Die Seele der Welt - Frédéric Lenoir - E-Book

Die Seele der Welt E-Book

Frédéric Lenoir

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Beschreibung

Der Nr.1-Bestseller aus Frankreich Sieben Weise folgen einem inneren Ruf und finden sich in einem abgeschiedenen tibetischen Kloster ein. Angesichts einer drohenden Weltkatastrophe sprechen sie über die großen Menschheitsfragen – wie Körper und Seele, wahre Freiheit, Tugenden, Liebe, den Sinn des Lebens – und das, was ihre nterschiedlichen Religionen und spirituellen bzw. philosophischen Traditionen miteinander verbindet. Ihre Erkenntnisse geben sie an den jungen tibetischen Mönch Tenzin weiter, der so zum Bewahrer wird.   

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FRÉDÉRIC LENOIR

Die Seele der Welt

Von der Weisheit der Religionen

Aus dem Französischen von Elisabeth Liebl

Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen.

Albert Einstein

Erster Teil AM FUSS DES WEISSEN BERGES

1 DER AUFBRUCH

Die folgenden denkwürdigen Ereignisse trugen sich innerhalb weniger Stunden zu.

Der alte Rabbiner Salomon saß gerade in seiner Küche, als er eine Stimme vernahm, die zu ihm sprach: »Begib dich nach Tulanka.« Verwundert rief er nach seiner Frau. Die aber hatte nichts gehört, und so sagte er sich, dass er wohl nur geträumt habe. Doch die Stimme ließ sich abermals vernehmen: »Geh nach Tulanka und säume nicht.« Er überlegte. Konnte es Gott gewesen sein, der da zu ihm gesprochen hatte? Und warum zu ihm? Rabbi Schlomo, wie er bei den Leuten hieß, war ein humorvoller und aufgeschlossener Mann. Als Anhänger des liberalen Judentums war er vor vierzig Jahren aus New York weggegangen, um sich mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Jerusalem niederzulassen. Mit großer Hingabe studierte er die Kabbala, die mystische Tradition des Judentums, und unterwies auch eine Handvoll jüdischer und nichtjüdischer Schüler darin. Wo lag dieses Tulanka denn überhaupt? Der Rabbi bat Benjamin, seinen Enkel, für ihn im Internet zu recherchieren. »Das ist ein buddhistisches Kloster in Tibet«, bekam er von dem jungen Mann zur Antwort. Der Kabbalist war starr vor Staunen: »Warum in aller Welt will der Ewige mich mit meinen zweiundachtzig Jahren noch nach Tibet schicken?«

Ansya fand keinen Schlaf. Die junge Frau schlüpfte aus ihrer Jurte hinaus und betrachtete den Sternenhimmel über der Steppe. Die Viehhirtin und Nomadin liebte die Unendlichkeit des Himmels, wie sie die Weite der mongolischen Steppen liebte, wo sie nahezu ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte. Noch einmal sog sie die reine Luft tief in ihre Lungen, dann ging sie zurück in die Jurte, die sie sich mit ihrer Tante teilte, einer Schamanin, die mit den Geistern sprechen konnte. Vor einigen Jahren hatte die alte Frau bemerkt, dass auch ihre Nichte diese Gabe besaß, und so hatte sie sie in die Kunst der schamanischen Reise eingeweiht. Nahezu jeden Tag kamen Leute zur Jurte, die bei den beiden Frauen Rat und Hilfe suchten. Da die junge Frau ausgesprochen schön und noch unverheiratet war, mischten sich unter die Besucher auch Männer, die Schmerzen vortäuschten, nur um einen Vorwand für den Besuch zu haben. In solchen Fällen verließ Ansya die Jurte und kümmerte sich ums Vieh. Die Männer blieben mit langen Gesichtern bei ihrer alten, halb blinden Tante zurück. War aber jemand tatsächlich krank, dann schlug sie die Trommel und versetzte sich tanzend in Trance, sprach mit den Geistern und bat sie um Hilfe, um Leib und Seele des Kranken zu heilen.

