Die Ordnung der Schmetterlinge - David Usadel - E-Book

Die Ordnung der Schmetterlinge E-Book

David Usadel

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Beschreibung

In welch einer Welt würden wir leben, wenn die Menschen den Mut fänden, das zu tun, was ihnen wirklich am Herzen liegt? Stattdessen tun sie allerlei Dinge, von denen sie glauben, sie würden von ihnen erwartet. Nach allem, was ihr in ihrem noch so jungen Leben bereits widerfahren ist, hätte Coco sich nicht im Entferntesten träumen lassen, wie schön, wie bunt, wie lebenswert das Leben sich anfühlen konnte! Alles begann mit dem unerwarteten Besuch dieser geheimnisvollen getigerten Katze, die sie zu Zahra geführt hatte. An einen Ort, wo sie sich nicht mehr verstellen musste, wo sie einfach sein durfte. Ein Ort, wo sie gut genug war, so wie sie war. Hier erfährt Coco, dass man ihr Anderssein, unter dem sie so oft gelitten hat, auch als Hochsensibilität bezeichnet. Und dass sie damit nicht alleine ist. In den vergangenen Jahren ist eine Vielzahl an Sachbüchern zum Thema Hochsensibilität erschienen. Mit diesem Buch nähert sich der Autor dem Thema auf eine andere Weise: bilderreich und kurzweilig begleitet der Leser die hochsensible Coco und erlebt, welche Schwierigkeiten, aber auch welche Chancen dieses Anderssein mit sich bringt. Neben dem Informationsgehalt eines Sachbuches bietet das Buch vor allem eines: Unterhaltung und Spannung bis zur letzten Seite.

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Seitenzahl: 312

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Coco, ein Mädchen im Grundschulalter, bricht mit einer schweren Lungenentzündung auf der Straße zusammen. Nach tagelangem Ringen mit dem Tod kommt sie in einem schlossartigen Anwesen, durch hohe Mauern vor dem Lärm der Großstadt geschützt, wieder zu sich. Von Zahra, ihrer Gastgeberin, erfährt sie, dass ihr »Anderssein«, unter welchem sie bisher oft gelitten hat, auch als Hochsensibilität bezeichnet wird, und dass sie damit nicht alleine ist.

Über den Autor

Dr. med. David Usadel ist als Psychotherapeut im Ruhrgebiet niedergelassen. Dieses Buch entstand aus der Idee heraus, die Heilkraft der Sprache zu nutzen, um auch jenen Menschen ein Hilfsangebot machen zu können, die Schwierigkeiten haben, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen und Vertrauen zu fassen.

Den Prinzipien der Bibliotherapie entsprechend, will das Buch dabei helfen, kognitive und emotionale Verarbeitungsprozesse zu unterstützen, Informationen bereitzustellen, Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, Vergleiche mit anderen Menschen zu ermöglichen und so letztendlich Persönlichkeitsentwicklung zu fördern.

Mindestens in gleichem Maße will dieses Buch jedoch besonders eines: unterhalten!

Gewidmet

all jenen, die trotz allem nicht aufgeben;

trotz allem weitermachen,

wieder aufstehen.

All jenen, die die Welt

Tag für Tag ein kleines bisschen besser machen.

All jenen, die Vorbild sind – Inspiration für andere.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

1

Coco versuchte, die Augen zu öffnen. Ihre Lider fühlten sich unsagbar schwer an. Selbst die kleinste Bewegung kostete sie große Anstrengung.

Was war das für eine ungewohnte Stille? Kein Straßenlärm, keine laut aufgedrehten Fernsehgeräte aus den Nachbarwohnungen. Entfernt glaubte sie, Vogelgezwitscher zu hören.

Hatte sie das alles nur geträumt? Den nicht enden wollenden Dauerlauf durch unbekannte Gegenden der Stadt, die außergewöhnliche, getigerte Katze?

Der Untergrund, auf dem sie lag, war weich. Sie war zugedeckt. Coco tastete nach dem Schulbeutel. Da war nichts. Blinzelnd versuchte sie erneut, die Augen zu öffnen. Helles Sonnenlicht blendete sie, sodass sie den Versuch aufgeben musste. Doch - helles Sonnenlicht? Wie konnte es sein, dass die Sonne in ihr Fenster schien? Zu keiner Jahreszeit war es vorgekommen, dass die Sonnenstrahlen ihr Zimmer erreicht hatten. Und es war kein Fluchen oder Stöhnen des Vaters zu hören. War sie im Himmel? War ihr Wunsch endlich erhört worden? Wenn das der Himmel war, dann war es gut so!

Cocos Kopf schmerzte, die Schläfen pochten. Aber es gab keinen Grund mehr, dagegen anzukämpfen. Wenn sie im Himmel war, dann hatte sie nun keinerlei Eile, keinerlei Verpflichtungen mehr. Niemand würde sie mehr antreiben. Der entfernte Gesang der Vögel wurde leiser. Ruhe überkam Coco. Sie wollte nur noch schlafen. Für immer schlafen.

In dem Dämmerschlaf, in den sie verfiel, erschienen ihr Erinnerungen der vergangenen Tage. Wie Bilder, die aus dem Nichts auftauchten und die ebenso plötzlich wieder verschwanden. So war da plötzlich wieder diese außergewöhnliche Katze.

Wie lange sie wohl schon so dagesessen hatte? Was mochte diese Katze an ihr dermaßen interessant finden, dass sie schon zum zweiten Mal wie versteinert durch das einzige Fenster hineingesehen hatte, um jeder noch so kleinen Bewegung Cocos mit ihrem wachsamen Blick zu folgen?

