Der Recke von Calmarck IV - Orson McLight - E-Book
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Der Recke von Calmarck IV E-Book

Orson McLight

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Beschreibung

Nach einem mehrjährigen Studium in Paltesch und einer langen Reise durch die Welt kehrt Eike in seine alte Heimat Calmarck zurück. Kaum dort angekommen, legt er sich mit Mächten an, die ihn das Leben kosten könnten. Bald schon erfährt er von einer aufsteigenden Macht im Osten des Landes. Eine neue Königin lockt mit Gold und paradiesischen Versprechungen. Wer ihr nicht folgt, lernt, dass Drachen nicht fliegen müssen, um in ihrem Feuer alles vergehen zu lassen. Zu allem Überfluss heftet sich auch noch ein hartnäckiges Geschwisterpaar an Eikes Fersen ... Die Rückkehr des Silbermantels ist der vierte und finale Band aus der Reihe »Der Recke von Calmarck«.

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Inhaltsverzeichnis

ÄRGER HOCH DREI

ERICH HEGEL

DAS DORNENBETT

DER SENSENMANN

GRÜNGUT

DIE BLUTMÜNZE

GESTÄNDNIS ODER LÜGE

KNIEFALL

DIE RÜCKKEHR DES

DER KRIEGSRAT

FLAGGENMEER

DIE LOHNENDE

BESUCH FÜR HEGEL

STAUB UND BLITZE

ENTTARNT

UNGEHORSAM

VORRÄTE ANLEGEN

ERGRAUT

GESTÄNDNISSE

VOM STAUB GERETTET

LENNIS IDEE

GUT VORBEREITETE FREUNDE

IHR LETZTER WINTER

ABKÜRZUNG

DIE SCHLACHT UM CALMARCK

DIE WAHRE HELDIN

EPILOG

DANKSAGUNG

ÄRGER HOCH DREI

Eike zog sich seine Kapuze tiefer ins Gesicht. Vom Himmel goss ein ordentlicher Regenschauer herab und wäre es ihm möglich gewesen, hätte er längst einen überdachten Ort aufgesucht. In kleinen Senken am Wegesrand bildeten sich beachtliche Pfützen, die vom angespülten Matsch pampig braun gefärbt wurden. Immer wieder veränderte sich die Richtung des klatschenden Regens, sodass Eike von den Tropfen auch unangenehm im Gesicht getroffen wurde. Für einen großen Baum mit dichtem Blattwerk hätte er jetzt alles gegeben. Dort wäre er zumindest vor den größten Tropfen in Sicherheit gewesen. Trost spendete ihm der gute Kapuzenumhang mit Fellkragen, der einen Großteil des Wassers abperlen ließ. Nasse Unterwäsche war das Letzte, was er gebrauchen konnte.

Er beugte sich vor und fuhr mit seiner Hand durch die nasse Mähne seines Pferds Mondgesicht. Die Rotbraune, mit der kreisförmigen, weißen Blesse auf der Stirn, war eine ruhige Begleiterin, die ihn immer an sein erstes Reittier erinnerte: Sommertau. Diese hatte er das letzte Mal vor fast zehn Jahren gesehen und inzwischen glaubte er nicht, dass sie noch am Leben war. Hoffentlich tat es Schwarzhammer noch.

Eike mochte Mondgesicht zwar, aber er machte sich nichts vor. Die Rotbraune bewegte sich nur unter seinen Schenkeln, weil es das einzige Pferd war, welches er sich in der Hafenstadt Hanse leisten konnte. Mondgesicht war gehorsam und jung, aber sie war weder gemacht, um große Schlachten zu bestreiten noch schwere Feldarbeit zu erledigen. Sie war gut genug für gemächliches Reisen oder Neulingen das Reiten beizubringen.

Als Eike in der nördlichen Hafenstadt angekommen war, hatte er nur wenig Geld bei sich gehabt und den restlichen Weg seiner Reise musste er finanzieren, indem er kleine Aufträge jeglicher Art erfüllte. Manchmal schalt er sich selbst. Denn es wäre so einfach gewesen, zu einem Wachoffizier zu gehen, sich als Silbermantel zu offenbaren und seinen Sold in Empfang zu nehmen. Das klappte in jeder größeren Stadt und war mit wenig Aufwand verbunden.

Doch er war noch nicht bereit dazu. Acht Jahre hatte er Calmarck den Rücken gekehrt. Und nun glaubte er, diesem Land nicht mehr würdig zu sein. In ihm schlummerte der Wunsch, sich seinen Platz erneut zu verdienen. Am besten konnte er das, wenn er sich um kleine Belange kümmerte, zu unbedeutend für einen Ritter oder Silbermantel, zu gefährlich für einen einfachen Soldaten. Bis jetzt hatte das auch ganz gut geklappt. Ein paar Steckbriefgesuchte waren ihm in die Fänge gegangen, deren Kopfgelder seine Reisekasse aufgebessert hatten. Natürlich waren es keine Reichtümer, die er damit verdiente, jedoch genügte es, um Reiseproviant kaufen zu können, Mondgesicht zu versorgen und ab und an mal ein Gasthaus aufzusuchen.

Während der Regen auf Eikes Umhang hinabpeitschte, dachte er darüber nach, wie seine Freunde wohl reagieren würden, sollten sie von seiner Rückkehr erfahren. Vor einiger Zeit war nämlich der Kontakt zu ihnen abgebrochen. Vermutlich hielten sie ihn gar für tot. Ein schlechtes Gewissen, dass er noch keinen Boten gesandt hatte, plagte ihn deswegen nicht. Er wollte einfach nur in Ruhe ankommen und das Tempo selbst bestimmen. Sicherlich vermisste er die Menschen, die hier auf ihn warteten, aber sie würden es ihm verzeihen, noch zwei oder drei Monate mehr auszuharren. Zudem war er sich sicher, dass er jetzt zum ersten Mal Zeit dazu hatte, die Eindrücke seiner langen Reise zu verarbeiten. So viele Länder und Ozeane lagen hinter ihm, er konnte immer noch nicht glauben, dass sich unter seinen Füßen Calmarck befand. Sein Geburtsland.

Seufzend blickte Eike durch die Schauerfront hindurch. Es war höchste Zeit eine Unterkunft aufzusuchen. Nicht nur um seine eigenen Klamotten zu trocknen, sondern auch im Sinne von Mondgesicht. Wenn er mit der Stute noch eine beschauliche Zeit erleben wollte, musste er auch auf ihre Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Sie hatte sich einen trockenen Stallplatz und eine große Portion Heu mehr als verdient. Außerdem konnte Eike die Rast auch dazu nutzen, um Ausschau nach Arbeit zu halten. Sein Geldbeutel hatte nämlich während der letzten Etappe deutlich an Umfang verloren und ein sicheres Polster war ihm lieber, als auf Kante zu leben.

Seitdem er aus dem fernen Paltesch zurückgekehrt war, zog er von Landstrich zu Landstrich, um die örtlichen Kopfgeldlisten abzuarbeiten, und den unbescholtenen Bürgern wieder einen ruhigen Schlaf zu gönnen. Die Sicherheit der Einwohner war sein vorrangiges Bestreben, das Kopfgeld war für ihn allerdings nicht von minderer Bedeutung. Damit verdiente er seinen Lebensunterhalt und bis jetzt kam er mit den Belohnungen gut über die Runden. Gerade als der Schauer noch an Stärke hinzugewann, sah er Lichter in der Ferne leuchten.

Ein Dorf war also nicht weit. Wo Menschen lebten, gab es auch Gasthäuser oder andere Orte, wo man als Reisender einkehren konnte. Eike hatte auf jeden Fall noch genug Münzen bei sich, um sich einen warmen Platz für die nächsten Tage zu erkaufen. Zielstrebig führte er Mondgesicht zu dem kleinen Dorf mit dem Namen Eisherz.

Auf seinem Weg zum Dorfzentrum passierte Eike eine kleine Kate. Auf deren Dach war gerade ein Mann damit beschäftigt Dachschinden auszutauschen, da es anscheinend ins Innere regnete.

»Guter Mann, gibt es im Dorf einen Platz zum Übernachten?«, fragte Eike mit angestrengter Stimme, um gegen den tosenden Regen anzukommen.

»Was?«

»GIBT ES IN DER NÄHE EINE UNTERKUNFT?«

Aufgrund des Plätscherns war ein vernünftiges Gespräch nicht möglich. Der Mann auf dem Dach nickte deshalb nur und zeigte in Richtung des Dorfkerns.

Zielstrebig folgte Eike der Richtung und Mondgesicht legte nun auch etwas zu, da die Stute wohl spürte, bald aus dem elenden Regen herauszukommen.

Sorglos lenkte Eike Mondgesicht zur Stallung des Alten Geweihs. Das Gasthaus war eher von bescheidener Größe, doch anhand der freien Plätze im Stall konnte er sich sicher sein, ein ebenso freies Lager in der Unterkunft für sich beanspruchen zu können.

Hinter einem Heuhaufen lauerte ein Junge. Eike hatte ihn sofort bemerkt, da der neugierige Kopf immer wieder hochragte, um den Neuankömmling zu mustern.

»Willst du dir eine Münze verdienen, Junge?«

Das angesprochene Kind zuckte erst einmal, kam dann hervor und nickte schüchtern.

