Ein Schuss kommt selten allein - AJ Sherwood - E-Book

Ein Schuss kommt selten allein E-Book

AJ Sherwood

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Beschreibung

Ein Medium ohne Partner. Ein Student in Schwierigkeiten. Ein Schütze auf freiem Fuß. Ich bin Jonathan Bane, lizenziertes Medium, und arbeite als Berater für die Polizei. Regelmäßig helfe ich den Ordnungshütern dabei, böse Jungs hinter Gitter zu bringen, daher mögen mich Kriminelle nicht besonders. Ob mit dem Messer, den Fäusten oder einer Waffe – immer wieder werde ich angegriffen. Das Blöde dabei: Meine übernatürlichen Fähigkeiten machen aus allen elektronischen Geräten im Nu Schrott, daher ist Hilfeholen für mich nicht immer einfach. Aber zumindest wird mein Leben so nicht langweilig. Ich brauche einen Anker, so heißen die Partner für Leute wie mich, aber ich habe die Hoffnung längst aufgegeben – bis Donovan Havili durch die Tür tritt. Donovan sieht aus wie ein Gangster und hat die Seele eines Superhelden. Für mich strahlt er so hell wie eine Supernova. Er bringt definitiv die richtige Einstellung und die passenden Fähigkeiten für diesen verrückten Job mit. Womöglich ergreift er aber auch gleich wieder die Flucht, denn wir müssen den Fall mit dem chinesischen Austauschstudenten aufklären, der zu Unrecht eines Verbrechens beschuldigt wird, und dann wird – mal wieder – auf mich geschossen. Doch in Donovan Havili hat die kriminelle Welt ihren Meister gefunden. Und ich vielleicht, aber nur vielleicht, einen Partner - beruflich wie privat. "Ein Schuss kommt selten allein" ist der Auftakt einer Reihe. Jedes Buch ist in sich abgeschlossen und kann als Einzeltitel gelesen werden. Um alle Nebengeschichten zu verfolgen, empfiehlt es sich jedoch, die Bände in der richtigen Reihenfolge zu lesen.

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AJ Sherwood

EIN SCHUSS KOMMT SELTEN ALLEIN

JONS ÜBERNATÜRLICHE FÄLLE 1

Aus dem Amerikanischen von Johanna Hofer von Lobenstein

Die englische Ausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Jon’s Downright Ridiculous Shooting Case«.

 

Deutsche Erstausgabe Juli 2020

 

© der Originalausgabe 2019: AJ Sherwood

© für die deutschsprachige Ausgabe 2020:

Second Chances Verlag

Inh. Jeannette Bauroth, Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: Katie Griffin

Umschlagmotiv: Cracked glass brushes by Obsidian Dawn/Deviantart

Lektorat: Judith Zimmer

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN 978-3-948457-03-7

 

www.second-chances-verlag.de

 

Über das Buch

Ich bin Jonathan Bane, lizenziertes Medium, und arbeite als Berater für die Polizei. Regelmäßig helfe ich den Ordnungshütern dabei, böse Jungs hinter Gitter zu bringen, daher mögen mich Kriminelle nicht besonders. Ob mit dem Messer, den Fäusten oder einer Waffe – immer wieder werde ich angegriffen. Das Blöde dabei: Meine übernatürlichen Fähigkeiten machen aus allen elektronischen Geräten im Nu Schrott, daher ist Hilfeholen für mich nicht immer einfach. Aber zumindest wird mein Leben so nicht langweilig.

Ich brauche einen Anker, so heißen die Partner für Leute wie mich, aber ich habe die Hoffnung längst aufgegeben – bis Donovan Havili durch die Tür tritt.

Donovan sieht aus wie ein Gangster und hat die Seele eines Superhelden. Für mich strahlt er so hell wie eine Supernova. Er bringt definitiv die richtige Einstellung und die passenden Fähigkeiten für diesen verrückten Job mit. Womöglich ergreift er aber auch gleich wieder die Flucht, denn wir müssen den Fall mit dem chinesischen Austauschstudenten aufklären, der zu Unrecht eines Verbrechens beschuldigt wird, und dann wird – mal wieder – auf mich geschossen.