Coco hatte die Katze ein paar Tage zuvor schon einmal gesehen. Genau wie heute hatte das Tier auf dem durch die Witterung stark beschädigten und teilweise bereits auseinandergefallenen Mauervorsprung gesessen, der die Grenze zum Nachbarhaus bildete und auf den man schaute, wenn man aus dem Fenster blickte. Coco hatte gerätselt, wie die Katze wohl dort hochgekommen sein mochte. Und vor allem hatte sie sich gefragt, was sie veranlasst hatte, sich die Mühe zu machen, ausgerechnet diesen wenig einladenden Ort aufzusuchen.

An diesem Tag war Coco wieder einmal nicht in die Schule gegangen, und sie hatte schon den zweiten Tag krank im Bett verbracht. Ob die Katze Wirklichkeit oder Teil ihrer Fieberträume gewesen war, hätte sie damals nicht mit Sicherheit sagen können. Coco erinnerte sich, wie ihr an diesem Tag zum ersten Mal die außergewöhnlich schöne Zeichnung des Fells aufgefallen war. Das Muster hatte sie an einen Dokumentarfilm denken lassen, den sie einmal teilweise hatte sehen können, nachdem der Vater nach der Übertragung eines Fußballspiels eingeschlafen war und nicht bemerkt hatte, dass Coco vom Flur aus durch den Türspalt die im Anschluss folgende Sendung über einen weißen Tiger verfolgt hatte.

Es war Coco verboten, das Wohnzimmer zu betreten. Es war das Reich des Vaters. Der Fernseher lief ununterbrochen. Von dem Sofa aus, welches mit seiner speckigen Oberfläche an die britische Wachsjacke erinnerte, die Coco einmal auf dem Weg zur Schule in einem Schaufenster gesehen hatte, kommandierte er Coco herum, gab lauthals Anweisungen und, je nachdem wie viel er bereits getrunken hatte, schrie er sie an und beschimpfte sie, genauso ein faules Miststück wie ihre Mutter zu sein. Coco war nie traurig gewesen, dass das Wohnzimmer tabu für sie war. Sie hatte sich stets vor dem Zigarettenrauch geekelt, der die Wände und die Einrichtung des fensterlosen Raumes über die Jahre mit einer klebrigen bräunlichen Schicht überzogen hatte. Und sie hatte schlechte Erinnerungen an dieses Zimmer ...

»Miststück, warum ist nichts zu essen da? Willst du, dass ich hier in diesem Drecksloch verhungere?«, glaubte sie plötzlich, die Stimme des Vaters rufen zu hören. Angespannt und mit klopfendem Herzen versuchte Coco, die Bettdecke zurückzuschlagen, um aus dem Bett aufzuspringen. Doch ihr Körper versagte ihr seinen Dienst. An ein Aufstehen war nicht zu denken. Anders als sonst, wenn sie krank gewesen war, vermochte die Angst vor dem Vater diesmal nicht, ihrem Körper eine letzte Anstrengung abzuverlangen. Doch was würde der Vater mit ihr anstellen? Sie musste aufstehen, sie musste ihm doch gehorchen! Gequält von dem Gedanken, den Groll des Vaters zu verstärken, lag sie nur noch einen kleinen Augenblick reglos da, mit der Absicht, einen weiteren Versuch zu unternehmen, aus dem Bett aufzustehen. Da fiel ihr auf, dass die Schreie und das Fluchen des Vaters verstummt waren. Irritiert lauschte sie, in Erwartung eines weiteren lautstarken Wutausbruches. Doch nichts geschah.

Coco konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie vom Vater zuletzt bei ihrem Namen genannt worden war. Miststück, Taugenichts, sein Repertoire schien unerschöpflich. Wobei Miststück sein Lieblingswort war. Es machte ihr schon lange nichts mehr aus. Das Geschrei war ihr über die Jahre so vertraut geworden, dass sie einmal, das Schlimmste befürchtend, in das verbotene Zimmer gestürzt war, weil der Vater seit Stunden keinen Laut von sich gegeben hatte. So lange er sie nur anschrie und beschimpfte, war alles in Ordnung.

Es gab Schlimmeres als das.

Gott sei Dank hatte er sie lange nicht mehr angefasst. Vielleicht lag es daran, dass ihm in den letzten Wochen sein Gewicht zu schaffen machte und die Beine ihn nicht recht tragen wollten, sodass er das Sofa kaum noch verließ. Den Eimer, der ihm seitdem die Toilette ersetzte, stellte er an die Tür zum Flur, wenn er voll war, damit Coco ihn ausleerte.

Am Tag ihres zweiten Besuches hatte die geheimnisvolle Katze lange vor Cocos Fenster gesessen und Coco angeschaut, als wolle sie etwas von ihr. Ein feines, kaum wahrnehmbares Blinzeln der weit geöffneten Augen war die einzige Reaktion gewesen, die Coco an ihrer Besucherin hatte feststellen können, wenn das Auftreffen eines gegen die Wand geworfenen Gegenstandes für einen heftigen Schlag sorgte.

Der Vater selbst hatte die Wand kurz nach dem Einzug in die Dachwohnung notdürftig errichtet und so aus dem einzigen Raum der Wohnung zwei gemacht, und immer, wenn ihm etwas nicht schnell genug ging oder wenn Coco nicht gleich antwortete, fing er an zu schreien und zu toben und Gegenstände gegen die Wand zu werfen.

Normalerweise ließ Coco sich durch nichts in der Welt stören, wenn sie ihre Hausaufgaben erledigte oder wenn sie sich auf eine Arbeit für die Schule konzentrierte.

