Distanza - Du bleibst mir nah - Melanie Buchelt - E-Book

Distanza - Du bleibst mir nah E-Book

Melanie Buchelt

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Beschreibung

Sofia Ich habe mich nie getraut, ernsthaft von der großen, weiten Welt zu träumen, weil meine Flügel gestutzt sind. Zu schwer wiegt die Verantwortung, die ich zu Hause in Italien tragen soll. Und trotzdem flutet ein mutiger Wunsch mein Herz, den ich niemandem erzähle. Außer ihm. Antonio Die Leichtigkeit, die ich mit ihr erlebe, ist nur eine Illusion. Selbst Sofia schafft es nicht, meine zerbrochene Welt wieder zusammenzusetzen. Mein Leben wieder zurückzudrehen - bis zu dem Moment, an dem ich noch vollständig war.

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Copyright 2024 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN:

Alle Rechte vorbehalten

Für alle, die alte Träume aufgeben mussten und neue gefunden haben.

Ihr seid der Herzschlag, der die Hoffnung am Leben hält.

Inhalt

Triggerwarnung

Playlist

PROLOG

Visita a sorpresa

Blu é marrone

Il salvataggio

Dankbarkeit

Distrazioni

Zweifel

Minuti interminabili

Hilfe

Le domande giuste

Unbeschwert

Confronto

Vollständig

Un complimento

Eifersucht

Im Windschatten des Glücks

Indisturbato

Ein Anfang?

La risposta

Gepäckträgerin

Da ponti e suffioni

Bersaglio e scudo

Ehrlichkeit

Insieme

Verlorene Magie

Fiorire

Das andere Ich

La decisione

Verbündete

Patria

Silvesterabend

EPILOG

Danksagung

Sofias Tiramsù-Rezept

Quellenverzeichnis

Triggerthemen

Triggerwarnung

Liebe Lesende,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Falls ihr denkt, ihr könntet davon betroffen sein, findet ihr am Ende des Buches eine Liste.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Playlist

Afterglow – Ed Sheeran

Shivers – Ed Sheeran

Love me more – Sam Smith

The Joker and the Queen – Ed Sheeran feat. Taylor Swift

La mia distanza – Nevio Passaro

Like a bridge over troubled water – Simon & Garfunkel

Kiss me – Ed Sheeran

Unser Himmel ist derselbe – Johannes Oerding

Zurück – Johannes Oerding

I can wait forever – Simple Plan

Irgendwas bleibt – Silbermond

Diese Stadt ist einsam ohne dich – Johannes Oerding

Who knew – Pink

Happier – Ed Sheeran

Another love – Tom Odell

Stella – Nevio Passaro

PROLOG

Sofia

Oktober 2022

Der eingefasste Brillant in der Mitte des Rings, den Nonna in der Hand hielt, funkelte im Licht der Küchenlampe. Meine Großmutter holte tief Luft, strich sich durch ihre weißen, kurzen Locken und sah aus, als wollte sie mir etwas Wichtiges sagen. In der Küche. Natürlich. Bei der Familie Conti wurden lebensverändernde Gespräche immer hier geführt. Zwischen leeren Tellern, altmodischen Fliesen und dem Geruch des frischen Basilikums, das in einem Topf auf der Fensterbank stand. Ich war auf alles gefasst, was sie mir heute, am Tag meiner Abreise nach Deutschland mitzuteilen hatte.

»Mia cara Sofia«, sprach sie feierlich und hatte bereits feuchte Augen. Das kann ja heiter werden. »Diesen Ring hat mir dein Nonno zur Verlobung geschenkt. Ich habe ihn schon zehn Jahre nicht mehr getragen.« Sie legte das Schmuckstück auf dem Tisch ab und streckte ihre Finger vor sich aus, so gut es in ihrem Alter noch ging. Ihr Ehering saß mittlerweile so fest, dass sie ihn nicht mehr abnehmen konnte. Bei ihrem Verlobungsring hatte sie das damals rechtzeitig getan. »Er hat mich lange begleitet. Durch alle Höhen und Tiefen des Lebens.«

Ich schluckte und legte meine Hand auf ihren Unterarm. »Per favore, Nonna, bitte werde jetzt nicht sentimental, ja? Fang nicht an zu weinen, ich bin doch nur für ein halbes Jahr weg und komme dann wieder.«

Sie lächelte schmal und schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht, cara. Ich will dir keinen Vortrag halten. Nur etwas mit auf den Weg geben: Jedem Mitglied unserer Familie war im Leben eine besondere Geschichte vorherbestimmt. Voller Liebe, aber auch voller Herausforderungen. Wir haben sie gemeistert und sind am Ende stärker daraus hervorgegangen. Und das wirst du auch tun, sì?« Sie wartete auf eine Reaktion von mir, aber mein Gedankenkarussell drehte sich so wild, dass die Antwort in dem Strudel verschwand. Eine besondere Geschichte? Mein Leben ist bisher etwa so originell gewesen wie ein Wochenende zu Hause vor dem Fernseher. Sicher, ich hatte ambitionierte berufliche Ziele, aber davon wusste weder meine Großmutter noch die restliche Familie etwas. Das konnte sie also nicht gemeint haben.

Nonna fuhr fort, als hätte sie mir die Verwirrung angesehen. »Ich weiß, das klingt dramatisch, mi dispiace. Ich bin eben eine sentimentale Närrin. Aber wenn es so weit ist, wirst du es verstehen und an deine alte Nonna denken.« Sie strich mit ihren faltigen Fingern über den kleinen Brillanten und hielt den Ring dann in meine Richtung.

Ich räusperte mich. »Was? Nein, das … kann ich nicht annehmen.«

Sie nickte auffordernd. »Sì, das wirst du. Nimm ihn mit, ich schenke ihn dir. Als Erinnerung daran, dass deine Geschichte auf dich wartet. Wie auch immer sie aussehen wird, es ist wichtig, dass du auf dein Herz hörst. Va bene?«

Jetzt musste ich schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen. »Okay. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das bedeutet mir wirklich viel. Jetzt habe ich immer etwas zum Festhalten, wenn ich mich dort einsam fühle.« Ich nahm den Ring von ihr entgegen und schob ihn vorsichtig über meinen linken Ringfinger. Er war ein bisschen weit, aber das störte mich nicht. »Er ist wunderschön. Grazie, Nonna.«

Meine Großmutter stand auf und ging um den Tisch herum auf mich zu. »Prego. Alles Gute, meine Kleine. Pass auf dich auf.« Sie wischte sich über die Augen, bevor ich ebenfalls aufstand und wir uns in die Arme fielen.

»Das mache ich, Nonna. Bis bald.« Ich schmiegte mich an ihren schmalen Körper und sog den blumigen Duft ihrer Haare ein, der mich immer an sie erinnern würde. Und an mein Zuhause. Siena war meine Heimat, egal, was in Deutschland auf mich wartete. Mit einer Mischung aus Vorfreude, Nervosität und Abschiedsschmerz im Herzen machte ich mich auf den Weg in das bisher größte Abenteuer meines Lebens.

Visita a sorpresa

Überraschungsbesuch

Sofia

Meine kribbelnden Finger hielten vor dem oberen Klingelknopf des Hauses inne, an das ich mich von dem Besuch bei meinem Adoptivbruder Luca noch gut erinnerte. Ein Lächeln huschte über meine Lippen, als ich sah, dass die untere Klingel noch sein handschriftlich geschriebenes Schild mit dem Namen Conti trug. Als würde es mich hier in Deutschland begrüßen wie ein Stück Heimat. Ich atmete tief durch und drückte den oberen Knopf mit dem Namen Wagner daneben. Bernd Wagner war ein alter Freund meines Vaters. Nach dem Auszug seiner Tochter vermietete er die leer stehende Einliegerwohnung — erst an Luca, jetzt an mich.

Die Tür öffnete sich, und ein Mittfünfziger mit einem gestutzten grauen Bart und einer Glatze blickte mir lächelnd aus freundlichen Augen entgegen. »Ah, Sofia. Du bist schon da, wie schön.«

»Hallo. Ich freue mich auch.« Ich reichte ihm die Hand, die er übermütig ergriff und schüttelte, als würde er mir zum ersten Platz eines Buchstabierwettbewerbs gratulieren.