Doch in Donovan Havili hat die kriminelle Welt ihren Meister gefunden. Und ich vielleicht, aber nur vielleicht, einen Partner – beruflich wie privat.

Über die Autorin

AJ steckt voller Ideen. Deshalb arbeitet sie meist an mehreren Projekten und Büchern gleichzeitig. Unter einem weiteren Pseudonym verfasst sie Fantasy-Romane, doch sie wollte unbedingt auch für die LGBTQ+-Gemeinde schreiben. Glücklicherweise war ihre Lektorin sofort damit einverstanden.

In ihrer Freizeit verschlingt AJ Bücher, isst viel zu viel Schokolade und verreist gern. Ihre erste größere Reise führte sie nach Japan, und das hat ihr so gut gefallen, dass sie sich fest vorgenommen hat, so bald wie möglich noch viel mehr von der Welt zu sehen. Bis dahin recherchiert sie weiterhin via Google Earth und schreibt über die Welten in ihrem Kopf.

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Über die Autorin

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Mehr von AJ Sherwood

 

 

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Kameradschaftlicher Zynismus • Flirten • Küssen • Jon braucht eine Umarmung • Donovans Umarmungen sind die besten • Zusammenkommen • Probleme mit dem Selbstwertgefühl • Explizite Inhalte • Romantischer Sex • Sinnlose Schießerei • Worüber Donovan nicht begeistert ist • Donovan ist ein Gentleman • Soweit möglich • Jon macht es ihm einfach SEHR, SEHR, SEHR schwer, okay? • Bisexueller Charakter • Öffentliche Liebesbekundungen • Muskeln • Kommunikation • Gesunde Beziehungen • Liebevoll bis zum Gehtnichtmehr • Übernatürliche Elemente • Moderne Magie • Gefühle • Noch mehr Gefühle • Weitgehend korrekte medizinische Dinge • Diverse elektronische Geräte starben beim Schreiben dieser Geschichte • Alles Jons Schuld

KAPITEL 1

Durch den halb durchlässigen Spiegel, der mich vom Verhörraum trennte, starrte ich die sehr, sehr schuldige Frau an, die Detective Borrowman gegenübersaß. Er hatte mir den Rücken zugewandt, konnte mich aber über einen unsichtbaren Knopf im Ohr hören. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass es für ihn am einfachsten und schmerzlosesten war, mit mir zu kommunizieren, wenn wir ein Walkie-Talkie mit offenem Sendekanal benutzten. Es lehnte am Spiegel, und die Sprechtaste war festgeklebt, sodass ich ständig auf Sendung war. Solange ich das Gerät nicht anfasste, würde es überleben.

Seit drei Jahren spielte ich nun schon Lügendetektor für die Polizei. Weil ich während der Vernehmung Hinweise darauf geben konnte, welche Fragen die Ermittler stellen oder in welche Richtung sie weiter nachbohren sollten, zogen sie mich der Maschine vor. Das bloße Ja/Nein-Schema der technischen Geräte brachte die Ermittler oft nicht weiter. Borrowman war einer meiner Lieblingsbeamten, ein guter Polizist und ein richtig netter Kerl. Außerdem hatte er Geduld mit mir und meinen Besonderheiten.

Und davon hatte ich so einige.

Man musste dazusagen, dass ich sie mir nicht ausgesucht hatte.

»So, Mrs Turnbull, lassen Sie mich noch einmal wiederholen. Ich möchte sichergehen, dass ich alles richtig notiert habe.« Demonstrativ las Borrowman aus seinen Notizen vor: »Sie hatten keine Ahnung, dass Ihr Mann ein Verhältnis hatte.«

»Richtig«, antwortete sie, die Lippen so fest zusammengepresst, dass sie fast nicht mehr zu sehen waren – und das trotz des großzügig aufgetragenen knallroten Lippenstifts.

