Die Andoria Chroniken - Unter den Schwingen des Adlers - Franziska Kamberger - E-Book

Die Andoria Chroniken - Unter den Schwingen des Adlers E-Book

Franziska Kamberger

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Beschreibung

»Die Erde war von Blut getränkt. Der kupferne Geruch legte sich auf alles und jeden. Roberts Mittel erschienen vielen fragwürdig. Aber alle wussten, dass sich so etwas nicht wiederholen durfte.« Aus den Berichten der Blutnacht König Robert ist tot. Ermordet von seiner eigenen Schwester, der neuen Königin. Um Ada zu stürzen, werden Nia und ihre Gefährten alles riskieren. Ganze Weltbilder müssen fallen, um Andoria zu retten. Doch wer wird noch an ihrer Seite sein, wenn Nia offenbart, wer sie wirklich ist? Denn Vertrauen ist ein zerbrechliches Gut, wo die Grenzen zwischen Freund und Feind verschwimmen...

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Copyright 2023 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-83-0

Alle Rechte vorbehalten

Für Mama.

Danke für die unzähligen Kinobesuche, Gespräche bei Kaffee

und Lachanfälle.

Unsere Schaukelstühle auf der Veranda sind reserviert.

Für Papa.

Danke, dass du mich auf jedem Weg unterstützt,

auch wenn es nicht deiner ist.

Eure Dada.

Inhalt

1. Aiden

2. Malenia

3. Aiden

4. Malenia

5. Aiden

6. Malenia

7. Gideon

8. Malenia

9. Aiden

10. Malenia

11. Gideon

12. Aiden

13. Malenia

14. Malenia

15. Aiden

16. Gideon

17. Malenia

18. Aiden

19. Gideon

20. Malenia

21. Gideon

22. Aiden

23. Gideon

24. Malenia

25. Gideon

26. Aiden

27. Gideon

28. Malenia

29. Gideon

30. Malenia

31. Gideon

32. Aiden

33. Gideon

34. Aiden

35. Malenia

36. Aiden

37. Malenia

38. Aiden

39. Malenia

40. Aiden

41. Gideon

42. Malenia

43. Malenia

44. Gideon

45. Malenia

46. Aiden

47. Gideon

48. Malenia

49. Aiden

50. Malenia

51. Aiden

52. Malenia

53. Malenia

54. Malenia

55. Irgendwo auf hoher See

Danksagung

Was bisher geschah …

Dies ist keine von Brams Geschichten. Ich kann mich nicht vor dem Kaminfeuer zusammenrollen, mein Fell putzen und seinen Worten lauschen. Ehrlich gesagt wäre mir das deutlich lieber. Denn jetzt stecke ich selbst mitten im Geschehen.

Ich mag zwar eine unerschrockene, magisch begabte Pantherdame sein, aber das geht mir doch etwas zu weit.

Nun, genau genommen ist es Nia, die im Mittelpunkt der Geschichte steht, aber wo sie ist, da bin auch ich. So einfach ist das.

Aber fangen wir ganz von vorne an. Nia und ich lebten ein ganz ruhiges Leben. In dem kleinen Örtchen Karstons River, weit weg von der Hauptstadt und dem Magie verachtenden König Robert Nordis.

Mal davon abgesehen, dass Nia jeden Tag fürchten musste, wegen ihrer Magie hingerichtet zu werden, wie ihr Ziehvater Bram, war es ein friedliches Leben. Zumindest bis die Soldaten kamen. Die Adler. Ein lächerlicher Spitzname, findet ihr nicht auch?

Ich mochte sie von Anfang an nicht. Wie überheblich sie daher kamen, mit ihren Schwertern und ihrem Befehl vom König. Aber als sie meine Zähne und Krallen gesehen haben, sind sie fast davongelaufen vor Angst. Hach, ich hatte lange nicht mehr solchen Spaß.

Am Ende blieb mir und Nia keine Wahl und wir mussten ihnen folgen, bis nach Dragoterra, unserer Hauptstadt, und zum Palast des Königs. Ich blieb immer an Nias Seite, denn das alles gefiel mir überhaupt nicht. In einem Land, in dem die Magie verboten ist, gibt es für eine Magische wohl keinen gefährlicheren Ort als den Palast des Königs, meint ihr nicht auch? Dummerweise stellte sich dann aber heraus, dass Nia nicht einfach nur meine Nia, ein einfaches Mädchen aus Karstons River ist. Nein – sie ist die Tochter von König Robert!

Also, da fehlten selbst mir einmal die Worte, und ihr wisst, das passiert mir nicht besonders oft. Nia war natürlich auch schockiert.

Den Rest unserer Reise durch Andoria kann man recht schnell zusammenfassen: Tagelanges Reiten (Laufen in meinem Fall), ein kleiner Vorfall mit fiesen Irrlichtern (bei der Erinnerung sträubt sich mir immer noch das Fell) und ein kaum nennenswerter Angriff durch Rebellen. Nia musste ihre Magie anwenden, damit wir heil aus der Sache rauskommen konnten. Aber wir haben es geschafft, das vor den Soldaten geheimzuhalten.

Irgendwo auf der Reise haben wir beide uns ein bisschen mit den Adlern angefreundet. Was soll ich sagen, all die Streitereien werden einfach zu anstrengend, wenn man nebenbei um sein Leben kämpfen und Geheimnisse lüften muss.

Zwischen Nia und Aiden, dem Silberling, flogen allerdings weiterhin die Fetzen. Das war schon unterhaltsam.

Allerdings muss ich hinzufügen, dass Aiden ein lausiger Soldat ist. Nia ist in seiner Gegenwart dreimal fast einem Angriff zum Opfer gefallen. Drei Mal! Seine Aufgabe als Leibwächter hatte er irgendwie falsch verstanden. Der König war übrigens kein allzu beeindruckender Mann. War, weil … dazu kommen wir später.

Auf jeden Fall saßen wir von da an mehr oder weniger im Palast fest, weil der König Nia unbedingt dort haben wollte. Eines Tages soll sie auf dem Thron sitzen – könnt ihr das glauben? Ich würde meine neun Leben darauf verwetten, dass es nichts gibt, das Nia weniger möchte.

Wir trafen Gideon, Nias Stiefbruder, der ebenfalls Soldat ist, und lernten Esmera kennen. Ein nettes Mädchen, wenn sie nur nicht diesen aufdringlichen Affen mit sich rumtragen würde. Ständig springt er mich an und krallt sich in meinem Fell fest. Wahrscheinlich kriege ich noch Flöhe deswegen. Es juckt manchmal schon so … aber ich schweife ab.

Nach ein paar Angriffen durch die Rebellen, entschied Aiden unverschämter Weise, dass es am Sichersten für Nia wäre, wenn er in ihren Gemächern schliefe (ich bin ja der Meinung, als Leibwächter wäre es seine Aufgabe gewesen, wach zu bleiben, während Nia schläft. Aber mich fragt ja keiner). Letztendlich bedeutete das, dass er rund um die Uhr in unserer Nähe war. Ziemlich lästig. Auf jeden Fall geschah in der Zeit etwas zwischen ihnen.

Ich kann es nicht genau erklären, aber sie stritten sich deutlich weniger und Nia schaffte es tatsächlich, Aiden von seinem Hass gegen die Magie abzubringen. Am Ende ließ er sogar einen Magischen laufen, als Dragoterra von Rebellen angegriffen wurde. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, als er Nia davon berichtete, würde ich es nicht glauben.

Mittlerweile muss ich zugeben, der Silberling ist mir nicht mehr so lästig wie am Anfang. Er tut zumindest alles, um Nia zu schützen. Gut, er versagt dabei ziemlich oft, aber der Wille ist immerhin da. Und manchmal ist er doch ganz nützlich, also versuche ich, mich ein bisschen mit ihm anzufreunden. Nias Schutz ist das Wichtigste für mich, und aus irgendeinem Grund scheint sie Aiden zu mögen. Versteh‘ einer die Menschen.

Leider fingen dann die Probleme erst richtig an. Nia entdeckte nämlich die Geheimgänge des Palasts (also das klingt jetzt doch ein wenig nach einer von Brams Geschichten) und eines nachts gelangten wir in ein Zimmer, in dem eine seltsame Frau eingesperrt war. An das, was danach geschah, kann ich mich ehrlich gesagt nicht allzu genau erinnern. Denn diese Frau wandte ihre Magie bei mir an und übernahm die Kontrolle über mich. Sie hätte fast dafür gesorgt, dass ich Nia töte. Ich habe sie tatsächlich angegriffen. Nie werde ich mir das verzeihen. Aber Nia, meine wunderbare, starke und kluge Nia, hat es geschafft, mich und so sich selbst mit ihrer eigenen Magie zu retten. Dummerweise wusste die andere Magische jetzt aber ebenfalls von den Geheimgängen, und dass wir den Schlüssel dazu hatten. Der Schlüssel, der kurz darauf gestohlen wurde.