Die Schuldirektorin hatte einmal in einer Ansprache nach den Schulferien gesagt, dass man Vater und Mutter unendlich viel zu verdanken habe und dass man ohne sie nicht auf der Welt sei, weshalb man sie immer bedingungslos lieben und achten müsse. Das hatte Coco seitdem auch versucht. Doch wenn sie etwas für die Schule tat, dann durfte sie von dem Gebot der Elternliebe ausnahmsweise absehen, das hatte sie für sich eines Tages entschieden. Denn es war ja für einen guten Zweck, schließlich wollte sie einmal ein anderes Leben führen als dieses hier. Sie machte gerne Hausaufgaben. Es war dann, als sei sie umgeben von einer Art Schutzschild, der alles von ihr abprallen ließ und sie vor jeder Bedrohung zu schützen schien.

Doch an diesem Tag war es etwas anderes gewesen. Die Katze sollte nicht durch die donnernden Schläge aus dem angrenzenden Wohnzimmer eingeschüchtert werden oder gar die Flucht ergreifen! Also hatte Coco alles stehen- und liegengelassen und war durch den schmalen, unbeleuchteten Flur auf den Türspalt zugelaufen, durch den, abgeschwächt durch dichte Rauchschwaden, das vertraute Flimmern des Fernsehers zu sehen war, um vom Vater Geld für das Bier entgegenzunehmen. Wenn die letzte Flasche leer war, dann wurde er immer sehr nervös. Sie war flink in ihre abgetragenen, mit der Zeit etwas eng gewordenen Schuhe geschlüpft, hatte ihr langes schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und war die fünf Stockwerke hinuntergeeilt zu dem kleinen Geschäft an der Ecke, vorbei an den Müllbergen, die sich seit Wochen im Treppenhaus und im Innenhof türmten, weil die Mehrzahl der Hausbewohner die Gebühr für die Müllabfuhr nicht mehr bezahlt hatte. Schweigend hatte sie fünf Flaschen Bier in den Beutel getan, den sie bei sich trug und dem Verkäufer das Geld in kleinen Münzen abgezählt hingelegt. Der Vater hatte damals, als er noch selbst einkaufen gegangen war, eine Vereinbarung mit dem Mann getroffen, seiner minderjährigen Tochter entgegen der gesetzlichen Vorschrift Alkohol und Zigaretten zu verkaufen, schließlich sei er immer ein guter Kunde gewesen und Gesetze seien doch letztendlich dafür da, dass man sie den Erfordernissen entsprechend anpasse.

Coco war so schnell sie konnte zurück nach Hause gelaufen. Durch einen kräftigen Stoß gegen die kaputte Haustür gab diese nach. Coco konnte sich nicht daran erinnern, dass das Schloss einmal funktioniert hatte. Völlig außer Atem war sie im Dachgeschoss angekommen, hatte den Beutel in den Türspalt zum Zimmer des Vaters gestellt, der sie wutschnaubend anschrie, wo sie so lange gewesen sei und ob sie nichts Besseres zu tun hätte, als den ganzen Tag zu vertrödeln und ihn verdursten zu lassen.

Ihn nicht weiter beachtend, war sie aufgeregt in ihr Zimmer geeilt, um nach ihrer Besucherin zu sehen. Doch auf der Dachterrasse stand nichts weiter als der kaputte Blumentopf, den der Frost in einem der letzten Winter oder ein kräftiger Windstoß zerstört haben musste und in dessen Scherben ein zartes Pflänzchen sein Zuhause gefunden hatte. Und dann war da noch die Wäscheleine, die schon so oft gerissen war, dass sie fast nur noch aus Knoten zu bestehen schien. Hier trocknete Coco die Wäsche für den Vater und für sich.

Wo war die Katze? Hatten die lauten Geräusche sie verjagt? Hatte sie Hunger bekommen und war ihres Weges gegangen? Oder hatte sie vielleicht dort gesessen, weil sie hungrig war und sich von Coco eine Leckerei erhoffte? Ja, natürlich! Wieso war sie nicht eher darauf gekommen! Sie hätte ihr etwas zu fressen geben müssen! Der Tiger in dem Film hatte gejagt und die Reste gierigen Geiern überlassen. Aber was würde die Katze wohl fressen? Was gab es schon zu jagen in einer Großstadt? Allenfalls die unzähligen Ratten, die Coco schon manches Mal im Treppenhaus zu Tode erschreckt hatten, wenn sie im Winter nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause gekommen war oder der Vater sie in der Nacht losgeschickt hatte, um Alkohol oder Zigaretten zu besorgen. Ratten? Nein, ihre getigerte Freundin würde bestimmt keine Ratten fressen!

Coco war traurig und ratlos. Was konnte sie tun? Ihr fiel ein, sie hätte der Katze doch etwas von dem Pausenbrot geben können, das ihr Leni an diesem Tag auf dem Heimweg geschenkt hatte, weil diese selbst es nicht essen wollte und ihre Mutter stets enttäuscht war, wenn Leni in der Schule nicht alles aufgegessen hatte. Lenis Mutter war sehr besorgt um ihre Tochter, sie gab ihr auch Obst mit und manchmal Schokolade. Coco hatte sich immer auf den Heimweg mit ihrer Schulfreundin gefreut, denn Leni hatte meistens etwas zu essen übrig. Und sie konnte so schöne Geschichten erzählen.

Ihre Familie hatte ein eigenes Auto und ein Haus. Und am Wochenende machten sie Ausflüge hinaus aufs Land zu Lenis Großmutter. Dort gab es Pferde und Hunde und Katzen. Und Leni durfte dem Nachbarn mit den Tieren helfen und auf dem Traktor mitfahren.

Coco hatte den Vater einmal gefragt, ob sie auch ein Pausenbrot haben könne. Da hatte er ihr eine schallende Ohrfeige gegeben und gesagt, sie solle ihre Frechheiten für sich behalten und dankbar sein für all das, was er für sie tue!