Noch bevor Eike sagte, was der Junge für ihn tun konnte, schnipste er dem Knirps eine Münze entgegen – einen Silberling. Geschickt fing der Junge das Geldstück auf, bewunderte es kurz und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Bestimmt wurde er meistens mit einem oder zwei Kupferlingen abgespeist. Wenn es um die Bezahlung der Stallburschen ging, knauserten die meisten Menschen. Ihre Münzen ließen sie lieber beim Wirt. »Was kann ich für Euch tun, Herr?«

Über Eikes Lippen huschte ein Lächeln. Das höfliche Auftreten des Jungen erinnerte ihn an seine eigene Jugend, in der er einem Ritter zu Diensten gestanden hatte und stets zu allem bereit gewesen war.

»Sorg dafür, dass mein Pferd gut versorgt wird. Sie braucht frisches Wasser und Futter. Und das Fell muss trockengerieben werden. Danach kannst du noch mein Gepäck auf mein Zimmer bringen.« Eike zeigte auf das Bündel, welches am Sattelknauf befestigt war. »Wenn du deine Arbeit gut machst, werde ich dir eine weitere Münze geben.«

Der Junge holte den Silberling, den er so geschickt geschnappt hatte, aus seiner Hosentasche hervor. »Noch einen Silberling? Das ist ganz schön viel.«

Dass er dem Jungen reichlich Geld gegeben hatte, wusste Eike genau. Doch er wollte nicht knausern, es ging schließlich um die Versorgung von Mondgesicht. Außerdem konnte er Personen nicht leiden, die bei den Menschen geizten, die wichtige Arbeiten erledigten. Jedes Tun hatte seinen Wert und musste anständig bezahlt werden, wohlwissend, dass sich der Stalljunge sicherlich auch über einen Kupferling gefreut hätte. Für Mondgesicht bedeutete Eikes Großzügigkeit jedenfalls keinen Nachteil.

Sofort machte der Bengel sich daran Wasser für Mondgesicht zu beschaffen. Eike war zuversichtlich, dass seine Stute in besten Händen war.

Nun galt es sich um das eigene leibliche Wohlbefinden zu kümmern. Bevor er das Gasthaus betrat, wrang er seinen Kapuzenumhang aus und strich sich durch den struppigen Vollbart, der kühl und feucht auf seiner Haut lag.

Mit einem Fuß stieß er die Tür auf und trat gleich ein. Dass es im Inneren trocken war und dazu noch angenehm warm, hätte ihn zufrieden machen müssen, aber die starrenden Gesichter, die auf ihn gerichtet waren, ließen ihn mürrisch werden. Misstrauisch senkte er sein Kinn und prüfte seinen Körpergeruch, da er seit einigen Tagen unterwegs gewesen war. Wie ein Blumengarten roch er nicht gerade, aber er verströmte auch nicht den Duft eines Schweinestalls. Vielleicht miefte er etwas nach Feuchtigkeit, was allerdings keinesfalls die Blicke erklärte.

Eigentlich war Eike die neugierigen und überraschten Blicke gewohnt. Fremde wurden immer und überall beäugt, auch wenn grundsätzlich keine Zeiten des Misstrauens herrschten. Trotzdem musste er zugeben, sein Gesicht war von einem Makel gezeichnet. Von seiner Stirn, über die Nase, bis hin zu seiner rechten Wange zog sich eine scharlachrote Narbe, die eine auffällige Schlucht in seinen Vollbart riss. Mit nachhaltigen Verletzungen musste man eben rechnen, wenn man sich mit einer Priesterin von Gandowal anlegte.

Die Blicke wandten sich wieder von ihm ab, denn trotz der auffälligen Narbe, gab es nichts weiter an ihm zu bewundern. Er war wie ein einfacher Mann gekleidet, das Interesse an Menschen von solch einem Schlag war nicht sonderlich groß. Er sah sich um.

Zwei Burschen hatten ihre Köpfe auf einen Tisch gelegt und schliefen ihren Rausch aus, und an der Theke des Wirts war ein Bauer damit beschäftigt, Kartoffelstampf aus einer Schüssel zu löffeln. Am Kamin saß eine dreiköpfige Damengesellschaft, die emsig damit beschäftigt war, Kleider zu flicken und gleichzeitig zu tratschen. Eike schnappte einige Neuigkeiten aus Eisherz auf, die für Außenstehende eher belanglos waren. Die Frau des Kesselschmieds war guter Hoffnung, der Barbier hatte am Vormittag einem Mann ins Ohr geschnitten und eine Frau namens Joralda sollte mit irgendeinem Stoffhändler aus Übersee verheiratet werden, dessen Name unaussprechlich war.

Völlig unverblümt setzte Eike sich zu den tratschenden Weibern. »Meine Damen. Ihr scheint euch hier gut auszukennen. Gibt es in der Gegend Steckbriefgesuche? Oder andere Arbeiten wie einen Mann für mich?«

Die drei Frauen sahen sich an und verstummten. Die Reaktion war Eike schon bekannt. Er sah nicht unbedingt wie jemand aus, dem man auf das erste Wort Vertrauen schenkte. Für die Frauen war er nur ein Fremder, der im Zweifel nichts Gutes im Schilde führte, im schlimmsten Fall ihre Kinder aus den Betten stahl und sie in einer klaren Vollmondnacht auffraß.

»Schade«, meinte er mit echtem Bedauern in der Stimme und setzte sich an einen leeren Tisch. Wenigstens konnte er sich hier aufwärmen und das Essen schien auch gut zu sein. Zumindest lag ein Geruch in der Luft, der einem das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ.

Plötzlich rief der Wirt durch die ganze Gaststube: »Wo steckst du schon wieder? Geraldine!«

Aus der angrenzenden Küche kam eine junge Frau herbei, ihre schwarzen Flechtzöpfe wirbelten im Takt mit ihrem hektischen Kommen. Die Stimme der Frau hörte sich glockenhell und honigsüß an. »Ja?«

Der Wirt zeigte mit dem Finger auf Eike. Fast schon als sei der Fremde eine große, fette Kakerlake, die es umgehend mit dem Schuhwerk zu erschlagen galt. »Wir haben einen neuen Gast.«

Geradewegs kam Geraldine auf Eike zu und knickste unbeholfen. Am Hofe hätte man sie dafür nur müde belächelt, aber Eike wusste, sie konnte es nicht besser und wen interessierte es in Eisherz schon, ob ihr Knicks gut genug für irgendwelche Adligen war? Zumindest Eike störte sich nicht daran. Wie die Schankmagd ganz offensichtlich seine Narbe musterte, empfand er dagegen als ungezogen.

Er drehte sich zur Seite und verwehrte ihr den Blick. Als sie bemerkte, dass sie sich für ihre forschende Neugier schämen sollte, fuhr sie mit dem Tagesgeschäft fort. Als sei einfach nichts gewesen. »Darf ich Euch etwas bringen?«

»Einen Met und etwas Warmes, um meinen Bauch zu füllen.«

»Soll ich Euch auch ein Tuch reichen, damit Ihr Euch abtrocknen könnt?« So unbeholfen Geraldines Knicks war, ihre Höflichkeit glich dieses Manko aus. Zuvorkommenheit und Freundlichkeit suchte Eike bei manchen Herbergen, Wirtsstuben und Gasthäusern vergebens. Dann ging es den Betreibern nur um eine schnelle Münze. Umso mehr schätzte er das Angebot der Bedienung. Er merkte erst jetzt, wie die Tropfen aus seinem Haar und Bart glitten und den Tisch benetzten. »Gerne. Ein Zimmer für die nächsten Nächte wäre auch nicht schlecht.«

Geraldine wischte die Wassertropfen vom Tisch und er konnte ihren Geruch wahrnehmen. Vor allem roch die Frau nach Essen, aber sie roch auch nach etwas Vertrautem und in dem Moment wünschte Eike sich in ihre Arme wiegen zu können. Das war natürlich völlig absurd, war aber dem Wunsch nach körperlicher Nähe geschuldet. Die letzte Frau, mit der er das Lager geteilt hatte, war eine Dirne in Dasteria gewesen und er dachte nicht gerne daran zurück. Das Techtelmechtel war weder leidenschaftlich noch befriedigend gewesen.

»Ich werde Euch ein Zimmer herrichten. Allerdings müsst Ihr im Voraus bezahlen.«

Wie denn sonst? Es war üblich, für etwaige Dienstleistungen vorab zu bezahlen, da es genug Schlingel gab, die sich in den frühen Morgenstunden ohne Bezahlung aus dem Staub machten und den Wirt auf den Kosten sitzen ließen. Bereitwillig legte Eike einige Silberlinge auf den Tisch.

»Das wird für Essen, Trinken und das Zimmer hoffentlich reichen«, vergewisserte er sich.

»Ja«, antwortete Geraldine einsilbig, nahm das Geld an sich und eilte zurück in die Küche.

Der Bauer, der an der Theke gesessen hatte, streifte sich seinen Mantel über und verabschiedete sich vom Wirt. Schnellen Schrittes ging er zur Tür und wäre beinahe erschlagen worden, als diese nach innen aufsprang und drei kräftige, jedoch noch recht jugendlich wirkende, Männer eintraten. In ihren Gesichtern blitzte Schneid auf. Ehrfürchtig kroch der Bauer an den Kerlen vorbei, die sich kurz im Gasthaus umsahen. Zügig marschierten sie auf Eike zu.

»Das ist unser Tisch«, sagte einer von den Grobianen und stützte sich provokativ auf dem Tisch ab. Seine missgelaunten Gesichtszüge verrieten, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Dabei war er kaum älter als zwanzig, strahlte dafür die Kernigkeit eines gestandenen Mannes aus. Die anderen beiden trugen ebenfalls etwas Hartes in ihren Gesichtern.