Bernd ging einen Schritt zur Seite, damit ich eintreten konnte, und nahm mir meine beiden Koffer ab. Gemeinsam stiegen wir die Treppe hinunter, die zu der Einliegerwohnung führte.

»Ich habe den Kühlschrank aufgefüllt, damit du heute nicht mehr einkaufen musst«, sagte Bernd über die Schulter hinweg.

Ich räusperte mich und holte Luft, um mich zu bedanken, da winkte er bereits ab. »Schon gut, nicht der Rede wert. Ich bin froh, dass du da bist und die Wohnung nicht länger leer steht. Luca fehlt mir. Ich war immer ein dankbarer Abnehmer für seine Kochexperimente.«

Das konnte ich mir lebhaft vorstellen. »Leider bin ich nicht so talentiert wie mein Bruder, was das Kochen angeht. Aber wenn du mal Lust auf Tiramisù hast, bin ich zur Stelle.«

»Oh, das merke ich mir.« Bernd hatte den Fuß der Treppe erreicht, kramte in seiner Hosentasche und reichte mir einen Schlüsselbund, an dem zwei silberne und ein kleiner kupferfarbener Schlüssel baumelten. »Herzlich willkommen in Heidelberg. Ich lasse dich dann mal ankommen. Wenn du Fragen hast, klopf einfach bei mir. Oder wenn dir die deutsche Bürokratie auf den Keks geht. Ich arbeite bei der Stadtverwaltung.«

»Hoffentlich muss ich nicht drauf zurückkommen. Danke, dass ich hier wohnen kann, Bernd.« Ich schloss die Tür auf. »Wir sehen uns.«

Er hob die Hand. »Bis dann, Sofia. Richte Carlo Grüße von mir aus, ja?«

Ich nickte und zog die Koffer nacheinander in den pastellblau gestrichenen Flur der Wohnung. Als ich den Namen meines Vaters hörte, fiel mir ein, dass ich mich melden wollte, sobald ich angekommen war. Ich ließ das Gepäck im Flur stehen, eilte auf die bordeauxrote L-förmige Stoffcouch zu und setzte mich, um einen Videocall mit meinen Eltern zu starten.

Wie üblich wackelte das Bild auf dem Display, bis sie es geschafft hatten, ihre Kamera richtig zu positionieren. Beide grinsten mich an und trugen den gleichen sehnsuchtsvollen Blick.

»Ciao, figlia, tutto bene?«, fragte mein Vater, dessen Lächeln mir sofort ein Gefühl von Heimat durch die Adern jagte. »Bist du gut angekommen?«

»Ja, es hat alles geklappt, Papà. Ich soll dich von Bernd grüßen. Wie gehts euch? Bist du noch erkältet?« Ich erinnerte mich daran, dass er gestern im Laden ständig gehustet hatte.

»Ja, aber es geht schon.« Er wischte sich die Nase mit einem Taschentuch ab.

Mamma sah ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Gereiztheit an, was mir ein Lächeln entlockte. »Trotzdem arbeitet er länger in der Bottiglieria, damit die Kunden ja nicht merken, dass er an der Schwelle zum Tod steht.« Sie knuffte ihn in die Seite.

»Sehr witzig«, blaffte Papà gespielt beleidigt zurück. »Was soll ich denn tun, wenn meine Kinder mich allein lassen? Ich bin froh, dass Sofia bald wiederkommt und den Laden mit mir schmeißt. Wenigstens auf sie ist Verlass.«

Ich wusste, dass Papà es scherzhaft meinte, dennoch war seine Äußerung eine Art Damoklesschwert, das über meinem Leben schwebte. Er war fest davon überzeugt, dass ich nach dem Studium merken würde, dass Dolmetschen doch nichts für mich war und ich stattdessen unser Weingeschäft übernehmen würde. Jetzt, wo Luca weg war, in den er einst seine Hoffnung gesetzt hatte, war das seine letzte Chance, den Laden im Familienbesitz zu behalten. Das ließ er ab und an in Nebensätzen fallen, die sich für mich nicht nach Neben–, sondern nach Hauptsätzen anfühlten. Mit Ausrufezeichen. Einer Menge Ausrufezeichen. Er hatte meinen Wunsch, Dolmetscherin zu werden, zwar von Anfang an respektiert und unterstützt, aber dennoch war seine Hoffnung darauf, dass einer von uns den Laden irgendwann übernahm, immer da gewesen. In seinen Augen, wenn er mir beim Arbeiten zusah. In seinen Umarmungen, wenn er sich für meine Hilfe bei der Buchhaltung bedankte. Und vor allem in seinen leisen Abschiedsworten, als ich heute am Flughafen in Florenz stand, um nach Deutschland aufzubrechen. »Vergiss nicht, wo du hingehörst. Ich brauche dich, Sofia.«

Eine Frage meiner Mutter unterbrach die Erinnerung. »Wirst du zurechtkommen, figlia? Ich mache mir ein bisschen Sorgen um dich.«

»Sofia schafft das schon, sie ist doch eine Powerfrau, stimmts?«, fiel Papà ihr ins Wort. Dieser Tonfall war mir schmerzlich vertraut. Mein Vater war so stolz auf mich, dass es mir manchmal unangenehm war. Und es setzte mich unter Druck. Was, wenn ich nicht immer eine Powerfrau war? Wenn ich das nicht sein wollte? Mir stattdessen wünschte, keine Verantwortung für den Laden zu haben? Letztes Jahr hatte ich meine Zukunft klar vor Augen: Ich wollte in Siena alt werden. Wenn ich in den Semesterferien dort war und im Laden aushalf, blutete mir das Herz, wenn ich wieder nach Bologna an die Uni zurückmusste. Siena war meine Herzensstadt — ohne Zweifel. Doch je mehr Menschen ich kennengelernt hatte, die mutige Pläne für die Zeit nach dem Studium hatten, desto stärker war auch in mir der Wunsch gewachsen, mehr von der Welt zu sehen. Der geheime Traum, den noch nicht einmal Luca kannte, nahm immer konkreter Gestalt an. Zwölf Monate in jedem Land leben, dessen Fremdsprache ich spreche. Ein Jahr in Deutschland, eins in England, eins in Spanien. In dieser Zeit hätte ich genügend Gelegenheit, Erfahrungen in meinem Beruf zu sammeln, und es wäre eine Chance für mich, herauszufinden, wo ich im Leben hinwollte. Eine Art Reise zu mir selbst. Vielleicht sehne ich es dann herbei, wieder hinter dem Tresen der Bottiglieria zu stehen. Im Moment fehlte sie mir nicht, und ich war gespannt auf die kommenden Monate in Heidelberg. Der Stadt mit der ältesten Universität Deutschlands. Ich konnte es kaum erwarten, anzufangen.

»Ja, ich kriege das schon hin, macht euch keine Sorgen. Ich melde mich wieder, ja? Ich überrasche jetzt Luca und Luana.«

Wir verabschiedeten uns, und ich legte das Handy zur Seite, um meine Koffer notdürftig auszuräumen und schnell unter die Dusche zu springen.

Nach dem Videocall war es mir viel zu still. Zu Hause war ich es gewohnt, ständig Geräusche um mich zu haben. Das italienische Geschnatter meiner Familie, die Werbung im Fernsehen, der Mixer in der Küche oder das Fluchen meiner Eltern, wenn der AC Florenz mal wieder verliert. Auch in der Studenten-WG in Bologna war immer etwas los. Das alles hatte ich in dieser Wohnung nicht. Es war mir trotzdem lieber, als für die paar Monate meines Auslandssemesters in eine WG oder ein Studentenwohnheim zu ziehen, wo ich ohnehin eine Außenseiterin bleiben würde, weil alle sich schon länger kannten. Ich war Luca unendlich dankbar dafür, dass er mir die Wohnung überließ, nachdem er vor Kurzem in eine schnuckelige Mietwohnung in der Straße gezogen war, in der sein Weingeschäft-Restaurant lag. Ich weiß, das ist kein Wort. Aber er besitzt wirklich eins. Mit einem kleinen Verkaufsraum vorne und der gemütlichen Trattoria hinten. Damit hatte er sich letztes Jahr einen Lebenstraum erfüllt, nachdem er sich entschlossen hatte, nach Deutschland auszuwandern, um hier bei seiner Freundin Luana zu leben. Meiner Halbschwester — lange Geschichte. Luca und ich waren zusammen aufgewachsen, Luana hatten wir erst letztes Jahr kennengelernt, und nach anfänglichen Schwierigkeiten und Herzschmerz waren sie und mein Adoptivbruder endlich zusammengekommen. Beim Gedanken an die beiden überkam mich eine wohlige Gänsehaut.

