Wie der Winter klingt - Melanie Buchelt - E-Book

Wie der Winter klingt E-Book

Melanie Buchelt

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Beschreibung

»Du bist ein Stück normales Leben für mich.« Der plötzliche Verlust ihrer Mutter reißt Jane den Boden unter den Füßen weg – bis sie auf den talentierten Straßenmusiker Adam trifft. Der charmante Optimist vertreibt mit seiner Musik die erdrückende Stille in ihrem Herzen und gibt ihr neuen Mut. Doch heftige Vorurteile aus Janes Umfeld und Adams verdrängte Vergangenheit bedrohen das Glück der beiden. Ein Kampf zwischen Herz und Vernunft entflammt, der die sanfte Melodie ihrer Herzen aus dem Takt bringt. Wie gut kennt Jane den Mann, den sie liebt, wirklich? Ein Roman über die Kraft der Musik, eine unerschütterliche Hoffnung und die kleinen Selbstverständlichkeiten des Lebens.

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Seitenzahl: 363

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

© Cover- und Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns Design

ISBN: 978-3-910615-64-9

Alle Rechte vorbehalten

Ungekürzte Taschenbuchausgabe.

Für alle,

die an die Kraft der Musik glauben, und nie aufhören, für ihre Träume zu kämpfen.

Inhalt

Triggerwarnung

Playlist

ERSTER SATZ JANEOUVERTÜRE

Das letzte Mal

Die Melodie

Die flüchtigeBekanntschaft

Warum?

In eineranderen Welt

Auf neuenWegen

Geheime Klänge

Serenade

Erkenntnisse

Schauspieler

Starlight

Menschenkenntnis

Ehrliche Worte

Schatten

Sieben Tage

Das Jubiläum

Im Kerzenlicht

Jeden Taggeht die Sonne auf

Begegnung

Vergangenheit

Gegensätze

Augenblicke

Anschuldigungen

ZWEITER SATZADAM

Grave doloroso

Largo

Andante affettuoso

Crescendo

Fine

DRITTER SATZJANE

Vernunft

Zwiespalt

Die Kehrseiteder Medaille

Die Kraftder Musik

Der Countdown läuft

Leben

Heimkehr

Abschied

Ein richtiges Zuhause

CODA

Ein Traumgeht in Erfüllung

Danksagung

Triggerthemen:

Triggerwarnung

Liebe Lesende,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Falls ihr denkt, ihr könntet davon betroffen sein, findet ihr am Ende des Buches eine Liste mit den Triggerthemen. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Playlist

Serenade – Franz Schubert

Theme From Schindler’s List – Itzhak Perlman

Die Vier Jahreszeiten – Winter (Allegro) – Antonio Vivaldi

Die Vier Jahreszeiten – Frühling (Allegro) – Antonio Vivaldi

Violin Concerto in E-Moll – Felix Mendelssohn Bartholdy

Caprice Nr. 24 in A-Moll – Niccolò Paganini

Sad Romance (a.k.a. Sad Violin) – Ji Pyeong Kwon

Supermarket Flowers – Ed Sheeran

Underdog – Alicia Keys

Streets Of London – Ralph McTell

Shake Away – Michael Patrick Kelly

You Light Up My Life – LeAnn Rimes

Could I Have This Dance – Anne Murray

Hurt – Christina Aguilera

Sonne – Johannes Oerding

The Voice Within – Christina Aguilera

Listen To Your Heart – Roxette

Home – Michael Bublé

Safe Hands – Michael Patrick Kelly

ERSTER SATZ

JANE

OUVERTÜRE

Das letzte Mal

Mein Körper wusste, dass der kommende Tag alles verändern würde. Ich wachte mit einem drückenden Gefühl in der Magengegend auf. Der heiße Kaffee, den ich langsamer trank als sonst, betäubte es nur für einen Moment.

Ich machte mich auf den Weg in den St. James’s Park und ignorierte weiterhin den Klotz in meinem Magen. Mum kann mich sicher ablenken. Das schafft sie immer. Beim Gedanken an sie umhüllte mich Geborgenheit wie eine Decke – mitten in der Londoner U-Bahn.

Wir waren am Park Lake verabredet und wie immer ließ Mum mich warten. Die Sonne strahlte auf die Grünflächen und den See und ich atmete die frische Luft tief ein, die den Geruch von Rosen in meine Nase steigen ließ. Die Vielfalt der sorgfältig angeordneten Blumen faszinierte Mum bei jedem Spaziergang so sehr, dass sie kaum den Blick davon abwenden konnte. Ich fand die Farbenpracht zwar auch beeindruckend, kannte mich aber nicht so gut mit Pflanzen aus wie sie, was sie regelmäßig den Kopf schütteln ließ.

Ich liebte unsere Sonntagsspaziergänge. Mums Job in einer Werbeagentur war zwar stressiger als meine Arbeit in Dads Buchladen, dennoch genossen wir die kurze Auszeit aus dem Alltag gleichermaßen.

»Hi, Jane!«, rief sie hinter mir und zauberte mir sofort ein Lächeln ins Gesicht.

Ich drehte mich um und sah Mum auf mich zueilen. Die karamellfarbene Bluse und der braune Sommerrock, den sie trug, harmonierten perfekt mit den dunkelblonden Haaren, die ihr Gesicht umrahmten.

Daneben sah mein Outfit, bestehend aus einer blauen Jeans und einem bunten Baumwoll-Top, regelrecht zusammengewürfelt aus. »Hey, Mum, wie geht’s dir?«

Wir umarmten uns zur Begrüßung und das Geborgenheitsgefühl aus der U-Bahn meldete sich wieder zurück.

»Kann mich nicht beklagen. Ich bin aber froh, jetzt hier zu sein. Die Woche war die Hölle in der Agentur. Ist bei dir auch alles okay? Wir haben uns ja seit Tagen nicht gesehen. Gut, dass dein Dad mir ab und zu von dir erzählt hat. Du könntest dich ruhig mal häufiger melden, auch unter der Woche.«

Ich nickte und ignorierte meinen Magen, der sich immer noch anfühlte, als hätte ich einen Stein verschluckt. Heute Nachmittag werde ich mich mit einem Tee aufs Sofa verziehen.

Wir schlenderten ein Stück den Weg entlang und beobachteten, wie zwei Eichhörnchen über die Wiese sprangen. Dads Geburtstag war schon in zwei Wochen und wir heckten einen Plan aus, wie wir ihn an dem Tag von der Arbeit abhalten würden, um mit ihm wegzufahren. Er brannte für seinen Laden. Manchmal sogar etwas zu sehr.

Mum verlangsamte mitten in einer Bewegung ihre Schritte.

»Mum? Was ist los?«

»Mir ist nur etwas schwindelig. Halb so wild. Bestimmt das Wetter«, antwortete sie kopfschüttelnd, aber ihre blasse Gesichtsfarbe entging mir nicht.