Wenn Eike gewollt hätte, es wäre so einfach gewesen, diesen Mann zu verdreschen und ihm eine Lektion zu erteilen. An seinem Gürtel hing ein scharfer Dolch, der so manchem Proleten schon höflichere Sitten beigebracht hatte. Aber Eike wollte nicht hinausgeworfen werden, besonders da ihm die wohlige Wärme des Kamins gerade erst wieder Leben einhauchte. Er stand von seinem Stuhl auf und hielt diesen zuvorkommend dem Stänker entgegen, der ihn so flapsig angesprochen hatte.

Das Großmaul und seine Freunde setzten sich an den Tisch und verzogen die Mienen, da sie wohl gehofft hatten, dass Eike nicht ohne Aufbegehren das Feld räumen würde. Ein Grund zum Prügeln wäre ihnen lieber gewesen. Irgendwie verständlich, denn in dem Kaff schien nicht viel los zu sein.

Eike suchte sich nun einen anderen Sitzplatz, weiter weg vom Kamin. Vor allem weiter weg von den drei Aufschneidern, die er dennoch im Auge behielt. Sie würden sicherlich nach einer weiteren Gelegenheit suchen, um für Ärger zu sorgen. Er als Fremder war da wohl das willkommenste Ziel.

Geraldine kam wieder aus der Küche heraus, mit einem Tablett in den Händen. Beladen war es mit einem halben Laib Brot, ein paar Scheiben eines goldleuchtenden Käses, einem dampfenden Bratenstück und einem Krug Met. Als das Tablett auf seinem Tisch abgestellt wurde, bedankte er sich und sog begierig den Geruch der Speisen auf. Während er den Metkrug zu seinem Mund führte, verfolgten seine Augen Geraldine, die zu den Grobianen huschte. Lag seine Neugier an Geraldine oder an den drei Blödmännern? Darüber sinnierte er und kam zum Schluss, dass die hübsche Frau der Grund sein musste. Obwohl er ihre Musterung seiner Narbe verachtenswert fand, heftete sich sein Blick an ihren Po. Er war keinen Deut besser als sie!

»Was darf ich bringen?«, erkundigte sich Geraldine bei den Burschen und hielt einen deutlichen Abstand zu ihnen. Und besonders freundlich war sie auch nicht.

Die Fieslinge grinsten nur und der, der Eike bereits so unverschämt vom Platz vertrieben hatte, stand auf und stellte sich hinter Geraldine. Er legte seine Hände auf die Schultern der jungen Frau und zog sie an seine Brust heran.

Der Wirt, der hinter der Theke stand, wandte seinen Blick ab, als würde er nichts bemerken. Anscheinend gefiel ihm nicht, wie mit seiner Schankmagd umgegangen wurde, dagegen etwas unternehmen, wollte er allerdings auch nicht. Wenn die drei sein Inventar kurz und klein schlugen, hätte er nichts gewonnen und deshalb ließ er es zu, dass man Geraldine so behandelte.

»Elias!«, wehrte sich Geraldine und wollte sich aus den Fängen des Grabschers befreien, ein fester Griff verhinderte dies.

»Heute dulde ich keine Zurückweisung mehr«, knurrte Elias und griff mit seinen Händen unter ihre Brüste. Er ging sogar so weit, dass durch seine Bewegungen ihre Brüste auf und ab wippten.

Vor Schreck ließ Geraldine das leere Tablett fallen und versuchte sich weiterhin gegen die aufgezwungene Nähe zu wehren. Elias ließ sich nicht beirren und legte seine Lippen an ihr Ohr. Er schnaufte: »Du wirst jetzt mit mir hinauf zu den Kammern gehen. Deine Kleidung ablegen und …«

»Nein!«, schrie die Frau energisch, riss sich los und in einer flotten Drehung verpasste sie Elias eine schallende Ohrfeige. Erst jetzt schienen die anderen Gäste die Situation zu bemerken, aber sie verhielten sich wie der Wirt zurückhaltend. Nicht verwunderlich, keiner sah so aus, als ob er es mit den Querulanten aufnehmen konnte.

Elias’ Begleiter brachen in lautes Gelächter aus und verspotteten ihren zurückgewiesenen Kameraden. »So viel dazu, Elias. Du kannst also jede haben? Du schaffst es nicht einmal Geraldine in deinen Bann zu ziehen.«

Gekränkt durch die Ablehnung und den Spott seiner Freunde wurde Elias nun grober. Er riss an Geraldines Zöpfen, sodass sie auf die Knie fiel und direkt auf sein Gemächt starren konnte. »Du verdammte Dirne! Du hast dich zum letzten Mal verweigert!«

Eike, dem es schwergefallen war, bis jetzt ruhig zu bleiben, stellte seinen Met ab. Sein Herzschlag wurde schneller, denn er würde es nicht dulden, wenn man der Frau weiterhin Unrecht antat. Dabei hoffte er, nicht einschreiten zu müssen – eigentlich wollte er einen Tumult verhindern. Eventuell würde er sogar die Kammer für die Nacht riskieren. Denn welcher Wirt wollte schon Aufmischer beherbergen? Wer den Aufruhr startete, spielte dabei keine Rolle.

Als Elias am Bund seiner Hose nestelte, fällte Eike eine Entscheidung. Er schob den Krug Met in die Tischmitte und stand auf. Ganz gemächlich ging er auf Elias zu, packte ihm am Handgelenk und drückte fest zu. Der Bund der Hose blieb verschlossen.

Geraldine nutzte die Gelegenheit, um wieder auf die Beine zu kommen und in der Küche zu verschwinden.

Ein Ruck und Knochen knackten. Jetzt war es Elias, der auf die Knie ging und sich das gebrochene Handgelenk hielt. Eike hatte nicht einmal viel Kraft für diese Lektion gebraucht. Tränen des Schmerzes rannen aus Elias’ Augen und er sah schockiert seinen Schinder an. Gepeinigt durch den Schmerz, hatte sein Gesicht etwas von seinem Übermut verloren. »Was zur Hölle stimmt mit Euch nicht?«

Elias’ Kumpane sprangen von ihren Plätzen auf und stellten sich Eike in den Weg.

»Er hat bekommen, wonach er regelrecht verlangt hat«, sagte Eike sachlich.

Mit Tränen in den Augen keifte Elias seine Begleiter an. »Tim! Norbert! Worauf wartet ihr noch? Erteilt dem Mistkerl eine Lektion!«

Einer der Schläger donnerte auf Eike zu. »Du dreckiges Schwein!«

Es war nicht schwer, den in Rage versetzten Burschen zu packen und sein Gesicht auf den Tisch zu drücken. Dabei verdrehte Eike dem Kerl einen Arm hinter den Rücken, wodurch die Schulter knackte. Nach wenigen Sekunden ließ Eike den Angreifer wieder los, er wollte auf keinen Fall noch mehr provozieren. Allerdings würde er sich wehren, sollten die drei keine Ruhe geben.

»Ich hege keinen Groll«, erklärte Eike, immer noch so sachlich, wie es nur ein Priester auf einer Beerdigung sein konnte. »Aber ich sehe nicht tatenlos zu, wie eine Frau von missratenen Taugenichtsen bedrängt wird.« Dann biss er sich auf die Unterlippe. Die drei Schläger auch noch zu beleidigen, würde nicht deren Einsicht fördern, obwohl seine Worte der Wahrheit entsprachen.

»Was glaubt Ihr, wer Ihr seid?«, moserte nun der Dritte, der sich bis jetzt zurückgehalten hatte. Er zückte eine blitzende Klinge aus seinem Stiefel. Das Messer mit der krummen Schneide war klein und trotzdem scharf. »Ihr kommt hier in unser Dorf und spielt Euch wie ein Vollstrecker auf! Es steht Euch nicht zu!«

Der Mann warf das Messer hoch und fing es wieder auf, ohne sich zu verletzen. Um noch mehr Eindruck zu schinden, wiederholte er seinen Trick gleich noch zweimal.

Elias stieß den Mann mit dem Messer an der Schulter an. Dabei hielt er sich sein gebrochenes Handgelenk und presste die Lippen aufeinander. »Tim, nun mach schon. Erteil dem Großmaul eine Abreibung. Aus der fetten Narbe in seinem Gesicht scheint er ja noch nicht genug gelernt zu haben. Eine zweite würde sich sicherlich gut dazu machen.«

Daraufhin schnellte das Messer auf Eikes linkes Auge zu. Er bückte sich geschickt und in der gleichen Bewegung vergrub er seine Faust in Tims Magen. Dieser ließ seine Waffe fallen, eine Gelegenheit, die Eike nicht verstreichen lassen durfte. Er griff an seinen Gürtel, zog seinen Dolch hervor und riss gleichzeitig am Arm des Angreifers. Ein kräftiger Hieb genügte, und der Dolch durchbohrte die Hand und den darunterliegenden Tisch.

Norbert, dem Eike schon die Schulter ausgekugelt hatte, wartete nicht lange ab und wollte sich auf ihn stürzen. Eike packte seinen Schopf und knallte seinen Kopf auf den Tisch. Die Nase des Unholds war verbogen und blutete stark.

Da nun alle drei Proleten gehörig eingesteckt hatten, beließ es Eike dabei. Er zog den Dolch aus dem Tisch und der darüber liegenden Hand, wischte ihn am Hosenbein ab, schlenderte gemütlich zum Wirt und legte diesem fünf Münzen auf die Theke. »Ihr solltet die Wachen alarmieren. Nach ein paar Tagen im Kerker werden die drei wieder vernünftig.«

Quietschend hörte man die Scharniere der Eingangstür aufheulen. Elias, Tim und Norbert waren mit eingezogenen Schwänzen geflüchtet.