Letztendlich war das unser größter Fehler. Denn nur so konnte diese Magische sich in der Seelennacht befreien. Und wisst ihr, wer sie ist? Ada! Die angeblich tote Schwester des Königs, die mit ihrer Magie einst den großen Reinheitskrieg verursacht hatte! Die so gefährlich ist, dass Robert, nach dem Sieg über sie in der Blutnacht, aus Angst sämtliche Magie verbieten ließ. Wir wissen nicht, warum Robert gelogen hat und Ada noch lebt. Aber in der Seelennacht tauchte sie auf der großen Feier auf, übernahm mit ihrer Magie die Macht über einen der Soldaten und ließ Robert, ihren eigenen Bruder, von ihm töten. Ziemlich feige, oder nicht?

Nia kämpfte anschließend gegen sie, um mich vor Ada zu schützen, wobei sie allerdings ihre eigene Magie vor allen anderen offenbarte. Am Ende konnten wir fliehen. Doch Aiden war im Kampf gegen Ada zurückgeblieben. Und ich fürchte, dass Nia das nicht einfach so hinnehmen wird.

Ich will ganz ehrlich sein: In den letzten Wochen haben wir so viel erlebt, dass ich mir nur noch ein schattiges Plätzchen im Wald suchen, ein paar Stündchen schlafen, mein Fell lecken und zwischendurch ein bisschen jagen möchte. Aber ich fürchte, daraus wird nichts.

Teil 1

Die Heimat

der Drachen

1. Aiden

»Magie hat viele Formen. Elementarmagie, Mentalmagie, Blutmagie, Metamorphmagie ... Welche davon die gefährlichste ist, hängt immer von demjenigen ab, der sie nutzt.«

Aus Lady Libras verschollenem Magielehrbuch

Den Tag, an dem Lendra starb, würde er niemals vergessen. Er verlor an diesem Tag seine Schwester. Den letzten Rest Familie, den er noch gehabt hatte. Einen der wichtigsten Menschen seines Lebens.

Niemals würde er das lähmende Gefühl vergessen. Die Geräusche mit denen das Haus um ihn herum eingestürzt war, die Magischen hatten den Stein zerbröseln lassen wie trockenes Gebäck, das Holz splittern wie brechende Knochen. Lendra hatte ihn geschützt, obwohl sie selbst schon fast tot gewesen war. Ihr Blut war auf sein Gesicht getropft. Er hatte keinen Laut von sich geben dürfen, damit die Magischen ihn nicht entdeckten. Deshalb hatte er stumm zugesehen, wie der Blick in ihren Augen stumpf geworden war. Das Gewicht ihres leblosen Körpers und die Trümmer dessen, was einst sein Zuhause gewesen war, hatten ihn kalt auf den Boden gedrückt. Er hatte sich nicht rühren können. Nicht atmen können.

Er war noch ein Kind gewesen.

Manchmal fragte er sich, ob er sich hätte befreien können. In all den Stunden, die er unter ihrem erkaltenden Körper gelegen hatte. Möglicherweise hätte er ihn beiseiteschieben und sich aus den Trümmern ziehen können. Er konnte sich nicht erinnern, ob er es versucht hatte.

Er wusste nur, dass er sich jetzt ebenfalls so fühlte. Gelähmt. Dem Ersticken nahe.

Der eisige Wind fuhr ihm unter sein Hemd und dennoch war ihm, als ob ein tonnenschweres Gewicht auf seiner Brust lag.

Seine Hand hatte sich so fest um den Knauf seines Schwertes geschlossen, dass seine Knöchel schmerzten.

Es hatte keinen Sinn, das Schwert zu erheben. Um ihn herum lagen die Leichen anderer Adler. Der Soldaten, mit denen er zusammen gelebt, gearbeitet und trainiert hatte.

Blut tränkte die Erde. Ihm gegenüber standen weitere seiner Kameraden. Adler mit leerem Gesichtsausdruck und erhobenen Klingen. Aus den Augen anderer dagegen sprachen Triumph und Blutdurst. Viele der Adeligen, die zwischen ihnen standen, wirkten vor Schock erstarrt. Hatten sie eben noch Nia als ihre Feindin angesehen, wurde ihnen so langsam wohl klar, dass die wahre Bedrohung eine andere war. Es hatte keinen Sinn, sein Schwert zu erheben. Denn zwischen all den Soldaten ging die gefährlichste Magische entlang, die Andoria bis dahin kennengelernt hatte. Eine schlanke Frau, mit Haut, bleich von den Jahren, die sie im Verborgenen verbracht hatte. In einem Kleid fast so schwarz wie ihr langes Haar und in dem sie wie ein Teil der Nacht wirkte. Ada blieb neben der Leiche des Königs stehen und schnalzte mit der Zunge.

»Genug.« Ihre eisige Stimme wehte über die Wiese und auch die letzten Kampfgeräusche verstummten. Eine gespenstische Stille breitete sich aus.

»All eure Kämpfe erfüllen keinen Zweck«, verkündete sie geradezu vergnügt. »Wisst ihr das denn nicht?«

Sie lächelte. Ein Lächeln aus beinahe blutroten Lippen. Der Schein der Fackeln, die überall auf der Wiese standen, spiegelte sich in ihren dunklen Augen.

Ein animalischer Schrei erklang, und Aiden zuckte zusammen. Rechts von ihm preschte ein Adler mit erhobenem Schwert auf Ada zu. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Aiden, er würde es schaffen. Dann hielt er urplötzlich an, die Schwertspitze nur Zentimeter von Adas Hals entfernt.

Die Schwester des Königs grinste. Mit langsamen Schritten umrundete sie den Soldaten, der steif dastand wie eine Statue.

»Ihr habt von meiner Magie gehört, nicht wahr?«, fragte sie und sah in die Runde. Adelige, Bedienstete, Soldaten - alle, die bei der Feier zur Seelennacht anwesend gewesen waren, blickten sie an. Aiden entdeckte hauptsächlich Angst in ihren Gesichtern. Verwirrung. Und in einigen: Neugier. Die Schwere auf seiner Brust nahm zu.

»Der König hat sie euch fürchten gelehrt«, fuhr Ada fort, den Blick wieder auf den erstarrten Soldaten gerichtet. »Aber er hat euch sicher verschwiegen, dass ich meine Magie nicht zwingend brauche, um zu bekommen, was ich will, nicht wahr? Ebenso, wie er vor euch geheim gehalten hat, dass ich sehr wohl am Leben bin. Die Geschichte der Blutnacht ist eine Lüge. Er hat mich nie besiegt.« Die letzten Worte schrie sie fast, als wollte sie sichergehen, dass auch jeder sie hörte.

Mit einem Mal wirbelte sie herum.

»Melvin!«

Aidens Blick zuckte umher, bis er den angesprochenen Soldaten fand. Er kannte Melvin. Er gehörte zu denjenigen, die schon lange dem König gedient hatten. Als Aiden seine Ausbildung begonnen hatte, hatte er manchmal mit ihm trainiert. Melvin war einer der Ältesten unter ihnen.

Während er jetzt vortrat, war der Ausdruck in seinen Augen wach und klar. Nichts deutete darauf hin, dass Adas Magie auf ihn wirkte. Er trat freiwillig vor - und rammte dem reglosen Soldaten sein Schwert in die Brust. Gurgelnd sackte er zu Boden, und sein Blut vermischte sich mit dem der anderen Toten.

»Ich danke dir«, sagte Ada lächelnd.

Melvin nickte knapp und straffte die breiten Schultern, bevor er wieder zurücktrat. Waren sie eine Lüge gewesen? All die Jahre, in denen er dem König gedient hatte. Hatte er die ganze Zeit nur auf diese Nacht gewartet? Auf Adas Rückkehr? Oder hatte Robert etwas getan, dass Melvins Loyalität ihm gegenüber bröckeln ließ, bis Ada zu dienen zur besseren Alternative geworden war? Aiden sah ihm nachdenklich hinterher. Auch sein Vertrauen in den König hatte in den letzten Monaten gelitten. Aber nichts hätte ihn dazu gebracht, Melvins Weg einzuschlagen.

»Was sollen wir tun?«, wisperte eine Stimme neben ihm.

Er wagte es nicht, den Kopf zu drehen.

»Abwarten.« Seine Antwort war kaum mehr als ein Lufthauch, aber an der Art, wie Leif tief einatmete, merkte er, dass er ihn gehört hatte.

Er und sein Bruder Luan standen direkt neben ihm. Will, der in seinen jungen Jahren schon zu viel Blut gesehen hatte, nur wenige Meter entfernt.

»Trotz all der Jahre, in denen mein Bruder mich vor der Welt verborgen und eingesperrt hat, wie ein Tier«, fuhr Ada fort, als wäre nichts geschehen, »habe ich noch immer treue Freunde. Freunde, die versucht haben, mich zu befreien. Und mächtige Freunde, die sich bald zu uns gesellen werden. Bis dahin …«, sie hielt kurz inne und ließ ihren Blick über die schockierten Gesichter schweifen, »Bis dahin solltet ihr eure Wahl treffen.«

Aiden runzelte die Stirn. Ihre Wahl?

Ada drehte sich um und wandte sich den Soldaten zu, die sich direkt hinter ihr positioniert hatten. Es waren mehr als zwei Dutzend.

»Lasst sie ihre Wahl treffen«, sagte sie bestimmt. »Und bringt mir das Mädchen!«

Aidens Herz erstarrte kurz. Er spürte einen Blick auf sich, und jetzt drehte er doch den Kopf. Sein eigener Schreck spiegelte sich in Leifs und Luans Gesichtern.