Ich schnaubte. »Du arbeitest zu viel.«

Sie machte eine abwertende Handbewegung und holte mich nur langsam ein. »So ein Quatsch! Mir geht’s gut.« Kaum hatte sie den Satz beendet, fasste sie sich an den Brustkorb und beugte sich nach vorne.

Meine Füße fühlten sich an, als wären sie in Blei getunkt. Wie in Zeitlupe bewegte ich mich auf sie zu.

Ihre Knie konnten das Gewicht nicht mehr tragen und sie taumelte einen Schritt nach vorne.

Ich trat an ihre Seite und schob meine Arme unter ihre Achseln, um ihr zu helfen, bevor sie zu Boden stürzte. Die Geräusche in der Umgebung schwollen in meinem Kopf zu einem unverständlichen Dröhnen an. Meine Augen brannten, und einen Moment später liefen Tränen über meine Wangen, die vor Hitze glühten. Ich sah durch den Tränenschleier, wie jemand ein Handy aus der Tasche holte.

Ein Passant hatte sich neben mich gekniet und leistete Erste Hilfe. Ich fuhr mir über das Gesicht, um das Schwindelgefühl loszuwerden. Bin ich das, die da spricht?

»Mum, Mum … was ist los?« Ich hielt ihre schweißnasse Hand fest in meinen beiden Händen. Jeder ihrer schweren Atemzüge war wie ein Stich ins Herz für mich. »Du wirst wieder gesund, okay? Du schaffst das …« Ich muss das Dröhnen im Kopf übertönen, damit sie mich hört.

Mum blinzelte und schaute sich um. Sie atmete flach.

Ich rutschte näher zu ihr und schob alle schrecklichen Gedanken von mir, um ganz bei ihr zu sein. »Ich bin hier. Es wird alles gut.« Meine Stimme brach, und Tränen flossen mir unermüdlich die Wangen hinunter. Eine nach der anderen. Verdammt! Reiß dich zusammen!

Mum versuchte, tiefer Luft zu holen, doch schaffte es nicht.

Aus der Ferne näherte sich ein Martinshorn. Die Töne wurden lauter, und mein Körper erschauerte unter einer Gänsehaut.

Einen Moment später machte der Ersthelfer den Sanitätern Platz. Ich wurde angewiesen, sofort aus dem Weg zu gehen. Wo waren sie die ganze Zeit gewesen? Zwei Männer in neonfarbenen Jacken beugten sich über Mum. Denkt denn keiner daran, dass ich bei ihr bleiben will? Ich erkannte nicht, was sie taten. Überall roch es nach Desinfektionsmittel, und ich schluckte die Magensäure hinunter, die in meiner Speiseröhre brannte.

»Was ist mit ihr?« Meine Stimme überschlug sich, während ich meinen Kopf hob, um über die Sanitäter hinwegzublicken.

»Beruhigen Sie sich, wir kümmern uns um Ihre Mutter.« Eine junge Sanitäterin legte mir eine Decke über die Schultern.

Ich zog sie fester um mich, aber an meiner Gänsehaut änderte sich nichts.

»Sie ist wieder da!«, rief einer der Sanitäter. Er rutschte zur Seite, damit ich mit ihr sprechen konnte.

Endlich! Ich streichelte Mum über ihre dunkelblonden Haare, und die Berührung beruhigte mich für einen Augenblick.

Sie schlug die Augen halb auf und sah aus, als wollte sie etwas sagen.

Ich drückte ihre Hand an meine Wange und ignorierte das Schwindelgefühl. »Du wirst wieder gesund, Mum, hörst du? Wir kriegen das hin«, sagte ich mit aller Überzeugungskraft, die ich aufbringen konnte.

Sie holte tief Luft und sah mich mit glasigen Augen an. »Ich liebe dich. Und John«, flüsterte sie. Dann schloss sie ihre Lider.

»Wir lieben dich auch, Mum!« Ich war mir nicht sicher, ob sie meine Antwort noch gehört hatte. Ihr Kopf kippte zur Seite auf meine Hand und fühlte sich ungewohnt schwer an. Um mich herum brach noch einmal Hektik aus. Die Frau, die mir zuvor die Decke gereicht hatte, zog mich hoch und führte mich ein Stück weg, während die Sanitäter sich wieder über Mum beugten.

»Lassen Sie mich los, ich muss bei ihr bleiben.« Ich klang nur so entschlossen, wie es meine tränenerstickte Stimme zuließ.

»Warten Sie!«, erwiderte die Sanitäterin, doch ich löste mich aus ihrem Griff und stürmte auf Mum zu. Bevor ich sie erreicht hatte, drehte sich einer der Männer zu mir um und schüttelte den Kopf. Es war vorbei.

Ich war unfähig, mich zu bewegen. Das Gefühl in meinem Magen hatte sich als grausame Vorahnung erwiesen. Doch niemals hätte ich so etwas dahinter vermutet. Die Welt, wie ich sie kannte, stand still und ich mit ihr.

Wie durch Nebelschwaden sah ich einen der Sanitäter telefonieren, und eine Stimme drang dumpf an mein Ohr. »Sollen wir jemanden für Sie anrufen?«

Mein Herz zog sich zu einem harten Klumpen zusammen. Dad. Er muss es wissen. Ich gab wie in Trance seine Nummer durch und bewegte mich langsam auf Mums leblosen Körper zu. Als ich sie erblickte, wurden meine Beine schwer und ich sackte weinend über ihr zusammen.

Die letzte Umarmung. Für immer.

In den kommenden Wochen wurden Dad und ich von einer brennenden Leere erfasst. Mum war fort. Wir würden nie wieder den mitfühlenden Tonfall in ihrer Stimme hören, der uns sofort aufmunterte, wenn der Tag im Laden anstrengend gewesen war. Mir fehlten ihr ansteckendes Lachen in den höchsten Tonlagen und ihre Umarmungen, die ich auch im Erwachsenenalter noch gebraucht hatte.

Dads Geburtstag, den wir eigentlich an der Küste verbringen wollten, zog in einer Art Schockzustand an uns beiden vorbei. Auch meiner im September war ein Tag wie jeder andere. Ohne gemeinsames Frühstück und Mums Schmunzeln über den Kaffee, den ich wieder einmal zu mild gekocht hätte. Es gab für alles ein letztes Mal, das wurde mir schlagartig klar. Wir würden keine Lichterketten mehr zu Weihnachten aufhängen und darüber streiten, wer schöner dekoriert hat. Keine Sonntagsspaziergänge mehr oder Kinoabende mit Filmen, die wir auswendig kannten. Wochenlang verfolgten mich die Gedanken an alles, was wir unternommen hatten, nicht wissend, dass es das letzte Mal gewesen war.