Eine dicke Schweißperle ran dem Wirt die Schläfe entlang. Er benötigte einige Momente, um Worte zu finden. »Diese drei sind Söhne des Dorfobermanns Erich Hegel. Kein Wachmann wird dumm genug sein, um sie in Gewahrsam zu nehmen. Hegel wird es nicht dulden, wenn man Mitglieder seiner Familie verhaftet. Oder sie in irgendeiner Weise schikaniert.«

Eike beäugte die Tür, durch die die Söhne des Dorfobermanns geflüchtet waren, skeptisch. Glaubten sie etwa, weil sie die Söhne eines Dorfvorstehers waren, konnten sie sich alles erlauben? Auch sie hatten sich an Gesetz und die geltenden Anstandsregeln zu halten. Was Elias mit Geraldine vorgehabt hatte, war weit entfernt von einem Lausbubenstreich gewesen und musste Konsequenzen nach sich ziehen.

»Wo finde ich den Dorfobermann?«, fragte Eike, da er genau wusste, dass er aus Eisherz nicht verschwinden konnte, ohne die Sache endgültig zu klären. Vielleicht wusste dieser Erich Hegel ja gar nicht, wie seine Söhne den Umgang mit Mitmenschen pflegten. Manchmal half ein strenges Wort vom eigenen Vater mehr, als eine Nacht hinter kalten Eisenstäben zu verbringen.

Zitternd empfahl ihm der Wirt eine andere Alternative. »Herr, ich danke Euch für Euer Einschreiten.« Der Mann hinter der Theke nuschelte kaum hörbar, denn anscheinend wollte er es sich mit den Söhnen von Erich Hegel nicht verscherzen. »Das Beste wäre, wenn Ihr Eisherz so schnell wie möglich verlasst. Sonst wird man Euch noch vor Morgengrauen an den Eiern aufhängen. Hegel ist nicht besonders zimperlich, wenn es um persönliche Angelegenheiten geht.«

»Sagt mir einfach, wo ich den Dorfobermann finden kann, bevor seine Söhne die Gelegenheit nutzen, ihm eine falsche Version der Geschehnisse zu erzählen. Sie werden sicherlich nicht zugeben, dass sie Eure Magd bedrängt haben.«

Der Wirt schüttelte seinen Kopf. »Es tut mir leid, mein Herr. Ich möchte damit nichts zu tun haben.«

So ein rückgratloser Narr, schimpfte Eike den Wirt, da dieser zu feige war, Informationen preiszugeben. Gerade ihm sollte doch daran gelegen sein, dass seine Magd nicht mehr bedrängt wurde. Das war schließlich kein Hurenhaus, in dem sich Lustmolche nach Belieben austoben konnten.

Die Tür zur Wirtsstube ging erneut auf. Keiner der Hegel-Söhne kehrte zurück, sondern der Stalljunge kam herein. Er hatte eine geschwollene Wange und eine zerzauste Frisur. Seine Kleidung war dreckig, als hätte ihn jemand in ein mit Schlamm gefülltes Fass gesteckt. Umgehend trat der Knabe an Eike heran. Er sah beschämt aus. Ihm war es kaum möglich, seinen Blick vom Boden abzuwenden.

»Herr, es tut mir leid. Ich konnte sie nicht aufhalten …« Mithilfe großer Willenskraft verkniff sich der Kleine Tränen und Schluchzer. Er zog den Rotz in seiner Nase hoch.

»Was tut dir leid, Junge?«, klang Eike viel härter, als er es wollte.

»Sie haben Euer Pferd und Euer Reisegepäck gestohlen.«

Wäre auch zu schön gewesen, wenn die Söhne des Dorfobermanns sich so leichtfertig geschlagen gegeben hätten. Anscheinend waren sie sehr nachtragend und versuchten nun Eike eins auszuwischen.

»Mach dir nichts draus«, sagte Eike tröstend. »Du kannst deinen Fehler wieder wettmachen.« Sicherlich wusste er, dass er dem Jungen keine Schuld anlasten konnte, wie sollte sich ein Kind gegen die drei Grobiane wehren? »Sag mir, wo ich Erich Hegel finden kann.«

ERICH HEGEL

Der Stalljunge war so betroffen über den Verlust von Pferd und Habseligkeiten, dass er Eike den Weg zum Anwesen von Erich Hegel direkt erklärte.

Wenigstens regnete es nicht mehr, als Eike aufbrach. In ihm staute sich Wut an. Nicht, weil Hegels Söhne voller Überdrüssigkeit sprühten, sondern weil er dadurch um eine ruhige Nacht gebracht wurde.

Gerade als er das Gebäude des Gasthauses verlassen hatte, ertönte die Stimme des Stalljungen hinter ihm. »Seid bitte vorsichtig, Herr.«

»Ich habe etwas Dringendes zu erledigen«, gestand Eike. Während seiner Worte drehte er sich nicht um, seine Gedanken konzentrierten sich darauf, seine Besitztümer wieder zurückzuerlangen.

Der Stalljunge kam näher und stellte sich ihm in den Weg. Nun konnte Eike erkennen, dass die Hegel-Söhne dem Knaben ganz schön übel zugerichtet hatten. Der war höchstens acht oder neun Jahre alt und man musste wirklich verdorben sein, um ein Kind so zu prügeln. Nicht mal gegen einen einzigen der Schläger hätte der Junge bestehen können.

»Danke, dass Ihr meiner Schwester geholfen habt.«

Eike zog neugierig eine seiner Augenbrauen nach oben. Der Junge musste die Magd meinen, die er vor weiteren Übergriffen beschützt hatte. »Gern geschehen.«

»Sagt, würdet Ihr mir das Fechten beibringen? Damit ich Geraldine beschützen kann?« Das Gesicht des Knirpses verfärbte sich vor Schamesröte.

»Wieso glaubst du, dass ich dir das Fechten lehren könnte? Ich bin ein nicht nennenswerter Rumtreiber, nur ein Kerl auf der Durchreise«, log Eike, weil er seine wahre Identität nicht preisgeben wollte.

Ein Fuß des Jungen schabte verlegen im aufgeweichten Dreck. »Ihr seid ein Ritter.«

Ertappt. Ausgerechnet ein Bürschlein von acht oder neun Jahren schaffte das, was er in den letzten Wochen verdrängt hatte. Eike war mehr als nur ein Söldner, der steckbrieflich Gesuchte verfolgte. Nein, er war ein Ritter höchster Klasse – ein Silbermantel. Und dennoch zog er es vor, inkognito zu bleiben.

»Ich war noch nie ein Ritter«, berichtigte er den Jungen und ging seines Weges, »jedenfalls nicht so wie du vermuten magst.«

Das Anwesen des Dorfobermannes zu finden, war relativ einfach, da es das größte Gebäude in Eisherz war, und das einzige, welches von Soldaten bewacht wurde. Selbst ohne die Wegbeschreibung des Jungen hätte Eike mühelos hierher gefunden.

Zwei Wachmänner sicherten ein großes Zugangstor. Der Rest des Anwesens war mit einem Wall aus angespitzten Baumstämmen geschützt. Für einen Dorfobermann lebte Erich Hegel ziemlich abgeschottet von den anderen Bürgern und selbst Fürsten oder Barone kamen ihren Untergebenen näher.

Zielstrebig marschierte Eike auf die Wachen zu und machte auch keinen Halt, als sie ihn mit zurückweisenden Gesten verscheuchen wollten. Erst als einer der Wachen seinen Speer in Verteidigungshaltung brachte, blieb Eike stehen.

»Ich möchte zum Dorfobermann«, sagte er wahrheitsgemäß. Noch während er sprach, kam die scharfe Speerspitze seiner Kehle gefährlich nah.

»Es ist bereits spät.« Die Antwort war so kühl wie der Ortsname. »Außerdem empfängt der Dorfobermann niemanden ohne Rang und Namen. Also schert Euch fort.«

Für einen Dorfobermann war solches Verhalten mehr als abgehoben. Ein Fürst durfte sich erlauben, unangemeldeten Besuch einfach zu verscheuchen, aber ein Dorfobermann sollte jederzeit bereit sein, Mitbürger zu empfangen. Besonders solche, die Missstände in seiner Siedlung aufzudecken versuchten. Allein schon, dass der Dorfobermann in diesem Anwesen wohnte und Wachen beschäftigte, war anmaßend. Aber während seiner Reise durch die Welt, und davor der jahrelange Aufenthalt in Paltesch, hatte Eike eines gelehrt: nichts war unmöglich und das Schlechte lauerte dort, wo man es nicht erwartete.

»Vielleicht interessiert es den Dorfobermann, dass ich seine Söhne vor gut einer Stunde im Gasthaus zur Rechenschaft gezogen habe. Die drei flegelhaften Kerle, die nur auf Ärger aus waren, sind doch seine Söhne?« Scheinbar nachdenklich legte er einen Finger an sein Kinn. »Wie hießen sie noch gleich? Grobian, Großmaul und Gehirnlos?«

Die beiden Wachen starrten sich an. Mit so einer Aussage hatte noch niemand bei ihnen um Einlass gebeten. Das war fast so, als würde ein zum Tode Verurteilter seinen Scheiterhaufen selbst anzünden und es mit Freuden tun.