»Lüge«, informierte ich Borrowman. »Sie wusste Bescheid.«

Borrowman, der es gewohnt war, meine Stimme im Ohr zu haben, zuckte nicht mal mit der Wimper. »George Turnbull hat zehntausend Dollar für Hotelzimmer, Blumen, Wochenendreisen und ein paar sehr schöne brillantenbesetzte Manschettenknöpfe ausgegeben, alles für Ihren Nachbarn, und Sie haben nichts geahnt? Noch nicht mal einen Verdacht gehabt?«

»Nein. Ich hatte keine Ahnung, dass mein Mann einen anderen Mann gevögelt hat«, zischte sie. Die zarten Fingerknöchel ihrer verkrampften Hände schimmerten weiß.

Ich schüttelte den Kopf und betrachtete die Frau mitleidig. Sie hatte sehr wohl gewusst, was los war. Sie hatte es gewusst, und in ihr brannten Hass, Abscheu und das Gefühl, verraten worden zu sein. Die energetischen Meridiane, die sich in ihrem Körper zusammengeballt hatten, leuchteten wie Neon-Schriftzeichen – für andere Menschen unsichtbar, aber für mich wie ein offenes Buch. Nur Menschen mit übersinnlichen Kräften waren in der Lage, sie zu erkennen, auch wenn eine Begabung wie meine ziemlich selten war. Mir war jedenfalls noch nie jemand mit Fähigkeiten wie meinen begegnet. Es hatte Jahre gedauert, bis ich mir selbst beigebracht hatte, die Farben, Linien und Lichtblitze, die ich in anderen Menschen sah, zu deuten. Und obwohl meine Gabe nützlich war, fühlte ich mich von all diesem Wissen oft genug überwältigt.

Bei Mrs Turnbull nahm ich hauptsächlich Wut und Schmerz wahr. Die Linie an ihrem Herz-Chakra flammte rot vor Zorn, tief und fast schwarz deutete sie gleichzeitig auf tödlichen Hass hin. In diesem Fall war das recht passend, denn um ihren Solarplexus herum bemerkte ich Flecken von dem übelkeiterregenden Grauweiß, das gleichbedeutend mit Mord war. Kein Zweifel: Sie hatte ihren Mann umgebracht.

Leider würde meine Aussage allein nicht ausreichen, um sie hinter Gitter zu bringen. Gutachten von Kriminalmedien – so die offizielle Bezeichnung für Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten, die in der Verbrechensaufklärung tätig waren – konnten zwar vor Gericht verwendet werden, vorausgesetzt, das Medium besaß die entsprechende Zulassung. Ihre Aussage musste aber durch weitere Beweismittel gestützt werden. Darum ging es gerade in diesem Verhör.

Borrowman lehnte sich zurück und trommelte mit den Fingern ein schnelles Dreierstakkato auf die Tischplatte. Das war unser vereinbartes Signal dafür, dass er einen Hinweis von mir brauchte, um fortzufahren.

Ich beugte mich näher zu dem Walkie-Talkie. »Sie ist sehr homophob und fühlt sich überhaupt nicht schuldig wegen des Mordes. Deuten Sie an, dass Sie Verständnis für ihren Abscheu wegen der Affäre haben.«

»Mrs Turnbull, ich kann Ihre Situation wirklich gut nachvollziehen. Es war bestimmt schwer, erkennen zu müssen, dass Ihr Mann eine Affäre hatte, das hört ja niemand gerne. Aber dass es sich um einen Mann handelt? Sie müssen ja völlig entsetzt gewesen sein, als Sie erfahren haben, dass Ihr Mann schwul war.«

Borrowman klang absolut aufrichtig, und ich zollte ihm im Stillen Beifall für seine überzeugende schauspielerische Leistung. Ich wusste genau, dass er kein Problem mit anderen sexuellen Orientierungen hatte. Borrowman selbst war zwar ganz und gar hetero, aber als ich ihm eröffnet hatte, dass ich schwul war, hatte er noch nicht mal gezuckt. Es war einer der vielen Gründe dafür, dass ich ihn so mochte.