Die Melodie

Sechs Monate nach Mums Tod

Guten Morgen, Jane!« Die Stimme meiner Kollegin riss mich aus den Gedanken, als ich den Bookworm in der Stratton Street betrat. Der rustikal eingerichtete Laden meines Dads lud mit seinen gemütlichen Ohrensesseln und den Leseecken zum Verweilen ein. Diese vier Wände waren für meinen Vater und mich wie ein zweites Zuhause. Eine Konstante in unserem Leben, die uns zusammenschweißte. Ich schloss die Ladentür, stellte meinen roten Regenschirm in den Ständer und lächelte Lissy an, obwohl mir nicht danach zumute war. Bruchstücke des Albtraums von heute Nacht schwirrten in meinem Kopf herum. Neongelbe Jacken und Blaulicht. Die Sirene des Krankenwagens. Ich atmete tief durch, um das Dröhnen in den Ohren loszuwerden, aber auch der vertraute Geruch der Bücher und die Wohlfühlatmosphäre hier drin konnten mich nicht aufheitern.

»Morgen, Lissy. Du bist ja widerlich gut gelaunt.« Wie immer, fügte ich gedanklich hinzu, während ich an den dunklen Holzregalen vorbei auf sie zu ging.

Sie grinste. Lissy war ein Mensch, der sich mit dem Leben zufriedengab, wie es war. Das Gegenteil von mir. Sie strahlte vor Lebensfreude, egal ob sie – mal wieder – den perfekten Mann gefunden, eine Fehleroberung abgehakt hatte oder verlassen wurde. Außerdem war sie die gute Seele unseres Ladens und hatte für Dad und mich immer ein offenes Ohr. In den letzten Monaten hatte sie mir geholfen, mit meiner Trauer zurechtzukommen, und brachte mich auch jetzt noch oft auf andere Gedanken. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nie aufgefallen, dass sie eine echte Freundin war.

Der Verlust meiner Mum schmerzte nach wie vor. Beinahe täglich hatte ich Erinnerungen an ihren letzten Tag vor Augen und kämpfte dagegen an. Ich gab mir zwar Mühe, die kompetente Buchhändlerin zu spielen, doch an manchen Tagen fiel es mir schwer. Der Regenschauer von heute Nacht ebbte nur langsam ab und ich hätte mich am liebsten verkrochen. Ich hasse den Winter!Und die ständigen Albträume.

»Ja, mir geht’s super«, antwortete Lissy achselzuckend, »was man von dir nicht gerade behaupten kann. Du siehst nicht gut aus.« Sie rückte ihre eckige Brille zurecht und warf einen Blick auf meinen unordentlich gebundenen Pferdeschwanz. Mir entgingen die Sorgenfalten zwischen ihren dunklen Augenbrauen nicht. »Was ist los? Ist was passiert?«

»Nein, was soll sein? Viel zu verlieren habe ich ja nicht mehr.« Erschrocken über meine Worte wandte ich mich von ihr ab.

»Jane, es tut mir leid. Ich hätte nicht fragen sollen.« Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter und seufzte.

Ich suchte nach den richtigen Worten. »Keine Ahnung … Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Sie fehlt mir immer noch so sehr. Ständig fühle ich mich, als … na ja, als ob das Leben es auf mich abgesehen hätte und mit Absicht alles von mir fernhält, was mich aufheitern könnte. Ich weiß, das klingt, als wäre ich echt deprimiert, aber … ach, schon gut! Vergiss es!« Ich winkte ab, drehte mich weg und fing an, Bücher in das Krimi-Regal einzusortieren.

»Weißt du, was ich denke?«, fragte Lissy mit diesem überdrehten Tonfall in der Stimme, den ich nur zu gut kannte. Sie hatte eine ihrer »Ideen«. O Gott, was kommt jetzt?

Ich wandte mich ihr zu und ließ die Bücher liegen. Lissy hatte es nicht verdient, dass ich meine schlechte Laune an ihr ausließ.

Sie hob den Zeigefinger und stupste damit gegen meine Schulter. »Ich glaube, du brauchst Urlaub! Geh nach Hause, mach dir einen schönen Tag und nimm am besten morgen auch noch frei, dann hast du ein langes Wochenende«, schlug sie vor und strich sich eine ihrer schwarzen Korkenzieherlocken aus der Stirn.

Ich hielt einen Moment inne und dachte darüber nach. Seit einem halben Jahr hatte ich keinen Urlaub mehr gehabt. Und die paar Tage damals hatte ich zur Organisation der … Beerdigung gebraucht. Und um Dad aufzufangen, der nach Mums Tod völlig unter Schock gestanden hatte.

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter.

»Lissy, das geht nicht, ich kann dich hier nicht im Stich lassen. Außerdem lenkt mich die Arbeit vom Grübeln ab.« Das war nicht alles. Ich hatte Angst davor, tagelang allein zu sein.

»Ach Quatsch! Glaubst du, der Laden steht direkt kopf ohne dich? Es ist Ende Januar, da ist nie viel los. Der Ansturm nach Weihnachten ist vorbei. Nimm zwei Tage frei und du wirst sehen, dass du kaum Zeit zum Nachdenken haben wirst! Es wird dir guttun. Und wenn’s nur zum Rumgammeln vorm Fernseher ist.«

Ich seufzte. »Was ist mit Dad? Er wird nicht begeistert sein, wenn ich einfach blaumache, ohne Bescheid zu sagen. Und ich möchte ihn nicht beunruhigen.«

»Lass John mal meine Sorge sein. Er ist doch sowieso erst nächste Woche wieder da. Und wie viele Überstunden du hast, brauche ich dir ja nicht zu sagen. Ich werde das Kind schon schaukeln.«

Bevor ich weiter protestieren konnte, schob sie mich zur Tür hinaus und drückte mir meine Sachen in die Hand. Das sah ihr ähnlich. Schnell schlüpfte ich in meinen schwarzen Mantel und zog ihn zu.

Die Londoner Hektik, die vor dem Buchladen neben der U-Bahn-Station herrschte, erschlug mich jedes Mal aufs Neue. Ich ging aus dem Eingangsbereich des Bookworm heraus und nutzte eine Lücke, um mich in die vorbeilaufende Menschenmasse einzuordnen. Eine Frau schob sich an mir vorbei und trat dabei auf meinen Fuß. Ich zog ihn leise fluchend weg und beschleunigte meine Schritte. Der Geruch von Kaffee stieg mir in die Nase und erinnerte mich daran, dass ich heute Morgen keinen getrunken hatte. Auf zum nächsten Coffeeshop. Ich hastete an den Schaufenstern vorbei, ohne hineinzusehen.

Plötzlich erregte doch etwas meine Aufmerksamkeit.

Musik.

Es war eins der wenigen klassischen Stücke, die mir aus Mums großer Sammlung im Gedächtnis geblieben waren. Gänsehaut kroch mir die Arme entlang. Ich erstarrte mitten in der Menge und wurde prompt von jemandem angerempelt. Schnell trat ich aus der Masse heraus und sah mich um.

Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann mit einer Geige. Er wirkte ein wenig älter als ich, hatte einen Dreitagebart, und sein zimtbraunes, leicht gelocktes Haar wurde vom Wind durcheinandergewirbelt. Obwohl fast keiner der Passanten auf ihn achtete, spielte er mit einem Lächeln auf den Lippen. Seine Augen waren geschlossen, und sein Oberkörper, der in einen dunkelbraunen Mantel gehüllt war, bewegte sich im Takt. Vielleicht dachte er gerade daran, wie es wäre, vor einem großen Publikum zu spielen, und vor allem nicht in der Kälte. Durch die Art, wie er mit sich und seiner Musik im Einklang war, besaß die Szene eine Ruhe und Ausstrahlung, die mich gefangen nahm.

Straßenmusiker sah ich hier oft, aber die anderen schafften es nicht, gegen den Stadtlärm anzukommen. Ich suchte mir eine Bank am Rande des angrenzenden Green Parks, wischte sie mit dem Ärmel meines Mantels trocken und setzte mich. Von hier aus konnte ich den Musiker sehen und hören. Perfekt.

Ab und an blieben Passanten stehen und warfen Münzen in seinen schwarzen Geigenkoffer. Er lächelte die vorbeilaufenden Menschen an. Die meisten bemerkten es nicht, sehr wenige gaben das Lächeln zurück. Und ich saß auf der Bank, hörte ihm zu und ließ mich von seiner Lebensfreude anstecken.

Nach dem Stück legte er seine Geige zur Seite und ich seufzte, weil ich gern mehr aus seinem Repertoire gehört hätte. Schade, dass er schon geht.

Doch er packte nicht zusammen, sondern trank einen Schluck Wasser und ergriff die Geige wieder. Glück gehabt. Als er sich spielbereit machte, sah er kurz in meine Richtung.

Ich wandte den Blick von ihm ab. Mein Gesicht fühlte sich heiß an. Wahrscheinlich, weil es so aussah wie die signalrote Werbetafel gegenüber des Parks. Wie peinlich. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich stand auf, um zu gehen. In diesem Moment erklang die Geige, und ich erstarrte in der Bewegung. Es waren schmerzhaft vertraute Klänge: die Titelmelodie des Films Schindlers Liste. Mums Lieblingsstück. Es fuhr mir wie ein Blitz durch Mark und Bein. In meinem Kopf flammte sofort das letzte Bild von ihr auf. Ihr lebloser Körper auf dem Boden. Schon wieder. Meine Beine waren zu weich, um mich fortzutragen, also fiel ich zurück auf die Bank. Die Winterluft schmerzte in meiner Kehle und ich war unfähig, mich zu bewegen.

Die Töne der Geige waren klar und es klang, als würde sie um die Menschen weinen, von denen der Film erzählte. Ich hatte die traurige Melodie noch nie so perfekt gehört. Mum wäre sicher auch hier sitzengeblieben. Der Gedanke an ihre Begeisterung für klassische Musik hüllte mich ein und verbannte die grausamen Bilder aus meinem Kopf, um schönen Erinnerungen Platz zu machen. Wow. Zum ersten Mal seit Monaten dachte ich an sie, ohne direkt in Tränen auszubrechen. Ich war so gefangen genommen von dem Film in meinem Kopf, der durch die Musik ausgelöst worden war, dass die Kälte und der Wind mir nichts mehr ausmachten.

Dieses Musikstück schien zuerst das Gegenteil von dem zu sein, was ich heute brauchte. Aber ich betrachtete es als Zeichen. Eine Botschaft von Mum, nicht aufzugeben.

In meinen Gedanken versunken hatte ich nicht mitbekommen, dass die Musik mittlerweile verstummt war. Wie lange habe ich hier gesessen? Der Platz, an dem der Mann mit der Violine gestanden hatte, war leer. Wieso habe ich das nicht bemerkt?

Die flüchtige

Bekanntschaft

Sie haben wirklich viel Ausdauer. So lang hat noch nie jemand dagesessen und mir zugehört, und das bei den Temperaturen«, sagte eine Stimme links neben mir.

Ich zuckte zusammen und fuhr mit dem Kopf herum, als ich aus dem Augenwinkel den Musiker erblickte.

Er saß auf der Nachbarbank und hatte die Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet. Was soll ich sagen? Mir fiel nichts Passendes ein, aber wie auf Knopfdruck schoss die Wärme in meine Wangen. Darauf war wie immer Verlass. Trotzdem brachte ich ein kurzes Lächeln zustande, als er aufstand und sich auf meine Bank setzte.

Der Unbekannte nickte langsam. »Okay, ich verstehe, Sie hatten einen schlechten Tag.«

Ich schaute ihn an und mir fiel sofort das intensive Grün seiner Augen auf. Es war ein Salbeiton, der am Rand der Iris in ein dunkles Smaragdgrün überging. Beeindruckend. Eine solche Augenfarbe hatte ich noch nie zuvor gesehen. Schnell wandte ich den Blick von ihm ab. Zu spät. Ich habe ihn schon angestarrt. »Nein, schlecht war er nicht. Nur etwas seltsam. Ist eine längere Geschichte.«

»In Ordnung, Sie wollen nicht darüber reden. Und schon gar nicht mit einem dahergelaufenen, zweitklassigen Straßenmusiker.« Er betonte die letzten Worte und warf mir einen Seitenblick zu.

Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Erstklassig trifft es eher. Die Titelmelodie von Schindlers Liste haben Sie sensationell gespielt. Das ging richtig unter die Haut.«

Er strahlte über das ganze Gesicht. »Vielen Dank. Es ist eines meiner Lieblingsstücke, auch wenn es sehr melancholisch ist.«

»Das stimmt«, sagte ich und seufzte leise.

Der Musiker drehte seinen Oberkörper in meine Richtung. »Klingt, als würde die Melodie Sie an ein trauriges Ereignis erinnern. Abgesehen von dem Film, meine ich.«

Selbst für einen Menschen, mit dem ich nur fünf Minuten gesprochen habe, bin ich ein offenes Buch? Das war zu viel. Ich blinzelte die aufkommenden Tränen weg und hängte mir meine Handtasche über die Schulter.

In einer schnellen Bewegung rutschte der Unbekannte an mich heran. Die plötzliche Annäherung brachte mich aus dem Konzept und ich blieb sitzen.

»Bitte gehen Sie nicht, es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht verletzen.« Der Ton in seiner Stimme war samtweich. Er reichte mir ein Taschentuch und ich drehte mich zu ihm um.

»Sie können nichts dafür. Es war das Lieblingsstück meiner Mutter.« Ich zögerte, aber irgendetwas in mir wollte ihm davon erzählen. »Sie ist vor einem halben Jahr unerwartet gestorben.« Ich musste schlucken, doch meine Kehle blieb rau.