Nia. Sie wollte Nia.

Mit einem Mal ging ein Raunen durch die Menge. Als Ada ihnen den Rücken zukehrte und auf den Palast zuschritt, fiel ihre Magie auch von den Letzten ab. Einige von ihnen schauten sich verwirrt um, andere standen erschrocken und reglos da, als wären sie weiterhin gefangen.

Die Soldaten, die eben noch hinter Ada gestanden hatten, teilten sich auf. Sie bildeten einen Ring um die Menge, kreisten sie ein, bevor Aiden verstand, was geschah.

Nur Melvin und ein anderer, wesentlich jüngerer Soldat schritten in die Menge hinein. Schließlich blieben sie vor einer jungen Frau stehen. Aiden kannte sie nicht, aber ihrem prächtigen Kleid und den Perlen um ihren Hals nach zu urteilen, war sie eine der adeligen Gäste, die der König zu dieser Feier eingeladen hatte. Ihr Haar war zu einer dunklen Frisur aufgetürmt, die unter ihrem zitternden Körper bebte.

»Triff deine Wahl«, sagte Melvin. »Schwöre Ada, unserer neuen Königin, die die Magie zurück nach Andoria bringt, die Treue - oder stirb.«

Die Frau schluckte. Dann richtete sie sich auf. Ihre Stimme zitterte, als sie sprach. »Lang lebe Königin Ada.«

Melvins Lippen zuckten, bevor er sich an den jüngeren Soldaten wandte. Dieser blickte die Frau aufmerksam an. Sein Gesicht war blass, und Schatten lagen unter seinen Augen.

»Lüge.«

Melvin schnalzte mit der Zunge. »Zu schade.«

Er zog ein Messer aus dem Gürtel, und im nächsten Moment spritzte das Blut der Frau auf ihr Kleid.

Aiden biss die Zähne zusammen.

Schreie erklangen. Die Ersten, Adelige wie Soldaten, lösten sich aus ihrer Starre und versuchten zu fliehen. Adas Soldaten töteten sie, ohne mit der Wimper zu zucken, während Melvin und der andere zum Nächsten gingen.

Es war Will.

2. Malenia

»Die Erde war von Blut getränkt. Der kupferne Geruch legte sich auf alles und jeden. Roberts Mittel erschienen vielen fragwürdig. Aber alle wussten, dass sich so etwas nicht wiederholen durfte.«

Aus den Berichten der Blutnacht

»Lass mich los!« Nia wehrte sich mit aller Kraft gegen die spitzen Zähne, die sich in ihren Arm gruben. Blut lief über ihre Haut. Tropfte von ihrem Handgelenk.

Nein!

Sie schluchzte verzweifelt auf. Ihre Finger gruben sich tief in Shadows Fell, rissen ganze Büschel heraus, während sie sich zu befreien versuchte. Schmerz durchzuckte sie, als deren Zähne sich noch tiefer in ihr Fleisch bohrten. Die Pantherdame war wie von Sinnen.

Sie wird dich töten!

»Sie wird alle anderen töten!«

Panisch wandte sie sich um und blickte zurück. Als könnte sie die Wiese sehen und den Palast. Den Ort, an dem der Abend eine so schreckliche Wendung genommen hatte. Doch sie sah nur Dunkelheit. Die Schemen der Bäume und des Gestrüpps, durch das sie gerade noch gerannt war. Der festen Überzeugung, dass Aiden direkt hinter ihr war.

Doch er hatte sie angelogen. Statt mit ihr zu fliehen, hatte er beschlossen, weiter gegen Ada zu kämpfen. Oder er war bereits - nein. Daran durfte sie nicht denken.

»Bitte, Shadow! Bitte!«

Shadows Biss lockerte sich ein wenig, doch nicht genug, um sie gehen zu lassen.

Ich kann dich nicht …

Sie verstummte urplötzlich und richtete sich auf. Nia schlug das Herz bis zum Hals. Sie hatte es auch gehört. Das Rascheln. Das Knacken eines Zweiges.

Da kommt jemand.

Shadow ließ sie los. Nias rechter Arm pochte höllisch und sie spürte, wie das Blut über ihre Fingerspitzen rann. Hörte, wie die Tropfen auf ein Blatt unter ihr fielen. Hektisch sah sie sich um, versuchte ein Versteck zu finden.

Shadow drückte sich eng an sie.

Es ist Duncan.

Vor Erleichterung sackte Nia gegen den nächsten Baum. Duncan. Er war nicht dabei gewesen, als Ada auftaucht war. Sie erinnerte sich noch, wie Aiden nach ihm gefragt und ihn gesucht hatte.

Wieder raschelte es, und einen Moment später brach eine Gestalt zwischen den Bäumen hervor. Sie erstarrte kurz und nur, weil Nia ihrer Freundin uneingeschränkt vertraute, sagte sie: »Ich bin es.«

Duncan atmete hörbar auf. »Nia. Bei allen Geistern, ich hab dich in der Dunkelheit nicht erkannt.«

Er trat näher, kaum mehr als ein Schemen. »Was tust du hier? Solltest du nicht auf dem Fest sein?« Sprachlos starrte sie ihn an. Duncan konnte ihren fassungslosen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber ihr Schweigen verriet ihm wohl, dass etwas nicht in Ordnung war. »Nia?«

»Ich ... es ist ...« Wo sollte sie nur anfangen? Ein Schluchzen brach aus ihr hervor.

Die darauffolgende Berührung, an ihrem verletzten Arm, ließ sie zusammenzucken. Duncan sog scharf die Luft ein. »Blutest du etwa? Bist du verletzt?«

»Ist nicht schlimm.« Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen und ihre Gedanken zu ordnen. »Wir müssen den anderen helfen.«

»Den anderen? Ich verstehe nicht, was meinst du?«

»Ada«, stieß sie hervor. »Ada hat den König getötet.«

Das leise Rascheln der Baumkronen war das einzige Geräusch, das in den nächsten Sekunden zu hören war. Dann durchdrang Duncans Stimme seltsam ruhig die Nacht.

»Ada ist tot. Sie starb in der Blutnacht.« Er sagte es mit solcher Dringlichkeit, als müsste er sich selbst von den Worten überzeugen.

»Nein, sie lebt.« Nia fuhr sich mit der Hand über die Stirn und merkte, wie sie eine Blutspur darauf hinterließ. Ihre Finger stießen gegen die filigrane Krone, die Robert ihr vor wenigen Stunden aufgesetzt hatte. »Aiden hat dich und Will doch gebeten, diese Tür zu bewachen, richtig?«

»Richtig«, antwortete er verwirrt. Dann stieß er einen erstickten Laut aus. »Wegen einer Magischen, die der König versteckt.«

»Ja. Diese Magische ist Ada. Sie ist in der Blutnacht nicht gestorben, er hat alle angelogen.« Mit möglichst wenigen Worten versuchte sie Duncan zu erklären, was geschehen war. Wie sie Ada gefunden und sie auf dem Gemälde erkannt hatte. Wie sie Aiden davon berichtet hatte und welche Wendung die Seelennacht genommen hatte. Ihre Rolle dabei, ihre Magie, erwähnte sie nicht. Obwohl das jetzt wahrscheinlich keine Rolle mehr spielte. Am Ende stockte sie. Als sie berichtete, dass Aiden und die anderen zurückgeblieben waren. Schuldgefühle nahmen ihr die Luft. Es war unwichtig, dass Aiden sie gebeten hatte zu gehen. Sie hatte sie im Stich gelassen. Nur ihretwegen waren sie überhaupt in diese Situation geraten, und jetzt? Jetzt wusste sie nicht einmal, ob sie noch am Leben waren.

Duncan schwieg. Auch nachdem sie verstummt war, sagte er kein Wort, während Nia zu spüren glaubte, dass ihr die Zeit wie Sand durch die Finger rann. In jeder Sekunde, die sie hier tatenlos im Wald rumstanden, kämpften Aiden und all die anderen womöglich noch gegen Ada. Gegen ihre Magie. Ein Kampf, den sie nicht gewinnen konnten.

»Wo warst du?«, schrie sie urplötzlich, von Angst und Verzweiflung gepackt. Sie hob die Fäuste und schlug auf Duncans Brust ein. Schmerz jagte durch ihren Arm. »Wo zum Himmel bist du gewesen? Wieso warst du nicht bei uns?«

Duncan fing ihre Hände ein und hielt sie fest. Schwer atmend wehrte Nia sich dagegen, bis sie schluchzend aufgab und zusammensackte. Ihre Kehle brannte. »Wir müssen etwas tun! Sie wird sie alle umbringen.«

»Lass mich kurz nachdenken.«

Nia packte ihn am Arm, bereit, ihn zurück zum Palast zu zerren. »Wir haben keine Zeit, wi…«

»Nur einen Moment!«, rief Duncan aufgebracht.

Sie verstummte und starrte den dunklen, regungslosen Schatten an, der Duncan war.

Lass uns gehen. Shadow berührte sie plötzlich an der Hand. Mich und Duncan.

»Was?« Verwirrt starrte sie auf den Umriss der Pantherdame hinab. Ihre Augen schienen hell in der Nacht zu schweben.

Es hätte mir früher auffallen müssen. Er ist der Bär.