Mrs Turnbull blickte auf, und ein Ausdruck von Schmerz huschte über ihr Gesicht, in das sich weitere Falten gruben. Sie war, wenn man Frauen bevorzugte, sicher nicht unattraktiv, Ende vierzig und für ihr Alter gut aussehend, wenn sie nicht gerade einen Gesichtsausdruck hatte wie Cruella De Vil. Vielleicht waren es auch die schwarzen Haare und die blasse Haut, die mich an eine Hexe erinnerten.

»Ja. Ja, ›entsetzt‹ ist genau das richtige Wort. Fünfzehn Jahre lang waren wir verheiratet, und im Großen und Ganzen auch glücklich. Und dann fängt er auf einmal an … Wie sollte ich so etwas meiner Familie beibringen? Den Leuten in meiner Kirchengemeinde? Wir sind gute, moralische Menschen, und er war …« Sie brach ab und starrte in ihrem selbstgerechten Zorn finster vor sich hin.

»Komisch«, überlegte ich laut, »einen Mord zu begehen, ist anscheinend moralisch weniger verwerflich, als schwul zu sein.«

Borrowman hätte bestimmt amüsiert geschnaubt, wenn er gekonnt hätte. Sein Humor war genauso schwarz wie meiner. »Verstehe. Natürlich hat Sie das aufgebracht. Also haben Sie seine Kreditkarte zerschnitten. War das das Erste, was Sie taten, als Sie ihn zur Rede gestellt haben?«

»Allerdings«, zischte sie. Es hörte sich an wie ein Teekessel kurz vor dem Kochen. »Ich habe meine Handarbeitsschere genommen und sie direkt vor seiner Nase mittendurch geschnitten. Und dann habe ich ihm gesagt, dass ich weiß, was er getan hat.«

»Wirklich? Offen gestanden hätte ich wahrscheinlich das Gleiche gemacht. Wissen Sie zufällig noch, wo die Schere geblieben ist? Bei den Beweisstücken habe ich sie, glaube ich, nicht gesehen.«

Einen Augenblick wirkte sie verunsichert, schaute zur Seite, und zum ersten Mal schien sich ihr Überlebensinstinkt zu melden. Die Frage war ihr unangenehm. »N… nein, das weiß ich nicht mehr. Ich war so außer mir, dass ich gar nicht klar denken konnte.«

»Gelogen. Sie weiß ganz genau, wo die Schere ist«, korrigierte ich sofort. Jetzt wurde ich hellhörig, denn gerade kamen wir ein Stück weiter. Die Autopsie hatte ergeben, dass es sich bei dieser Schere mit neunzigprozentiger Sicherheit um die Mordwaffe handelte. Sie war nur bislang nicht auffindbar.

»Ja, das ist natürlich verständlich«, sagte Borrowman beruhigend. »Und dann? Sie haben wahrscheinlich nicht nur die Kreditkarte zerschnitten, oder? Also, wenn meine Frau wütend auf mich ist, bekomme ich jedenfalls ganz schön was zu hören. Sie hatten doch sicher so einiges auf dem Herzen.«

Mit neuem Schwung schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch, als ihr Zorn bei der Erinnerung wieder aufflammte. »Oh ja. Ich habe ihm gesagt, dass er dafür in die Hölle kommt. Dass er auf der Stelle mit seiner Perversion Schluss machen muss. Er hat allen Ernstes versucht, sich zu entschuldigen. Können Sie sich das vorstellen? Entschuldigen – als ob das etwas ändern würde. Und dann hatte er auch noch die Stirn, mich um die Scheidung zu bitten. Seinen Ruf hatte er schon ruiniert, mich hatte er in Verruf gebracht, und dann dachte er, dass eine Scheidung irgendwie alles besser machen würde? Er hätte mein Leben vollkommen zerstört, und alles nur, weil er scharf auf den Nachbarn war.«

Aha, eine von denen, die glaubten, dass eine Scheidung schlimmer war als eine Affäre. Mir persönlich leuchtete diese Einstellung überhaupt nicht ein, aber ich wusste auch aus erster Hand, wie viel Schaden eine schlechte Ehe anrichten konnte. Scheidung war eindeutig das kleinere Übel. Und natürlich war alles besser als Mord.