Ob Cocos Mutter ihr auch ein Pausenbrot mitgegeben hätte? Bestimmt hätte sie das! Sie sah so mild und liebevoll aus auf dem Foto, das der Vater früher in dem Karton unter dem Sofa verwahrt hatte. Manchmal, wenn der Vater auf der Toilette war, hatte Coco das Foto aus dem Karton stibitzt und es mit in ihr Zimmer genommen. Dort hatte sie dann mit der Mutter leise gesprochen und ihr vieles erzählt. Und gefragt hatte sie sie all das, was sie den Vater nicht fragen durfte. Mutter, wo bist du jetzt? Kommst du wieder zurück? Stimmt es, dass du ein Herz wie ein Stein hast? Dass du den Vater und mich zurückgelassen hast, weil wir dir eine Last waren?

Einmal hatte der Vater an der Tür gelauscht und war ins Zimmer gekommen. Er hatte das Bild gesehen und es tobend in viele kleine Schnipsel zerrissen. Es hatte eine Tracht Prügel gegeben. Coco musste manchmal daran zurückdenken, wenn sie sich im Spiegel betrachtete und die Narbe über ihrer linken Augenbraue sah.

Seit diesem Tag gab es kein Bild mehr von der Mutter. Coco hatte sich nicht vorstellen können, dass diese Frau in dem kurzen Sommerkleid, mit der Blume im Haar und dem glücklichen Lächeln ein Herz aus Stein hatte und ihre Tochter für einen anderen Mann verlassen würde. Aber es gab niemanden, den sie danach hätte fragen können.

Coco hatte sich immer ein eigenes Haustier gewünscht. In der letzten Schulstunde vor Weihnachten schrieben die Kinder immer einen Wunschzettel. Im vergangenen Jahr stand dort drauf, dass sie sich eine Katze wünschte. Aber der Vater hatte ihr an Heiligabend gesagt, dass sie endlich aufhören solle mit diesen Spinnereien. Alles, was zusätzliche Arbeit mache oder Geld koste, sei eine weitere unnötige Belastung und käme nicht infrage.

Stattdessen hatte er ihr versprochen, sie in das Schnellrestaurant neben der Metró-Station einzuladen.

Doch er hatte sein Versprechen nie eingelöst und an dem Abend schnarchend und betrunken in dem stickigen Raum auf seinem Sofa gelegen, während Coco, in ihre Bettdecke eingewickelt, an dem kleinen Fenster ihres Zimmers gesessen hatte, um in die hell erleuchteten Zimmer der Nachbarhäuser zu schauen, wo die Familien sich um die reich geschmückten Weihnachtsbäume versammelt hatten, um ihre Geschenke auszupacken, gemeinsam zu essen oder Weihnachtslieder zu singen. Coco hatte auch der Mutter von ihrem Wunsch nach einer Katze erzählt. Aber ohne das Bild, denn das hatte es ja nicht mehr gegeben. Gerne hätte sie es an diesem Abend bei sich gehabt.

Sie hatte sich ausgemalt, wie eine Katze bei ihr im Zimmer wohnen würde. Sie dürfte bei ihr im Bett schlafen! Und wenn es im Winter wieder kalt wäre, dann würden sie und die Katze sich gegenseitig wärmen! Der Vater hatte gesagt, dass andere Leute auch keine Heizung hätten und dass man mit einer guten Bettdecke ausreichend vor der Kälte geschützt sei und dankbar sein könne, ein Dach über dem Kopf zu haben. In seinem Zimmer gab es einen Ofen. Coco hatte im Winter Tag für Tag vor der Schule Kohlen aus dem Keller in die Wohnung geschleppt, damit er es warm hatte. Sie hatte sich überlegt, sie würde der Katze einen Namen geben! Und sie bekäme nur das Allerbeste zu essen! Sie würde ihr immer etwas aufheben von Lenis Brot! Und sie würden im Sommer zusammen in den Park gehen!

Coco brauche keine Freundinnen, sie würden zu viele Fragen stellen, hatte der Vater immer gesagt. Und noch schlimmer seien deren Eltern, die sich in Dinge einmischten, die sie nichts angingen. Als Coco Leni einmal mit nach Hause gebracht hatte, war Leni schon bald eilig weggelaufen. Sie hatte geweint. Sie hatte den Vater schreien gehört und dann große Angst bekommen. Sie war seitdem nie wieder zu Coco nach Hause gekommen.

Ihre Katze würde nicht davonlaufen, wenn der Vater wieder einmal herumschrie! Sie hätte dann ihr Versteck in Cocos Zimmer! Coco würde sie beschützen und gut für sie sorgen! Und wenn die Frau vom Jugendamt käme, dann müsste sie die Katze so lange auf der Dachterrasse verstecken. Die Frau vom Jugendamt hatte immer gesagt, es sei ein großes Glück, solch einen Vater zu haben! Und es wäre wichtig, immer schön brav zu sein und ihm nicht noch mehr Probleme zu machen, als er ohnehin schon hätte. Coco hatte sie einmal gefragt, ob sie ein Haustier habe. Daraufhin hatte die Frau geantwortet, Tiere würden nur Dreck machen, stinken und Geld kosten. Und dass es das Letzte wäre, das vom Amt großzügig zur Verfügung gestellte Geld in irgend so ein Mistvieh zu stecken.

Coco durchfuhr trotz der dicken Bettdecke eine eisige Kälte, die ihren ganzen Körper erzittern ließ. Sie versuchte, sich ganz klein zusammenzurollen. Wie ein Igel. Plötzlich tauchte vor ihrem inneren Auge das Bild ihrer Mutter auf. Dieses liebe, etwas schüchtern lächelnde Gesicht mit den tief liegenden Augen, die sie sanft anschauten, wie aus einer anderen Welt. Coco hatte immer wieder festgestellt, dass das Gesicht ihrer Mutter langsam in ihrer Erinnerung verblasste, und sie fürchtete, es könne eines Tages ganz erloschen sein. Es war ein schönes Gefühl, dieses auf eine gewisse Weise vertraute Gesicht plötzlich wieder so lebendig vor sich zu sehen.

