wir arm waren wie Bibliotheksmäuse, hatte er mir von klein auf beigebracht, mich an das eiskalte Wasser zu gewöhnen, das auf Wunsch aus dem Hahn des Waschbeckens sprudelte, und an diese Seifenklötze, die nach Lauge rochen und sogar das schlechte Gewissen abwuschen. Und so kam es, dass ein gewisser David Martín mit seinen knapp acht Jahren, ein pieksauberer Habenichts und zukünftiger Aspirant auf ein Dasein als drittklassiger Literat, die Selbstsicherheit besaß, nicht wegzusehen, als dieses hübsche Mädchen aus gutem Hause seinen Blick auf ihn richtete und schüchtern lächelte. Mein Vater hatte mir immer gesagt, dass man es den Leuten im Leben mit gleicher Münze zurückzahlen müsse. Er meinte damit Ohrfeigen und andere Demütigungen, doch nun beschloss ich, seinen Ratschlägen zu folgen, indem ich das Lächeln erwiderte und noch ein leichtes Nicken als Trinkgeld drauflegte. Sie kam langsam auf mich zu, musterte mich von oben bis unten, bot mir ihre Hand – eine Geste, die mir noch nie begegnet war – und sagte:

»Ich heiße Blanca.«

Blanca hielt mir die Hand hin wie die feinen Damen in Salonkomödien: den Handrücken mit der Nachlässigkeit einer jungen Pariserin nach oben gekehrt. Ich kam nicht auf die Idee, dass es nun angezeigt gewesen wäre, mich vorzubeugen und sie mit den Lippen zu streifen. Nach einer Weile zog Blanca die Hand zurück und hob eine Augenbraue.

»Ich bin David.«

»Bist du immer so unhöflich?«

Ich arbeitete an einem rhetorischen Ausweg, um den Eindruck des ungebildeten Tölpels durch eine geistreiche Erwiderung wettzumachen, als das Dienstmädchen mit konsternierter Miene näher kam und mich musterte wie einen tollwütigen Straßenköter.

»Mit wem reden Sie da, Fräulein Blanca? Sie wissen doch, dass es Ihrem Vater nicht gefällt, wenn Sie mit Fremden sprechen.«

»Er ist kein Fremder, Antonia. Das ist mein Freund David. Mein Vater kennt ihn.«

Ich stand wie versteinert da, während das Dienstmädchen mich schief ansah.

»David wie?«

»David Martín, zu Ihren Diensten.«

»Antonia braucht niemanden, der ihr dient. Sie dient uns. Stimmt’s, Antonia?«

Es war nur ein Augenblick, eine kleine, fast unmerkliche Regung, die mir nur deshalb auffiel, weil ich sie aufmerksam beobachtete. Antonia warf Blanca einen düsteren, von Hass vergifteten Blick zu, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, bevor sie ihn hinter einem ergebenen Lächeln verbarg und die Sache mit einem Kopfschütteln abtat.

»Kinder«, murmelte sie und trat den Rückzug zur Buchhandlung an, die in diesem Moment ihre Pforten öffnete.

Blanca machte Anstalten, auf der Türschwelle Platz zu nehmen. Selbst ein Tölpel wie ich wusste, dass ihr Kleid keinesfalls mit den unwürdigen, verrußten Materialien in Kontakt kommen durfte, aus denen mein Zuhause gebaut war. Ich streifte meine flickenbesetzte Jacke ab und breitete sie wie eine Fußmatte auf dem Boden aus. Blanca ließ sich mit einem Seufzen auf meinem besten Kleidungsstück nieder und blickte auf die Straße und die vorbeieilenden Passanten. Antonia sah vom Eingang der Buchhandlung zu uns herüber und ließ uns nicht aus den Augen. Ich tat so, als würde ich es nicht bemerken.

»Wohnst du hier?«, erkundigte sich Blanca.

Ich deutete auf das Nachbarhaus und nickte.

»Und du?«

Blanca sah mich an, als wäre das die dämlichste Frage, die sie in ihrem kurzen Leben gehört hatte.

»Natürlich nicht.«

»Magst du das Viertel nicht?«

»Es stinkt, es ist düster und kalt, und die Leute sind hässlich und laut.«

Es wäre mir nie eingefallen, die Straßen, die meine Welt waren, so zu beschreiben, aber mir wollten auch keine überzeugenden Gegenargumente einfallen.