»Hat Ihr Mann wirklich gesagt, dass er sich scheiden lassen wollte, um mit David Hardy zusammen sein zu können?«, fragte Borrowman, immer noch in leisem, beruhigendem Ton.

»Er hat gesagt, David macht ihn glücklich«, sagte sie verächtlich. »Ich habe meinen Ohren kaum getraut. Auf einmal klang es so, als sei ich das Problem, obwohl ich überhaupt nichts falsch gemacht hatte!«

»Ist Ihnen da die Hand ausgerutscht?«

»Ich habe ihn geohrfeigt, ja«, gab sie gespielt zerknirscht zu. Ich konnte deutlich sehen, dass sie Genugtuung dabei empfunden hatte, ihm Schmerzen zuzufügen. »Er hat versucht, meine Hand festzuhalten, hat mich angeschrien, ich weiß schon gar nicht mehr, was er geschrien hat, und ich musste alle Kraft aufwenden, um mich loszureißen. Ich wollte nicht, dass er mich anfasst. Es fühlte sich so schmutzig an, dass er mich mit den gleichen Händen angrapschte, mit denen er … auch ihn berührt hatte. Das konnte ich nicht ertragen.«

»So wäre es sicher jeder Frau in Ihrer Lage gegangen. Bestimmt fühlten Sie sich bedroht. Ihr Mann war schließlich viel größer und stärker als Sie. Als er Sie so festgehalten hat, sind Sie vermutlich in Panik geraten. Sie wollten sich losreißen. Aber das konnten Sie ja aus eigener Kraft gar nicht.«

»Nein«, gab sie zu, immer noch in der Erinnerung gefangen, dann erzählte sie automatisch die Geschichte weiter. »Aber ich hatte ja noch die Schere in der Hand, und …« Plötzlich wurde ihr klar, was sie gerade gesagt hatte, und sie verstummte.

»Und dann?« Borrowman machte eine ermutigende Geste. »Sprechen Sie weiter, Mrs Turnbull.«

»Nein.« Sie sah sich um, und plötzlich war ihr wieder bewusst, wo sie sich befand. Schließlich saß sie aus gutem Grund in einem Verhörraum. »Ich möchte einen Anwalt.«

»Natürlich, Sie können gerne einen anrufen. Aber brauchen Sie den wirklich? Können Sie mir nicht einfach sagen, was dann passiert ist?«

»Ich möchte einen Anwalt«, beharrte sie. Jetzt war sie verängstigt. »Ich … ich habe meinen Mann nicht umgebracht, und ich verlange einen Rechtsanwalt.«

Verdammt. Es war immer ärgerlich, wenn Verdächtige so schnell nach Rechtsbeistand riefen. Das zog unweigerlich bergeweise Papierkram nach sich, und dann konnte es Monate dauern, bis wir die Beweise fanden, die wir brauchten, um ihr den Mord nachzuweisen. Die Vorstellung, diese Frau bis dahin auf Kaution freizulassen, gefiel mir ganz und gar nicht. Einer Eingebung folgend bat ich Borrowman: »Fragen Sie, ob sie die Schere vergraben hat.«

»Gut, Mrs Turnbull. Ich gehe Ihnen gleich ein Telefon holen, dann können Sie einen Rechtsanwalt anrufen, in Ordnung? Nur noch eine schnelle Frage: Kann es vielleicht sein, dass Sie die Schere vergraben haben?«

Ihr bereits blasser Teint wurde aschfahl. »Nein.«

»Bingo!«, rief ich, auf den Zehenspitzen wippend. »So war’s!«

»Im Garten?«, hakte Borrowman nach.