Der Bär?

Nias Atem stockte, als die Bedeutung von Shadows Worten zu ihr durchdrang. Nur langsam, weil die Angst ihr das Denken schwer machte. Duncans Narben. Der Bär, den Aiden und sie gesehen hatten, als sie eines Nachts trainierten. Mit Narben auf dem Rücken, die ihr irgendwie vertraut vorgekommen waren.

»Der Bär«, wiederholte sie flüsternd.

Sie spürte, wie Duncan erstarrte. »Was?«

»Du bist der Bär.« Beinahe hätte sie aufgelacht. »Du bist ein Gestaltwandler.« Duncan. Ein Adler. Ein Magischer. Unmöglich.

»Woher weißt du das?« Er klang ernst, aber nicht überrascht.

»Von Shadow«, gab sie zu. »Sie spricht mit mir. Sie ist auch magisch. Und ich …«

»Du auch«, unterbrach Duncan sie. »Ich weiß.«

Jetzt war es Nia, die perplex verstummte.

»Das Tattoo«, fügte er erklärend hinzu. »Ich habe es gesehen, als ich deine Hände verbunden habe.«

Natürlich. Als sie Ada das erste Mal begegnet war, hatte sie sich an den Händen verletzt. Duncan hatte hinterher ihre Wunden versorgt. Sie erinnerte sich noch, wie er kurz innegehalten hatte. Damals hatte sie nicht weiter darüber nachgedacht, denn der Gedanke, dass ein Adler das magische Bild sehen konnte, war dermaßen abwegig gewesen.

Aber das war alles unwichtig.

Wir können den anderen helfen.

Duncan schnappte nach Luft.

Erschrocken sah Nia sich um. »Was? Was ist los?« Sie rechnete fast damit, dass Ada hinter ihr stand.

»Ich … ich glaube, ich habe sie gehört.« Das hast du. Duncan gab erneut ein überraschtes Geräusch von sich. »Unfassbar.«

»Warte« Verblüfft blickte Nia auf ihre Freundin hinab. »Du sprichst mit ihm? Mit uns beiden?«

Wollten wir nicht ausprobieren, ob es funktioniert? Ich denke, es gibt keinen passenderen Zeitpunkt als jetzt.

Dem musste Nia zustimmen, denn je nachdem, was als Nächstes geschah, war es sicher gut, dass Shadow auch mit den anderen Adlern sprechen konnte. Dennoch fühlte sie einen feinen Stich in der Brust. Als hätte man ihr etwas Wichtiges gestohlen.

»Das ist wirklich faszinierend«, murmelte Duncan verblüfft. Dann räusperte er sich. »Also, Shadow, hast du einen Plan?«

Bevor Nia protestieren konnte, da sie die beiden auf keinen Fall allein gehen lassen wollte, oder Shadow ihren Plan erläutern konnte, raschelte es erneut im Laub. Zwei Schemen lösten sich aus der Dunkelheit. Nia schlug das Herz bis zum Hals, als eine Stimme erklang.

»Vielleicht können wir helfen?«

3. Aiden

»Für die ersten Magischen stellte sich nie die Frage, ob es richtig war. Ob es gut war. Die Magie gehörte zu ihnen. Das war alles, was sie wissen mussten.«

Aus Lady Libras verschollenem Magielehrbuch

Hilflos sah er mit an, wie Melvin sich vor Will aufbaute.

Der Junge zeigte keine Angst. Er hob das Kinn und schaute dem älteren Adler direkt in die Augen. Dieser gebrauchte dieselben Worte, wie zuvor bei der Frau.

»Schwöre Ada, unserer neuen Königin, die die Magie zurück nach Andoria bringt, die Treue - oder stirb.«

Aiden sah, wie der Junge die Lippen zusammenpresste. Er biss die Zähne zusammen. Was würde passieren, wenn Will nicht antwortete? Ob der andere trotzdem zwischen Lüge und Wahrheit entscheiden konnte?

Will gab keinen Ton von sich. Aiden hätte ihn im Stillen für die unerschrockene Art bewundert, mit der er Melvin stumm die Stirn bot. Aber im Moment sorgte er sich viel zu sehr darum, wie dieses Blickduell ausgehen würde.

»Was ist?« Melvin verdrehte die Augen. »Hast du vor Angst deine Zunge verschluckt?«

Der jüngere Adler an seiner Seite lachte, als er Will einen heftigen Stoß gegen die Schulter verpasste, der ihn umwarf.

Will rappelte sich auf und starrte ihn weiterhin an, als wäre nichts passiert. Er hatte die Fäuste geballt, die Arme fest an den Körper gepresst. Einzelne Grashalme hingen an seiner Kleidung. Trotzig hob er das Kinn. In diesem Moment war er kaum mehr als ein wütendes, aber wehrloses Kind.

»Muss ich dir auf die Sprünge helfen?«

Erschrocken beobachtete Aiden, wie Melvin ein Messer aus dem Gürtel zog.

Er richtete es auf Wills Kehle.

»Nicht!« Der Schrei entwich seinen Lippen, und Melvin fuhr zu ihm herum.

Ebenso wie Will, der die Stirn runzelte, als wollte er sagen: Was tust du?

Dich retten, dachte Aiden, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte.

»Willst du zuerst?«, fragte Melvin spöttisch und grinste, wobei er einen fehlenden Eckzahn offenbarte.

»Lasst ihn in Ruhe«, antwortete er mit bemüht ruhiger Stimme. »Er kann nicht sprechen.«

Melvin schnalzte mit der Zunge, als würde ihn Wills Stummheit nerven. »Überhaupt nicht?«

»Niemand von uns hat ihn je ein Wort sagen hören.«

Melvin musterte ihn kurz. Dann wandte er den Kopf über die Schulter und bellte: »Gilas!«

Der junge Adler, der die Lügner unter ihnen enttarnen sollte, hob den Kopf.

»Bring mir den Jungen.«

Gilas grinste. In der nächsten Sekunde griff er in Wills lockiges Haar und zog ihn daran über den Rasen.

Aiden bewunderte Will für seine Selbstbeherrschung. Er machte keinerlei Versuch, sich gegen Gilas zu wehren.

Melvin packte ihn an der Schulter, presste ihn mit dem Rücken an sich und hielt ihm erneut eine Klinge an die Kehle.

»Also« Er taxierte Aiden. »Er ist ein Freund der Prinzessin, wenn ich das richtig beobachtet habe. Was glaubst du, würde dein kleiner Freund antworten?«

Aiden schluckte. Er wusste es. Natürlich wusste er, was Will antworten würde. Dennoch musste er es in seinen Augen sehen. Sein Herz wurde schwer, als er die schmerzhafte Mischung aus Zorn und Verzweiflung in ihnen entdeckte. In den letzten paar Jahren hatte Will so oft nur über Blicke, Mimik und Gesten kommuniziert, dass es ihm leicht fiel zu erkennen, was der Junge erwartete. Dann jedoch passierte etwas, das nie zuvor geschehen war.

Will öffnete den Mund. Seine Lippen zitterten, als er lautlos zwei Worte formte.

Tu es.

Entschlossen fasste Aidens Hand, die nach wie vor an seinem Schwertknauf lag, fester zu.

»Er würde sagen«, begann er mit fester Stimme und sah zu Leif und Luan hinüber. Versuchte ihnen stumm zu verstehen zu geben, dass sie sich bereit machen sollten.

»Er würde sagen, dass seine und unsere Treue und Loyalität jetzt nur noch einer gelten.« Aiden atmete tief ein, seine Muskeln spannten sich an. Er war bereit. »Der wahren Herrscherin: Prinzessin Malenia Nordis von Andoria.«

Gilas Augenbrauen zuckten in die Höhe. Es war so still auf der Wiese. Tödlich still.

Dann lachte Melvin laut und schallend.

Er stieß Will von sich in Gilas Arme. »Bring den Jungen weg. Die Königin wird sich dafür interessieren.«

Aiden zog sein Schwert. Das Klirren hallte unheilschwanger durch die Nacht. Im selben Moment holte Melvin mit seinem Messer aus.

Ein Tumult brach los. Es war, als hätte Aidens Handlung alle anderen Adler aufgeweckt. Erneut entbrannten die Kämpfe zwischen den treuen Soldaten des Königs und Adas Anhängern. Nur diesmal war sie nicht dabei, um ihre Gegner mit Magie in Schach zu halten. Dennoch war das Ungleichgewicht ihrer Mächte erdrückend.

Aiden beobachtete verzweifelt, wie Gilas Will wegtrug. Der Junge wehrte sich mit Händen und Füßen, bis Gilas ihn hart ins Gras fallen ließ und ihm einen Tritt gegen den Kopf verpasste.

Will blieb reglos liegen, bis der Soldat ihn sich wie einen Sack über die Schulter warf.

Aiden schrie auf. Er wollte sich zu ihnen durchschlagen, doch Melvin lieferte ihm einen harten Kampf. Er schmiss sein Messer zur Seite und zog zwei Kurzschwerter mit gebogenen Klingen aus der Scheide.

»Aiden!«

Luan schrie seinen Namen, als er all seine Kraft in den nächsten Schlag steckte, den Melvin ohne Probleme parierte.

»Es sind zu viele!«

Ich weiß, dachte Aiden verzweifelt.