Der Musiker biss sich auf die Unterlippe und starrte auf den Boden. »Das tut mir leid.«

»Danke.« Ich fand meine feste Stimme langsam wieder. »Wir hatten ein sehr vertrautes Verhältnis. Ich habe nicht viele Freunde, wissen Sie? Außer meiner flippigen Arbeitskollegin gibt es nur ein paar flüchtige Bekannte in meinem Leben.« Ich wunderte mich darüber, dass ein Schmunzeln über seine Lippen huschte. »Was ist so lustig?«

»Na ja, ich habe mich gefragt, ob ich jetzt auch zu diesen ›flüchtigen Bekannten‹ gehöre.«

»Lassen Sie mich nachdenken.« Froh darüber, dass die Unterhaltung eine andere Richtung einschlug, musterte ich ihn von der Seite. »Um in diesen exklusiven Kreis aufgenommen zu werden, muss ich zumindest Ihren Namen kennen.« Mein Blick traf den des Musikers und ich sah kleine Fältchen um seine Augen, als er lächelte.

»Ich heiße Adam. Wie mein Vater. Was meine Eltern zu dieser kreativen Höchstleistung getrieben hat, weiß ich bis heute nicht«, erwiderte er und ich lachte. »Adam Delaney.«

Wir reichten uns die Hand. Die Kälte hielt mich bis eben fest im Griff, wich jedoch für einen Augenblick der unerwarteten Wärme, die seine Finger auf meine Haut übertrugen.

Ich atmete flach und versuchte so, mein Herz zu beruhigen. Es hämmerte, als wäre ich eine Runde durch den Park gejoggt. »Ich bin Jane Evans.«

»Freut mich sehr.«

Wir hielten kurz inne. Dann lösten sich unsere Hände voneinander, langsamer, als ich es bisher bei neuen Bekanntschaften gewohnt war. O Mann.

Verlegen klemmte ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatte.

Adam zog den Reißverschluss seines Mantels weiter zu und verschränkte die Arme vor dem Körper.

Als wäre ich aus einer Art dornröschenartiger Hypnose erwacht, fragte ich mich plötzlich, wie spät es war und erschrak beim Blick auf meine Armbanduhr. »Ich sollte jetzt gehen.« Die Worte stammten zwar von mir, aber am liebsten wäre ich noch stundenlang neben ihm sitzen geblieben. Egal, wie kalt es war. Aber meine Eisfüße waren anderer Meinung.

»Das klingt ja wahnsinnig überzeugt«, erwiderte er und lachte.

Ein offenes Buch, eindeutig!

»Ich danke dir für den schönen Tag …« WAS? »… für die nette Unterhaltung, natürlich«, stammelte ich. Peinlicher geht’s nicht. Meinem Gefühl nach nahm mein Gesicht wieder die leuchtende Farbe der Signal-Werbetafel an.

»Gern geschehen.« Er fuhr sich durch sein lockiges Haar. »Es kommt leider selten vor, dass mir jemand so lange zuhört. Oder mit mir spricht. Ich bin es gewohnt, seit Jahren die Hintergrundmusik zu sein. Hast du gesehen, wie beschäftigt die Leute plötzlich sind, wenn sie an mir vorbeilaufen? Sofort telefonieren sie oder kramen in ihren Taschen. Als wäre ich unsichtbar.« Adam konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. »In der Weihnachtszeit hören sie mir gerne zu, da sind die Menschen empfänglicher für Musik und kennen die Lieder besser. Den Rest des Jahres ist es der Welt egal, ob ich da bin oder nicht.«

Ich bekam ein schlechtes Gewissen, und seine traurige Erzählung ließ eine Gänsehaut meinen Nacken hochwandern. Wie oft laufe ich an Straßenmusikern vorbei, ohne sie zu beachten? Ich hatte niemals darüber nachgedacht, welche Lebensgeschichte sie haben könnten. Bis heute.Obwohl mein Herz mit seinen hämmernden Schlägen dagegen rebellierte, stand ich auf, um zu gehen. »Und bei mir kommt es nicht häufig vor, dass ich von …«, ich versuchte, Adams Stimme zu imitieren, »einem ›zweitklassigen Straßenmusiker‹ angesprochen werde.«

Wir beide grinsten, und er erhob sich ebenfalls von der Bank.

»Auf Wiedersehen, Jane.« Er sah mir einen Moment lang tief in die Augen. Ich konzentrierte mich darauf, diesmal nicht darin zu versinken. Durchatmen und antworten nicht vergessen!

»Auf Wiedersehen, Adam. Und es ist der Welt garantiert nicht egal, ob du da bist oder nicht. Selbst wenn dir den ganzen Tag nur ein Mensch zuhört, hast du diese eine Person mit deiner Musik glücklich gemacht.« Ich drehte mich um, ging ein paar Schritte, wandte mich ihm noch einmal zu und winkte.

Er erwiderte die Geste kurz, widmete sich seinem Geigenkoffer und hob ihn auf. Während er sich von mir abwandte, blieb seine Miene emotionslos, dann entfernte er sich von der Parkbank. Ich schaute ihm eine Weile nach, hoffte darauf, dass er sich noch einmal umdreht. Mein Wunsch ging jedoch nicht in Erfüllung. Nur Augenblicke später verschwand Adam zwischen den Menschen im Park. Habe ich was Falsches gesagt? Meine vorherigen Worte schwirrten mir durch den Kopf. Die letzte Bemerkung war wirklich unsensibel gewesen. Sicher wollte er mehr als eine einzige Person mit seiner Musik erreichen. Aber warum gibt er sich mit einem solchen Publikum zufrieden, das ihn so gut wie nicht beachtet?

Adams versteinerter Blick passte nicht zu dem Bild, das ich bisher von ihm gehabt hatte, und brachte mich ins Grübeln.

Warum?

Zu Hause ließ ich mich auf die Couch fallen und dachte über Adam nach. Was Lissy wohl dazu sagen würde? In meinem Kopf hörte ich sie schimpfen: »Jane, wie konntest du nur? Ein Wildfremder … Er hätte ein Vergewaltiger sein können, ein Dieb … oder ein Serienmörder!«

Ich kicherte in mich hinein. Sie liest eindeutig zu viele Thriller. Egal, was sie davon halten würde, die kurze Weile der Unbeschwertheit heute hatte mir gutgetan.

Mir kam eine Idee und ich zog mein Handy aus der Tasche. Ich suchte in der Musik-App eine Playlist mit den bekanntesten klassischen Stücken. Nachdem ich sie durchgehört hatte und feststellte, dass ich fast alle zumindest von der Melodie her kannte, packte mich die Motivation. Ich stellte den Shuffle-Modus an und versuchte, die Titel zu erraten.

Nach zwei Stunden hatte ich meine Trefferquote von weniger als der Hälfte auf dreiviertel richtige Titel gesteigert. Ausbaufähig, aber für den Anfang nicht schlecht. Voller Vorfreude auf den nächsten Tag ging ich ins Bett und hing meinen Gedanken weiter nach.