An diesem Tag hatte sie eine eigenartige Vision gehabt, die sie vollkommen erschöpft zurückgelassen hatte. Sie behandelte gerade eine junge Mutter, als ihr ein Geschöpf ganz aus Licht erschien und ihr bedeutete, dass sie irgendwohin aufbrechen müsse. Ansya, die den Sinn dieser Botschaft nicht recht verstand, vertraute sich nach der Behandlung ihrer Tante an, doch diese hüllte sich erst einmal in Schweigen. Jetzt aber, als Ansya aus dem Dunkel der Nacht wieder in die Jurte trat, sah sie ihre Tante aufrecht im Bett sitzen. Die alte Frau sah sie an und sagte dann: »Ich habe eben im Traum den Ort gesehen, an den du dich begeben sollst. Es ist ein tibetisches Kloster und liegt an der Grenze zwischen Indien und China. Bei Tagesanbruch musst du dich auf den Weg machen.«

Viele Tausend Kilometer entfernt besuchte der Traum auch Padre Pedro. Der katholische Mönch, der ursprünglich aus dem brasilianischen Salvador da Bahia stammte, lebte nun schon seit mehr als fünfundzwanzig Jahren im amerikanischen Bundesstaat Oregon. Er hatte sein Trappistenkloster gegen eine bescheidene Einsiedelei in den Wäldern eingetauscht, wo er sein Leben im ständigen Gebet zu beschließen gedachte. Nun aber war ihm im Traum ein kleines Mädchen erschienen, das ihm befahl, sich ohne Verzug in irgendein tibetisches Kloster am anderen Ende der Welt zu begeben! Im Grunde seines brasilianischen Herzens war Padre Pedro seit jeher überzeugt, dass Träumen ein Körnchen Wahrheit und dem Dasein eine magische Dimension innewohnt. Und weil er einfach neugierig war, verließ er seine Hütte und machte sich auf die Reise nach Zentralasien.

Im nördlichen Indien lebte Ma Ananda, die Hindu-Mystikerin, in einem kleinen Ashram. Die rundliche Frau, deren Alter schwer zu schätzen war, war bereits als Kind als »lebende Verwirklichte«, als große Heilige, erkannt worden. Seitdem hatte sie stets Schüler gehabt, die sie unterwies, ohne selbst je studiert zu haben. An jenem Tag aber brach Ma Ananda beim ersten Morgengrauen auf, ohne auch nur einen Blick auf ihre betrübten Schüler zurückzuwerfen. Niemand wusste, wohin sie ging und wie lange sie fort sein würde.

Auch Meister Kong hatte seiner Frau ein merkwürdiges Erlebnis zu berichten. Der alte chinesische Weise lebte zusammen mit seiner Familie nicht unweit von Schanghai. Er stand einem kleinen taoistischen Tempel vor und lebte sehr bescheiden. Tagsüber saß er den Großteil der Zeit auf seinem Kissen auf dem Boden und gab die Lehren der chinesischen Weisen an eine kleine Schar von Schülern weiter, von denen auch ein paar aus dem Westen kamen. Aus unerfindlichen Gründen hatte der alte Meister vor Kurzem Geschmack an den Errungenschaften moderner Technik gefunden und besaß nun neben einem Laptop auch ein Satellitentelefon. Zum fünfundsiebzigsten Geburtstag hatten seine Schüler ihm daher einen GPS-Empfänger der neuesten Generation geschenkt. Ein- oder zweimal pro Woche nutzte der Meister ihn, wenn er ins Nachbardorf ging, obwohl er den Weg dorthin auch blind gefunden hätte. Als er aber an jenem Morgen das Gerät einschaltete, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass das Display einen unbekannten Breiten- und Längengrad anzeigte. Kopfschüttelnd überprüfte er die Positionsangaben und stellte fest, dass sie einen Ort in Tibet bezeichneten. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand das Gerät ohne sein Wissen benutzt hatte, konsultierte er das I Ging und erhielt von dem Orakelbuch zur Antwort: »Fördernd ist es, aufzubrechen.« Daher zögerte er nicht. Meister Kong umarmte Frau, Kinder und Enkelkinder und schlug den Weg nach Tibet ein.