»So ein Blödsinn«, raunzte nun eine der Wachen. »Wenn Ihr Euch mit den Söhnen von Erich Hegel angelegt hättet, würdet Ihr kaum um eine Audienz bei ihm bitten.«

Audienz? Eike musste über den Wortlaut fast losprusten. Der Dorfobermann musste an Größenwahn leiden, wenn er Treffen mit seiner Person als Audienz bezeichnete. Den einzigen Menschen, den Eike kannte, der zu Audienzen einlud, war die Königin. Und davon gab es in Calmarck nur eine einzige. Also stellte sich die Frage, ob der Dorfobermann überheblich oder einfach nur verrückt war.

»Einem Sohn brach ich das Handgelenk. Einem kugelte ich die Schulter aus und zertrümmerte seine Nase. Dem Dritten jagte ich einen Dolch durch die Hand. Wenn ihr mir nicht glaubt, vergewissert euch bei den Söhnen des Dorfobermannes. Es erspart ihm eine Menge Arbeit, wenn er mich nicht suchen muss.«

Verunsichert blickten die Wachen sich an. Jemand, der mit den Söhnen von Erich Hegel eine Auseinandersetzung hatte, würde doch kaum freiwillig auftauchen, um sich dann noch mit dem Vater anzulegen. Andererseits klangen Eikes Äußerungen detailliert und nicht unbedingt an den Haaren herbeigezogen.

»Los, geh zum Dorfobermann und frag ihn, was wir mit diesem Nörgler machen sollen«, blaffte einer der beiden und öffnete das Tor, und stieß seinen Kollegen hindurch.

Es dauerte nicht lange bis das Tor von innen weit geöffnet wurde und der davongescheuchte Wachmann zurückkehrte. »Der Dorfobermann empfängt ihn.«

Das war gar nicht mal so schwer, dachte Eike und glaubte, dass der Besitzer des Anwesens doch nicht so abgehoben war, wie er vermutete.

Die Wachen führten ihn zu einem kleinen Vorhof und das Tor wurde hinter ihm wieder verriegelt. Vor fast jedem Gebäudeeingang stand ein Aufseher und beäugte das Schauspiel ruhig. Fünfzehn, wenn nicht sogar zwanzig Männer standen im Dienst des Dorfobermanns. Wie konnte ein popeliger Dorfsprecher es sich leisten, so viele Männer zu beschäftigen? Wachen anzustellen, war ein kostspieliges Unterfangen, gut ausgebildete Wachen noch kostspieliger. Die Männer mit ihren Speeren sahen nicht aus wie ehemalige Hirten, die sich hatten wegen des Geldes anlocken lassen. Nein, Eike erkannte an ihrer Haltung, dass sie durch jahrelanges Training geformt waren.

Wie erwartet, kamen noch weitere Soldaten hinzu, die ihre Waffen auf ihn richteten. Man schubste ihn wie einen Verbrecher vor sich her und führte ihn in einen Gebäudetrakt, der heruntergekommen aussah.

Sofort ging es einige Stufen hinunter, da das Gebäude unterkellert war. Der kleine Marsch endete in einem fensterlosen Raum. Hier standen zwei Stühle und ein kleiner Tisch. An den Wänden brannten Ölfackeln und es roch nach Erbrochenem. Ein Verhörzimmer. An Ort und Stelle wurden Menschen verprügelt, bis sie das sagten, was der Dorfobermann hören wollte. Und wer nicht spurte, dem folgte oft genug sein Mageninhalt nach draußen.

Eike ließ sich widerstandslos auf einen Stuhl platzieren, während vier Wachmänner um ihn herum Stellung nahmen. Er wartete gespannt darauf, was als nächstes passieren würde. Angst verspürte er in der beklemmenden Situation keine. An seinem Gürtel war immer noch der Dolch befestigt, mit dem er den Wachen im Notfall die Augen ausstechen konnte. Anscheinend waren sie sich ihrer Überlegenheit sicher und hatten ihm daher seine Waffe nicht abgenommen. Sie waren nicht mal auf die Idee gekommen, ihn zu durchsuchen.

Es dauerte eine Ewigkeit bis der Dorfobermann eintraf. Wahrscheinlich glaubte Erich Hegel, dass die Wartezeit den Festgehaltenen mürbegemacht hätte, aber Eike hatte diese Taktik längst durchschaut. Nicht einmal die Fratzen von den Söhnen brachten sein Herz in Sorge, als diese ihrem Vater folgten. Elias, Tim und Norbert. Im Schein der Ölfackeln sahen sie gar nicht mehr so grobschlächtig aus, einfach nur wie Dumpfbacken, die das Selbstdenken verlernt hatten.

Der Dorfobermann war ein schlanker, greiser Mann. Seine Stirn glänzte und seine schlohweißen Haare hingen in feinen Strähnen bis zu seinen Schultern. Für einen stinknormalen Dorfvorsitzenden war die Kleidung viel zu prächtig. Die grüne Samtjacke mit Schnürung an der Brust war eher etwas für Edelmänner. Ebenso der breite Gürtel, dessen Schnalle reichlich verziert war. Herrschaftlich ließ sich Hegel auf dem gegenüberliegenden Stuhl nieder und tippte mit seinem Zeigefinger auf den Tisch.

Elias, dessen Handgelenk dick bandagiert und in einer Schlaufe hing, erkannte Eike sofort wieder. »Das ist er! Der Mann hat uns im Alten Geweih grundlos angegriffen!« Er strich über den Verband.

Grundlos. Eike sah dem Lügner direkt in die Augen und war willig ihm gleich noch das andere Handgelenk zu brechen. Elias bestand auf seiner Falschaussage.

»Ihr seid ein Stück Scheiße«, sagte der Dorfobermann in einem überraschend ruhigen Ton. Nur die Beleidigung in seinen Worten passte nicht zu seinem erhabenen Aussehen. Die Zunge eines Edelmannes sollte sich solche Ausdrücke eigentlich verkneifen.

»Und Ihr ein schlechter Gastgeber«, erwiderte Eike genauso gemächlich. »Es wäre höflich, mir erst etwas zum Trinken anzubieten.«

Elias brach aus, packte Eike am Kragen und sah aus als würde er tatsächlich versuchen, mit seiner unversehrten Hand zuzuschlagen.

»Anscheinend habt Ihr keine Schmerzen mehr«, bemerkte Eike provozierend.

»Ihr verdammter …«

Hegel gab ein schlichtes Handsignal und zwei Wachen hielten Elias zurück. Dann wandte er sich wieder Eike zu. »Eure Erheiterungsversuche sind nicht lustig. Ihr habt jetzt genau zehn Sekunden Zeit, um zu erklären, warum ich Euch nicht an den Eiern aufhängen lassen sollte.«

»Der da«, Eike nickte mit seinem Kopf zu Elias, »hat die Schankmagd in der Gaststube unsittlich bedrängt. Und die beiden anderen meinten, mich prügeln zu können.«

»Lüge!«, polterte Elias. »Dieser verlauste Bartträger konnte es nicht ertragen, dass Geraldine ihm keine Aufmerksamkeit schenkte.«

»Holt Geraldine dazu«, schlug Eike besonnen vor. »Sie wird meine Aussage bestätigen.« Den Wirt hielt er als möglichen Zeugen erst mal aus dem Spiel, da er der jungen Frau mehr Mut zutraute.

Von dieser Idee hielt der Dorfobermann gar nichts. Warum sollte er auch auf Eikes Vorschlag eingehen? Er war nicht derjenige, der in einem engen Raum festgehalten wurde. »Ich denke die Aussage meiner drei Söhne wiegt schwerer als die einer einzelnen Dorfhure und eines Fremden.«

»Sie ist keine Dorfhure«, verteidigte Eike die Ehre von Geraldine, obwohl er nicht mit Sicherheit behaupten konnte, dass sie es nicht war. Wichtig war es erstmal, sie in Schutz zu nehmen. Selbst wenn sie eine Dirne gewesen wäre, es gab den Söhnen nicht das Recht, sich an ihr zu vergreifen, wie es ihnen beliebte.

Der Dorfobermann gähnte herzlich. »Ihr habt genug meiner Zeit und meiner nächtlichen Ruhe gestohlen. Ihr werdet drei Tage an den Eiern aufgehängt. Und Euer Pferd und all Eure Besitztümer bleiben konfisziert. Das haben meine Söhne ja bereits in weiser Voraussicht getan.« Hegel sah zu einer der Wachen. »Bring alles Gepäck herbei. Ich will wissen, ob er etwas Wertvolles besitzt.«

Dieser Richterspruch ging dem Dorfobermann schneller über die Lippen, als Eike erwartet hätte. Dennoch blieb der Verurteilte ruhig. Er besaß einen Trumpf, den Hegel nicht einfach ignorieren oder umgehen konnte. Trotz seines anscheinend mächtigen Status in diesem Ort, musste er sich den Gesetzen des Landes unterwerfen.

Die Wache kam mit Eikes Reisebündel zurück und riss es auf. Als erstes fiel dem Dorfobermann ein Rabenschnabel aus Jade in die Hände. Die Waffe sah zerbrechlich aus, trotzdem konnte man mit einem Verkauf ein gutes Sümmchen erzielen. Hegel schien zufrieden. »Was ist denn das für ein Schmuckstück?« Dass er tatsächlich eine Waffe in der Hand hielt, mit der Eike mehr als einmal sein Leben gerettet hatte, kam Hegel nicht in den Sinn. »Das Ding bringt bestimmt sechs oder sieben Goldlinge ein.«

Zu seinem bescheidenen Anwesen war der Dorfobermann also gekommen, indem er unter zwielichtigen Vorwänden den Leuten Hab und Gut abnahm, und es gewinnbringend verkaufte.