Morgens erschrak ich beim Blick auf den Wecker. Halb zehn war es. Wann hatte ich das letzte Mal so lang geschlafen? Vor Monaten?

Als ich eine halbe Stunde später in die U-Bahn stieg, etwas dicker angezogen als am Tag zuvor, klopfte mein Herz wie wild angesichts der Mission, die ich mir in den Kopf gesetzt hatte. Dennoch schraubte ich meine Erwartungen herunter. Theoretisch. Praktisch malte sich mein lebhaftes Kopfkino bereits meinen Erfolg aus.

Ich bog in die Stratton Street ein und kam am Bookworm vorbei. Durchs Schaufenster sah ich Lissy an der Kasse stehen.

Sie lächelte und winkte mir zu.

Ich beschloss, sie kurz zu besuchen. Die Türklingel kündigte mich an, und sie kam hinter der Theke hervor.

»Hi! Na, wie läuft’s? Müssen wir Konkurs anmelden?«, fragte ich.

Sie lachte und kam ein paar Schritte auf mich zu. »Hallo, meine Liebe! Nein, es ist alles in Ordnung. Was hast du heute vor?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich werde ein bisschen shoppen gehen. Das habe ich lange nicht mehr gemacht.« Warum fällt mir nichts Glaubwürdigeres ein? Ich hasse shoppen!

»Oh … wie schön«, sagte Lissy und zog die Augenbrauen hoch. Sie kannte mich besser, als ich dachte. »Wenn du willst, können wir uns in der Pause auf einen Kaffee treffen.«

Innerlich fluchte ich, dass mir keine Ausrede einfiel. »Klar, warum nicht. Um zwei im Lounge-Café?«

»Okay, bis später.«

Ich zog die Tür hinter mir zu und ging die Straße hinunter zum Green Park, begleitet von einem Kribbeln im Bauch. Nirgendwo war Musik zu hören. Ich blickte auf die andere Straßenseite, dorthin, wo Adam gestern gestanden hatte. Nichts. Sofort fühlte ich mich entmutigt und das Kribbeln verschwand, bis mir ein neuer Gedanke wieder Hoffnung schenkte. Vielleicht kommt er noch, dachte ich und schlenderte den Weg entlang zur Parkbank. Ich setzte mich und zählte die Bäume neben den Wegen, um die Zeit totzuschlagen. Zwei Eichen, eine Pappel, ein … ach, keine Ahnung! Was tue ich hier eigentlich? Mitten in der Stadt auf einen Mann zu warten, den ich kaum kenne, sah mir nicht ähnlich. Ganz abgesehen davon, dass Adam Straßenmusiker war. Schon seit gestern dachte ich darüber nach, was er wohl für ein Leben führte, und je länger ich das tat, desto wilder wurden meine Theorien. Ist er ein Student, der sich etwas dazuverdienen will? Ist er von einem Orchester abgelehnt worden und das ist seine Art, diesen Rückschlag zu verarbeiten? Oder verbringt Adam jeden Tag in einer anderen Stadt wie ein Landstreicher? Vielleicht hat er gar kein Dach über dem Kopf und ist hinter meinem Geld her? Ich schob die Gedanken schnell beiseite. So ein Quatsch!

»Das glaube ich jetzt nicht!«, rief eine Stimme hinter mir und beendete meine Grübeleien.

Ich drehte mich um und strich mir schnell eine Haarsträhne hinters Ohr. Ruhig bleiben, Jane!

Adam stieg von seinem Fahrrad ab, klappte den Ständer herunter und stellte es neben die Parkbank.

Ich blickte in seine grünen Augen, die mich gestern schon fasziniert hatten, und brachte nur ein gepresstes »Hallo« hervor. Die Wärme stieg mir ins Gesicht und ich schaute auf meine Hände. Bleib locker, er merkt es schon nicht. Jeder hat bei der Kälte rote Wangen, redete ich mir ein.

Adam setzte sich neben mich auf die Bank, nahm seine Wollmütze ab und strich sich über seinen Wuschelkopf, wobei ihm einzelne lockige Strähnen zurück in die Stirn fielen. »Was machst du denn hier?«

»Keine Ahnung«, sagte ich mit einem ironischen Unterton in der Stimme. »Ich war shoppen und brauchte eine Pause. Da bin ich zufällig hier vorbeigekommen.«

»So zufällig wie ich?«, fragte er und legte sich den Zeigefinger ans Kinn. »Du hast ja ordentlich zugeschlagen, wenn alles, was du gekauft hast, in deine Handtasche passt. Eine richtige Eskalation!« Wir schauten uns an und prusteten.

»Okay, ich geb’s ja zu, ich wollte dich wiedersehen!«, platzte es aus mir heraus. Warum muss ich jeden Mann gleich in die Flucht schlagen?

»Das freut mich«, sagte er grinsend. »Weißt du, ehrlich gesagt habe ich auch darauf spekuliert, dich wieder zu treffen. Mit aufmerksamem Publikum macht das Spielen viel mehr Spaß.«

Mir schossen erneut die Gedanken durch den Kopf, die Adams Ankunft unterbrochen hatte. Ich konnte es mir nicht erklären, warum er bei seinem Talent nicht als Berufsmusiker arbeitete. Das würde er locker schaffen. Ich kam nicht dazu, ihn danach zu fragen, weil er gerade seine Geige auspackte und ich ihn nicht unterbrechen wollte.

Die Wintersonne spiegelte sich im glänzenden Holz des Instruments, das edel und gepflegt aussah. Als Adam die Geige hochhob, sah ich ein Namensschild am Koffer und drehte es zu mir um.

Adam Delaney Senior, Brighton

Die Worte waren in einer verschnörkelten Schrift mit Tinte geschrieben und das Papier in der Lederhalterung war vergilbt.

Adam sah mich mit einem ernsten Gesichtsausdruck an.

»Entschuldigung, ich wollte nicht …«, sagte ich schnell und bekam ein schlechtes Gewissen. Was habe ich mir denn davon versprochen? Seine Adresse herauszufinden? Ich räusperte mich und ließ meine Hände schnell in den Manteltaschen verschwinden. Verdammte Neugier.

Er winkte ab und lächelte schief. »Kein Problem. Der Koffer hat meinem Vater gehört, bevor er ihn mir geschenkt hat. Das Thema passt aber nicht zu einem schönen Tag wie heute.«

Um ihn nicht zu verletzen, beließ ich es dabei. Dennoch saß mir die Verlegenheit noch tief in den Knochen.

Adam strich mit dem Bogen über die Saiten, während er an den kleinen Schrauben drehte, um sie zu stimmen. Gebannt sah ich ihm dabei zu. Dann begann er zu spielen, und sofort nach dem ersten Ton breitete sich dieser verträumte Ausdruck auf seinem Gesicht aus, der zeigte, dass er vollkommen in seine Musik versunken war. Das langsame Stück, das ich nicht kannte, zog mich in seinen Bann und ließ mich für einen Moment lang alles vergessen.