»Ich sagte doch, ich hab sie nicht vergraben!«

Ich grinste sie durch den Spiegel an. »Genau dort liegt sie.«

»Vielen Dank, Mrs Turnbull. Ich gehe dann mal das Telefon holen.« Damit stand er auf und verließ den Befragungsraum, um auf meine Seite des Verhörspiegels zu wechseln. Vorsichtig zog ich mich an die Wand zurück. Beim letzten Mal hatte ich versehentlich die elektronische Schließanlage berührt – und was dann passiert war, wollte ich ungern noch mal erleben. Die Haustechniker waren nicht begeistert von mir gewesen.

Borrowman lächelte mich durch den Türspalt an. »Es geht immer so viel schneller, wenn Sie beim Verhör mit dabei sind.«

»Na ja. Ich bin eben mein Geld wert.« Achselzuckend erwiderte ich das Lächeln. »Diese Frau hinter Schloss und Riegel zu bringen, wäre mir eine Freude. Ein echtes Prachtexemplar.«

»Das sag ich Ihnen. Ich denke mal, das war’s für mich. Wenn der Rechtsanwalt erst mal hier ist, darf ich heute sowieso nicht mehr mit ihr sprechen. Fahren Sie ruhig wieder ins Büro. Ich melde mich, wenn ich Sie wieder brauche.«

Es konnte Stunden, Tage oder sogar Wochen dauern, bis Borrowman an dem Fall weiterarbeiten konnte, also stimmte ich zu. »Geht klar.«

»Aufpassen«, sagte er warnend und stieß die Tür weiter auf. »Ich halte die Tür, dann können Sie an mir vorbei.«

Das war keine übertriebene Vorsicht. Irgendetwas im Zusammenhang mit meinen Fähigkeiten als Medium brachte es leider mit sich, dass elektronische Geräte in meiner Anwesenheit verrücktspielten. Wenn ich sie anfasste, ruinierte ich sie komplett. Wenn ich mich dauerhaft im gleichen Raum aufhielt, geschah irgendwann das Gleiche. Für mich war es gelinde gesagt eine ziemliche Herausforderung, in der modernen Welt zwischen den ganzen elektronischen und mobilen Geräten zurechtzukommen.

Ich schob mich also an ihm vorbei, so gut es ging, ohne den Türrahmen zu berühren, und atmete auf, als ich im Flur stand. Gleichzeitig setzte ich meine mittelgraue Sonnenbrille auf. Die hellere benutzte ich, wenn ich jemanden lesen wollte. Mit der dunkleren Brille schirmte ich mich von der Aura größerer Menschenmengen ab.

»Bane.« Borrowman hielt inne und musterte mich besorgt. »Hören Sie, ich weiß, dass schon viele Sie darauf angesprochen haben, und ich will Ihnen auch überhaupt nicht zu nahe treten. Aber Sie brauchen wirklich langsam einen Anker.«

Ich seufzte und sah beiseite. Das wusste ich selbst. Sobald man als Medium ein bestimmtes Level erreicht hatte, war es unerlässlich, einen Anker zu haben. Bei mir war es sogar dringender als bei manch anderem. Aber eben weil ich so hilfsbedürftig war, so viel Zeit und Aufmerksamkeit brauchte, würde es für meinen Anker kein besonderes Vergnügen werden. Früher oder später würde jeder Mensch, der eine Verbindung mit mir einging, durchdrehen. Mit mir würde es nur ein Heiliger aushalten.

»Ach, Borrowman …«, fing ich müde an, und dann wusste ich nicht weiter.

»Es ist ja nicht nur so, dass Ihre Abschirmung völlig unzureichend ist«, bemerkte er ernst. »Ich meine, Sie setzen sich dafür Sonnenbrillen auf, das kann’s ja wohl nicht sein. Oder dass Sie alles Elektronische zugrunde richten. Sie haben nun mal einen gefährlichen Beruf, und wenn Sie wirklich auf jemanden konzentriert sind, nehmen Sie gar nicht mehr wahr, was um Sie herum vorgeht. Ich möchte einfach nicht, dass Sie noch mal angeschossen werden.«

»Es wurde auf mich geschossen«, betonte ich, wie ich es immer tat, wenn jemand darauf zu sprechen kam.