Wieso hatte er nicht gelogen? Wie hatte er glauben können, dass sie diesen Kampf gewinnen konnten?

Seine Kameraden landeten einer nach dem anderen reglos auf der Wiese. Der Geruch von Blut tränkte die Luft. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es ihn oder die Brüder traf.

Was immer Will unter Ada wegen ihm erleiden würde, war womöglich schlimmer als der Tod. Und Nia ...

Ihr hättet ruhig auf mich warten können.

Aiden rutschte fast das Schwert aus der Hand. Panisch ließ er seinen Blick über das Schlachtfeld schweifen, in das die Palastwiese sich verwandelt hatte.

Diese Stimme in seinem Kopf war nicht seine eigene gewesen. Er rechnete fest damit, Ada zwischen den Kämpfenden zu entdecken. Doch dem war nicht so.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte seine Schulter, als Melvins Schwert ihn traf. Er taumelte zurück. Der Schnitt war nicht tief, doch blutete er stark, und der Griff seines Schwertes wurde glitschig.

Du solltest besser aufpassen, Silberling.

Silberling?

Melvin nutzte seine Unaufmerksamkeit und stürzte sich erneut auf ihn. Aber diesmal war Aiden schneller.

Seine Klinge drang tief in Melvins Seite ein. Ein schmatzendes Geräusch entstand, als er sein Schwert zurückzog, begleitet von sprudelndem Blut.

Aiden war sich sicher, dass sein Gegner noch lebte, dennoch wandte er sich ab. Er brauchte ihn nicht zu töten. Konnte es nicht, trotz des Verrats. Für den Moment war Melvin handlungsunfähig und das genügte.

Er suchte nach Luan und Leif. Beide waren sie in heftige Kämpfe verstrickt. Aber sie lebten noch. Immerhin.

Sein Körper wollte in zwei Richtungen gleichzeitig rennen. Er wollte den Brüdern helfen. Doch er wollte auch Will retten. Beide Wünsche zerrten so sehr an ihm, dass er reglos dastand, das Schwert erhoben, und nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte.

Sein Herz sprang ihm fast aus der Brust, als die Stimme wieder erklang.

Vertrauen ist ja bekanntlich nicht so deine Stärke. Es klang beinahe belustigt. Hektisch fuhr Aiden herum, doch Ada war nicht zu sehen.

Aber vielleicht versuchst du es dieses eine Mal trotzdem damit.

Er schluckte und versuchte sich zu konzentrieren. Diese Stimme klang nicht wie Ada. Sie war viel zu weich. Zu tief. Warm.

Aber er hörte sie in seinem Kopf. Hörte sie, wie er die Schwester des Königs gehört hatte.

»Vertrauen«, wisperte er kaum hörbar.

Ja. Vertrauen. Für Nia. Okay?

Aidens Puls raste unter seinen Fingern. Aufgewühlt schlug er gegen den kalten Stahl des Schwertknaufs. Er kam sich total bescheuert vor, als er der gesichtslosen Stimme leise antwortete: »Okay.«

Dann erschreck dich jetzt nicht.

»Wer bist …«

Die Welt wurde gespenstisch leise. Das Klirren aufeinandertreffender Schwerter, die Schreie und Rufe, sogar das leise Säuseln des Windes. Alles verklang.

Schwer atmend starrte Aiden die Soldaten an, die mitten in der Bewegung eingefroren waren. Die Waffen noch erhoben. Verwirrt wandte er sich um. Egal wohin er sah, niemand rührte sich. Es war, als hätten sich alle um sie herum in leblose Skulpturen verwandelt.

Er entdeckte Leif, nur wenige Schritte entfernt. Er hatte sich einen scheinbar heftigen Kampf mit einem anderen Adler geliefert. Blutspritzer klebten in seinem bleichen Gesicht. Die Schwertspitze seines Gegners war auf seinen Bauch gerichtet und kurz davor, ihn zu durchbohren. Leifs eigenes Schwert war ihm aus den Fingern gerutscht und schwebte zwischen seiner ausgestreckten Hand und dem Gras.

Es schwebte.

Aiden eilte auf ihn zu, streckte vorsichtig die Hand aus und hielt sie vor Leifs Gesicht. Er reagierte nicht. Seine Augen waren vor Schreck aufgerissen, aber blickten ins Leere.

Aiden machte einen unsicheren Schritt zurück. Panik bohrte sich in seine Brust.

So sieht das aus, wenn du nicht erschrickst?

Ein Gewicht traf ihn von hinten und riss ihn um. Der Aufprall presste ihm die Luft aus der Lunge.

Hustend wirbelte er herum, versuchte den Angreifer abzuschütteln …

Und blickte direkt in das Gesicht eines Panthers.

Atemlos starrte er in die blauen Augen. Krallen blitzten auf und stachen ihm in die Brust. Nicht heftig genug, um ihn zu verletzten, aber genug, um ihn zur Besinnung zu bringen.

»Shadow?«, würgte er hervor.

Kann mir auch Schöneres vorstellen, als dich zu sehen, Silberling.

Vollkommen perplex starrte er Shadow an. Nias treue Gefährtin. Die er in seinem Kopf hörte. Bei allen Geistern!

Klapp den Mund wieder zu und steh auf. Wir haben nicht viel Zeit.

Sie sprang von seiner Brust. Ohne ihr Gewicht konnte er wieder freier atmen, dennoch blieb er reglos liegen. Er hatte Mühe sich zu konzentrieren, zu verstehen, was gerade geschah. Shadow sprach ihn seinen Gedanken mit ihm. Shadow. Ein Panther.

Entweder war sie ein magisches Tier oder er war dabei, verrückt zu werden. Für einen Wimpernschlag wusste er nicht, was besser wäre.

»Steh auf!«

Eine fremde Stimme ließ ihn zusammenfahren. Er rappelte sich auf, legte seine Hand wieder ans Schwert, bereit, es mit jedem Gegner aufzunehmen. Er rechnete damit, dass die Stille ein Ende hatte, dass er sich all die seltsamen Ereignisse der letzten Minute vielleicht sogar nur eingebildet hatte. Aber die Kämpfenden um ihn herum waren noch immer eingefroren. Bis auf einen.

Ein Junge kam aus Richtung des Waldes auf ihn zu gerannt. Er war dünn, seine Kleidung schlackerte bei jedem Schritt um seinen Körper. Aiden konnte keine Waffe an ihm entdecken, und als er näher kam, war er ziemlich sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Der Junge war kein Adler. Ohne zu zögern, bahnte er sich einen Weg durch die reglosen Männer und Frauen um ihn herum.

»Wir haben nicht viel Zeit«, verkündete er gehetzt.

Meine Rede.

Der Junge kam vor ihm zum Stehen. Aber sein Blick galt Shadow.

»Ist er das?«

Ja.

Aiden hörte Shadows Antwort und der Junge scheinbar auch. Das hier wurde immer seltsamer. Er nickte knapp und sagte dann: »Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkommen. Ich weiß nicht, wie lange ich den Stillstand noch aufrecht halten kann. Bei so vielen habe ich es noch nie gemacht.«

Mit offenem Mund musterte Aiden sein Gegenüber. Das wirr abstehende dunkle Haar, die großen Augen und die Narben, die sich über seine linke Wange zog wie ein Halbmond.

»Wer bist du?«, fragte er misstrauisch. »Bist du ein Magischer? Warst du das hier?«

Der Junge hob eine Augenbraue. »Gern geschehen. Ich hab dir deinen gefiederten Arsch gerettet.«

»Gefieder…«

»Und ich bin Eli. Falls du das hier überleben willst, sollten wir jetzt aber echt los.«

Du solltest auf ihn hören.

Aber Aiden schüttelte den Kopf. »Nicht ohne die anderen. Leif und Luan.« Er wandte sich an Shadow. »Ich gehe nicht ohne sie.«

Eli seufzte. »Also schön. Zeig sie mir.«

Als Aiden zögerte, hörte er Shadow sagen: Vertrau ihm. So wie Nia es tut.

Nia. Aiden schluckte. Nach den Ereignissen der Nacht sollten ihn Shadows Worte womöglich nicht mehr beruhigen, aber sie taten es. Er hob eine Hand und zeigte auf die Brüder.

»Okay.« Eli runzelte die Stirn und fixierte die beiden mit seinem Blick. Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Ein Keuchen ertönte, und Aiden fuhr herum. Leif und Luan lösten sich aus ihrer Starre, als wären sie aus einem schrecklichen Traum erwacht. Luan brüllte und stieß wild mit dem Schwert um sich. Leif stolperte erschrocken zurück und betrachtete das Loch, dass das Schwert seines Gegenübers in sein Hemd gerissen hatte. Ebenso fassungslos wie Aiden zuvor, betrachteten sie die seltsame Szene, die sich ihnen auf der Wiese bot.

Luan entdeckte Aiden und seine Augen weiteten sich.

»Was ist hier los?«

Die Brüder kamen auf ihn zu.

»Wir müssen jetzt wirklich gehen«, erinnerte Eli ihn. Seine Stimme klang gepresst, und er zitterte. Was für eine Magie er auch beherrschte, sie schien ihn anzustrengen. Aiden war sich nicht sicher, ob er dem Jungen trauen sollte, dennoch wollte er so weit wie möglich von diesem Ort entfern sein, wenn ihm die Kontrolle entglitt.