Für Scheich Jussuf, den Gründer einer kleinen nigerianischen Sufi-Bruderschaft, gestaltete sich der Aufbruch etwas nervenaufreibender. Der Hüne von einem Mann erstarrte fast zur Salzsäule, als er plötzlich die Buchstaben T – U – L – A – N – K – A auf der ersten Seite des Buches, in dem er gerade las, in einem seltsamen Licht aufscheinen sah. Im selben Moment fegte ein Windstoß durch seine Hütte, der seinen Koran erfasste. Das Buch blieb aufgeschlagen liegen, genau an der Stelle, wo die Sure »Die Gesandten« begann. Scheich Yussuf trennte sich nur schweren Herzens von seiner Familie, denn seine Frau hatte gerade Leila, ihr fünftes Kind, zur Welt gebracht. Doch die Kraft, die ihn zum Aufbruch drängte, war stärker. Er wusste nicht, auf welchen Wegen er an sein Ziel gelangen würde, doch das Schicksal führte ihn und sandte ihm Zeichen und Wunder, damit er verstand.

Diejenige, die am stärksten zögerte, war Gabrielle. Die Niederländerin lehrte griechische Philosophie an der Universität Amsterdam und war eine glühende Anhängerin der Ideen der Stoa und Spinozas, des berühmtesten Sohnes der Stadt. Weisheit war für diese Frau in den Vierzigern nichts, was mit Religion zu tun hatte, sondern eine subtile Mischung aus Vernunft, Intuition und praktischer Lebensklugheit. Vor ein paar Jahren war sie Freimaurerin geworden und einer Frauenloge beigetreten. Seitdem befasste sie sich auch intensiv mit der Sprache der Symbole. Da sie in jener Nacht nicht einschlafen konnte, war sie wieder aufgestanden und hatte den Fernseher eingeschaltet. Dort lief gerade eine Sendung über tibetischen Buddhismus. Als das Kloster Tulanka erwähnt wurde, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, und in ihrem Kopf setzte sich ein Gedanke fest, der sie nicht mehr losließ, ohne dass Gabrielle hätte sagen können, weshalb: »Lass alles stehen und liegen und suche dieses Kloster auf.« Doch Gabrielle nahm lieber ein Schlafmittel und versuchte, diesen verrückten Gedanken zu verscheuchen. Als ihr aber tags darauf auf der Straße eine Frau begegnete, die ihrem Hund zurief: »Tulanka! Bei Fuß!«, horchte sie auf. Sie konnte sich dem tiefen Wunsch, in dieses Kloster zu reisen, nicht verweigern. Kaum zu Hause angekommen, griff sie schon zum Telefon und rief ihren Exmann an. Ob er nicht ihre Tochter Natina für ein paar Wochen bei sich aufnehmen könne? Doch der lehnte ab. Er müsse zu einem Kongress ins Ausland. Ihre Tochter aber, die das Gespräch mit angehört hatte, lag von nun an der Mutter ständig in den Ohren, sie solle sie doch mit nach Tibet nehmen. Die Schulferien stünden vor der Tür und sie habe mehr als sechs Wochen frei. Natina, deren vierzehnter Geburtstag nicht mehr fern war, war ein sehr eigenwilliges junges Mädchen, das sich für alles Mögliche interessierte und von Reisen in ferne Länder träumte. Gabrielle sträubte sich zunächst und suchte nach anderen Lösungen, die sich aber eigenartigerweise eine nach der anderen zerschlugen. Und so zog die Philosophin gelassen den Schluss, dass das Schicksal es wohl so gewollt habe. Natina aber fiel ihrer Mutter um den Hals: »Dann ist es also wahr? Wir fahren nach Tibet?«

2 DAS KLOSTER

Das Kloster von Tulanka schmiegte sich auf nahezu viertausend Metern Höhe eng an einen Felsvorsprung im ewigen Eis. Mit dem Auto war ein Hinkommen unmöglich. Etwa fünfzehn Kilometer entfernt lag ein kleiner Marktflecken. Das einzige Hotel des Ortes lag gegenüber dem Busbahnhof. Ebendort trafen sie etwa eine Woche nach den ersten merkwürdigen Ereignissen zusammen: Rabbi Schlomo, die Schamanin Ansya, Padre Pedro, Ma Ananda, Meister Kong, Scheich Jussuf und Gabrielle mit ihrer Tochter.