Borrowman winkte ab. »Haarspalterei. Sie wissen doch ganz genau, was ich meine. Dieses Einsamer-Wolf-Dasein ist einfach nicht gut für Sie, Jon.«

Dieser Mann war mein Freund, also nahm ich es ihm nicht übel, dass er das Gleiche sagte wie das, was alle mir nahestehenden Menschen schon seit Jahren predigten. »Hören Sie, mir ist das alles sehr bewusst. Aber versetzen Sie sich doch mal in meine Lage. Ich müsste jemanden finden, der eine Engelsgeduld aufbringt, der es okay findet, dass ich schwul bin, der bereit wäre, zu jeder Tages- und Nachtzeit alles stehen und liegen zu lassen, wenn er gebraucht wird, und der außerdem einen militärischen Hintergrund hat oder ausgebildeter Bodyguard ist. Und das ist die Mindestanforderung. Bisschen viel verlangt, oder? Als ich das letzte Mal gefragt habe, war Captain America gerade nicht abkömmlich.«

Kurzfristig abgelenkt, legte Borrowman den Kopf schief. »Das wäre also Ihr Typ? Ein Muskelpaket?«

Ich schnippte mit den Fingern. »Nicht abschweifen. Dieses Thema haben wir doch schon hundert Mal durchgekaut, und Sie wissen ganz genau, was ich meine. Ich kann mir buchstäblich keinen Menschen vorstellen, der als mein Anker nicht schon nach einer Woche schreiend davonlaufen würde. Für mich wird es einfach immer ein Luftschloss bleiben, einen Anker zu haben, okay?«

Entnervt gab er zur Antwort: »Und trotzdem wäre es denkbar, dass es so jemanden gibt.«

»Na, den müssen Sie mir erst mal zeigen.«

Ich gehöre zu den Menschen, die morgens eine Tasse sehr schwarzen Kaffee und etwa eine Stunde Zeit brauchen, bis sie halbwegs normal funktionieren. Meine Kollegen hatten sich mehr oder weniger daran gewöhnt, mir nur kurz zuzuwinken, wenn ich ins Büro kam. Dann konnte ich erst mal in Ruhe an meinen Schreibtisch gehen, meine Berichte sortieren und richtig aufwachen. Als ich die »Psy Consulting Agency« durch den Haupteingang betrat, rechnete ich also mit der üblichen Begrüßung. Stattdessen wurde ich von allen ignoriert. Auch wenn sie nicht immer gleich mit mir sprachen, nahmen sie normalerweise wenigstens zur Kenntnis, dass ich da war.

Heute Morgen war das nicht so.

Okay, Gehirn, das könnte wichtig sein. Aufwachen und konzentrieren.

Alles sah aus wie immer – der blaue Teppich wies keine Blutflecken oder anderen Schauerlichkeiten auf, an den weißen Wänden hingen die gleichen geschmacklosen Bilder wie sonst auch, und die wackeligen Trennwände zwischen den Arbeitsplätzen standen auch noch. Meine Kollegen hatten sich rechts hinten in unserem Großraum um die Kaffeemaschine versammelt. Allerdings hatte niemand Kaffee aufgesetzt. Das ließ meine Alarmglocken läuten – Kaffee war das Lebenselixier dieser Agentur.

Ich machte einen Bogen um den verwaisten Schreibtisch der Empfangsdame und ging auf das Grüppchen zu. Sollte ich prüfen, ob meine Waffe korrekt im Schulterholster saß? Da standen vier Menschen, die täglich mit Kriminellen zu tun hatten, dicht gedrängt wie verängstigte Schafe – irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

»Jon.« Marcy streckte mir eine Hand entgegen und packte mich am Ellbogen. Ihre raue Stimme war zu einem dramatischen Flüstern gesenkt. »Bin ich froh, dass du da bist. Vielleicht weißt du ja, was Sache ist.«

»Wobei denn? Ihr seht aus, als wärt ihr kurz davor, euch unter den Tischen zu verstecken. Haben wir eine Bombendrohung erhalten?« Oh bitte, keine Bombe. Die letzte hatte ich selbst entschärfen müssen, und diese Erfahrung brauchte ich nicht noch mal, danke auch.