Auch der nächste Fund stimmte Hegel freudig. Durch seine Hände glitt die Rüstung aus Nixenschuppen. Ungläubig wog er sie und betrachtete die schwarzen Schuppen. »Ich habe noch nie so ein feingliedriges Schlachthemd gesehen.« Das Grinsen in seinem Gesicht wurde von einer großen Verschlagenheit überschattet. »Unter fünfzehn Goldlingen gebe ich es nicht her.«

Das nächste Teil aus Eikes Besitztümern hielt der Dorfobermann für einen schlichten Stein. Hegel wog den paltesischen Stein, der matt und grau war, und nichts mehr von seinem orangen Pulsieren übrighatte, in der Hand. Dazu sagte er nichts, wahrscheinlich, weil er glaubte, damit keinen einzigen Kupferling verdienen zu können.

Hegel wühlte weiter im Bündel. Neben ein paar Kleidungsstücken fiel ihm ein blauer Umhang in die Hände. Sorgfältig entfaltete er das Kleidungsstück. In dem blauen Stoff war mit silbernem Faden ein Hirsch eingelassen. Das Symbol des Königshauses ließ Hegel zögern, denn nur Silbermäntel, die nahen Ritter des Königshauses, durften solch einen Umhang tragen. Auch der Dorfobermann konnte eins und eins zusammenzählen. Das Beste wäre nun gewesen sich zu entschuldigen und zu hoffen, dass sein Fehler keine größeren Wellen schlug.

Eike fackelte nicht lange und spielte seinen Trumpf aus. »Im Namen von Königin Karlena Veildorn entbinde ich Euch all Eurer Pflichten als Dorfobermann. Ihr und Eure Familie verlasst dieses Anwesen innerhalb von drei Tagen. Ich werde dafür sorgen, dass ein neuer Dorfvorsitzender ausgerufen wird.«

Ganz so einfach ließ sich Hegel nicht beeindrucken. Er war kein Mann, der zu seinen Fehlern stand, am Boden kroch und um Vergebung bettelte. Stattdessen drehte er den Spieß um und ließ das Recht weiterhin auf seiner Seite walten. Ihn in Gegenwart seiner Wachen entmachten? Nein.

»Ergreift ihn!«, wies Hegel seine Untergebenen an. Dabei richtete er seinen knochendürren Zeigefinger auf Eike, spuckte wütend Speichel.

Auch die Wachmänner konnten eins und eins zusammenzählen. »Er ist ein Silbermantel, verehrter Dorfobermann.«

Wenigstens schienen die Getreuen von Hegel ein wenig ihr Gehirn anzustrengen, doch die Zweifel wurden vom Vorgesetzten schnell weggewischt. »Seid ihr kriechende Blindschleichen? Dieser Mann ist nicht nur ein Aufrührer, sondern auch ein Dieb! Wenn er ein echter Silbermantel wäre, würde er den Mantel um seine Schultern tragen und nicht wie ein verlauster Hund durch die Dörfer ziehen! Er hat folglich einen Silbermantel bestohlen!«

Das klang sogar für Eike plausibel. Er hatte den Mantel schon Jahre nicht mehr um seine Schultern gelegt, weil er sich seiner Heimat so fern fühlte. Weil er sich nicht mehr als würdig sah. Er war überzeugt, dass er im Moment als unbedeutender Mann bessere Dienste leisten konnte.

Sich als Langfinger hinstellen lassen, wollte er trotzdem nicht. Der Silbermantel war seiner. Ebenso der Rabenschnabel und die Nixenschuppenrüstung. An allen Gegenständen hatte der Alte keinen Finger zu rühren. »Es täte Euch besser, wenn Ihr mich einfach gehenlasst und versprecht, dass Eure Söhne sich in Zukunft benehmen. Andernfalls werde ich mit anderen Silbermänteln zurückkehren und die Dorfordnung wiederherstellen.«

»Wie bitte?« Der Dorfobermann konnte nicht glauben, dass gegen ihn eine Drohung ausgesprochen wurde. Noch dazu auf seinem eigenen Grund und Boden. Im Angesicht seiner Wachen und seiner Söhne. Anscheinend hatte er so etwas noch nie erlebt. Er ließ von dem Bündel ab und verengte seine Augen zu bedrohlichen Schlitzen. Stellte man tatsächlich seine Machtposition in Frage? Selbst seine drei Söhnen schauten mit einem schüchternen Blick umher. Sicherlich freuten sie sich darüber, wenn Eike eine Abreibung bekam, aber der Vater machte ihnen eben auch Angst. »Ich könnte meinen Männern befehlen, dass Sie Euren Körper mit ihren Speeren durchbohren sollen und Euren stinkenden Kadaver hier liegenlassen. Es würde niemanden interessieren.«

»Warum redet Ihr dann noch?«, forschte Eike kühn nach.

»Weil«, brüllte der Dorfobermann, »hier noch Recht und Ordnung herrschen!« Er legte die Arme hinter seinen Rücken, scharwenzelte um Eike herum, und fuhr mit seinem selbstgefälligen Verhalten fort. »Auch wenn es mir gefallen würde, Euch an Ort und Stelle zu richten, muss ich doch die Besonnenheit eines guten Anführers behalten. Das Urteil einer Todesstrafe darf nur im Beisein eines Richters gefällt werden. Was würden sonst meine lieben Gefolgsleute denken?«

Gefolgsleute? Erich Hegel war tatsächlich größenwahnsinnig.

»Also lasst Ihr mich gehen, nachdem Ihr mir eine Standpauke gehalten habt?«, schlussfolgerte Eike und überlegte, ob er einen Griff zu seinem Dolch wagen sollte. Innerlich schüttelte er den Kopf. Er war umringt von mehreren Männern, wovon vier schwer bewaffnet waren. Er hätte seinen Dolch ziehen, Hegel verletzen und vielleicht noch ein, zwei weitere Männer abwehren können, bevor man ihn überwältigte und tötete. Genau das hätte dem Dorfobermann doch am besten in den Kram gepasst.

»Ich sperre Euch erst einmal ein, bis mir eine Strafe eingefallen ist, um Euer aufbrausendes Gemüt zu zähmen«, spottete Hegel. »Meine üblichen Methoden würden kaum Euren Hochmut zähmen. Wahrscheinlich sind Eure Eier zu klein, um Euch daran aufzuhängen.«

Seine drei Söhne grunzten freudig, auch wenn es ihnen lieber gewesen wäre, Eike an den Eiern aufgehängt zu sehen. Sie grinsten und schenkten ihm Blicke, die sagten: Mit uns legt sich keiner ungestraft an.

Der Dorfobermann brauchte nichts mehr zu sagen. Eikes Arme wurden nach hinten gerissen und verschränkt, sodass er sich nicht mehr wehren konnte. Zielsicher griff Hegel nach seinem Dolch und zog ihn aus der ledernen Scheide. Ruhig betrachtete der Mann die Klinge und richtete die Spitze auf Eikes Gesicht. In der Luft zog Hegel den Verlauf der Narbe nach. »Wer immer das war, es muss Spaß gemacht haben. Ich würde es ihm nur zu gern nachmachen.« Wuterfüllt rammte er den Dolch in Tisch, sodass dieser stecken blieb. Tim, dessen Hand verletzt worden war, zuckte zusammen, so als ob man ihm auch noch die andere Hand durchbohrt hätte.

»Bringt ihn endlich weg«, murrte Hegel und tat gerade so, als ob Eike eine Beleidigung für seine Augen wäre.

»Eure Tage als Dorfoberhaupt sind gezählt«, äußerte sich Eike, während er vor einem spitzen Speer hergetrieben wurde.

»Mehr als große Töne spucken, wird Euch nicht bleiben«, schrie Elias hinterher.

Eike wurde in den nächsten Raum gebracht, dessen Tür mit dicken Eisenbeschlägen verstärkt war. Das kommt mir irgendwie bekannt vor.

Vor vielen Jahren hatte er sich in einer ähnlichen Situation befunden, war ein Gefangener gewesen und sollte auf dem Sklavenmarkt in Raduhn verkauft werden. Nur durch eine glückliche Fügung konnte er dem Schicksal entkommen, ein Lustknabe zu werden. Er schnaubte verächtlich. Wer wusste schon, was Hegel mit ihm vorhatte. Vielleicht würde er ihn einfach in diesem Loch schmoren lassen und nur so tun, als hätten Recht und Ordnung irgendeine Bedeutung für ihn. Gewiss hatte der verschlagene Dorfobermann genug zwielichtige Kontakte, um einen befangenen Richter für ihn agieren zu lassen.

An einer Wand, die zum Innenhof lag, befand sich an der Decke eine vergitterte Öffnung. Wahrscheinlich damit die Insassen im Winter froren, im Sommer schwitzten und wenn es regnete, auch etwas nass wurden. Unterhalb der Öffnung hatte sich schon eine große Pfütze gebildet, deshalb setzte sich Eike neben die verschlossene Tür. Ich hätte Erich Hegel meinen Dolch an die Kehle legen sollen, schimpfte er gedanklich darüber, wie schnell und mühelos er sich hatte einsperren lassen. Mit jedem weiteren Atemzug war er sich aber sicher, dass die Geiselnahme des Dorfobermanns nicht erfolgreich verlaufen wäre. Auf der vergitterten Öffnung standen mehrere Stiefelpaare und er hörte Stimmen.

»Das ist das letzte Mal, dass ich euch drei Dummschädel aus der Patsche helfe! Mit eurem unüberlegten Verhalten werdet ihr mich noch einmal Kopf und Kragen kosten! Könnt ihr nicht einmal selbst denken?«

»Aber Vater …«

»Haltet einfach den Mund. Ist es nicht schon beschämend genug, dass ihr euch Ärger wegen einer Frau einhandelt?«

»Ich hätte sie doch eh heiraten sollen!« Elias’ Stimme schwappte vor Empörung über.