Da sie die einzigen Ausländer im Hotel waren, schlossen sie schnell Bekanntschaft. Dass sie alle Englisch sprachen, erleichterte den Austausch. Und bald stellten sie fest, dass sie alle auf eine geheimnisvolle Weise gerufen worden waren.

Was aber sollten sie hier? Niemand kannte die Antwort auf diese Frage. Die merkwürdige Art der »Kontaktaufnahme«, die Tatsache, dass sie Vertreter der wichtigsten philosophischen und spirituellen Traditionen der Menschheit waren, schien darauf hinzudeuten, dass sie aus einem ganz bestimmten Grund hier waren. Aber aus welchem?

An diesem Punkt stieß ein alter tibetischer Lama aus dem Tulanka-Kloster zu ihnen. Lama Dorje wurde von zwei jüngeren Mönchen begleitet, die jeder ein Pferd am Zügel führten. Er hörte den Fremden aufmerksam zu und schlug ihnen dann vor, ihr Gepäck auf die Pferde zu laden und ihn ins Kloster zu begleiten.

»Wir folgen Ihnen gerne«, meinte Rabbi Schlomo, »aber sagen Sie uns doch wenigstens, weshalb wir hier sind.« Die anderen nickten zustimmend.

Da malte sich auf dem Gesicht des alten Lama ein breites Lächeln:

»Auch ich erhielt ein Zeichen. Vor drei Tagen träumte mir, ich müsse mich ins Dorf begeben und dort sieben Weise aus dem Ausland abholen, vier Männer und drei Frauen, begleitet von einem blonden Mädchen. Ich sollte alle ins Kloster bringen. Doch aus welchem Grund? Das weiß ich ebenso wenig wie Sie.«

3 TENZIN

Alter und Erschöpfung waren der Grund, warum die sieben Weisen erst nach drei Tagen und zwei Nächten in Tulanka ankamen. Die Kletternden halfen sich zwar gegenseitig bei dem steilen Aufstieg, doch erst am Abend des dritten Tages zeichnete sich endlich das Kloster vor ihnen ab. Die Schönheit des Anblicks, der sich ihren Augen darbot, ließ sie aber alle Mühen vergessen, ja sogar die Übel der Höhenkrankheit, die einige von ihnen befallen hatte. Etwa zwanzig Mönche lebten in dem Kloster, dem ein junger Lama von nur zwölf Jahren vorstand: Tenzin Pema Rinpoche.

Der tibetischen Tradition folgend, war er schon als Kind als Reinkarnation eines großen spirituellen Meisters anerkannt worden: Lama Tokden1 Rinpoche war der verstorbene Vorsteher des Klosters gewesen. Lama Dorje, der vertrauteste Schüler von Lama Tokden, war zum Lehrmeister der neuen Inkarnation ernannt worden. Vor seinem Tod hatte Lama Tokden angeordnet, seinen Nachfolger sowohl in tibetischer wie auch in westlicher Tradition zu unterrichten. Dann hatte er verschlüsselte Hinweise hinterlassen, wo seine künftige Wiedergeburt zu finden sei. Drei Jahre nach seinem Tod hatte Lama Dorje die Anweisungen seines Meisters aufs Genaueste befolgt und die Reinkarnation seines Meisters in einer Hütte aufgespürt. Bei der Geburt des Kindes war draußen alles tief verschneit gewesen und doch blühten vorm Fenster Blumen – mitten im Winter. Das hatte die Eltern, einfache Bauern, sehr verwundert. Der Junge war zwei Jahre alt, als Lama Dorje die Familie zum ersten Mal aufsuchte. Lama Dorje hatte sich als Diener verkleidet, ein anderer Mönch gab sich als Lama aus. Doch das Kind schenkte dem Mann im Mönchsgewand keinerlei Beachtung. Es lief direkt auf den verkleideten Lama Dorje zu und sagte strahlend zu ihm: »Lama Tulanka, Lama Tulanka.« Dann griff er nach dem Kranz aus Gebetsperlen, den Lama Dorje um den Hals trug. Er hatte dem alten Meister gehört. Der Junge aber behauptete energisch, dass dies seiner sei. Lama Dorje weinte vor Freude und nahm das Kind und seine Familie mit nach Tulanka. Der Junge behielt seinen Namen: Tenzin. Man fügte ihm nur noch ein »Pema« hinzu und nannte ihn fortan »Rinpoche«, was ein Ehrentitel ist und wörtlich: »höchst Kostbarer« heißt.