»Warum kommst du dann her?«

»Mein Vater hat ein Haus in der Nähe des Borne-Marktes. Antonia und ich gehen ihn fast jeden Tag besuchen.«

»Und wo wohnst du?«

»In Sarriá. Bei meiner Mutter.«

Selbst ein armer Schlucker wie ich hatte schon einmal von diesem Ort gehört, aber ich war noch nie dort gewesen. In meiner Vorstellung war es eine Stadt mit großen Villen und Lindenalleen, prächtigen Kutschen und üppigen Gärten. Eine Welt, bewohnt von Menschen wie diesem Mädchen, nur als Erwachsene. Ein duftender, heller Ort mit frischer Luft und gutgekleideten, zurückhaltenden Bewohnern.

»Und wie kommt es, dass dein Vater hier lebt und nicht bei euch?«

Blanca zuckte mit den Schultern und sah weg. Das Thema schien ihr unangenehm zu sein, also hakte ich lieber nicht nach.

»Es ist nur vorübergehend«, schob sie hinterher. »Bald kommt er wieder nach Hause.«

»Klar«, sagte ich. Ich wusste nicht genau, wovon wir eigentlich redeten, schlug aber den mitfühlenden Ton eines Menschen an, der schon unglücklich zur Welt gekommen war und allen Grund hatte, sich mit Resignation auszukennen.

»Das Ribera-Viertel ist gar nicht so verkehrt, du wirst sehen. Du gewöhnst dich schon daran.«

»Ich will mich aber nicht daran gewöhnen. Ich mag dieses Viertel nicht und auch nicht das Haus, das mein Vater gekauft hat. Ich habe keine Freunde hier.«

Ich schluckte.

»Ich kann dein Freund sein, wenn du willst.«

»Und wer bist du?«

»David Martín.«

»Das hast du vorhin schon gesagt.«

»Vermutlich bin ich jemand, der auch keine Freunde hat.«

Blanca drehte sich um und sah mich mit einer Mischung aus Neugier und Zurückhaltung an.

»Ich spiele nicht gern Verstecken. Und Ballspielen mag ich auch nicht«, bekannte sie.

»Ich auch nicht.«

Blanca lächelte und hielt mir erneut die Hand entgegen. Diesmal gab ich mir größte Mühe, sie zu küssen.

»Magst du Geschichten?«, fragte sie.

»Nichts mag ich lieber.«

»Ich weiß ein paar, die kaum jemand kennt«, sagte sie. »Mein Vater schreibt sie für mich.«

»Ich schreibe auch Geschichten. Also, ich denke sie mir aus und lerne sie auswendig.«

Blanca runzelte die Stirn.

»Dann erzähl mir eine.«

»Jetzt?«

Blanca nickte herausfordernd.

»Ich hoffe, es ist keine Prinzessinnengeschichte«, drohte sie. »Ich hasse Prinzessinnen.«

»Na ja, es kommt eine Prinzessin vor … Aber sie ist sehr böse.«

Ihr Gesicht hellte sich auf.

»Wie böse?«

2

An jenem Morgen wurde Blanca meine erste Leserin. Mein erstes Publikum. Ich erzählte ihr, so gut ich es vermochte, meine Geschichte von Prinzessinnen und Hexern, Zaubersprüchen und vergifteten Küssen in einem verwünschten Universum, wo zum Leben erwachte Paläste wie infernalische Bestien durch die Ödnis einer finsteren Welt krochen. Als die Heldin am Ende der Geschichte mit einer verfluchten Rose in den Händen in den eisigen Tiefen eines schwarzen Sees versank, bestimmte Blanca für immer den Lauf meines Lebens, als sie eine Träne vergoss und tief bewegt, völlig losgelöst vom äußeren Anschein eines Mädchens aus gutem Hause, murmelte, dass sie meine Geschichte ganz wunderbar gefunden habe. Ich hätte mein Leben dafür gegeben, dass dieser Moment niemals vorüberginge. Als Antonias Schatten vor unsere Füße fiel, wurde ich in die prosaische Realität zurückgeworfen.