Coco fiel erneut in einen tiefen Schlaf.

2

Es roch nach Bienenwachs. Kein Laut war zu vernehmen, auch kein Vogelgezwitscher. Draußen herrschte Dunkelheit. Keine Sonnenstrahlen, die Coco daran gehindert hätten, die Augen zu öffnen. Ihr Kopf fühlte sich immer noch schwer an, die Glieder ließen sich unter der gewaltigen Bettdecke kaum bewegen.

Coco hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, wenn sie in den Himmel käme. Wie sie mit den Engeln in den Wolken toben und von oben herab auf die Erde sehen würde. Vielleicht würde sie ihre Mutter sehen! Es wäre ganz hell, ihr Körper federleicht. Doch nun war es anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Oder gab es im Himmel auch Dunkelheit? Konnte man im Himmel krank werden? Coco versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Doch es fehlte ihr die Kraft, sich zu konzentrieren. Einfach nur schlafen und nicht mehr aufwachen müssen, dann wäre es gut! Sie wusste weder, wo sie war, noch, wie lange sie sich bereits an diesem Ort befand. Sie musste so viel geschlafen haben, dass ihr jegliches Zeitgefühl abhandengekommen war. Es strengte sie an, die Augen offen zu halten. Immer noch war da dieser dumpfe Kopfschmerz, der durch die wiederkehrenden Hustenanfälle verstärkt wurde. Und während Coco sich mit der Frage beschäftigte, wie es sein konnte, dass sie keinerlei Durst- oder Hungergefühl empfand und wann sie zuletzt zur Toilette gegangen sein mochte, glitt sie erneut in einen unruhigen Dämmerschlaf. Abermals tanzten Bilder der vergangenen Tage - oder waren es bereits Wochen oder Monate? - vor ihren Augen.

»Ey, wach mal wieder auf!«, hatte ihr Sitznachbar gezischt und sie grob in die Seite gestoßen. »Wenn du schon in der Schule schlafen musst, dann bleib auf deiner Seite!«

Coco hatte geblinzelt, das Neonlicht im Klassenraum war grell, die Lehrerin stand an der Tafel und schrieb Rechenbeispiele auf. Coco mochte Mathematik. Und sie mochte auch die Lehrerin. Sie war immer sehr freundlich zu ihr gewesen und hatte nie Fragen gestellt, die über die Schule hinausgingen, so wie manche der anderen Lehrer. Es tat ihr leid für die Lehrerin, dass sie schon wieder eingeschlafen war, wo die Lehrerin sich doch solche Mühe gab, Coco und den anderen etwas beizubringen. Aber die letzte Nacht hatte sie wieder nicht schlafen können. Es hatte diesmal nicht an dem Verkehrslärm und den Sirenen der Polizei- und Rettungsfahrzeuge gelegen oder an dem Krach, den der Vater machte, wenn er Coco mitten in der Nacht lauthals herumkommandierte und beschimpfte.

Nein, diesmal war der Grund für die schlaflose Nacht die Begegnung mit der geheimnisvollen Katze gewesen, die sie am Tag zuvor besucht hatte und der sie etwas zu fressen hätte geben sollen, anstatt sie durch das Fenster hindurch nur anzuschauen, aus Angst, sie könnte das Weite suchen, wenn sie die Tür zur Dachterrasse öffnete. Die Katze wollte ihr in dieser Nacht einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Coco hatte sich doch so sehr eine Freundin gewünscht! Eine, die immer für sie da sein würde! Eine, die sich nicht scheute, sie zu Hause zu besuchen! Eine Freundin, die ihr zuhörte, der sie alles erzählen konnte. Sie hatte Leni sehr gern. Aber Leni hatte außer ihr noch viele andere Freundinnen. Freundinnen, die von Lenis Eltern akzeptiert wurden. Größere Menschenansammlungen waren Coco immer ein Graus gewesen. Ebenso konnte die Gesellschaft eines anderen Menschen sie sehr anstrengen. Aber wenn es eine Person gewesen wäre, die sie sehr mochte, so wie Leni, dann hätte sie sie sicherlich gut ertragen können, davon war sie fest überzeugt. Aber eine Katze würde sie nicht anstrengen, das stand fest. Und bestimmt würde Leni sich auch für ihre Katze interessieren!

Coco hatte Leni nach der Mathestunde in der großen Pause aufgeregt von ihrem außergewöhnlichen Besuch erzählen wollen. Aber Leni hatte sie kaum beachtet. Sie stand stattdessen mit den anderen Mädchen in einer Gruppe zusammen und unterhielt sich mit ihnen über einen Film, den sie am Nachmittag zuvor im Familienkino gesehen hatten. Sie kicherten immer, wenn Coco in ihre Nähe kam und sagten Sachen über sie, die nicht nett waren. Coco fühlte, dass Leni eigentlich nicht so war wie die anderen und hatte Verständnis dafür, dass sie sich nicht für sie einsetzte oder sie in Schutz nahm. Schließlich hatten die Mädchen doch recht, wenn sie sich über sie lustig machten wegen ihrer kaputten Kleider, wegen ihrer alten, zu engen Schuhe und weil sie nie mitkam ins Kino oder auf den Abenteuerspielplatz im Park.