»In den Wald«, sagte er deshalb zu den Brüdern. »Sofort. Bevor sie aufwachen.«

»Aber was ist mit Will? Und Duncan - habt ihr ihn gesehen?«

Wo ist Will? Shadow klang ehrlich besorgt.

Er antwortete nicht und schüttelte auf Leifs Frage hin den Kopf.

»Wenn wir jetzt in diesen Palast gehen, kehren wir nie wieder zurück«, beschwor er ihn. »Wir haben allein keine Chance.«

»Aber wir können nicht …«

»Wir müssen!« Luan packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn leicht.

»Nein.« Aiden zwang sich, das Wort auszusprechen. Er wollte selbst nichts lieber, als Will zu befreien und Duncan zu suchen, der womöglich irgendwo im Palast war. Aber er wusste auch, wie aussichtslos es in diesem Moment war.

»Wir kommen niemals einfach so an Ada vorbei. Wir brauchen einen richtigen Plan. Wenn wir jetzt den Palast stürmen, enden wir, wie die.« Er deutete auf die Leichen, die überall im Gras lag.

Wahre Worte. Und jetzt los!

Shadow preschte davon. Aiden rannte ihr nach und hörte, wie Luan, Leif und auch Eli ihm folgten.

Sie erreichten den Wald und tauchten in die tiefschwarzen Schatten der Bäume ein. In diesem Moment hörte er die ersten Schreie, als Elis Magie seine Kraft verlor.

4. Malenia

»Es spielte keine Rolle mehr, wer magisch und nichtmagisch war. Irgendwann kämpfte jeder gegen jeden. Wir wussten nicht, wem wir trauen können. Wie sollen wir darüber hinwegkommen?«

Aus den Berichten der Blutnacht

Sie zuckte leicht zusammen, als Duncan den Streifen Stoff, den er von ihrem Kleid abgetrennt hatte, um ihren blutenden Arm band.

»Entschuldige.«

»Schon gut.«

»Das war Shadow?«

»Ja. Sie wollte mich abhalten zurückzugehen.«

»Du solltest ihr danken«, meinte Duncan und verknotete den Stoff. »Es muss sie viel gekostet haben, dir so wehzutun.«

Das wusste sie. Aber wenn Aiden, Luan, Leif und Will nicht heil aus dieser Sache rauskamen, wusste sie nicht, wie sie Shadow das verzeihen sollte.

Nervös sah sie sich um.

»Wo bleiben sie denn?« Sie löste sich von Duncan und ging unruhig auf und ab. »Was, wenn es nicht funktioniert?«

»Hab etwas mehr Vertrauen in meinen Bruder.«

Elysa lächelte unbekümmert. Sie entzündete eine weitere Kerze. Mehrere davon standen auf dem Waldboden verteilt und boten ihnen zumindest genug Licht, damit sie einander erkennen konnten. Aber nicht so viel, dass man es aus der Ferne bemerken konnte.

Nia konnte immer noch nicht ganz glauben, dass die Rebellin, der sie vor einigen Wochen zur Flucht verholfen hatte, jetzt vor ihr stand. Dass sie zu ihrer Rettung geeilt war. Ihr lagen tausend Fragen auf der Zunge, aber für den Moment schluckte sie sie hinunter. Erst musste sie wissen, dass Aiden und die anderen in Sicherheit waren.

Duncan, der meist eher wortkarg war, schien jedoch zu glauben, dass jetzt der richtige Moment für Fragen war.

»Wie kommt es, dass ich dich hier im Wald sehe und nicht in der Zelle, in die wir dich gesperrt hatten?«

Elysa grinste Nia an. »Erzählst du es ihm oder soll ich das übernehmen?«

Nia schluckte. Vor ein paar Stunden noch hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen, als einem der Adler die Wahrheit darüber zu verraten, wie Elysa damals entkommen war. Nun jedoch war alles anders.

»Ich habe sie befreit«, gab sie zu. »Genau genommen war es Gideon, aber er tat es auf meine Bitte hin.«

Duncan riss die Augen auf. »Ihr habt sie befreit«, wiederholte er verständnislos. »Nachdem sie versucht hat, dich zu töten?«

Die Rebellin schnaubte belustigt. »Oh bitte. Hätte ich sie wirklich töten wollen, würden wir diese Unterhaltung jetzt nicht führen, das garantiere ich dir.«

»Sie hat mich gerettet.« Nia schlang die Arme um ihren Körper. Mittlerweile fror sie entsetzlich in ihrem Kleid. »Jemand wollte mich aus der Ferne mit einem Pfeil erschießen. Elysa hat es verhindert. Sie hat es nur so aussehen lassen, als wäre sie die wahre Attentäterin.«

»Wieso sollte sie das tun?« Duncan blinzelte in paar Mal und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Woher weißt du das so sicher? Vielleicht hat sie gelogen.«

»Tzz«, machte Elysa. »Sie wusste, dass ihr ihr sowieso nicht geglaubt hättet. Aber ich musste mit Nia sprechen und sie hat reagiert, wie ich es vermutet habe.«

Nia setzte zu einer Antwort an, als sie hektische Schritte hörte. Duncan zog sein Schwert und stellte sich vor sie.

»Das sind Eli und die anderen«, behauptete die Rebellin gelassen.

Wie sich herausstellte, hatte sie recht.

Shadow sprang als Erste zwischen den Bäumen hervor.

Dicht gefolgt von Luan, Leif und Eli. Nias Herz blieb kurz stehen. Dann stolperte Aiden, sichtlich erschöpft, hinter dem Stamm einer mächtigen Eiche hervor.

Er kam abrupt zum Stehen. Sein Blick glitt zu Duncan, zu Elysa und blieb zuletzt an Nia hängen. Erleichterung, Verwirrung und Wut huschten über sein Gesicht.

»Nia.«

Beruhigt atmete sie auf. »Aiden.«

Sie wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen. Tränen der Erleichterung stiegen ihr in die Augen.

Bis er sich plötzlich auf sie stürzte.

Er packte sie an den Schultern und stieß sie so heftig zurück, dass sie schmerzhaft gegen den nächsten Baum prallte. »Du hast uns alle verraten!«

Entsetzt sah Nia ihn an. Sein Gesicht war blass und wutverzerrt. Trockenes Blut klebte auf seiner Wange, frisches tränkte das Hemd an seiner Schulter.

»Verdammt, Aiden!« Duncan packte seine Arme und riss ihn zurück. »Was soll das?«

»Sie ist eine Magische!«, brach es aus Aiden hervor. »Sie ist eine verfluchte Magische und hat uns keinen Ton gesagt! Sie hat Soldaten durch die Luft geschleudert wie Puppen! Sie ... sie hat uns die ganze Zeit angelogen!«

Schwer atmend verstummte er. Er wandte sich ab, die Hände in die Hüften gestützt. Blut lief an seinem linken Arm hinab und tropfte in die Dunkelheit.

Nias Augen brannten. Hektisch blinzelte sie gegen die Tränen an, die nichts mehr mit Erleichterung zu tun hatten.

Hat wohl keinen Zweck mehr, es zu leugnen. Shadow rieb schnurrend ihren Kopf an ihrer Hand.

Sie wandte sich von Aiden ab und musterte stattdessen Luan und Leif. Beide erwiderten ihren Blick, sagten jedoch kein Wort. In ihren Mienen war nicht zu lesen, wie sie über ihre Magie dachten.

Warte ab, bis Aiden herausfindet, dass Duncan der Bär ist.

Gut möglich, dass Shadow sie damit aufmuntern wollte, aber es wirkte nicht. Nia fühlte sich nur noch schlechter. Wenn ihre Lüge Aiden schon so aufbrachte, was würde dann erst geschehen, wenn er von Duncans Magie erfuhr?

Dieser schien etwas Ähnliches zu denken, zumindest wirkte er mit einem Mal unheimlich müde.

»Was tust du eigentlich hier?«, blaffte Aiden ihn in diesem Moment an. »Ich bin fast verrückt geworden, weil ich dachte, dass du im Palast festhängst!«

Duncan öffnete den Mund, kam aber nicht zu Wort.

»Ich unterbreche diese Zusammenkunft wirklich ungerne«, sagte Elysa da, »aber wir sind immer noch viel zu nah am Palast. Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie nach dir suchen.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Nia begriff, dass sie von ihr sprach.

Aiden fuhr herum. »Was tut sie eigentlich hier?«

»Ist das nicht die Rebellin, die wir mal eingesperrt haben?«, murmelte Leif verwirrt.

»Ohne sie wärt ihr längst tot, Adler«, erwiderte Elysa schnippisch.

Eli räusperte sich. »Also eigentlich, wären sie ohne mich jetzt tot, aber wer will schon kleinlich sein?«

Elysa verdrehte die Augen. »Wie auch immer. Wenn ihr diese Nacht wirklich überleben wollt, müssen wir jetzt weiter. Wir brauchen ein sicheres Versteck.«

Unsicher blickte Nia zu Aiden. Er schwieg misstrauisch. Schließlich sah er zu Duncan. »Was meinst du?«

»Sie hat recht«, erwiderte er erschöpft. »Hier sind wir nicht sicher. Und ihr Bruder hat euch gerade das Leben gerettet. Ein kleiner Vertrauensvorschuss kann da nicht schaden, oder?«

»Bruder«, wiederholte Luan.