»Wir müssen los, Fräulein Blanca. Ihr Vater mag es nicht, wenn wir zu spät zum Essen kommen.«

Das Dienstmädchen zerrte sie von mir weg und führte sie die Straße hinunter. Ich blickte ihr nach, bis ihre Gestalt sich in der Ferne verlor, und sah, wie sie mir zuwinkte. Ich hob meine Jacke auf und zog sie wieder an. Blancas Wärme und ihr Geruch waren noch immer zu spüren. Ich lächelte in mich hinein, und auch wenn es nur für einige Sekunden war, begriff ich, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben glücklich war und von nun an, da ich zum ersten Mal von diesem Gift gekostet hatte, nichts mehr sein würde wie vorher.

Als wir an diesem Abend bei Brot und Suppe saßen, sah mich mein Vater ernst an.

»Du wirkst verändert. Ist was passiert?«

»Nein, Papa.«

Ich ging bald zu Bett, um der trübseligen Stimmung zu entgehen, die mein Vater verbreitete. Während ich im dunklen Zimmer lag, dachte ich an Blanca und an die Geschichten, die ich für sie erfinden wollte, und mir wurde klar, dass ich weder wusste, wo sie wohnte, noch wann ich sie wiedersehen würde. Wenn überhaupt.

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, nach Blanca Ausschau zu halten. Nach dem Frühstück, sobald mein Vater eingeschlafen war oder die Tür zu seinem Schlafzimmer schloss, um sich seinem persönlichen Vergessen anheimzugeben, verließ ich das Haus und ging zum tiefer gelegenen Teil des Viertels, um durch die engen, finsteren Gassen rings um den Paseo del Borne zu streifen, in der Hoffnung, Blanca oder ihrem unheimlichen Dienstmädchen zu begegnen. Bald kannte ich jeden Winkel und jeden Schatten dieses Labyrinths aus Straßen, deren Mauern sich einander zuzuneigen schienen, um sich zu einem Tunnelgeflecht zu schließen. Ausgehend von der Basilika Santa María del Mar, bildeten die Gassen der mittelalterlichen Zünfte ein Wegenetz, das sich zu einem Gewirr aus Durchgängen, Bögen und unwahrscheinlichen Kehren verzweigte, in das nur wenige Minuten am Tag Sonnenlicht drang. Wasserspeier und Wandreliefs markierten die Kreuzungen zwischen verfallenen Palästen und Gebäuden, die sich übereinanderschoben wie Felsen an einer Steilküste aus Fenstern und Türmen. Wenn ich bei Einbruch der Dunkelheit erschöpft nach Hause kam, war mein Vater gerade wach geworden.

Am sechsten Tag, als ich schon zu glauben begann, dass ich die Begegnung nur geträumt hatte, ging ich durch die Calle de los Mirallers zum Seiteneingang der Kirche Santa María del Mar. Dichter Nebel hatte sich über die Stadt gesenkt und wehte durch die Straßen wie ein weißer Schleier. Das Kirchenportal stand offen. Im Eingang zeichneten sich die Umrisse eines Mädchens und einer Frau in weißen Kleidern ab, die gleich darauf in der Umarmung des Nebels verschwanden. Ich rannte hin und betrat die Basilika. Der Luftzug sog den Nebel ins Innere des Gebäudes. Ein gespenstisches Tuch aus Dunst schwebte über den Bankreihen des Mittelschiffs, das vom Schein der Kerzen erleuchtet wurde. Ich erkannte Antonia, das Dienstmädchen, das mit bußfertiger Miene in einem der Beichtstühle kniete. Todsicher war die Beichte dieser Hexe so schwarz und klebrig wie Teer. Blanca saß mit baumelnden Beinen in einer Bank und wartete, den Blick gedankenverloren auf den Altar gerichtet. Als ich mich näherte, fuhr sie herum. Ihr Gesicht erhellte sich bei meinem Anblick, und ihr Lächeln ließ mich schlagartig die endlosen elenden Tage vergessen, in denen ich versucht hatte, sie zu finden. Ich setzte mich neben sie.

»Was machst du hier?«, fragte sie.

»Ich wollte zur Messe«, improvisierte ich.