Als hätte Luca bemerkt, dass ich gerade an ihn dachte, piepte in diesem Moment mein Handy.

Hey, sorella, bist du schon bei Bernd angekommen? Luana fragt dauernd nach dir, sie macht mich noch wahnsinnig heute ;–)

Bei der Vorstellung, dass Luana wegen meiner Ankunft Hummeln im Hintern hatte – ich liebe diese Redewendung – und es sogar schaffte, meinen entspannten Herrn Bruder damit aus der Ruhe zu bringen, musste ich lächeln. Um ihn noch etwas länger zappeln zu lassen und die beiden zu überraschen, schrieb ich nicht zurück, sondern band mir meine schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und machte mich direkt auf den Weg ins Restaurant. Es waren nur drei Stationen mit der Straßenbahn und mit jedem Meter, den ich zurücklegte, wuchs die Aufregung in meinem Bauch. Wir hatten uns seit Monaten nicht gesehen. Im Sommer hatten Luca und Luana zwei Wochen in Siena verbracht, länger wollte er die Trattoria nicht geschlossen lassen, was wir natürlich alle nachvollziehen konnten.

Auf der anderen Straßenseite entdeckte ich den Eingang der Bottiglieria & Trattoria Conti, als ich aus der Bahn ausstieg. Wenn Luana grade Hummeln im Hintern hatte, dann waren es bei mir mindestens Kolibris. Der vertraute Anblick des Logos, das dem unseres Geschäfts in Siena ähnelte, ließ mich erleichtert seufzen. Ohne Luca und Luana wäre ich hier so was von aufgeschmissen … in diesem Land, dessen Sprache ich zwar beherrschte, aber dessen Bewohner mir so fremd waren wie die Straßenbahn, deren moderne Türen sich gerade lautlos hinter mir schlossen. Ich war nicht auf den Mund gefallen und konnte bisher immer schnell Freundschaften schließen, aber ich war mir nicht sicher, ob es hier genauso einfach werden würde. Es blieb mir nichts anderes übrig, als abzuwarten und mein Bestes zu geben. Aber selbst wenn ich niemanden außer Luca und Luana kannte: In Ruhe und ohne Ablenkung das Studium weiterzuführen, hatte schließlich auch etwas Gutes. So war ich fokussiert und konnte meinen Vorteil der Zweisprachigkeit perfekt ausbauen. Die Entscheidung, Dolmetscherin zu werden, war recht früh in meiner Schullaufbahn gefallen. Schon von Kindesbeinen an hatte ich Sprachen geliebt und zwischen Deutsch und Italienisch hin und her gewechselt, wenn ich meine Mutter ärgern wollte, die, im Gegensatz zu Papà, kein Deutsch sprach. Später kamen dann noch Englisch und Spanisch dazu, womit ich meinen Vater necken konnte. Jeden Tag dankte ich ihm dafür, Luca und mir die Möglichkeit der Zweisprachigkeit eröffnet zu haben. Obwohl seine Erfahrungen in Deutschland nicht seinen Erwartungen entsprochen hatten und er schnell wieder nach Italien zurückgekehrt war, war er nicht zu stolz gewesen, um den Vorteil darin zu erkennen.

Bevor ich meine Hand an die dunkelbraune Holztür mit dem Milchglasfenster legte, um sie zu öffnen, atmete ich tief durch. Mein Blick fiel auf Nonnas Verlobungsring. Die Worte, die sie mir mit auf den Weg gegeben hatte, flossen durch mich hindurch wie ein leiser Gruß von zu Hause. So langsam ich konnte, schob ich die Tür auf, weil ich wusste, dass das Glöckchen dann nur sanft angestupst wurde.

»Ist jemand an der Tür?«, hörte ich Luanas Stimme, begleitet von schnellen Schritten.

»Vielleicht ein Kunde. Soll ja manchmal vorkommen.« Lucas belustigter Tonfall ließ mich lächeln.

Wie gebannt starrte ich auf den Türbogen rechts neben dem Tresen, der den Übergang vom Verkaufsraum vorne zur Trattoria hinten bildete.

Luca trug eine dunkle Jeans und ein weinrotes Hemd mit seinem aufgestickten Logo darauf — zwei Weinflaschen, ein Pastateller und eine Weinrebe, darunter seine Initialen LC.

Luana folgte ihm in blauen Jeans und einem Pullover im gleichen Weinrot, allerdings ohne Logo. Ihre braune Lockenmähne hatte sie zu einem Dutt am Hinterkopf zusammengebunden, aus dem ein paar störrische Locken hervorlugten. Trotzdem wirkte sie damit ungewöhnlich seriös, und ihre braunen Augen, die denen unseres Vaters ähnelten, kamen noch besser zur Geltung.

»Ahhhhhhhh, ich wusste es!«, rief meine Halbschwester und rannte auf mich zu, um mich so fest zu umarmen, dass ich fast gegen die Eingangstür taumelte, die gerade hinter mir zugefallen war. »Wie cool, dass du direkt hierhergekommen bist.«

»Ich freue mich auch, euch zu sehen.« Ich ließ Luana los, nur um direkt in Lucas Arme zu stürmen. »Hey, sognatore! Ti sono mancata?«, fragte ich und streckte ihm die Zunge raus. Träumer nannte ich ihn seit seiner Auswanderung immer, wenn ich ihn necken wollte. Schließlich hatte er bis zu seinem Umzug nach Heidelberg nie jemandem von seinem Traum, Restaurantbesitzer zu werden, erzählt. Nicht einmal mir.

»Klar habe ich dich vermisst, sorella. Endlich schaut wieder jemand mit mir die miesen italienischen Filmsynchronisationen. Luana erträgt es nicht.«

Wir gingen in den Restaurantraum, und Wärme stieg in mir auf, als ich sah, wie Luca auf dem Weg seinen Arm um Luana legte. Die beiden waren einfach zu süß.

Ich schlenderte zur Bar auf der linken Seite des Restaurants und lehnte mich an den Tresen. Mein Blick schweifte durch den Raum, der ungewöhnlich bunt dekoriert war. An der Decke hingen Girlanden und Luftschlangen, und die dunkelroten Tischdecken waren gegen giftgrüne ausgetauscht worden. »Wie läuft das Geschäft? Sieht ja ziemlich … anders aus hier.«

»Bene, so langsam hat es sich herumgesprochen, dass es hier jetzt eine echte Trattoria gibt, und wir haben sogar schon ein paar Stammgäste. Morgen ist geschlossene Gesellschaft, ein Polterabend. Deshalb hat Luana so discomäßig dekoriert. Gefällt es dir?« Luca machte eine ausschweifende Handbewegung, und seine Freundin grinste. Dass sie ein Händchen für Deko hatte, hatte er mir schon häufiger erzählt.

»Certo, es sieht super aus. Wenn ich mal heirate, darfst du auch dekorieren, okay? Aber ich spare mir den Polterabend. Die Tradition habe ich noch nie verstanden.« Ich grinste spöttisch, und meine Gedanken schweiften unfreiwillig zu dem Reinfall mit Pino letzten Sommer. Er hatte mir seine Verlobte verschwiegen und mich nur als kurzweiligen Zeitvertreib benutzt. Dieser Hornochse! Das ist definitiv mein deutsches Lieblingsschimpfwort. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was das für ein Tier sein soll. Seitdem Pinos Verlobte uns erwischt hatte und ich endlich hinter sein falsches Spiel gekommen war, lag mein Liebesleben auf Eis, ohne die geringste Aussicht auf den Schmelzpunkt. Trockeneis sozusagen. Heiraten war daher momentan das Letzte, woran ich dachte. Auch wenn ich es mir wünschte. Irgendwann. Eine Hochzeit und eine eigene Familie. Ein Haus wäre die Kirsche auf der Torte. Doch im Moment reichte es nur für ein Luftschloss.