Als die Pausenglocke das Ende der Pause einläutete, hatte sie Leni abgepasst und ihr von der Katze erzählt, die sie besucht hatte. Aber Leni hatte bloß gelacht und gesagt: »Ach, hast du noch nie eine Katze gesehen? Bei meiner Großmutter auf dem Bauernhof gibt es die in Massen. Sie drehen ihnen den Hals um, wenn es zu viele werden, oder werfen sie in einem Sack mit Steinen in den Fluss!«

Es hatte Coco traurig gemacht, dass sie ihr Glück mit niemandem teilen konnte. Sie hätte auf den Vater hören sollen. Er hatte ihr aufgetragen, zum Amt zu gehen und den neuen Antrag auf Zusatzleistungen dort vorzulegen, anstatt ihre Zeit mit der Schule zu verschwenden, die sie doch ohnehin nur auf dumme Gedanken bringen und von den wichtigen Dingen abhalten würde, wie er immer sagte. Aber die Spannung, was Leni zu ihrer vierbeinigen Besucherin sagen würde und der Unterricht bei ihrer Lieblingslehrerin waren der Grund gewesen, weshalb sie den Auftrag des Vaters aufgeschoben hatte.

Sie wusste, dass der Vater sie dafür bestrafen würde, aber das konnte sie ertragen. Sie hatte es oft genug ertragen. Sie wusste inzwischen, was sie machen musste, damit es nicht so weh tat. Heute würde sie an die getigerte Katze denken, bis es vorüber war. Sie würde sich ihre leuchtenden Augen vorstellen, ihren wachen Blick, ihr wunderschönes Fell, welches sich sicherlich ganz weich anfühlte!

Die Schulglocke hatte geläutet, die Schule war vorbei. Die Kinder stürzten aus dem Klassenzimmer und es war das übliche Gedränge am Ausgang entstanden, jeder wollte als Erster draußen sein. Manche der Kinder hatten ein eigenes Fahrrad. Sie fuhren damit auf dem Heimweg um die Wette. Coco hatte einmal ein Mädchen gefragt, ob sie es auch versuchen dürfte, mit ihrem Fahrrad zu fahren. Das Mädchen hatte Coco mit scharfem Blick angeschaut und gesagt, dass sie es doch sowieso nicht bezahlen könne, wenn sie es kaputt machen würde, sie solle sich doch ihr eigenes Fahrrad kaufen oder sich eines zu Weihnachten wünschen!

Coco hatte den Schulhof allein verlassen und sich auf den Heimweg gemacht. Einmal hatte sie eine Busfahrkarte in dem Fahrkartenautomaten gefunden, die jemand bezahlt und dann dort vergessen haben musste. Da war sie in den Bus eingestiegen und fast bis vor die Haustür gefahren. Es waren sieben Stationen, sie hatte sie gezählt. Der Busfahrer war sehr nett gewesen. Er hatte einen kleinen Notsitz neben sich heruntergeklappt und Coco gefragt, ob sie ihm ein bisschen Gesellschaft leisten wolle. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen seitdem. Aber wenn ein Bus vorbeifuhr, dann schaute sie immer, ob sie ihn entdecken konnte.

Auf dem Heimweg hatte es erneut angefangen zu regnen. Die Straßen waren noch nass von dem letzten Regenguss, große Pfützen hatten sich auf den Straßen und auf dem Gehweg gebildet. Sie musste aufpassen, dass die vorbeifahrenden Autos sie nicht nass spritzten. Sie hatte nur diese eine Hose, und sie würde nicht trocknen bis zum nächsten Tag. Deshalb wusch sie sie auch immer nur am Wochenende.

Sie hatte die großen Kreuzungen bereits alle hinter sich gelassen. Sie mochte die Kreuzungen nicht. Es warteten so viele Autos an den Ampeln. Es war laut, es stank. Davon bekam sie immer Kopfweh. Und oft wurde sie von Fremden angesprochen, meistens von Männern. Dann wusste sie nicht, wie sie sie wieder loswerden sollte. Manche waren bis zu ihrer Haustür neben ihr hergelaufen und hatten versucht, mit ihr zu reden. Meistens versuchten sie, nett zu sein, aber Coco spürte gleich, dass das nicht echt war.

Sie hatte sich immer auf die zweite Hälfte ihres Heimweges gefreut, der von Bäumen gesäumt war, und manche Häuser hatten einen kleinen Vorgarten. Es gab einen mit einem kleinen Springbrunnen und einer Figur: Einem Männchen, das eine Angel ins Wasser hielt. In diesem Viertel hatte Coco keine Angst. Hier wurde sie nicht so oft angesprochen, und es lag nicht so viel Müll herum wie in ihrer Straße. Aber bis dort war es noch weit. Seit sie die Abkürzung über das alte Fabrikgelände kannte, war sie schneller zu Hause.

Der Mann von dem Geschäft an der Ecke, wo sie für den Vater immer das Bier und die Zigaretten kaufen musste, hatte sie einmal gefragt, warum sie denn seit ein paar Tagen eher aus der Schule käme und ob sie vielleicht die Siebenmeilenstiefel aus dem Märchen anhätte! Er machte manchmal Scherze. Aber nur, wenn er nicht betrunken war. Er trank auch gerne. Oft hatte er mit dem Vater zusammen Bier aus einem der Kühlschränke in seinem Geschäft getrunken, als der Vater noch die Wohnung verließ. Der Vater hatte nie Scherze gemacht. Sie wusste nicht, ob er überhaupt lachen konnte. Sie hatte es nie gesehen. Aber sie wagte es auch nicht, ihn zu fragen. Sie stellte ja sowieso immer nur dumme Fragen, wie er sagte.

Coco war an dem alten Fabrikgelände angekommen und durch das Loch im Zaun geschlüpft. Sie ging unter den verrosteten Tanks hindurch, die wie uralte, gestrandete Wale dort lagen.

Der Regen war stärker geworden. Coco hatte sich unter eines der Wellblech-Dächer gestellt. Der Regen prasselte auf das Dach und verursachte ein Rauschen, das so laut war, dass man sein eigenes Wort kaum hätte verstehen können. Sie hatte es nicht eilig gehabt, nach Hause zu kommen. Was machte es für einen Unterschied, ob sie die »nötige Bestrafung«, wie der Vater immer sagte, eine Stunde früher oder später über sich ergehen ließ? Und bei dem Wetter würde sie auch nicht nach der Tigerkatze Ausschau zu halten brauchen, Katzen waren doch normalerweise wasserscheu und suchten sich lieber ein gemütliches warmes Plätzchen bei solchem Wetter!