Ein älteres Pärchen mit weißem Haar und gebeugter Körperhaltung blieb vor uns stehen. Sie hörten der Musik zu und tauschten einen langen Blick aus. Ich hätte gerne gewusst, was das Stück für die beiden bedeutete und welche Erinnerungen es geweckt hatte. Adam öffnete die Augen und lächelte das Paar an. Der Mann tätschelte die Hand seiner Frau und warf Geld in den Geigenkoffer. Ich seufzte. Er verdient wirklich mehr Publikum, das seine Musik wertschätzt.

In einer

anderen Welt

Zwei Stunden später saß ich immer noch auf der alten Parkbank und hörte Adam zu, der ein Stück nach dem anderen spielte. Manche mehr, manche weniger bekannt, aber alle wunderschön. Ich war mittlerweile fest davon überzeugt, dass es für sein Leben als Straßenmusiker einen unausweichlichen Grund gab, den ich vielleicht eines Tages erfahren würde – wenn wir uns besser kannten. Falls er das überhaupt möchte, schoss es mir durch den Kopf, aber ich wollte nicht wieder in Grübeleien verfallen. Adams Bekanntschaft hatte bereits jetzt etwas Tröstliches an sich und tat mir gut.

Das nächste Stück kannte ich ausnahmsweise beim Namen. Es war ein Teil des Frühlings aus den Vier Jahreszeiten von Vivaldi, daran konnte ich mich aus dem Musikunterricht erinnern. Ich schmunzelte beim Gedanken an meinen damaligen Musiklehrer, der bei jedem Stück mit seinen Fingern den Takt auf dem Schreibtisch mitgetippt hatte. Eine Vorliebe für klassische Musik hatte er zwar nicht in mir geweckt, aber einige Werke wusste ich zu schätzen.

Bei der lebhaften Melodie des Frühlings hatte Adam die Augen nicht geschlossen. Sein Blick streifte umher und plötzlich sah er mich an.

Ich war für einen Moment so in das Salbeigrün seiner Augen versunken, dass ich alles um mich herum vergaß.

Er zwinkerte mir zu und widmete sich wieder den Zuschauern, die von dem bekannten Stück angelockt worden waren. Danach applaudierte das Publikum, und Adam deutete eine kleine Verbeugung an. Ein Anflug von Stolz keimte in mir auf, weil er es geschafft hatte, die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu ziehen. Als die Zuhörer weitergegangen waren, kam er auf mich zu.

»Das war ja ein Spitzenauftritt«, sagte ich.

Er lächelte kurz, setzte sich neben mich und streckte seine Beine aus.

»Brauchst du eine Pause?«

»Ja, das kann nie schaden. Außerdem werden meine Finger langsam kalt.« Adam legte seine Violine zur Seite und rieb seine geröteten Hände aneinander.

»Das kann ich mir vorstellen. Ich bin froh, wenn der Frühling kommt und es wärmer wird«, erwiderte ich.

Er musste lachen. »Wenn du mich fragst, ist der Frühling völlig überbewertet.« Er malte Anführungszeichen in die Luft. »Den armen Winter von Vivaldi kennt kaum jemand.«

Erwischt! Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie die Melodie des Winters klang.

»Aber ich muss zugeben«, sagte Adam und beugte sich nach vorne, als würde er ein Geheimnis verraten, »dass ich den Frühling auch gern mag. Zumindest ist er leichter zu spielen. Der Winter ist aufregender, aber wurde hauptsächlich geschrieben, um uns Geiger zu ärgern.«

»Pass auf, dass dich Vivaldi da oben nicht hört, du Kunstbanause!«

Er lachte und fuhr sich durch sein Haar. Danach stand es genauso von seinem Kopf ab wie vorher. »Ich habe das Gefühl, du verstehst die Musik«, bemerkte Adam in einem ernsthafteren Ton, bevor er nach der Wasserflasche auf dem Gepäckträger seines Fahrrads griff.

Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Wie kommst du denn darauf?«

Er lehnte sich zurück, legte seinen Kopf schief und schaute mich an wie ein Lehrer, der versucht, eine neue Schülerin einzuschätzen. »Ich weiß nicht, du kennst einige Stücke, die ich spiele, immerhin beim Namen. Das ist mehr, als die meisten vorbeilaufenden Zuhörer von sich behaupten können. Aber vor allem hast du diesen bestimmten Ausdruck im Gesicht, wenn du zuhörst. Als würde jedes Stück eine passende Erinnerung oder ein Erlebnis in dir wachrütteln.«

Ich verdrehte die Augen. Wieder erwischt! »Du hast mich beobachtet«, stellte ich fest und musste über mich selbst lachen. »Ich gebe zu, beim Frühling habe ich an meinen alten Musiklehrer gedacht. Und es ist zu viel gesagt, dass ich einige Stücke kenne. Es waren bisher nur zwei oder drei.«

Adam zuckte die Achseln.

»Aber du hast recht«, gab ich zu. »Ich liebe Musik. Schade, dass ich nicht in diese Welt eintauchen kann, die nur jemand kennt, der ein Instrument spielt.«

»Interessant. So habe ich das noch nie gesehen. Für mich ist es selbstverständlich, Geige zu spielen. Wie atmen. Ich hätte nicht geglaubt, dass jemand Musizieren für eine besondere Welt hält.« Er fasste sich ans Kinn. Bevor er weitersprechen konnte, vibrierte mein Handy.

Jane, denkst du noch an mich?, lautete die Nachricht.

Zwei Uhr. Lissy und das Lounge-Café! Ich hatte es komplett vergessen.

»Mist!« Ich tippte schnell eine Antwort.

»Was ist los, Jane? Ist alles in Ordnung?«

Während ich aufstand, hängte ich mir hektisch meine Handtasche über die Schulter. »Es ist nichts, ich bin jetzt mit meiner Arbeitskollegin verabredet.«

Adam stand auf und machte einen Schritt auf mich zu.

Ich hob meinen Kopf, um ihn anzusehen.

»Dann solltest du dich wohl beeilen«, sagte er leise.

Abgelenkt von seiner Hand, die sich hoch zu meiner Schulter bewegte, antwortete ich nicht, sondern stand wie angewurzelt da und atmete flach, bis seine Hand angekommen war.

Lächelnd richtete er den verdrehten Tragegurt der Handtasche.

Die Berührung spürte ich durch den dicken Mantel kaum, dennoch erwachte ein Schmetterling in meinem Inneren. Mein Blick blieb an Adams Gesicht haften. Ich holte Luft und suchte nach Worten, doch er kam mir zuvor.

»Ich wünsche dir noch einen schönen Tag.«

»Danke«, brachte ich heraus und lief los. Nach den ersten Metern drehte ich mich um und sah, dass Adam gerade den Bogen auf den Saiten seiner Violine ansetzte. Sein Kopf war den beiden Zuschauern zugeneigt, aber er ließ mich nicht aus den Augen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen und begleitet von Herzklopfen eilte ich zum Lounge-Café.