»Das war einmal, Junge. Inzwischen ist sie nur noch eine unbedeutende Schankmagd. Sie ist unter eurer Würde!«

»Sie ist nun mal das einzige Weibsbild weit und breit, welches ansehnlich ist.«

Klatsch. Klatsch. Klatsch. Wie es sich anhörte, hatte Hegel gerade eine Runde Maulschellen an seine Söhne verteilt. Das freute Eike natürlich, aber half ihm leider nicht aus dieser Situation heraus. Er spitzte seine Ohren, um das Gespräch weiter zu verfolgen.

»Morgen werden wir nach Steinimfels aufbrechen. Wenn auch nur einer von euch dort in ein Fettnäpfchen tritt, werde ich euch nicht helfen können. Neue Mächte haben sich im Osten gebildet, folglich müssen neue Bündnisse geschlossen werden. Wenn es nötig ist, werde ich euch mit hässlichen Hexentöchtern vermählen.«

»Du willst uns wie eine entjungferte Prinzessin verramschen?«, ordnete Eike Norbert zu. Das Großmaul klang äußerst besorgt.

»Stellt euch nicht so dumm an. Wenn ich eine Eheschließung arrangiere, wird sie gewinnbringend für uns alle sein. Dann werde ich die Position als Dorfobermann nur noch müde belächeln und ihr könnt euch willige Dienstmädchen heranwinken, sobald eure Ehefrauen euch den Rücken zudrehen.«

Elias war nicht ganz so überzeugt. »Was, wenn es keine Hexentöchter gibt? Wir haben nichts, was diese neuen Mächte interessieren könnte.«

Hegel ließ sich nicht beirren. »Nichts? Wir sind bereit, uns diesem neuen Bündnis anzuschließen und unsere Königin zu verraten. Es heißt, die Mutigen werden wie die Oberhäupter der Welt behandelt. Wir sind die Mutigen!« Die Stimme des Dorfobermanns wurde von dem Größenwahn verlassen und erklang wieder in einem besonnenen Ton. »Also überlasst mir dort die Verhandlungen. Ich will euch nicht mal ein Weib anstarren sehen, oder erleben, dass ihr euch wie kleine, verwöhnte Prinzen aufführt. Dazu habt ihr nach den Verhandlungen immer noch genug Zeit.«

»Ja, Vater«, gelobten die drei Brüder einstimmig Besserung.

Die Stiefelpaare verschwanden und Eike blieb mit bedrückender Einsamkeit zurück.

Steinimfels? War das nicht die größte Stadt an der Ostküste? Gab es dort etwa einen Umsturz? Er schwor sich, wenn er dieses Loch unbeschadet verlassen konnte, würde er es herausfinden.

Die folgenden Tage regnete es nicht mehr und die Pfütze in Eikes Zelle versiegte. Seit dem Abend, an dem er eingesperrt worden war, hatte es kein Zusammentreffen mehr mit Hegel oder einem seiner Söhne gegeben. Das lag vor allem daran, weil am Tag nach der Gefangennahme ein riesiger Tumult auf dem Vorhof herrschte. Zwei Wagen und mehrere Pferde wurden für die Abreise nach Steinimfels bereitgemacht. Für das Unterfangen hatte Hegel einiges von seinem Personal von den üblichen Pflichten entbunden. Er und seine Söhne wurden von einem Tross begleitet, welcher nur einem hochrangigen Adligen zustand oder aber einem sehr reichen Mann. Nachdem der Tross das Anwesen verlassen hatte, blieben nur noch wenige Wachen zurück.

Eine davon kam einmal am Tag in Eikes Verlies, brachte eine Schüssel mit pampigen Essensresten und einen Krug Wasser. Wahrscheinlich hatte Hegel sowieso vorgehabt Eike in dem Verschlag zu Grunde gehenzulassen oder ihn nie mehr freizugeben. Andernfalls hätte der Dorfobermann nämlich jemanden beauftragt sich um Eikes Belange zu kümmern, da er durch die Abreise ja selbst verhindert war. Hegel war sich bewusst, sollte er Eike jemals wieder freilassen, würde die Position des Dorfobermanns bald schon durch einen fähigeren und ehrlicheren Mann besetzt werden.

Eike starrte auf seinen leeren Wasserkrug. Nicht, dass er das Gesöff gerne getrunken hätte, nach dem Geschmack zu urteilen, war es Regenwasser, welches von den Dächern aufgefangen wurde, doch heute war noch niemand gekommen, um ihn zu versorgen. Ein gefüllter Magen mit Regenwasser und Pampe war ihm lieber als ein leerer.

»Hallo!«, hallte eine Stimme durch das vergitterte Oberlicht.

Eike raffte sich auf und starrte auf das Hinterteil einer von Hegels Wachen. Nackt und rosig, wie der oberste aller Götter es schuf. Mit einer geräuschvollen Flatulenz kamen Kot und Harn durch das Gitter geschossen. Nur im letzten Moment konnte Eike auf Seite springen. Von oben hörte er Männer lachen.

Schöne Scheiße, im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Eike und sah auf das herab, was sich nun in einer gelblich-braunen Pfütze in seiner Zelle ausbreitete. Reichte es nicht, dass ein widerlicher Gestank von dem fast randvollen Eimer für die Notdurft ausging? Für das Entleeren selbigen fühlte sich nämlich niemand zuständig. Sicherheitshalber suchte Eike sich ein Plätzchen so weit weg von dem Gitter, wie es nur ging.

Er wollte doch nur Geraldine helfen. Ohnehin ärgerte es ihn, dass niemand ihm oder der Frau im Gasthaus zur Seite gestanden hatte. So weit war es inzwischen mit den Menschen gekommen, dass sie über Untaten hinwegsahen. Wehe aber, wenn einer von ihnen selbst in Not geriet, dann erwarteten sie natürlich umgehend Hilfe. Die Welt schien von außen so friedlich, doch innen drin war sie voller Maden. Eine besonders fette Made trug den Namen Erich Hegel.

Jetzt wünschte Eike sich, Kontakt zu seinen alten Freunden gesucht zu haben. Doch nach dem Defekt des Technoid, war dies nicht mehr möglich. Hätte er doch nur einen Boten in Hanse losgeschickt. Sie hätten alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihn zu finden. Hätte, hätte, glitzernde Kette …

Er tadelte sich für seine eigene Dummheit. Erst vor wenigen Wochen war er nach Calmarck zurückgekehrt. Nicht einen seiner alten Weggefährten hatte er wissen lassen, dass er zurück war. Azra hätte er ein winziges Zeichen geben können – sie hätte es mit Vertrauen und Verständnis aufgenommen.

In den letzten Jahren, in denen der Kontakt abgebrochen war, war Eike gar nicht erpicht darauf gewesen, zu erfahren, wie es seinen Weggefährten ergangen war. Oft genug empfand er einfach nur Neid und das wollte er auf keinen Fall fühlen. Die letzten Nachrichten, die er von seiner Freundin Hildlin empfangen hatte, schmerzten manchmal mehr als Bärenzähne im Oberarm. Soweit Eike wusste, hatte sie inzwischen zwei Kinder auf die Welt gebracht. Das war sein Wissensstand von vor über zwei Jahren! Bestimmt war inzwischen noch mindestens ein Balg hinzugekommen.

Was scherte es ihn eigentlich? Die einstige Liebe zu Hildlin war längst verflogen. In den vergangenen acht Jahren hatte er schließlich nicht wie ein Mönch gelebt. Bereits in Paltesch hatte er sich auf ein paar Mädchen eingelassen und von den Weibsbildern auf seiner Weltreise musste man nicht sprechen. Von der heiratswilligen Braut bis zur münzgierigen Dirne war alles dabei gewesen. Leider war keine etwas für die Ewigkeit oder gar ein Grund sich irgendwo niederzulassen.

Trotzdem war es nicht immer leicht zu ertragen, wenn der Technoid Nachricht von Hildlin und Bodo überbrachte. Ihr Zusammensein schien glücklich und es gab keine Zweifel, dass sie ihre Eheschließung auch nur einen Moment bereuten.

Missgunst und Eifersucht standen Eike gar nicht gut und das wusste er selbst am besten. Deshalb hatte er nach seiner Rückkehr beschlossen, es langsam angehen zu lassen. Er wollte sich in Ruhe auf Calmarck vorbereiten und verhindern, dass alle Eindrücke mit einem Schlag auf ihn einstürzten. Der Platz, an dem er sich gerade befand, war genau richtig für ihn, auch wenn er lieber nicht der Gefangene von Hegel gewesen wäre.

Eike hasste Momente wie diese. Vor lauter Langeweile erinnerte er sich zu sehr an sein altes Leben, an das, was er zurückgelassen hatte. Vor allem an das, was er verloren hatte. Acht Jahre glaubte er, dass er einige Verluste in seinem Leben verwunden hatte. Acht Jahre lang musste er jedoch feststellen, dass das Verlorengeglaubte immer einen Platz in seinem Herzen besaß. Wenn nicht dort, dann zumindest in seinen Gedanken. Nicht einmal das schier unendliche Wissen aus der Weltenbibliothek konnte ihn über die Verluste hinwegtrösten. Sie gar zweitrangig oder unwichtig erscheinen lassen.

Vielleicht unterscheidet mich das von Menschen wie Hegel und Anhang, versuchte sich Eike sein Gemüt schön zu reden.