Coco hatte einen rostigen Eimer umgedreht und sich daraufgesetzt. Das Prasseln des Regens wirkte beruhigend, und die Müdigkeit machte sich wieder bemerkbar. Die Augenlider wurden immer schwerer und fielen schließlich zu. Es war kühl, das Dach war nicht ganz dicht. Aus kleinen Löchern tropften Regentropfen herab, die durch den kräftigen Seitenwind in der Luft zerbarsten und sich in einen Schleier aus vielen winzigen Tröpfchen auflösten und Cocos Gesicht benetzten. Ihr Magen knurrte. Leni hatte an diesem Tag kein Brot übriggehabt. Es hatte ein Brötchen mit Schokoladencreme gegeben, das mochte Leni so gerne, dass sie es lieber selbst aß.

Auf dem Eimer sitzend und an einen Stützpfeiler der Dachkonstruktion angelehnt, war Coco schließlich eingeschlafen. Die Müdigkeit hatte über den Hunger und die kühle Nässe gesiegt. Irgendwann, sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, war sie aufgewacht. Sie hatte zunächst nicht gewagt, die Augen zu öffnen. War es womöglich schon dunkel? Sie hatte geträumt, dass ihre getigerte Freundin bei ihr war. Sie hatte miaut, war ganz nah zu ihr herangekommen und hatte sie, nachdem sie sie vorsichtig beschnuppert hatte, mit der feuchten, kalten Nase am Handrücken berührt. Es war ein schönes Gefühl gewesen. Ihre Schnurrbarthaare hatten ihre Hand gekitzelt und einen kleinen Gänsehautschauer auf ihrem Rücken verursacht. Sie wollte ihrer Freundin wieder so nah sein wie in dem Traum. Sie wollte ihr Miauen wieder hören.

Und plötzlich hatte sie es erneut gespürt: Etwas Kaltes, Feuchtes stupste an ihre Hand, diesmal etwas bestimmter als in dem Traum zuvor. Coco hatte neugierig die Augen geöffnet. Geblendet von der Abendsonne, musste sie sich erst an das helle Licht gewöhnen. Es hatte aufgehört zu regnen. Schwere Wolken hingen am Himmel und ließen durch ein paar Lücken Bündel von Sonnenstrahlen hindurch. Die Luft roch frisch, es dampfte von der rissigen Asphaltdecke des Fabrikgeländes. Insekten nutzten die Regenpause und schwirrten in der Abendsonne munter herum. Da war es wieder, das Stupsen an ihrer Hand. Coco hatte nach unten geschaut und nicht gewusst, ob sie ihren Augen trauen konnte: Vor ihr stand die getigerte Katze und schaute sie mit großen Augen an.

Ob sie schon länger um sie herumgeschlichen war? Es war also gar kein Traum gewesen? Auf der Dachterrasse bei den ersten beiden Begegnungen hatte das Kätzchen seidig glatt und sauber ausgesehen. Diesmal war sein Fell ganz zerzaust und nass. Das Weiß vom Tag zuvor war zu einem schmutzigen Grau geworden. Also gab es auch Katzen, die das Wasser nicht scheuten! Coco hatte behutsam ihre Hand ausgestreckt, die durch die kühle Luft eine bläuliche Farbe angenommen hatte. Die Katze rieb ihr feuchtes Köpfchen ohne Scheu an ihrer Handfläche. Dabei wölbte sie ihren Rücken zu einem Buckel, während die nach oben gestreckte Schwanzspitze tänzelnde Bewegungen vollführte.

Coco schlug das Herz vor Freude bis zum Hals. Alle Müdigkeit war verflogen, und die Sorge um die bevorstehende Bestrafung durch den Vater in weite Ferne gerückt. Die Katze war mit schuld daran gewesen, dass Coco so müde war und in der vergangenen Nacht kaum geschlafen hatte. Sie war es, der Cocos Gedanken seit dem Vortag fast ununterbrochen gegolten hatten. Da stand sie nun vor ihr und schaute sie ruhig an, als seien sie langjährige Vertraute. Coco konnte ihr Glück kaum fassen!

Während sie versucht hatte, ihre Gedanken zu sortieren, hatte die Katze zu ihr emporgeschaut, als warte sie auf eine Reaktion. Dann war sie zielstrebig geradeaus gegangen, um den Unterstand zu verlassen. Coco war aufgesprungen, hatte ihren Beutel genommen, in dem sie ihre Schulsachen aufbewahrte, und war der Katze eilig nachgelaufen. Diese war inzwischen in einen Trab verfallen und schien das Fabrikgelände auf dem gleichen Weg verlassen zu wollen, auf dem Coco zuvor hergekommen war. Vorbei an mit Unkraut und kleinen Birken bewachsenen Erd- und Schutthaufen, zwischen den Tanks und anderen rostigen Maschinen hindurch, lief sie schließlich im Galopp auf das Loch in dem schiefstehenden Zaun zu. Coco hatte sich bemüht, ihr zu folgen. Der Hunger und die schweren Glieder waren plötzlich unwichtig. Sie wollte ihre neue Freundin nicht wieder verlieren!

Die Häuserzeilen und die Bäume, die an ihr vorbeizufliegen schienen, während sie nach Kräften bemüht war, die Katze nicht aus den Augen zu verlieren, fingen schließlich an zu tanzen und sich zu drehen.