»Um diese Uhrzeit ist keine Messe«, stellte sie lachend fest.

Ich hatte keine Lust, sie weiter zu belügen, und senkte den Blick. Es brauchte keine Worte.

»Ich habe dich auch vermisst«, sagte sie. »Ich dachte, du hättest mich vergessen.«

Ich schüttelte den Kopf. Die nebelhafte, von Flüstern erfüllte Atmosphäre machte mir Mut und ich beschloss, ihr etwas zu sagen, das ich mir ursprünglich für meine Geschichten von Magie und Heldenmut ausgedacht hatte.

»Ich könnte dich niemals vergessen«, sagte ich.

Es waren Worte, die hohl und lächerlich hätten klingen können, insbesondere aus dem Mund eines achtjährigen Jungen, der womöglich nicht wusste, was er da sagte, aber das war, was ich empfand. Blanca sah mich mit einer sonderbaren Traurigkeit an, die so gar nicht zu einem kleinen Mädchen passte, und drückte ganz fest meine Hand.

»Versprich mir, dass du mich niemals vergisst.«

Antonia, das Dienstmädchen, nun offensichtlich ihrer Sünden ledig und bereit, neue zu begehen, beobachtete uns unwillig vom Ende der Bankreihen aus.

»Fräulein Blanca?«

Blanca wandte den Blick nicht von mir ab.

»Versprich es.«

»Ich verspreche es.«

Erneut nahm das Dienstmädchen meine einzige Freundin mit. Ich sah, wie sie durch das Mittelschiff davongingen und durch das rückwärtige Portal verschwanden, das auf den Paseo del Borne hinausführte. Diesmal allerdings mischte sich ein Hauch von Durchtriebenheit in meine Melancholie. Etwas sagte mir, dass das Dienstmädchen eine Frau mit schwachem Gewissen war und regelmäßig zur Beichte musste, um für ihre Verfehlungen zu büßen. Die Kirchenglocken schlugen vier Uhr, als ein Plan in meinem Kopf Gestalt anzunehmen begann.

Von da an erschien ich jeden Tag um viertel vor vier in der Kirche Santa María del Mar und setzte mich in eine Bank in der Nähe der Beichtstühle. Es waren keine zwei Tage vergangen, als ich sie wiedersah. Ich wartete, bis das Dienstmädchen im Beichtstuhl niederkniete, und ging dann zu Blanca.

»Jeden zweiten Tag um vier Uhr«, raunte sie mir zu.

Ohne Zeit zu verlieren, nahm ich sie bei der Hand und spazierte mit ihr durch die Basilika. Ich hatte eine Geschichte für sie vorbereitet, die genau hier, zwischen den Säulen und Seitenkapellen der Kirche, spielte, mit einem entscheidenden letzten Kampf zwischen einem bösen, aus Asche und Blut geformten Geist und einem heldenhaften Ritter in der Krypta unter dem Altar. Es sollte die erste Folge einer ganzen Reihe von Abenteuer-, Schauer- und Liebesgeschichten mit dem Titel Die Gespenster der Kathedrale werden, die ich mir für Blanca ausdachte und die mir in meiner unermesslichen Eitelkeit eines aufstrebenden Schriftstellers nicht weniger als genial erschienen. Ich wurde gerade rechtzeitig mit der Geschichte fertig, um zum Beichtstuhl zurückzukehren und das Dienstmädchen abzupassen, das mich diesmal allerdings nicht sah, weil ich mich hinter einer Säule versteckte. Zwei Wochen hindurch trafen Blanca und ich uns jeden zweiten Tag dort. Wir teilten Geschichten und Kinderträume, während das Dienstmädchen den Pfarrer mit der ausführlichen Schilderung ihrer Sünden quälte.

Am Ende der zweiten Woche bemerkte der Beichtvater meine Anwesenheit und zählte sogleich zwei und zwei zusammen. Ich wollte mich gerade davonschleichen, als er mir bedeutete, herzukommen. Sein Erscheinungsbild, das an einen abgehalfterten Boxer erinnerte, überzeugte mich, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Zitternd vor Angst, weil man mir offensichtlich auf die Schliche gekommen war, kniete ich im Beichtstuhl nieder.

»Ave Maria Purissima«, hauchte ich durch das Gitter.