Nach einigen Wochen im Kloster verabschiedete sich seine Familie von Tenzin, der künftig von den Mönchen erzogen wurde. Man bat zudem einen Lama, der in Kanada gelebt hatte, sich im Kloster niederzulassen und Tenzin Englisch zu lehren und die Grundzüge der westlichen Kultur zu vermitteln. Sein Vorgänger hatte bestimmt, dass Tenzin nicht die Mönchsgelübde ablegen, sondern nur die einfachen Laiengelübde nehmen sollte. Wenn er dann volljährig wäre, sollte er selbst entscheiden, ob er weiterhin als Laie leben oder ins Kloster eintreten wollte. Bis dahin würde er seinen Alltag mit den Mönchen teilen und dieselben rot-gelben Roben tragen wie sie.

Schon am ersten Abend kamen die Geladenen auf der Terrasse des Klosters zusammen, um den jungen Mann kennenzulernen. Tenzin ergriff das Wort und wirkte so sicher und gelassen, dass seine Gäste staunten: »Ich stelle fest, dass durch das unerfindliche Wirken der Karmagesetze hier acht Weise zusammengekommen sind, welche die acht großen spirituellen Strömungen der Welt vertreten: eine Schamanin, eine europäische Philosophin, eine Hindu-Mystikerin, ein chinesischer Taoist, ein jüdischer Rabbiner und Kabbalist, ein christlicher Mönch, ein islamischer Sufimeister und ein buddhistischer Mönch, nämlich Lama Dorje.« Der junge Lama hielt kurz inne und ließ seinen Blick auf Natina ruhen, die ihn aus ihren blauen Augen unverwandt ansah. »Ich freue mich, dass euch das Mädchen mit dem Haar der Sonne und den Augen des Himmels begleitet. Denn sie scheint trotz ihrer Jugend von großer Weisheit zu sein.« Das süße Gesichtchen Natinas lief purpurrot an. Tenzin lächelte und fuhr fort. »Ihr seid alle aus freiem Willen hier. Ihr seid dem Ruf eures Herzens gefolgt, ohne den Grund für diese Reise zu kennen, die euer Leben durcheinandergebracht hat. Wir werden alles tun, damit euer Aufenthalt hier so angenehm wie möglich wird, auch wenn unser Kloster arm ist und weitab von der Welt liegt.«

Nach diesen Worten kehrte tiefes Schweigen ein, das erst von Padre Pedro wieder gebrochen wurde. »Wir danken euch für diesen warmherzigen Empfang, Lama Tenzin. Die Einfachheit dieses Ortes stört uns nicht im Geringsten, ganz im Gegenteil. Doch die Frage, die uns allen auf der Zunge liegt, ist: Wir würden gerne wissen, weshalb wir hier sind und wie lange unser Aufenthalt dauern soll.«

Aus der Gruppe der Weisen erhob sich zustimmendes Murmeln.