3

Coco erwachte. Ihre Kehle war trocken, sie hatte Durst. Ihr Magen knurrte. Erschöpft von dem Traum öffnete sie angestrengt die Augen. Helles Licht umgab sie. Ihr Kopf schmerzte nicht mehr, die Kleider fühlten sich trocken an. Ihr war sehr warm. Zum ersten Mal, seit sie an diesem Ort war, konnte sie sich bewusst umsehen.

Sie war in einem Zimmer mit hohen Wänden. Der Raum war bestimmt dreimal so hoch wie ihr Zimmer zu Hause, und mindestens dreimal so groß wie die ganze Dachgeschosswohnung, in der sie mit dem Vater lebte. Sie lag in einem riesigen Bett aus dunklem Holz, umgeben von einer Vielzahl großer weißer Kissen. Auf ihr lag ein gewaltiges Federbett. Wo war sie?

Sie konnte sich nicht erinnern, jemals an einem solchen Ort gewesen zu sein. Ein Stuhl stand neben dem Bett, über dessen Lehne Kleider hingen. Ihre Kleider. Was trug sie dann jetzt am Körper? Mühsam hob sie die Bettdecke ein Stück hoch und sah an sich herunter. Sie hatte eine Art Nachthemd an.

Bodentiefe Fenster waren rechts und links gesäumt von Vorhängen aus schwerem Stoff, die durch ein breites Band zusammengehalten wurden. Die Decken und Wände waren aufwendig verziert, ähnlich wie Coco es einmal auf einer Postkarte gesehen hatte, die Leni ihr gezeigt hatte, als sie mit ihren Eltern aus den Ferien zurückgekommen war und Coco von einem richtigen Schloss erzählt hatte, das sie auf ihrer Reise besucht hatten.

An den Wänden waren Kerzenleuchter angebracht, der Putz war um die Leuchter herum leicht geschwärzt vom Ruß. Und doch wirkte alles außergewöhnlich rein und ordentlich, zudem alt, wie aus einer anderen Zeit. Trotz seiner beeindruckenden Ausmaße wirkte der Raum einladend und gemütlich.

Auf einem Tischchen rechts neben dem Bett stand eine wunderschön verzierte Vase mit frischen Blumen. Es war ein Strauß aus verschiedenen Blumen, auch Rosen fanden sich darin, und er duftete so gut. Coco liebte Rosen. Auf dem Heimweg von der Schule war sie manchmal an einem Vorgarten stehen geblieben, über dessen Zaun im Sommer ein Busch mit unzähligen kleinen roten Rosenblüten ragte. Manchmal hatte sie die Nase in den Busch hineingesteckt und die Augen geschlossen, um den Duft tief einzusaugen. Dabei konnte sie dann alles um sich herum vergessen. Es war, als würde der Rosenduft sie auf eine Reise mitnehmen in eine Welt, in der alles schön war, wo die Welt in Ordnung war, in der man sich vor nichts zu fürchten brauchte. Einmal hatte der Mann, der hin und wieder in dem Garten arbeitete, für sie eine Rose abgeschnitten und sie ihr ins Haar gesteckt. Sie hatte sich wie eine Prinzessin gefühlt! Die Rose hatte noch einige Tage auf dem schmalen Fensterbrett ihres Zimmers in einem alten Senfglas mit Wasser gestanden, bis sie schließlich verwelkt war. Coco gefiel die Rose immer noch, auch wenn der Duft längst verschwunden war. Sie bewahrte sie in einem Holzkästchen unter ihrem Bett auf.

Coco konnte kaum schlucken, so durstig war sie. Mit mühsamen Bewegungen setzte sie sich langsam auf und lehnte sich an das Kopfende des Bettes. Inzwischen hatten sich ihre Augen an das helle Licht in dem Raum gewöhnt. Vom Bett aus konnte Coco durch die gegenüberliegenden Fenster nach draußen schauen und sah meterhohe Rosenbüsche, ähnlich dem Rosenbusch auf dem Schulweg. Nur waren die Blüten hier deutlich größer und in vielen verschiedenen Farben. Alles wirkte wie gemalt.

Was war das für ein Ort, an dem sie sich befand? Ja, das konnte tatsächlich der Himmel sein! Es gab hier zwar keine Wolken, auf denen man herumspringen konnte, so wie sie es sich vorgestellt hatte. Und es waren auch keine Engel zu sehen. Aber konnte es im Himmel schöner sein als hier?

Nur war da immer noch der inzwischen quälende Durst. Die Trockenheit im Hals wurde langsam unerträglich. Coco glitt vorsichtig unter dem schweren Federbett hervor und tastete mit den nackten Füßen nach dem Fußboden. Ein wunderbar weicher Teppich lag vor dem Bett. Wie Seide schimmerte seine Oberfläche.

In Cocos Kopf fing es wieder leicht zu pochen an, kurz war es, als würden die Wände beginnen, sich um sie herum zu drehen. Das ganze Zimmer schwankte. Sie schloss die Augen und ließ es vorübergehen, bis sie sich wieder sicherer fühlte. Dann drückte sie sich schwerfällig mit den Armen von der Bettkante empor und versuchte aufzustehen. Anfangs wäre sie beinahe hingefallen. Sie fühlte sich so wackelig auf den Beinen. Schließlich hatte sie sich gefasst und ging langsam, an die Wand gestützt, in kleinen Schritten zu einem der großen Fenster. Die Fenster waren so sauber! Sie waren so klar, dass man glaubte, es seien gar keine Glasscheiben darin! Auch der Parkettboden, in den aus verschiedenfarbigen Holzarten geschickt Muster eingearbeitet waren, war so sauber, wie sie es nirgends zuvor gesehen hatte. An den unzähligen bunten Rosenblüten vorbei, fiel ihr Blick auf einen parkähnlichen Garten, der in seiner Vielfalt dem Bild glich, das sie einst für ihre Klassenkameradin Charlotte als Geburtstagsgeschenk gemalt und ihr nie gegeben hatte.