»Seit wann machst du dir Gedanken über Hochzeiten? Haben wir was verpasst?« Luca pikste mir mit dem Zeigefinger in die Seite.

»Schön wär’s. Ich verspreche dir, du bist der Erste, der etwas erfahren würde. Aber zuerst seid ihr dran, oder?«

»Wenn du das sagst, wird das wohl stimmen.« Luca lächelte verlegen, sprach aber nicht weiter. Er blickte mich eindringlich an, was ich als Zeichen interpretierte, diese Unterhaltung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, wenn ich allein mit ihm war. Er sah aus, als hätte er brüderlichen Redebedarf. Ich räusperte mich und wechselte das Thema. »In den nächsten Monaten ist für mich übrigens männerfreie Zeit. Ohne Ausnahme. Ich muss lernen.«

Luca und Luana verdrehten synchron die Augen, was mich zum Schmunzeln brachte.

»Komm, du Streberin, wir setzen uns in die Küche.« Luca wies mit dem Kopf in Richtung der weißen Tür hinter dem Tresen.

Auf dem Weg zupfte Luana am Ärmel meines Pullovers und beugte sich flüsternd zu mir rüber: »Glaubst du, Luca denkt wirklich übers Heiraten nach? Das hat sich gerade so angehört.«

Ich zuckte die Achseln. »Wäre doch nicht ungewöhnlich. Habt ihr noch nie darüber gesprochen?«

Luana schüttelte den Kopf, und ich konnte sehen, wie die Gedanken sich hinter ihrer Stirn überschlugen. Allora, also ist auch hier irgendwann ein Gespräch unter vier Augen fällig.

In der Küche stellte Luca mir seinen Koch Franco vor, der dabei war, Erdbeeren und eine Sahne-Mascarpone-Mischung in langstielige Dessertgläser zu füllen. Crema di fragola war neben Tiramisù mein Lieblingsdessert, und mir lief schon bei dem Anblick der fertigen Gläser das Wasser im Mund zusammen.

Während mein Bruder ihm zur Hand ging, aß ich mit Luana zusammen am kleinen Tisch gegenüber der Küchenzeile eine Portion Pici mit dem traumhaften Sugo all’arrabbiata, den keiner so gut zubereiten konnte wie Luca. Dabei brachte ich meine Halbschwester auf den neuesten Stand, was das Studium in Bologna betraf, und im Gegenzug klagte sie mir ihr Leid über das Arbeitspensum, das ihr im kommenden Semester ihres Physik- und Mathematikstudiums bevorstand.

»Wenn ich das so höre, haben wir alles richtig gemacht, oder Franco?« Lucas Stimme klang heiter, aber der Stolz, der mitschwang, war mir nicht entgangen.

»Decisamente! Von der vielen Theorie würde ich Kopfschmerzen bekommen.« Der schlaksige Koch stellte das letzte Dessertglas auf ein Tablett zu den anderen und klatschte einmal in die Hände. »Finito!«

Luana und ich reckten die Köpfe, um die Leckereien zu sehen. Wenige Minuten später verabschiedete sich Franco von uns.

»Denkst du, zwei fehlende Gläser fallen auf?«, flüsterte Luana mir zu, und wir kicherten leise.

Noch bevor ich antworten konnte, hatte Luca die große weiße Schüssel mit der restlichen Creme vor uns auf den Tisch gestellt und Löffel danebengelegt. »Hier! Wehe, ihr rührt die fertigen Gläser an.«

»Grazie, tesoro«, sagte Luana und küsste ihn auf die Wange.

Er hielt ihr einen gefüllten Löffel hin, und sie öffnete bereitwillig den Mund.

Ich aß ebenfalls etwas von der göttlich leckeren Creme und lenkte mich so von dem Pärchen-Glück vor mir ab. Ja, ich gönne es den beiden wirklich von Herzen. Aber für heute war mein Kitschbedarf gedeckt. Ich räumte den Löffel in die Spülmaschine und wandte mich an die Turteltauben. »Ich werde euch mal allein lassen. War ein anstrengender Tag.«

Luca nickte. »Va bene, komm doch morgen vorbei, wenn du Hunger hast. Ich koche generell immer zu viel. Das hat Mamma wohl an mich weitergegeben.« Er stand auf und umarmte mich.

Luana tat es ihm gleich. »Bis dann, Sofia. Schön, dass du hier bist.«

In der Wohnung angekommen, zog ich die Schuhe aus, ließ mich auf die Couch fallen und bewegte mich für den Rest des Tages nur noch so viel wie nötig. Meine Gedanken kreisten um die ersten Vorlesungen nach diesem Wochenende, und ich hielt es für das Beste, auf Nummer sicher zu gehen und noch einmal den Weg zur Uni zu überprüfen. Als ich einen Screenshot von der Verbindung gemacht hatte, war ich ein wenig erleichterter und machte mich bettfertig. Leider dauerte es eine Stunde, bis mein Kopf sämtliche mögliche Horrorszenarien der ersten Tage durchgespielt hatte und ich endlich einschlafen konnte.

Blu e marrone

Blau und Braun

Sofia

Samstag. Ohne Termine, ohne die Arbeit in Papàs Weingeschäft und ohne eine Ahnung, was man in einer fremden Stadt abends machen konnte. Wie immer war ich viel zu früh wach und sah dabei zu, wie die Uhr auf meinem Handy auf sieben sprang. An die Ruhe hier gewöhnte ich mich langsam und fing sogar an, es zu genießen, dass ich keine Mitbewohner hatte, die das Bad blockierten oder sich beschwerten, dass ich am Wochenende schon früh morgens die Kaffeemaschine bediente. Bei dem Gedanken an das schwarze Gold, das mein Lebenselixier war, lächelte ich. Gerade als ich mich noch einmal tiefer in die Decke einkuschelte und Netflix auf dem Handy öffnen wollte, fiel es mir vor Schreck fast aus der Hand. Die Titelmelodie von Game of Thrones durchdrang die Stille, und mein Herz brauchte ein paar Schläge, um sich zu beruhigen. Dieser verdammte Klingelton bringt mich noch um. Aber ich wagte es nicht, die epische Musik zu beleidigen, indem ich ihn änderte oder — Todsünde — das Handy lautlos stellte.

Auf dem Display war Lucas Foto zu sehen. So früh an einem Samstag? Das kann nichts Gutes bedeuten. Schnell drückte ich das grüne Hörersymbol. »Luca? Che c’è?«

»Ciao, Sofia, scusa, dass ich dich so früh anrufe. Du musst mich retten. Bitte.« In seiner Stimme lag leichte Panik, die ich überhaupt nicht von ihm kannte. Er flüsterte jemandem etwas zu. Vermutlich hörte Luana neben ihm mit. Das erklärte auch, warum er Deutsch sprach.

»Jetzt beruhige dich erst mal. Was ist denn passiert?«

»Meine Kellnerin Giusi ist ausgefallen. Ausgerechnet vor dem Polterabend heute. Na ja, genau genommen hat sie mich sitzen gelassen. Sozusagen.«

Ich schnaubte und setzte mich im Bett auf. »Was soll das heißen? Hattet ihr keinen Vertrag?«

»Doch, aber sie … hat endlich einen Vollzeitjob gefunden und muss Hals über Kopf in eine andere Stadt ziehen. Da wollte ich ihr keinen zusätzlichen Ärger machen und auf die Kündigungsfrist bestehen.« Er wurde immer leiser. »Ich habe sie gebeten, wenigstens heute Abend noch zu kommen, aber sie … na ja …« Luca verstummte. Wahrscheinlich merkte er selbst, wie naiv das klang.

Ich hielt mein Seufzen nicht zurück. »Luca Conti … Du bist einfach zu gutmütig für die Welt da draußen.«

»Sì, sì. Aber du bist doch genauso. Deshalb weiß ich auch, dass du mir helfen wirst.« Eine bedeutungsvolle Pause später fügte er ein unsicheres »Oder?« hinzu.