»Sehe ich aus wie eine Nonne, du Rotzlöffel?«

»Verzeihung. Ich weiß nicht, was man sagt.«

»Hat man dir das nicht in der Schule beigebracht?«

»Der Lehrer ist Atheist und behauptet, ihr Priester wärt ein Werkzeug des Kapitals.«

»Und wessen Werkzeug ist er?«

»Das hat er nicht gesagt. Ich glaube, er hält sich für einen Freigeist.«

Der Priester lachte.

»Wo hast du gelernt, so zu reden? In der Schule?«

»Durch Lesen.«

»Durch Lesen von was?«

»Alles, was ich in die Finger kriege.«

»Liest du auch das Wort des Herrn?«

»Der Herr schreibt?«

»Wenn du so weitermachst, wirst du noch in der Hölle schmoren, du kleiner Klugscheißer.«

Ich schluckte.

»Muss ich Ihnen jetzt meine Sünden beichten?«, murmelte ich ängstlich.

»Nicht nötig. Die stehen dir auf die Stirn geschrieben. Was ist das für eine Geschichte mit der Dienstmagd und diesem Mädchen?«

»Welche Geschichte?«

»Ich erinnere dich daran, dass dies hier ein Beichtstuhl ist. Wenn du einen Priester anlügst, wird dich gleich beim Rauskommen der Bannstrahl Unseres Herrn treffen«, drohte der Beichtvater.

»Sind Sie sicher?«

»Ich an deiner Stelle würde das Risiko nicht eingehen. Schieß los.«

»Wo soll ich anfangen?«, fragte ich.

»Red nicht lange um den heißen Brei herum und sag mir, was du jeden Tag um vier Uhr in meiner Kirche zu suchen hast.«

Das Niederknien, das schummrige Licht und der Geruch nach Kerzenwachs haben etwas an sich, das dazu einlädt, das Gewissen zu erleichtern. Ich beichtete alles, bis zu Adam und Eva. Der Priester hörte schweigend zu und räusperte sich jedes Mal, wenn ich stockte. Als ich mit meiner Geschichte am Ende war und davon ausging, dass er mich geradewegs in die Hölle schicken würde, hörte ich ihn lachen.

»Wollen Sie mir keine Buße auferlegen?«

»Wie heißt du, mein Junge?«

»David Martín, mein Herr.«

»Vater, nicht Herr. Es gibt deinen Herrn Vater. Oder den Allmächtigen Herrn. Ich bin nicht dein Vater, ich bin ein Vater. In diesem Fall Vater Sebastián.«

»Verzeihen Sie, Vater Sebastián.«

»Vater genügt. Und verzeihen muss der Herr. Ich bin nur sein Verwalter. Wie auch immer. Für heute entlasse ich dich mit einem Ratschlag und ein paar Ave-Maria. Und weil ich glaube, dass der Herr in seiner unendlichen Weisheit diesen ungewöhnlichen Weg gewählt hat, damit du zur Kirche findest, schlage ich dir einen Handel vor. Wenn du dich alle zwei Tage mit deiner Angebeteten triffst, kommst du eine halbe Stunde früher und hilfst mir, die Sakristei sauberzumachen. Im Gegenzug werde ich das Dienstmädchen mindestens eine halbe Stunde beschäftigen, um dir Zeit zu geben.«

»Das würden Sie für mich tun, Vater?«

»Ego te absolvo in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Und jetzt verschwinde.«

3

Vater Sebastián stand zu seinem Wort. Ich traf eine halbe Stunde früher ein und half ihm in der Sakristei, denn der arme Mann war lahm und kam nur mühsam allein zurecht. Er hörte sich gerne meine Geschichten an, die in seinen Augen kleine, lässliche Blasphemien waren, ihn jedoch gut unterhielten, insbesondere solche mit Gespenstern und Zauberern. Ich hatte das Gefühl, dass er genauso einsam war wie ich und sich deshalb bereit erklärt hatte, mir zu helfen, weil ich ihm gestanden hatte, dass Blanca meine einzige Freundin war. Ich lebte für diese Begegnungen.