»Die Ähnlichkeit ist verblüffend, nicht wahr?«, meinte Eli grinsend.

Tatsächlich sahen er und Elysa mit den schmalen Gesichtern und dem braunen Haar fast aus wie Zwillinge.

Aiden schnaubte. Schließlich nickte er knapp. Als Duncan fragend zu Leif und Luan sah, taten sie es ihm gleich.

»Moment.« Nia stieß sich von dem Baum ab, an dem sie immer noch lehnte. »Wo ist Will?«

Einen Moment lang sagte niemand ein Wort. Aidens Schultern spannten sich an. Er sah nicht zu ihr.

Es war Luan, der antwortete. »Ada hat ihn.«

Ihr Herz blieb einen Moment stehen, bevor eine ganz neue Panik sie ergriff. »Ada hat ihn? Was soll das heißen?«

»Dass ihre Anhänger ihn gefangen genommen haben.«

Nia hörte die Worte, aber konnte sie nicht glauben. Will, der kleine, stumme Junge, in Adas Händen? Die Vorstellung, wie er ihr und ihrer Magie allein ausgesetzt war, wollte nicht in ihren Kopf passen.

»Wir konnten nichts tun«, fügte Leif leise hinzu. »Sie hätten uns alle getötet, wenn er nicht gekommen wäre.« Er deutete auf Eli.

»Aber wir können ihn doch nicht einfach zurücklassen!«, stieß Nia hervor. »Wir müssen ihn da rausholen!«

Aiden stieß einen grimmigen Laut aus. »Ach ja? Sag bloß. Hast du auch einen Plan? Du warst nicht dabei, als das Massaker richtig losging. Du bist weggelaufen. Du hast keine Ahnung, was da passiert ist, also erzähl uns nicht, was wir tun sollen!«

Seine Stimme schwoll mit jedem Wort weiter an, bis sich auch in Nia die Wut regte.

»Du hast mir gesagt, dass ich weglaufen soll!«, schrie sie erstickt. Jetzt liefen ihr die Tränen über die Wangen, und sie wischte sie ungehalten fort. »Du wolltest es so!«

Aiden mahlte mit dem Kiefer.

»Du hast mir versprochen, direkt hinter mir zu bleiben. Ich habe darauf vertraut«, fügte sie leiser hinzu.

Er antwortete nicht.

Duncan räusperte sich. »Siehst du wirklich keine Möglichkeit, Will da rauszuholen?«

Aiden sah ihn kurz an. »Nein. Nicht ohne Verstärkung. Und ehrlich gesagt weiß ich gerade nicht mehr, wem von den Adlern wir trauen können. Zu viele stehen auf Adas Seite. Ich verstehe nicht, wie das möglich ist. Sie muss das lange geplant haben, obwohl sie in diesem Zimmer eingesperrt war.«

Schweigen folgte auf seine Worte.

Nia schlang die Arme um sich. Wenn es stimmte, was Aiden sagte, konnten sie Will möglicherweise wirklich nicht helfen und diese Ausweglosigkeit ließ ihre Kehle eng werden. Nicht nur wegen Will. Was war mit Esmera? Auch sie musste jetzt irgendwo im Palast sein, ohne die Möglichkeit zu fliehen. Wie viele Unschuldige hatte Ada jetzt in ihrer Gewalt?

Das Einzige, was Nia etwas beruhigte, war das Wissen, dass Gideon nicht unter ihnen war.

»Wir sollten mit ihnen gehen«, sagte Luan schließlich. »Und uns in Ruhe einen Plan überlegen, wie wir Will da rausholen können.«

Aiden wandte sich an Elysa und musterte sie. »Wieso bist du hier?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab dir und deinen Freunden gerade den Arsch gerettet, Adler.«

Eli holte Luft. »Also eigentlich …«

»Lass gut sein.« Elysa sah sie der Reihe nach an. »Ihr mögt es vielleicht noch nicht erkennen, aber ich bin nicht der Feind. Mein Clan ist es nicht. Wir sind vielleicht Rebellen, aber wir sind nicht die Bösen in der Geschichte. Robert hat uns dazu gemacht, uns gezwungen im Verborgenen zu leben. Entweder begleitet ihr uns oder ihr wartet allein hier im Wald, bis Adas Soldaten euch finden und euch doch noch töten. Eure Entscheidung.«

Da fällt die Wahl doch leicht, nicht wahr?

»Und wo genau ist euer Versteck?«, fragte Duncan.

»Das verrate ich euch erst, wenn wir da sind«, erwiderte Elysa entschlossen. »Denn eins sollte euch klar sein: Wir vertrauen euch Adlern genauso wenig, wie ihr uns.«

Aiden schob die Ärmel seines Hemdes hoch. Trockene Blutspritzer zierten seine Haut wie ein dunkles Mosaik. Die Wunde an seiner Schulter blutete noch, denn der Fleck auf seinem Hemd wurde immer größer. »Wieso wollt ihr uns dann helfen?«

Elysa lächelte schmal, als sie Nia ansah. »Wegen ihr. Sie ist diejenige, auf die wir gewartet haben.«

Elysa machte keine Anstalten ihre letzten Worte zu erklären, während sie ihr durch den dunklen Wald folgten.

Irgendwann gab Nia es auf zu fragen. Alles, was sie wusste, war, dass Elysa bereits zweimal zu ihrer Rettung geeilt war und das reichte vorerst, um ihr zu vertrauen.

Shadow ließ sich etwas zurückfallen, um auf mögliche Verfolger zu lauschen und sie rechtzeitig zu warnen. Niemand von ihnen sprach viel. Zum einen, um nicht auf sich aufmerksam zu machen, und zum anderen wohl, weil niemand wusste, was zu sagen war. Nias Blick glitt immer wieder zu Aidens Silhouette direkt vor ihr. Sie wusste nicht, ob er ihr verzeihen würde. Ob er ihr je wieder vertrauen konnte. Obwohl sie ihn zum Teil sogar verstand, war sie sicher, richtig gehandelt zu haben. Sie hätte Aiden nicht von ihrer Magie erzählen können. Bis vor Kurzem noch hatte er loyal zum König gestanden und auch, wenn seine Abneigung gegenüber den Magischen abgenommen hatte, seit sie ihn kennengelernt hatte, war sie sicher, dass er sie an den König verraten hätte.

Genauso wenig, hätte sie ihre Magie zurückhalten können, als Ada sie angriff. Dann wäre es ihnen noch schlechter ergangen als ohnehin schon. Sie hätten mehr verloren als Will.

Nia atmete tief durch und schluckte. Nein. Sie hatten ihn nicht verloren. Sie würden alles dafür tun, um ihn zu befreien. Ihre Gedanken wanderten zu den Waffen und Brams Buch, das noch immer im Palast lag. Wenn sie dorthin zurückkehrten, um Will und hoffentlich auch Esmera zu befreien, musste sie eine Möglichkeit finden, diese Sachen aus ihrem Zimmer zu holen. Insbesondere das Buch mit der Karte, die sie zum freien Land führen konnte. Bei diesem Gedanken ging Nia langsamer, bis Shadow zu ihr aufschloss.

»Du bist allein aus Karstons River zurückgekommen«, stellte sie unsicher fest.

Shadow schwieg einen Moment. Dann drückte sie ihre kühle Nase kurz gegen Nias Hand.

Ja.

»Wieso?«

Weil niemand dort war.

»Wie meinst du das?«

Alle Magischen sind aus Karstons River verschwunden. Ebenso wie Liz und Emily.

Erschrocken blieb Nia stehen. »Was?«

Ich habe hier und da ein paar Gespräche aufschnappen können, fuhr Shadow fort und blieb ebenfalls stehen. Sie sind alle zusammen von dort weggegangen, nur wenige Tage, nachdem wir nach Dragoterra aufgebrochen sind.

»Aber wieso?«, fragte Nia. »Wo sind sie hin?«

Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Vielleicht dachten sie, es wäre dort nicht mehr sicher? Sie sind alle gemeinsam gegangen, bestimmt geht es ihnen gut.

Nia wollte daran glauben, doch es gelang ihr nicht. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Wieso sollten sie alle ihre Heimat verlassen?

»Glaubst du, jemand hat ihre Magie bemerkt?«, erkundigte sie sich besorgt. »Dass sie fliehen mussten?«

Es schien nicht so. Zumindest hat niemand etwas darüber gesagt. Und was hätte das mit Liz und Emily zu tun?

Nia schluckte schwer. Ihre Gedanken rasten, während sie weitergingen. Irgendetwas musste geschehen sein. Liz würde Karstons River niemals verlassen, ohne ihr zu sagen, wo sie hingingen. Wo Nia sie finden konnte. Aber es war schon seit längerem kein Brief mehr von ihr gekommen.

»Gideon«, sagte sie und versuchte sich damit zu beruhigen. »Er wird in Karstons River vorbeischauen. Vielleicht findet er mehr heraus.«

Ja. Vielleicht. Doch Shadow klang nicht überzeugt.