»Ich weiß darüber ebenso wenig wie Lama Dorje. Ich selbst hatte keinen Traum und ich habe auch keine Stimmen gehört.«

»Darüber sollten wir uns keine Gedanken machen«, erklang die sanfte Stimme von Ansya, der Schamanin. »Die Kraft, die uns hierhergeführt hat, wird uns zeigen, was wir zu tun haben.«

»So ist es«, stimmte Ma Ananda zu. »Folgen wir weiterhin unserer Führung, und wir werden sehen.«

»Wenn unser Aufenthalt sich aber in die Länge ziehen sollte«, meinte Scheich Jussuf, »dann würde ich gerne Kontakt zu meiner Familie aufnehmen. Gibt es denn eine Möglichkeit, mit der Außenwelt in Verbindung zu treten?«

»Leider nein«, antwortete Lama Dorje. »Hier gibt es weder Telefon noch Internet. Unser Kloster liegt zu abgeschieden und, um die Wahrheit zu sagen, hatten wir noch nie das Bedürfnis. Ich hoffe doch, Sie haben Ihren Angehörigen gesagt, dass Sie unter Umständen länger fort sind …«

»Ja, schon«, antwortete Gabrielle. »Aber für diejenigen unter uns, die Familie haben, sollte sich der Aufenthalt trotzdem nicht allzu lange hinziehen.«

»Nur keine Sorge«, meinte Meister Kong und lächelte fein. »Ich verreise nie ohne mein Satellitentelefon und mein Laptop …«

Verblüfft sah Gabrielle den alten Mann an, der wirkte, als wäre er einem anderen Jahrhundert entsprungen. Dann lachte sie hellauf. Ihr Gesicht strahlte.

»Nun, da unser Kommunikationsproblem gelöst ist, würde ich Sie alle gerne einladen, die Speise aus geröstetem Gerstenmehl zu kosten, für die wir hier berühmt sind: Tsampa«, meinte Tenzin heiter. Die anderen stimmten fröhlich nickend zu.

Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, was auf sie zukommen würde.

4 DIE QUELLE, DER ELEFANT UND DER BERG

Die ersten Tage vergingen in bester Stimmung. Die acht Weisen hatten Freude daran, einander kennenzulernen und sich auszutauschen. Jeder war in seiner eigenen Tradition sehr bewandert, hatte sich aber nie die Zeit genommen, die anderen spirituellen Strömungen der Welt zu studieren. Bald stellten sie mit Erstaunen fest, dass es zwar in der Theorie allerlei Unterschiede gab, doch in der gelebten Spiritualität fanden sich doch viele Gemeinsamkeiten.

»Wir teilen eine sehr ähnliche spirituelle Erfahrung, auch wenn die Sprache, die unsere jeweilige Tradition dafür gefunden hat, sich unterscheidet«, bemerkte Ma Ananda eines Abends, als sie mit den anderen zusammen das Abendessen auf dem Dach des Klosters einnahm.

»Ja«, antwortete Padre Pedro heiter. »Die spirituell Suchenden dieser Welt scheinen aus ein und derselben Quelle zu trinken: der des Lebens und der Liebe. Tag für Tag versuchen wir in Meditation und Gebet, durch das Öffnen von Herz und Geist, aus der Quelle der ewigen Weisheit zu schöpfen. Dabei bemächtigt sich unser eine tiefe Freude, die uns eintauchen lässt in die Stille der Kontemplation.«

Mit einem schelmischen Grinsen fügte Rabbi Schlomo hinzu:

»In dieser Hinsicht haben wir uns von den Dogmenwächtern aller Religionen weit entfernt. Denn sie halten sicheren Abstand zu dieser Quelle und streiten sich unermüdlich darüber, ob das Wasser – von dem sie nie gekostet haben – warm oder kalt, salzig oder süß, prickelnd oder still, magnesium- oder kalkhaltig ist.«

Alle am Tisch lachten.

»Kennt ihr denn die Geschichte vom Elefanten?«, fragte Scheich Jussuf seine Mitschmausenden.

Ma Ananda und Lama Dorje nickten lächelnd.

»Ich leider nicht!«, rief Meister Kong.