Blanca erschien immer blass und vergnügt. Sie trug stets elfenbeinfarbene Kleidchen, neue Schuhe und Halskettchen mit Silbermedaillons. Sie lauschte den Geschichten, die ich für sie erfand, und erzählte mir von ihrer Welt und dem großen, düsteren Haus, in dem ihr Vater nun lebte, ein Ort, den sie fürchtete und hasste. Manchmal erwähnte sie auch ihre Mutter Alicia, mit der sie in dem alten Familienanwesen in Sarrià lebte. Andere Male war sie den Tränen nahe, wenn sie von ihrem Vater sprach, den sie vergötterte. Aber er sei krank, so erzählte sie, und verlasse kaum je das Haus.

»Mein Vater ist Schriftsteller«, erklärte sie. »So wie du. Aber er schreibt keine Geschichten mehr für mich wie früher. Jetzt schreibt er nur noch für einen Mann, der ihn manchmal nachts besucht. Gesehen habe ich ihn nie, aber als ich einmal dort schlief, hörte ich sie bis spätnachts im Arbeitszimmer meines Vaters reden. Dieser Mann ist nicht gut. Er macht mir Angst.«

Wenn ich mich nachmittags von ihr verabschiedete und nach Hause zurückkehrte, träumte ich von dem Moment, in dem ich sie aus diesem Leben in Einsamkeit erretten würde, vor diesem furchterregenden nächtlichen Besucher, diesem in Watte gepackten Leben, das ihr mit jedem Tag, der verging, die Luft raubte. Jeden Abend sagte ich mir, dass ich sie nicht vergessen würde und dass ich sie nur kraft meiner Gedanken retten könnte.

An einem Novembertag, der blau und mit Eisblumen auf den Fensterscheiben anbrach, ging ich wie immer zu unserer Verabredung, doch Blanca kam nicht. Zwei Wochen lang wartete ich jeden Tag vergeblich in der Basilika darauf, dass meine Freundin erschien. Ich suchte überall nach ihr, und wenn mein Vater mich nachts beim Weinen überraschte, log ich und behauptete, ich hätte Zahnweh. Doch kein Zahn konnte jemals so schmerzen wie ihre Abwesenheit. Vater Sebastián, der sich allmählich Sorgen machte, als er mich jeden Tag dort warten sah wie eine gepeinigte Seele, setzte sich irgendwann zu mir und wollte mich trösten.

»Vielleicht solltest du deine Freundin vergessen, David.«

»Das kann ich nicht. Ich habe es ihr versprochen.«

Ein Monat war seit ihrem Verschwinden vergangen, ehe mir aufging, dass ich sie tatsächlich zu vergessen begann. Ich hörte auf, jeden zweiten Tag zur Kirche zu gehen, mir Geschichten für sie auszudenken und mich jeden Abend, wenn ich schlafen ging, im Dunkeln an ihr Bild zu erinnern. Ich begann, den Klang ihrer Stimme zu vergessen, ihren Geruch, das Leuchten auf ihrem Gesicht. Als mir klarwurde, dass ich dabei war, sie zu verlieren, wollte ich Vater Sebastián aufsuchen, um ihn zu bitten, mir zu vergeben, diesen Schmerz von mir zu nehmen, der mich von innen verzehrte, und mir ins Gesicht zu sagen, dass ich mein Versprechen gebrochen und nicht in der Lage gewesen war, die einzige Freundin in Erinnerung zu behalten, die ich je gehabt hatte.

Anfang Dezember sah ich Blanca zum letzten Mal. Ich war nach unten gegangen und starrte von der Toreinfahrt in den Regen hinaus, als ich sie bemerkte. Sie kam alleine durch den Regen, ihre weißen Lackschuhe und ihr elfenbeinfarbenes Kleid waren triefend nass. Ich lief ihr entgegen und sah, dass sie weinte. Auf meine Frage, was passiert sei, umarmte Blanca mich und erzählte, ihr Vater sei sehr krank und sie sei von zu Hause ausgerissen. Ich redete ihr gut zu, sie solle keine Angst haben. Wir würden zusammen weggehen; wenn nötig, würde ich Geld stehlen, um zwei Zugfahrkarten zu kaufen, und dann würden wir für immer aus der Stadt fliehen. Blanca lächelte und umarmte mich. In dieser schweigenden Umarmung