Ich atmete tief durch und rieb mir die Schläfe. Kellnern auf einem Polterabend. Heute. Nicht gerade das, was ich mir für den ersten Abend hier gewünscht hatte. Aber meinen Bruder konnte ich nicht im Stich lassen. Die famiglia hält schließlich immer zusammen, nicht wahr? »Ich denke, allein werde ich das nicht schaffen«, gab ich zu bedenken. »Sag mir nicht, du hast nur eine einzige Kellnerin eingeplant?« Wieso habe ich das Gefühl, die Antwort darauf schon zu kennen?

»Nein, nein.« Oh, wow.

»Bene. Und wer ist die andere? Ich hoffe, sie kennt sich besser aus als ich.«

»Das kann man so sagen.« Jetzt klang seine Stimme heiterer. »Es ist Luana. Sie hat mir zwar angeboten, es allein zu machen, aber sie hat etwas … Respekt davor, weil ein Teil der Gäste aus Italien angereist ist und kein Deutsch kann. Es würde alles erleichtern, wenn du dabei wärst.«

Sofort wanderten meine Mundwinkel nach oben. Gemeinsam mit Luana konnte es sogar lustig werden, und ich freute mich darauf, Zeit mit ihr zu verbringen.

»Allora? Per favore, sorella! Sieh es als … Übung für die Uni. Oder als Ausgleich.« Sein Grinsen konnte ich durch mein Handy spüren.

»Sehr witzig.« Ich ließ ihn ein paar Sekunden zappeln. »Klar helfe ich dir.«

»Grazie a Dio! Du hast was gut bei mir.«

»Das ist ja nichts Neues. Dafür will ich mindestens eine Portion von dem göttlichen Nachtisch von gestern. A presto.«

»Ciao, Sofia. Und danke.« Ich ließ mich zurück auf mein Bett fallen und öffnete endlich Netflix. Nachdem mir jetzt kein gemütlicher Tag mehr bevorstand, hatte ich es erst recht verdient, mir vorher eine Folge The Crown anzuschauen und parallel zu googeln, wie historisch korrekt die Handlung und die Kostüme waren. Ich konnte es nicht lassen, auch wenn meine Mutter darüber jedes Mal lachte und sagte, ich sollte die Serie einfach genießen.

Um zwei Uhr nachmittags kam ich in der Trattoria an und wurde überschwänglich von Luca und Luana begrüßt, die mir im Laufe des Tages mindestens fünfmal sagten, wie dankbar sie waren, dass ich sie unterstützte.

Luana und ich deckten gemeinsam die Tische, während Luca mit Franco das Menü vorbereitete.

»Gott, ich bin so froh, dass du da bist, Sofia. Wenn ich die italienischen Gäste bedienen müsste, wäre spätestens morgen früh in sämtlichen Bewertungsportalen die Hölle los. Mein Akzent ist immer noch so furchtbar. Und diese Grammatik macht mich kirre.« Luana verdrehte die Augen, zog eine der grünen Stoffservietten durch einen Serviettenring und drapierte sie neben dem Teller.

»Quatsch! Du hast so viel gelernt dieses Jahr.« Ich warf ihr über den Tisch hinweg einen aufmunternden Blick zu.

Sie lächelte verlegen. »Danke. Sollen wir Luca zu einer Pause überreden, wenn der DJ gleich die Anlage aufbaut? Dabei können wir sowieso nicht helfen.«

»Klingt gut.« Gemeinsam schlenderten wir in die Küche. Dort fanden wir meinen Bruder und Franco bereits am Tisch sitzend und über eine riesige Pizza gebeugt vor.

»Hey, wieso esst ihr ohne uns?« Luana legte Luca von hinten die Hände auf die Schulter und küsste ihn auf die Wange.

»Wir dachten, ihr seid noch beschäftigt.«

Sie setzte sich neben ihren Freund, und ich nahm auf der anderen Seite Platz. »Wer’s glaubt, ihr wolltet bloß nicht teilen.«

Wir machten uns gemeinsam über die Pizza her, und die Zeit, bis die Polterabendgesellschaft ankam, vertrieben wir uns damit, Luana unser Lieblingskartenspiel Scala 40 beizubringen.

»Die Gäste sind da«, rief Luca, der die weiße Gardine in der Küche zur Seite geschoben hatte und einen Blick auf den kleinen Parkplatz hinter dem Haus warf.

Ich schluckte meine Aufregung hinunter und band mir die schwarze Schürze um die Hüften, die das Logo der Trattoria trug. Auf gehts!

Aus dem Restaurantraum drang Gemurmel zu uns in die Küche. Offenbar waren weitere Gäste angekommen, die ihre Autos nicht auf dem Parkplatz, sondern vor der Tür geparkt hatten.

Luca hatte seine Kochjacke gegen das weinrote Hemd getauscht und verließ die Küche. Luana und ich folgten mit den Tabletts, auf denen Gläser mit Sekt und Orangensaft standen. Luca ging zügig auf eine Frau und einen Mann zu, die vermutlich das zukünftige Brautpaar waren, und wechselte ein paar Worte mit ihnen. Ich beobachtete einen Moment, wie selbstsicher er war, und ein unglaublicher Stolz erfüllte mein Herz. Ich nahm mir vor, ihm das zu sagen, wenn der Trubel heute vorbei war.

Das Restaurant war mittlerweile gut gefüllt, und überall standen die Gäste in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich. Gedankenverloren ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass einer der Männer aus der Gruppe neben mir den anderen den Rücken gekehrt hatte und langsam auf mich zukam. Der Gast war etwas älter und einen Kopf größer als ich. An seinen Oberarmen zeichneten sich durch das olivgrüne Longsleeve-Shirt deutliche Muskeln ab. Ansonsten saß es recht locker und ließ nicht viel von seiner restlichen Figur erahnen, weshalb meine Aufmerksamkeit von etwas anderem gefesselt wurde. Seiner Frisur. Die mittelbraunen Haare trug er am Hinterkopf zu einem Dutt zusammengebunden. Dio mio, lange Haare bei Männern. Mein absoluter Untergang. Ich verscheuchte den unpassenden Kommentar aus meinem Kopf und richtete die Augen auf den Boden, um den Gast nicht anzustarren. Das funktionierte knapp zwei Sekunden lang — bis er direkt vor mir stand und sein leeres Glas auf dem Tablett platzierte, das ich auf dem Stehtisch vor mir abgestellt hatte. Jetzt wäre es wirklich unhöflich, ihn nicht anzusehen. Unsere Blicke trafen sich, und ich brachte nur ein verwirrtes Blinzeln zustande. Mehrmals. Erst dann erkannte ich, was mich an ihm so irritierte. Es war sein rechtes Auge. Nur etwas mehr als die Hälfte der Iris war braun wie das linke und der Rest strahlte blau. Solch ein Farbzusammenspiel hatte ich noch nie gesehen. Und es ist genauso ein Untergang wie die langen Haare, fügte meine innere Stimme hinzu, der ich am liebsten einen Maulkorb verpassen würde.

»Ich nehme Ihnen mal das Letzte ab«, sagte er leise und unterbracht damit meine intensive Studie seiner Augenfarben. Er griff nach dem einzigen gefüllten Sektglas auf dem Tablett und lächelte mich flüchtig an.

Ich nickte nur und sah ihm dabei zu, wie er wieder zu der Gruppe zurückging, genauso langsam, wie er gekommen war.

Nachdem das zukünftige Brautpaar die Gäste begrüßt hatte und sie ihre Vorspeise aßen, hatten Luana, Luca und ich hinter der Bar und in der Küche alle Hände voll zu tun. Getränke einschenken, an die Tische bringen, leere Gläser und Teller abräumen. Erst als wir den Hauptgang serviert hatten, war Zeit, ein paar Minuten Luft zu holen. Wir lehnten uns an den Tresen, und ich konnte nicht verhindern, dass mein Blick zu dem Tisch schweifte, an dem der Mann mit dem verschiedenfarbigen Auge saß. Er schien allein gekommen zu sein und unterhielt sich mit einer älteren Frau, die ihm gegenübersaß. Vielleicht war sie seine Mutter. Zumindest sah sie ihn so liebevoll an, als würden sie sich näher kennen. Ob er die Augenfarbe von ihr geerbt hatte?