Die Morgendämmerung brachte kalten Nebel mit sich und Nia, die noch immer nur ein Kleid trug, war trotz der Angst und Ungewissheit erleichtert, als Elysa verkündete, dass sie ihr Ziel bald erreicht hätten.

»Euer Versteck liegt so nah am Palast?«, fragte Duncan verwirrt, woraufhin Eli grinste.

»Clever, nicht wahr? Hier würden sie nie nach uns suchen.«

»Sei lieber froh darüber«, fügte Elysa hinzu. »Sonst hätten wir euch niemals rechtzeitig erreicht.

»Woher wusstet ihr überhaupt, was auf dem Fest geschehen ist?«, erkundigte Aiden sich, und das Misstrauen in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Ada ist nicht die Einzige, die insgeheim Freunde bei den Adlern hatte«, war Elysas Antwort, woraufhin Aidens Blick sich noch mehr verfinsterte.

Nia konnte sich nur vage vorstellen, wie es sich für ihn anfühlen musste, dass sich alles, woran er geglaubt hatte, nach und nach als fremd erwies. Aber als sie seinem kalten Blick begegnete, gefror das Mitleid zu Schuldgefühlen. Weil sie die Befürchtung hatte, jetzt ebenfalls eine Fremde für ihn zu sein.

5. Aiden

»Die Magie lässt sich unterdrücken. Aber sie ist ein körperliches Bedürfnis, das befriedigt werden will. Wenn das nicht geschieht, kann Magie ebenso tödlich sein wie Hunger.«

Aus Lady Libras verschollenem Magielehrbuch

»Macht es dir gar nichts aus?«

Entschlossen holte er Duncan ein und ballte dabei die Fäuste. Nia hatte sie gerettet. Hatte sich selbst gerettet. Mit ihrer Magie. Und er war dankbar dafür. Dankbar, dass sie am Leben war. Doch ebenso tobte die Wut in ihm. Weil sie ihn belogen hatte. Die ganze Zeit hatte sie keinen Ton gesagt. Nachdem er dachte, sie würde ihm endlich vertrauen. Nachdem sie sich einander angenähert hatten. Freunde geworden waren. Nachdem sie Ada gefunden und dieses Geheimnis mit ihm geteilt hatte. Ob der König davon gewusst hatte? Hatte er sich mit Nia ganz bewusst eine weitere Magische in den Palast geholt? Wozu? Waren all die Reinheitsgesetze nur eine Farce?

Dann Elysas Behauptung, dass nicht nur Adas Anhänger, sondern auch weitere Rebellen unter den Adlern waren. Er war nicht sicher, ob er ihren Worten Glauben schenken sollte, aber welchen Grund hätte sie, zu lügen?

Aiden wusste nicht mehr, was er denken sollte. Er fühlte sich verraten und seltsam verloren. Aber er konzentrierte sich auf die Wut, denn diese war leichter zu ertragen. Sie drückte ihm nicht die Luft ab.

»Was genau meinst du?«, fragte Duncan mit einer Ruhe, die seine Wut noch steigerte.

»Na sie! Ihre Magie.« Aiden sprach ihren Namen nicht aus. Er sah sie nicht einmal an. Duncan wusste auch so, von wem er redete.

Dieser schwieg einen Moment. Dann holte er tief Luft. »Ich denke, das ist der falsche Zeitpunkt für dieses Gespräch.«

Fassungslos starrte Aiden ihn an.

»Der falsche Zeitpunkt?« Er umklammerte den Knauf seines Schwertes und hätte damit am liebsten auf irgendetwas eingeschlagen.

»Wir folgen gerade zwei magischen Rebellen in ihr Versteck, vertrauen auf ihr Wort, nachdem der König getötet wurde und seine Thronfolgerin, für die wir das alles tun, ist eine Magische. Und du findest nicht, dass wir darüber sprechen sollten?«

Duncan warf ihm einen Seitenblick zu. »Tun wir es wirklich für sie?«

»Was soll das denn jetzt schon wieder heißen?«

Der Wald um sie herum lichtete sich mit einem Mal, und sie erreichten das Ufer eines weiten Sees, hinter dem sich der zerklüftete Rand des Kraters erhob, den er sonst nur vom Palast aus gesehen hatte. Über der bewegungslosen Wasseroberfläche und dem kiesigen Boden unter Aidens blutbefleckten Schuhen waberte dichter Nebel und streckte seine feuchten Finger nach ihnen aus.

»Folgen wir den Rebellen, um Nia zu schützen oder weil wir nicht wissen, was wir sonst tun sollen? Haben wir eine Chance, Will ohne ihre Hilfe zu befreien oder sind die Rebellen unsere einzige Möglichkeit?«

Duncan hielt an und seine Augen zuckten kurz zu Nia, die einige Schritte hinter ihnen ging. »Wenn sie nicht wäre, wärst du dann hier?«

Aiden schluckte, unsicher, was er antworten sollte.

»Nichts ist mehr wie vor ein paar Stunden und wird es auch nie wieder sein«, murmelte Duncan gedankenverloren. »Nia ist eine Magische aber selbst du solltest erkannt haben, dass sie kein schlechter Mensch ist. Weißt du, dass sie dir zur Rettung eilen wollte? Als sie bemerkt hat, dass du nicht hinter ihr bist, sondern noch gegen Ada kämpfst? Shadow hat ihr den Arm blutig gebissen, bei dem Versuch sie aufzuhalten. Sie hatte allen Grund uns zu hassen und die Geister wissen, wie sehr sie es versucht hat, als wir sie holten. Aber heute hätte sie, ohne zu zögern, ihr Leben für dich und wahrscheinlich auch für uns andere riskiert. Obwohl wir schuld am Tod so vieler Unschuldiger sind. Am Tod des Mannes, der sie aufgezogen hat. Sie ist die Letzte, die deine Wut verdient.«

Damit ließ Duncan ihn stehen und folgte den anderen weiter über das Ufer. Aiden blickte ihm sprachlos nach. Er konnte die Wahrheit in seinen Worten nicht leugnen. Dennoch kostete es ihn Überwindung, zu Nia aufzusehen, als ihre Schritte sich näherten. Er bemerkte den blutigen Stofffetzen an ihrem Arm. Die Krone, die noch immer in ihrem Haar saß.

Du bist es nicht wert, dass sie für dich in den Tod geht, Silberling.

Aiden zuckte zusammen, als er Shadows Stimme in seinem Kopf hörte. Ihre Wut in jeder Silbe spürte.

Nia öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, aber mit einem Blick auf Shadow schloss sie ihn wieder und drängte sich an ihm vorbei. Aiden hielt sie nicht auf.

»Da wären wir!«

Erschöpft und verwirrt stand er mit den anderen Adlern und Nia am Westufer des Sees. Seine linke Schulter schmerzte höllisch und pochte bei jedem Herzschlag. Er hatte den Schnitt, den Melvin ihm zugefügt hatte, notdürftig mit einem Fetzen seines Hemdes verbunden, wusste aber nicht, ob das ausreichte. Gegen den Schmerz anatmend sah er auf und über den See. Etwas entfernt ragten drei zerklüftete, dunkle Felsen wie Finger in die Höhe.

»Man munkelt, dass es versteinerte Knochensplitter eines Drachen sind, der in diesem See ertrunken ist. Man nennt ihn deshalb auch Splittersee«, erklärte Eli mit einem breiten Grinsen. »Faszinierend, oder?«

»Und wie genau hilft uns das jetzt weiter?«, wollte Leif wissen.

Elysa trat ein paar Schritte in den See. »Nun, ich hoffe, ihr könnt alle schwimmen?«

Ohne weitere Erklärung tauchte sie ab. Nach ein paar Atemzügen durchbrach ihr Kopf wieder die Wasseroberfläche. Mit schnellen Bewegungen hielt sie auf die Felsformation zu.

Eli grinste breit und ließ sich dann mit dem Kopf voran ins Wasser fallen, um seiner Schwester zu folgen.

»Ist das ihr Ernst?«, fragte Leif perplex blinzelnd.

Luan verpasste ihm einen sanften Schlag auf die Schulter. »Komm, es wird Zeit das Blut abzuwaschen.«

Als Aiden ihnen und Duncan ins Wasser folgte, schnappte er nach Luft. Es war eiskalt. Seine Kleider sogen sich sofort voll und wurden unangenehm schwer. Aber immerhin ließen die Schmerzen in seiner Schulter damit für einen Moment nach. Zumindest, bis er anfing zu schwimmen. Jedes Ausstrecken der Arme fühlte sich an, als würde die Klinge sich erneut in sein Fleisch graben.

Er vernahm Nias Stimme und wandte sich um. Sie stand bis zu den Knien im Wasser, die Arme um den Oberkörper geschlungen, und schien mit Shadow zu diskutieren. Für einen Moment konnte Aiden nicht fassen, dass ihm entgangen war, dass Nia mit der Pantherdame sprechen konnte. Dass er nie eine Unterhaltung zwischen ihnen bemerkt hatte. Er war so blind gewesen.

Shadow tapste vorsichtig mit einer Pfote ins Wasser, bevor sie fauchend zurücksprang.

»Jetzt stell dich nicht so an!«, schimpfte Nia mit zitternder Stimme. Die Kälte verdunkelte ihre Lippen, wodurch ihr Gesicht noch blasser wirkte.