»Geraldine!«, erklang eine Jungenstimme.

Eike blickte auf. Kam da etwa schon der nächste Übeltäter, der ihm in die Zelle kacken wollte? Die kürzlich gemachten Erfahrungen hielten ihn nicht davon ab, zu prüfen, wer da am Oberlicht stand. Vor der vergitterten Öffnung sah er dünne Beine in ausgelatschten Schuhen. Er musste nicht überlegen, zu wem diese gehörten. Es war der Stalljunge aus dem Gasthaus.

»Hier unten ist er.« Dann krabbelte der Junge auf alle Viere und presste sein Gesicht gegen die Gitter. Ein Teil seiner Wange berührte das kalte Eisen, was ihn aber nicht weiter zu stören schien.

Eike war tatsächlich überrascht, dass der Junge hier auftauchte und als sich zu ihm noch ein weiteres Paar Stiefel gesellte, war sich Eike sicher, dass auch seine Schwester nicht weit war. Geraldine bückte sich, dabei ließ sie tief in ihr üppiges Dekolleté blicken.

Etwas beschämt blickte Eike woanders hin. Natürlich entfachte der Ausblick ein Pochen in seiner Brust, aber er wollte keinesfalls auch nur annährend wie die Söhne von Hegel sein. Diese hätten jetzt mit sabbernden Mündern dagestanden und die Aussicht in das Dekolleté genossen.

»Ihr solltet verschwinden. Der Dorfobermann wird es nicht gutheißen, wenn ihr auf seinem Anwesen Schabernack treibt«, empfahl er den beiden Besuchern.

»Ritter scheinen es anscheinend nicht zu merken, wenn sie gerettet werden, da sie es sonst immer sind, die sich um in Notgeratene kümmern«, neckte Geraldine.

Eike reckte seinen Hals und sah in die Gesichter der beiden. Anstatt sich über ihre Anwesenheit zu freuen, sagte er kleinlaut: »Ich bin kein Ritter.«

Das stimmte sogar. Er war ein Silbermantel, aber kein Ritter. Diese Diskussion hatte er mehr als einmal in seinem Leben führen müssen.

»Jaja. Das klären wir dann später.«

DAS DORNENBETT

Eike wollte diese Debatte eigentlich nicht verschieben. Der Junge und seine Schwester würden noch unbeabsichtigt herumtratschen, dass er ein Ritter war. Oder gar ein Silbermantel. Darauf konnte er gut verzichten und deshalb leugnete er es weiterhin. Seine vermeintlichen Retter mussten sich lieber darum kümmern, von Hegels Grundstück zu verschwinden. Sollten die beiden aufgegriffen werden, würde der Junge sicherlich mit Stockhieben rechnen müssen und Geraldine den Wachleuten als Lendenwärmer gereicht werden. Ganz genau was passieren würde, konnte sich Eike nicht ausmalen, aber der ungerechte Dorfobermann würde sie nicht schonen. Wie hatten die beiden es überhaupt geschafft, sich so unbedarft an das Gitter zu stellen? Kannten sie einen Geheimweg oder waren sie einfach durch das Haupttor geschlendert? Zwar waren nur noch wenige Wachen auf dem Anwesen stationiert, diese mussten die Geschwister allerdings zweifellos bemerkt haben.

»Also, wie sieht es aus?«, forderte Geraldine Eike unnötig heraus. »Wollt Ihr Eure Freizeit hier verbringen oder nehmt Ihr unsere Hilfe an? Puh! Ich hoffe, der strenge Geruch geht nicht von Euch aus.«

Geraldines kleiner Bruder sah so aus, als ob er eine Antwort von Eike einfach überspringen würde. Er schob seine schmale Hand durch die Öffnung und ließ etwas mit einem Pling in die Zelle fallen. Zum Glück neben das Häufchen Unrat, welches kurz zuvor von einem der Wachmänner produziert worden war.

Vor Eikes Füßen lag ein bronzener Schlüssel, der groß und schwer war. Verblüfft nahm er den Schlüssel an sich und sah den Kleinen an. »Woher hast du den Schlüssel?«

Innerlich machte er sich große Sorgen um den Jungen. Wenn Hegel dahinterkam, was der Knabe getan hatte, würden ein paar Stockhiebe nicht genügen. Am liebsten hätte Eike diese Fluchtchance ausgeschlagen, allein schon um den Jungen zu schützen. Doch eine weitere Gelegenheit würde es definitiv nicht geben.

»Hört gut zu«, brachte Geraldine nun in einem forschen Ton heraus. Solch eine Stimmlage durfte sie gegenüber ihren Gästen nicht zeigen. Um den Kunden im Alten Geweih einen Kupferling zu entlocken, musste sie stets freundlich und zuvorkommend sein. Sie war aber nicht als Schankmagd herkommen. »Nachts wird die Vorderpforte von zwei Wachen bewacht, zwei weitere drehen halbstündlich ihre Runden. Versucht einfach über die Nordmauer zu entkommen. Von den Zinnen könnt Ihr in ein paar Dornenbüsche springen.«

»Dornenbüsche?«, wiederholte Eike ungläubig. Dachte die Frau tatsächlich, er würde sich wie ein Feigling von diesem Ort stehlen und sein Hab und Gut zurücklassen? Mondgesicht, seinen Jadehammer, seine Rüstung, seinen Silbermantel, der paltesische Stein und seine Münzen?

»Immerhin noch besser, als sich beim Sturz von der Mauer beide Beine zu brechen.«

»Ich werde mich nicht davonstehlen«, zischte Eike.

»Eingebildet seid Ihr also auch noch.« Die Frau gab ihre kniende Position auf und zog ihren Bruder hoch. »Du hast dich anscheinend geirrt. Der Kerl ist kein Edelmann. Er ist wahrscheinlich nur ein herumstreunender Tagelöhner. Oder ein Wilderer. Ich dachte nicht, dass jemand so dumm sein kann.«

Eikes Augenbrauen zogen sich zusammen. »Es ist zu eurem allerbeider Schutz.« Auf die niederschwellige Beleidigung von ihr ging er nicht ein.

»Tut einfach, was Ihr wollt. Wir haben versucht, uns zu revanchieren. Aber wenn ich eins weiß, dann ist es, dass man mit Sturköpfen und stolzen Pfauen keine Diskussionen eingeht.«

Sie schob ihren Bruder vor sich her, der aus eigener Kraft nicht gehen wollte. »Aber Geraldine! Wir wollten doch fragen, ob …«

»Lenni, sei still jetzt.«

Die beiden waren verschwunden und Eike ließ sich zurück auf seinen Platz sinken. Dabei ließ er den Schlüssel zwischen seinen Fingern gleiten. Sie haben sich für mich in Gefahr gebracht. Diese törichten Kinder. Dabei vergaß er, dass Geraldine schon längst erwachsen, bestimmt fünfzehn Jahre älter als Lenni war. Er ärgerte sich über ihren Leichtsinn, denn er hätte das, was sie getan hatten, niemals von ihnen verlangt. Ob sie Schuldgefühle für seine Situation empfanden? Das mussten sie wirklich nicht, denn sie trugen keine Schuld. Allein der Dorfobermann und seine Söhne waren für diese Lage verantwortlich. Eike machte nicht mal den Wachen einen Vorwurf, die in Hegels Dienst standen. Wäre er ein einfacher Mann gewesen, hätte er auch brav jeden Befehl befolgt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Obwohl es gerade erst Mittag war, schloss er seine Augen und schlief ein.

Es musste später Abend sein, als Eike erwachte. In seinen Händen hielt er immer noch den Schlüssel fest. Als er einen Blick durch das Oberlicht warf, auf dem Hof ein paar Fackeln tanzen sah, überlegte er, ob er Geraldines Rat befolgen sollte. Zwei Wachen machten gerade ihre Runde über das Anwesen. Völlig gelassen schlenderten sie über den Hof und leuchteten dunkle Ecken mit Pechfackeln aus. Schon bald waren sie verschwunden. Die magere Notbesetzung reichte gerade aus, damit Diebe und Plünderer nicht ihr Unwesen trieben.

Bis zur nächsten Wachrunde hatte Eike also ungefähr dreißig Minuten Zeit. Jedenfalls wenn die Aussage von Geraldine stimmte. Den Schlüssel in das Schloss stecken und das Loch hier verlassen, würde keine Minute dauern. Seinen Berechnungen zufolge hatte er also noch neunundzwanzig Minuten Zeit, um seinen Besitz zu suchen und Mondgesicht zu befreien. Er überlegte. Wenn ich auf Mondgesicht aufsitze und die Wachen vor dem Tor dazu bewegen kann, es zu öffnen, kann ich sie einfach umreiten.

Er war davon überzeugt, Eisherz ohne weiteres Aufsehen verlassen zu können. Bis seine Verfolger ihre eigenen Pferde gesattelt hätten, wäre er schon längst verschwunden. Sollte alles reibungslos ablaufen, hätte er natürlich Geraldine und Lenni gerne dafür gedankt, aber sobald er diesen Hof verlassen konnte, musste er auch das Dorf hinter sich wissen. Für einen Blick zurück blieb einfach keine Zeit.

Selbstsicher steckte er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um, bis er ein Klacken vernahm. Als die Tür nach innen aufschwang, huschte ein breites Grinsen über sein Gesicht, und er merkte, wie seine Narbe spannte. Er wollte gar nicht wissen, wie Geraldine und Lenni in den Besitz des Schlüssels gekommen waren. Dieses schlitzohrige Geschwisterpaar!