Luana tippte mir auf die Schulter. »Sofia, komm, die Gäste sind fertig mit dem Essen.«

Ich folgte ihr, und wir räumten die Tische ab. Dabei war ich darauf bedacht, nicht in die Richtung des Mannes zu schauen. Ich hatte keine Ahnung, warum er mich so … verwirrte. Er hatte doch nur ein Glas auf mein Tablett gestellt, wie fast jeder der Gäste hier.

Nach dem Dessert verwandelte der DJ die Trattoria mit seiner Musik und der Lichtanlage in eine Disco, und der ausgelassene Teil der Feier begann. Zumindest für die Gäste, die sich jetzt in peinlichen Tanzmoves überboten. Luana und ich hatten weiterhin viel zu tun, aber ließen es uns nicht nehmen, hin und wieder die Tanzkünste mancher Gäste zu beobachten. Je später der Abend wurde, desto mehr Menschen stürmten die bunt beleuchtete Fläche in der Mitte des Raumes. Nach einem Schlagermedley, das für meine Ohren kaum erträglich war, verkündete einer der Gäste lautstark, dass alle auf den Parkplatz kommen sollten. Einen Augenblick später zuckte ich zusammen. Das Klirren des Porzellans auf dem Asphalt war lauter, als ich erwartet hatte. Diese Tradition, alte Teller zu zertrümmern, wäre etwas für Mamma, dachte ich belustigt. Im Streit mit meinem Vater hatte sie schon häufiger Geschirr geopfert.

Nur noch eine Handvoll Leute waren auf den Plätzen sitzen geblieben, was Luana und mir ermöglichte, in Ruhe die leeren Gläser abzuräumen. Der Mann, der zuvor mein Tablett geleert hatte, saß allein am Tisch. Seine Augenbrauen waren leicht zusammengezogen, und er presste die Lippen aufeinander. Es sah fast so aus, als würde er Tränen zurückhalten. Ich setzte ein perfektes, neutrales Kellnerinnenlächeln auf und trat neben ihn.

Er hob den Kopf. Keine Tränen in Sicht. Gott sei Dank. »Können Sie mir ein Bier bringen? Wenn ich noch mehr Wein trinke, fange ich an, das Zeug zu mögen.« Er beäugte das bauchige Glas vor sich skeptisch und schüttelte den Kopf.

Ich schmunzelte, aber schluckte meine sarkastische Bemerkung hinunter. Gut, dass Luca nicht gehört hat, wie er unseren Wein als Zeug bezeichnet. »Pils oder Weizen?«

»Pils, bitte.« Er wandte sich von mir ab, und als einer der Gäste ihn dazu überreden wollte, mit nach draußen zu kommen, schüttelte er energisch den Kopf. In der Disco wäre er ein typischer Mit-Drink-am-Rand-der-Tanzfläche-Steher.

»Sind Sie kein Freund von Polterabenden?« Die Frage hatte meinen Mund verlassen, bevor ich es bemerkt hatte.

Der Partymuffel legte den Kopf schief und warf mir einen intensiven Blick zu. »Das würde ich nicht direkt sagen. Aber ich bin zurzeit nicht in der Stimmung, mir anzuschauen, wie mein Bruder und seine Verlobte altes Geschirr zusammenfegen.«

Ich lachte in mich hinein. So wie er das sagte, klang es tatsächlich … bescheuert.

»Aber verraten Sie mich nicht, ja?« Er hob sein Glas mit dem letzten Rest Wein darin und prostete mir in der Luft zu, wobei sein Gesichtsausdruck so traurig wirkte wie vorhin, als ich ihn beobachtet hatte. »Auf die Scherben.«

Ich entdeckte ein Tattoo an seinem Unterarm, das unter dem hochgekrempelten Ärmel hervorblitzte. Leider konnte ich die Worte nicht genau erkennen.

Ich nickte nur und verschwand hinter der Bar, um das Bier einzuschenken. Was für ein komischer Typ.

Weit nach Mitternacht machten sich die letzten Gäste und das Brautpaar auf den Heimweg. Als der DJ sein Equipment abgebaut und die Tür hinter sich geschlossen hatte, zogen Luana und ich die Schürzen aus und ließen uns auf zwei Barhocker fallen.

»Ich bin erledigt.« Meine Schwester verschränkte die Arme auf dem Tresen und legte ihren Kopf darauf ab.

Ich folgte ihrem Beispiel. »Allerdings. Ich glaube, morgen spüre ich meine Füße nicht mehr.«

Luca kam mit zwei der Dessertgläser, die übrig geblieben waren, aus der Küche. »Für meine Retterinnen.« Er stellte sie vor uns ab und küsste erst Luana und dann mich auf die Wange. »Danke, dass ihr mir geholfen habt. Ohne euch wäre ich verloren gewesen.«

Wir stürzten uns auf das Dessert, und ich sah meinen Bruder von der Seite an. »Du weißt doch genau, dass ich dir nichts abschlagen kann.«

Er grinste. »Exakt. Deshalb weiß ich auch schon, was du zu meinem Plan sagen wirst.«

Mir blieb fast eine Erdbeere im Hals stecken. »Was für ein … Plan?«

Luca kam an meine andere Seite und legte einen Arm um mich. Oh, oh! »Ich weiß, du brauchst viel Zeit für die Uni, aber … wenn wir mal ehrlich sind, weißt du doch sowieso schon alles und bist nur übertrieben perfektionistisch. Also würde es dir nicht schaden, eine … Ablenkung vom Lernen zu haben, verstehst du? Etwas komplett anderes.« Er holte tief Luft. »Ich weiß, du gibst es nicht zu, aber die Arbeit in Papàs Laden macht dir doch auch Spaß.«

Jetzt dämmerte mir, was er vorhatte. »No! Luca, per favore!« Ich ließ meinen Kopf wieder auf den Unterarm fallen und sah den Plan, mich voll aufs Studium zu konzentrieren, winkend davonlaufen.

»Ach, komm schon, Lieblingsschwester. Es ist nicht immer so stressig wie heute. Unter der Woche ist nicht so viel los, da schaffst du das locker. Du warst doch in Siena schon besorgt, dass du hier niemanden kennst. Du solltest mir dankbar sein.« Er lehnte seinen Kopf an meinen. Seine Stimme veränderte sich. Der neckende Unterton verschwand, und er sprach direkt zu meinem Herzen. »Bitte Sofia, hilf mir. Ich suche jemanden Neues, ich verspreche es dir. Aber so lange …«

Ich seufzte. »Ja, schon gut, ich mache es! Aber nur, wenn du mich zwei Wochen lang mit ›Eure Majestät‹ ansprichst und jeden Mittag bekochst.«

Luca lachte. »Kochen ist kein Problem. Der Rest wäre vor den Gästen ziemlich peinlich, oder?«

Luana umarmte mich von der anderen Seite. »Wir beide als Conti-Kellnerinnen-Team. Na ja, fast. Das wird der Hammer!«

Ihre Anspielung auf den Nachnamen brachte mich zum Lachen. »Luana Conti würde sich richtig gut anhören, oder Luca?«

Mein Bruder grinste und warf seiner Freundin einen verliebten Blick zu. »Alles zu seiner Zeit.«

Als ich später ins Bett fiel, waren meine Füße bleischwer und die Arme, die den ganzen Tag Teller und Gläser getragen hatten, kamen mir zwei Meter lang vor. Auch mein Herz fühlte sich seltsam an. Voller Eindrücke der ersten beiden Tage. Und erfüllt von … Dankbarkeit? Oder was war das, was ich Luca gegenüber empfand? War ich genervt davon, jetzt hier eine weitere Aufgabe zu haben, oder doch froh, dass ich mich nicht mehr wie ein Fisch auf den Trockenen fühlte? Je länger ich darüber nachdachte, desto eher neigte sich die Waagschale in die dankbare Richtung. Ich zog die Decke unter das Kinn, und kurz bevor ich eingeschlafen war, zeigte mein Kopfkino eine Sondervorstellung des heutigen Tages. In der Hauptrolle? Die seltsamsten und gleichzeitig schönsten Augen, die ich je gesehen hatte. Blau und Braun in einer stürmischen Mischung, die mich vollkommen faszinierte. Ich schüttelte den Kopf, aber das Bild hielt sich hartnäckig. Sogar bis in meinen Traum, der mir so peinlich war, dass ich mich am nächsten Morgen vor mir selbst schämte.