Auf neuen

Wegen

Bevor ich eintrat, blickte ich durch die Glasfront des Cafés. Lissy saß an einem der runden Tische, vor ihr dampfte goldfarbener Tee in einer gläsernen Tasse.

»Hey, ich dachte schon, du hättest mich vergessen«, sagte sie gespielt beleidigt.

Ich hängte meinen Mantel und meinen Schal über die Stuhllehne und setzte mich zu ihr. »Nein, entschuldige, ich habe echt getrödelt.« Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

»Ach so, kein Problem. Ich habe dir schon einen Cappuccino bestellt. Hattest du denn bisher einen schönen Tag?«

Wenigstens musste ich jetzt nicht lügen. »Ja, danke. Ich war spazieren und habe die Wintersonne genossen. Ist im Laden alles in Ordnung? Hat Dad sich gemeldet?«

Die Kellnerin stellte eine Tasse vor mir ab. Das warme Getränk tat gut, nachdem ich so lange draußen in der Kälte gesessen hatte.

Lissy biss von ihrem Keks ab und nickte, was ihre Korkenzieherlocken auf und ab hüpfen ließ. »Ja, er hat vorhin angerufen. Habe ihm gesagt, dass du Kopfschmerzen hast und ich dich gezwungen habe, nach Hause zu gehen. Ansonsten war nicht viel los. Du wirkst so fröhlich. Gibt’s was Neues?« Sie konnte ihre Neugier nicht verbergen und musterte mich etwas genauer.

»Nein, eigentlich nicht.« Na ja, …

»Und uneigentlich?«

Ich schnaubte. Es war zwecklos, es ihr zu verheimlichen. »Uneigentlich muss ich mich gleich beeilen.«

»Warum?« Lissys dunkelbraune Augen weiteten sich. »Es ist nicht das, was ich denke, oder? Jane? Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.«

»Woher soll ich wissen, was in deinem Köpfchen vorgeht?«

»Ach, komm schon, Liebes.« Meine Freundin setzte einen Dackelblick wie aus dem Lehrbuch auf.

Ich schüttelte den Kopf. »Ist ja gut, ich geb’s zu, ich hab jemanden kennengelernt.«

Auch wenn ich es nicht für möglich gehalten hätte, wurden ihre Augen noch größer und die Wimpern ragten über den Rand ihrer Brille hinaus. »Was? Wieso sagst du das erst jetzt? Erzähl mir alles.«

»Ach, es ist nicht das, was du gleich wieder denkst.«

Lissy räusperte sich und zwinkerte. »Natürlich nicht. Und du hast dich gerade mit ihm getroffen? Na, dann zisch wieder ab, bevor er nicht mehr da ist. Und nimm zwei Donuts mit. Liebe geht durch den Magen.«

»Du bist unmöglich, aber danke. Ich zahle für dich mit, okay? Bis Montag.« Ich umarmte sie und holte meine Geldbörse aus der Tasche. Die Idee mit den Donuts war super, auch wenn ich nicht so viel hineininterpretierte wie Lissy.

Die Sonne war hinter tief hängenden Wolken verschwunden und es war merklich kälter geworden, wodurch der Wintertag seinen Zauber verloren hatte. Mittlerweile waren weniger Menschen unterwegs, und ich erkannte von Weitem, dass Adam nicht mehr im Park spielte. Ist er gegangen, weil es nach Regen aussieht? Mein Blick fiel auf die Parkbank und ich seufzte. Hier zu sitzen und ihm zuzuhören hatte sich so vertraut angefühlt, dass mir der Gedanke daran einen warmen Schauer über den Rücken jagte.

Einzelne Schneeflocken rieselten auf das verwitterte Holz. Der erste Schnee seit Wochen. Soll ich mich trotzdem hinsetzen und warten? Als immer mehr Flocken auf der Bank landeten, entschied ich mich dagegen. Ab nach Hause, ohne Träumereien!

Plötzlich hörte ich meinen Namen und zuckte kurz zusammen. Ich drehte mich um und sah Adam, der unter dem Vordach des gegenüberliegenden Teeladens stand. Er hatte den Geigenkoffer auf den Gepäckträger seines Fahrrads geschnallt und zwei Kaffeebecher in den Händen. Zwei.

Mein Herz machte einen Freudensprung. Ich lächelte, und die Erleichterung stand mir sicher ins Gesicht geschrieben. »Du bist noch da.«

»Ja, und ich bin froh, dass ich keinen Koffeinschock bekommen werde.« Er zwinkerte und reichte mir einen der Becher, als ich bei ihm angekommen war.

»Danke schön. Und mir bleibt der Zuckerschock erspart.« Ich öffnete meine Tasche, zog einen der Donuts mit Schokoladenguss aus der Tüte und reichte ihn Adam.

»Wow, danke. Meine Lieblingssorte.«

»Glück gehabt. Also so ein ›zufälliger‹ Spaziergang durch den Park hat was, muss ich sagen«, antwortete ich und wärmte meine Hände am Kaffeebecher.

Er nickte grinsend.

Wir lehnten uns unter dem Vordach des Teeladens an die Mauer. In einvernehmlichem Schweigen sahen wir den tanzenden Schneeflocken zu und ließen uns die Donuts und den Kaffee schmecken.

»Wie war eigentlich das Treffen mit deiner Kollegin?« Adam drehte den Kopf zu mir, und in seinen Augen blitzte Neugier auf.

Ich hob die Schultern. »Nur ein bisschen Smalltalk. Ich habe zwei Tage frei und da wir auch privat befreundet sind, haben wir uns in ihrer Pause zum Quatschen getroffen.«

»Oh, du hast Urlaub? Sicher halte ich dich von den wichtigen Dingen ab, die man auf den Urlaub verschiebt, weil man dann endlich Zeit dafür hat.«

»Nein, nein. Das war eher spontan, um mich ein bisschen abzulenken. Ich denke im Moment zu viel nach, anstatt das Leben zu genießen und die Vergangenheit hinter mir zu lassen.«

Adam nickte langsam und sein Mund verzog sich zu einem schelmischen Lächeln. »Ich verstehe. Weißt du was? Dafür gibt es nur eine Lösung: Wir fangen genau jetzt damit an«, sagte er, als könne nichts in der Welt seinen Entschluss ins Wanken bringen. Ich öffnete den Mund, doch bevor ich nachfragen konnte, vervollständigte er seinen Satz: »Ich meine … das Leben zu genießen.« Er leerte seinen Kaffeebecher und warf ihn in den Mülleimer.

Ich tat es ihm gleich.

Adam setzte sich auf sein Fahrrad, wischte die Stange mit dem Ärmel seines Mantels trocken und machte eine auffordernde Handbewegung.

Was?

»Ist das dein Ernst?« Ich starrte abwechselnd die Fahrradstange und sein Gesicht an.