Il salvataggio

Die Rettung

Sofia

Auf dem Weg zur Uni wickelte ich meinen Schal noch ein weiteres Mal um den Hals. Merda ist das kalt hier! Und dabei haben wir gerade erst Oktober. Dennoch war die Sonne heute gnädig. Sie kämpfte sich langsam zwischen weißen Quellwolken hervor, und zusammen mit den goldbraunen Blättern an den Bäumen wirkte die Landschaft auf den Hügeln, die man hinter den Häusern sehen konnte, wie ein Gemälde. Ja, ich gab es zu: Heidelberg war eine schöne Stadt. Auch wenn es im ersten Moment etwas unspektakulär klang. München oder Berlin hatte ich häufiger im Fernsehen gesehen, aber von Heidelberg hatte ich noch nie gehört. Dennoch war ich froh, hier sein zu dürfen. Immerhin war es die neue Heimatstadt meines Bruders.

Das Institut für Übersetzen und Dolmetschen genoss einen ausgezeichneten Ruf und arbeitete mit der Uni in Bologna zusammen. Besser konnten die Voraussetzungen nicht sein, um hier mein Studium fortzusetzen. Dennoch klopfte mein Herz bis zum Hals, als ich das gelbe Gebäude mit den ziegelroten Fensterrahmen betrat. Bewaffnet mit einem überdimensional großen Thermobecher voller Kaffee, ohne den ich morgens nicht lebensfähig war, drängte ich mich an den Menschentrauben vorbei, die sich im Inneren des Instituts überall bildeten, und folgte ein paar Studierenden, von denen ich Sätze auf Spanisch aufschnappte. Die bunt zusammengewürfelte Gruppe bewegte sich nur langsam und hatte eins mit mir gemeinsam: den ratlosen Ausdruck auf ihren Gesichtern. Einen tiefen Atemzug später nahm ich meinen Mut zusammen und sprach zwei der jungen Frauen an, die neben mir gingen. Sie stellten sich als Emilia und Ricarda aus Sevilla vor und gaben zu, genauso überfordert zu sein wie ich. Gemeinsam machten wir uns auf die Suche nach dem ersten Hörsaal. Gefühlte fünfzig Treppenstufen später kamen wir an und waren immer noch überpünktlich — so wie ich es liebte. Gut, dass ich die frühere Straßenbahn genommen hatte, um einen Puffer zu haben. Genug Zeit, um in Ruhe mein Tablet auszupacken und mich mit Ricarda und Emilia zu unterhalten. Nach und nach wurde es ruhig im Raum. Erst nachdem Ricarda sich räusperte und so meine Unterhaltung mit Emilia über ihre katastrophale Anreise unterbrach, bemerkte ich, dass die Professorin eingetreten war.

Am Ende meines ersten Tages beglückwünschte ich mich in Gedanken selbst. Ich hatte es geschafft, mich so unauffällig wie möglich zu verhalten, nichts Peinliches zu tun, mich nicht zu verlaufen und hatte sogar ein paar Sätze mit weiteren Studierenden gewechselt, die ebenfalls am Erasmus-Programm teilnahmen oder es noch vorhatten. Die Vorlesungen zu Sprach- und Kulturkompetenz und Translation waren zwar so trocken wie erwartet, aber die darauffolgende praktische Übung hatte den Tag etwas aufgelockert. Mein Herz wurde leicht, als ich das Institut hinter mir ließ und mich auf den Weg zu Lucas Trattoria machte, die glücklicherweise fußläufig erreichbar war. Ich vergrub die Hände in den Taschen und träumte davon, hier im Sommer entlangzuschlendern. Mit einem Eis in der Hand und dem warmen Wind in den Haaren. Ich seufzte. Wäre das Wetter etwas besser, würde ich die Stadt noch mehr mögen. Links und rechts von mir ragten Altbauhäuser empor, die in verschiedenen Farben gestrichen waren. Es war viel bunter als in Siena, das war mir schon vor einem Jahr bei unserem ersten Besuch, zur Eröffnung der Trattoria, aufgefallen und in Erinnerung geblieben. Damals hatte ich gerade erst den Entschluss gefasst, das Auslandssemester hier zu machen. Und jetzt war es schon so weit. Ich ließ die Umgebung noch ein wenig auf mich wirken und genoss den köstlichen Duft, der aus der Bäckerei neben mir strömte. Ich spähte hinein und sah die ausgestellten unterschiedlich großen Brotlaibe im Regal an der Wand aufgereiht. Noch nie hatte ich so viele verschiedene Brotsorten gesehen wie hier in Deutschland. Auch die verschiedenen Tortenstücke und das Gebäck in der Auslage fesselten meine Aufmerksamkeit für einen Moment, und ich nahm mir vor, morgen auf dem Rückweg etwas zu kaufen. Wahrscheinlich würde ich mich in den sechs Monaten einmal komplett durch das Sortiment gefuttert haben. Abgelenkt von meiner Bäckereistudie hätte ich beinahe vergessen, die Straßenseite zu wechseln, um zur Trattoria zu kommen.

Ich zog die Tür auf und trat in den kleinen Verkaufsraum, in dem Luca gerade ein paar Flaschen im Regal neben dem Tresen drapierte. Luana war noch nicht da.

»Buon giorno«, rief ich ihm zu, und weil er allein war, verfiel ich in einen italienischen Redeschwall. Zum ersten Mal, seitdem ich hier war, fiel mir auf, wie sehr mir das gefehlt hatte. Wir sprachen aus Rücksicht auf Luana meist Deutsch. »Ich wollte mich hier als Kellnerin bewerben. Ist meine Berufserfahrung, die aus exakt einem Polterabend besteht, dafür ausreichend, Signor Conti?«

Er legte den Kopf schief, und seine Augen verengten sich. »Ich hoffe, dass Sie kompetent genug sind, Signora Conti. Ich habe einen Ruf zu verlieren.« Er zwinkerte und deutete mit dem Kopf in Richtung des Restaurantraumes. Ich folgte ihm und band mir an der Bar die bereitliegende Schürze um, während ich Luca von meinem ersten Tag an der Uni erzählte.

»Das hört sich richtig gut an. Ich habe ja gesagt, es ist schön hier.«

Lucas Kommentar entlockte mir ein Lächeln. Ich erinnerte mich noch gut daran, dass er das schon einmal erwähnt hatte und vor allem an seinen verliebten Blick dabei. »Neben Luana würdest du es doch überall toll finden. Sogar in Florenz.«

»No, du spinnst ja.«

Unser Schlagabtausch wurde von der Ankunft eines Mädchens unterbrochen, das in den Raum hereingerannt kam. Die Kleine trug einen Teil des langen, dunkelbraunen Haars am Hinterkopf zusammengebunden, und darunter wellte sich ihr restliches Haar bis über die Schultern. Mit funkelnden Augen sah sie sich um, bis ihre Mutter sie an der Hand fasste und zu sich zog. Die große, schlanke Frau war ein hellerer Typ als ihre Tochter. Blonde Locken, die ihr kaum über die Schultern reichten, umrahmten ihr Gesicht. Ihr Blick schweifte suchend im Raum umher, dann steuerte sie Tisch zwei an, der nah am Ausgang lag. Vielleicht erwarteten sie jemanden. Sie zog ihrer Tochter die Jacke aus, und beide setzten sich. Ich schmunzelte, als die Kleine die Speisekarte aufschlug und sie durchblätterte wie ihre Mutter.

»Guten Tag, darf ich schon etwas zu trinken bringen?«, fragte ich, als ich an den Tisch herangetreten war.

Die blonde Frau sah auf. Ihr Gesichtsausdruck war ungewöhnlich ernst für einen gemütlichen Nachmittag in einem Restaurant. »Ich nehme einen Pfirsicheistee. Was möchtest du haben?« Sie wandte sich an ihre Tochter.

»Apfelsorle«, antwortete sie, viel selbstbewusster, als ich erwartet hatte. Ihr Lispeln war zuckersüß.

»Bene, kommt sofort.« Ich ging hinter den Tresen, um die Getränke vorzubereiten.

Als ich die Apfelschorle auf das Tablett stellte, hörte ich ein quietschendes »Papaaaa!« am anderen Ende des Raumes und musste lächeln. Doch nur so lange, bis ich den Blick hob und sah, wer hereingekommen war. Er.

Der Mann mit den faszinierenden Augen, den ich auf dem Polterabend gesehen hatte. Dessen Blick mich bis in die Nacht verfolgt hatte. Er war der Vater dieses Mädchens? Schnell sortierte ich meine wirren Gedanken und betrachtete ihn genauer. Er war definitiv ein paar Jahre älter als ich, aber dass er verheiratet war und eine ungefähr vierjährige Tochter hatte, hätte ich nicht gedacht. Ich schüttelte leicht den Kopf und trank einen Schluck Wasser, um diese Dinge, die mich überhaupt nichts angingen, aus meinen Gedanken zu vertreiben.

Die Kleine sprang auf und rannte auf ihren Vater zu, der sie hochhob und in seine Arme schloss. Ich verstand nicht, was er zu ihr sagte, aber sie strahlte und nickte energisch. Die Szene wurde nicht nur von mir, sondern auch von der Mutter des Mädchens beobachtet. Sie sah ihren Mann mit einer Mischung aus Sehnsucht und Traurigkeit an. Ich fragte mich, was zwischen den beiden vorgefallen war und im selben Augenblick, was mich das überhaupt anging.

Ich straffte die Schultern und brachte das Tablett mit der Schorle und dem Eistee an den Tisch.

Der gut aussehende Mann — nein, Sofia! Der völlig durchschnittliche Typ, an dem absolut nichts attraktiv war – hatte gegenüber seiner Frau Platz genommen. Und ich betrachtete auf meinem Weg zu dem Tisch heimlich all die durchschnittlichen Dinge an ihm, die mir schon bei seinem ersten Besuch aufgefallen waren. Die langen Haare trug er heute zu einem lockeren Man Bun am Hinterkopf, und sein Dreitagebart war ein bisschen dichter als vorgestern, was ihn nicht so streng wie beim Polterabend wirken ließ, sondern irgendwie … verwegen. Sagt man das heutzutage überhaupt noch? Ich stehe auf solche alten Wörter. Unter seinem grauen Langarmshirt, auf dem drei brennende Spielkarten abgebildet waren, zeichneten sich seine Oberarmmuskeln ab. Ich blinzelte und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Tablett. Konzentration, du Möchtegernkellnerin!

»Eine Apfelschorle.« Ich stellte das Glas mit dem Strohhalm vor dem Mädchen ab. Sie bedankte sich und versuchte, mit dem Mund nach dem Strohhalm zu greifen, ohne die Hände zu benutzen.

Ich servierte der Frau den Eistee und wandte mich dann an ihren Mann. »Was darf es für Sie sein?« Ich lächelte, und als er meinen Blick länger als es üblich gewesen wäre, erwiderte, zwang ich mich, wegzusehen.

Der Partymuffel hatte mich auch wiedererkannt. Ganz sicher. »Ein Bier, bitte.« Er räusperte sich.

»Pils«, sagten wir beinahe gleichzeitig, und es kostete Überwindung, aus meinem Schmunzeln kein Grinsen werden zu lassen.

Ganz im Gegenteil zu mir versteckte er sein Lächeln nicht. Dio mio, und was für eins das war. Seine Mundwinkel hatten sich so weit gehoben, dass auf der linken Seite eine zweite, kleinere Lachfalte erschien. Mein Blick blieb kurz daran hängen, aber ich zwang mich erneut, wegzusehen.

»Kommt sofort.« Ich nickte meinem Gegenüber zu und machte auf dem Absatz kehrt.

Während ich das Bier zapfte, gestikulierte die blonde Frau in der Luft, und der Gesichtsausdruck ihres Mannes verfinsterte sich.

Die Tochter der beiden hatte die Arme auf dem Tisch verschränkt und ihren Kopf darauf abgestützt. Ich stellte das fertige Bier zusammen mit einem Cappuccino für den Nachbartisch auf das Tablett. Beim Ausliefern der Getränke drangen Gesprächsfetzen an mein Ohr.

»Es war so klar, dass du mir wieder Vorwürfe machst«, brummte der Mann.

»Das musst du gerade sagen«, blaffte seine Frau zurück.

Beide verstummten, als ich an den Tisch kam.

»Ein Pils für Sie. Haben Sie schon gewählt?« Ich blickte in die Runde. Die Frau nickte und bestellte Tagliatelle all’arrabbiata, der Mann Lasagne.

Dann wandte er sich an seine Tochter. »Was willst du essen, Hexe?« Seine Stimme klang so sanft, dass ich am liebsten geseufzt hätte.

»Spaghetti Bolognese.« Sie grinste mich an. Mir fiel auf, dass ihr Lächeln dem ihres Vaters glich. Aber ihre Augen waren grün, so wie die ihrer Mutter.

»Prego. Mit Parmesan oder ohne?«

»Mit ganz viel!« Die Kleine hob ihre Hände vor sich in die Luft, als wollte sie einen Berg darstellen.

»Du weißt, was gut ist.« Ich zwinkerte ihr zu, und sie grinste breit.

Während des Essens diskutierte das Paar hitzig weiter, aber mehr als vereinzelte Wörter schnappte ich nicht auf. Beim Tischabräumen sah ich die traurigen Augen des Mädchens, das jetzt geradezu verloren neben ihren streitenden Eltern saß. Es war nichts mehr übrig von dem frechen Gesichtsausdruck zuvor. Mein Herz wurde schwer. Dann kam mir eine Idee. Für einen Sekundenbruchteil überlegte ich, ob mein Vorhaben übergriffig war oder nicht. Doch der Beschützerinstinkt siegte.

Ich ging auf den Tisch zu, an dem die Familie saß, und beugte mich zu der Kleinen hinunter. »Hey, soll ich dir mal unsere Spielecke zeigen? Die ist gleich da vorne.«

Ich deutete mit dem Kopf zu der Holzküche mit dem Spielzeug, die ein paar Meter entfernt an der freien Wand eingerichtet war.

Die Augen der Kleinen strahlten. »O jaaa!« Sie sah ihre Eltern erwartungsvoll an.

Ich fing schnell den Blick ihres Vaters auf, um mich zu versichern, dass es in Ordnung war, wenn sie mit mir kam. Für einen Moment verlor ich mich in seinen faszinierenden Augen. Nicht wegen der Farbe, die mich zugegebenermaßen immer noch sprachlos machte. Es war die stumme Dankbarkeit, die darin lag. Meine Botschaft, die Kleine vor dem Streit zu schützen und ihnen gleichzeitig die Gelegenheit zu geben, das in Ruhe zu klären, war Gott sei Dank richtig angekommen.

»Bis gleich, Stella«, sagte er zu seiner Tochter und küsste sie liebevoll auf den Kopf, bevor sie vom Stuhl rutschte, um mir zu folgen. Mein Herz zog sich zusammen, als ich sah, wie verbittert die Mutter die Szene beobachtete. Sie würdigte mich keines Blickes. Dafür sah der Vater mich noch einmal an und formte ein »Danke« mit seinen Lippen.

Ich lächelte und schüttelte leicht den Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich es gern tat.

Stella war mittlerweile an der Spielecke angekommen und hantierte leise redend mit der Plastikkaffeekanne und einer Tasse. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass die anderen Gäste gut versorgt waren, ging ich auf das Mädchen zu.

Sie legte den Kopf schief. »Wie heißt du?«

»Ich bin Sofia. Und du heißt Stella?«

Sie nickte.

»Das ist ein toller Name. Stella bedeutet Stern auf Italienisch, wusstest du das?«

Die Kleine schüttelte den Kopf und sah mich an, als hätte ich einen Zauberspruch gesprochen. »Kannst du Italienisch?«

»Ja, ich komme aus Italien.«

»Meine Nonna und mein Nonno auch. Willst du einen Kaffee?« Sie hielt mir die leere quietschgelbe Tasse entgegen, deren Henkel gerade groß genug war, dass meine Fingerspitze durchpasste.

»Auf jeden Fall.« Ich tat so, als würde ich daraus trinken. »Der ist wirklich gut.«