Tyson beugte sich zu mir, den Blick fest auf die Bürotür des Chefs gerichtet. Selbst er, mit seinen zehn Jahren Erfahrung als Polizist, schien kurz davor, die Waffe zu zücken. »Jim hatte doch erzählt, dass sich heute ein weiterer Kriminalberater vorstellen wollte.«

Und an so etwas sollte ich mich nach nur drei Schlucken Kaffee erinnern? »Kann sein?«

»Vor zehn Minuten kam der Typ da rein. Ich sage dir, wenn ich noch Polizist wäre, würde ich den Kerl erst mal abtasten. Er sieht aus wie ein Verbrecher.«

Ich wandte mich zum Bürofenster, durch das wir wie durch einen Bilderrahmen ins Chefzimmer schauen konnten. Aber wegen des Sichtschutzes konnte ich nur einen Blick auf den Hinterkopf des Mannes erhaschen. Außerdem hatte ich noch nicht die mittelstarke Sonnenbrille aufgesetzt, was auch nicht gerade hilfreich war. Ich wechselte also die Brille und fragte: »So gefährlich?«

»Auf dem Bewerbungsfoto hat er gut ausgesehen«, meinte Sharon bedauernd. Sie wickelte sich fester in die blaue Strickjacke, um die kühl eingestellte Klimaanlage zu kompensieren. »Aber vom Hemdkragen abwärts ist er voller Tattoos, seine Haare sind so kurz rasiert, dass es wirkt wie eine Glatze, und er hat diese Ausstrahlung, na, du weißt schon.«

»Als ob er kleine Kinder zum Frühstück frisst und an rituellen Schlachtungen von Hundebabys teilnimmt«, stimmte Marcy heftig nickend zu.

Carol lehnte an der billigen Pressspan-Arbeitsplatte und trommelte mit ihren langen Fingernägeln gegen ihre Tasse. Sie hatte sich Tee gemacht, dessen Duft ich bis hierher riechen konnte. Carol war schon länger hier beschäftigt als ich. Sie war das erste Medium bei der Psy Consulting Agency gewesen, und wir beide waren grundverschieden. Sie war eine »Seherin« im traditionelleren Sinne, das heißt, sie konnte nachverfolgen, welchen Weg Gegenstände genommen hatten. Carol war außerdem gerade die Einzige, die keine Panik hatte. Dafür sah sie mit nachdenklich zusammengekniffenen braunen Augen hinüber zu Jims Büro.

»Ist wirklich komisch«, meinte sie dann. »Ich empfange absolut keine negativen Schwingungen von ihm.«

»Dein Übersinnlichkeitsradar muss kaputt sein«, belehrte Tyson sie knapp. »Lass ihn reparieren.«

»Nein, jetzt mal im Ernst. Ich kann weder Aggression noch sonstige negative Emotionen erkennen«, beharrte Carol und strich sich eine braune Locke hinters Ohr. »Ich konnte ihn gerade recht gut lesen, als er an mir vorbeilief.«

»Ich will eine zweite Meinung.« Sharon hob die Hand, als wollte sie abstimmen. »Jon?«

»Na gut«, stimmte ich zu, hauptsächlich, um eine Auseinandersetzung zu vermeiden. Ich vertraute Carols Urteilsvermögen. Wenn von diesem Typ keine schlechten Schwingungen bei ihr ankamen, dann gab es auch keine.

In weiser Voraussicht machte ich einen Bogen um die Schreibtische der anderen und deponierte nur kurz Tasche und Kaffee an meinem eigenen Arbeitsplatz. Von dem Kaffee nahm ich schnell noch einen Schluck. Dann trat ich hinaus, um den Mann, der im Büro des Chefs saß, genauer zu lesen.

Und schon der erste Eindruck verschlug mir der Atem.

Einen Augenblick lang schien die Zeit stillzustehen. Ich konnte zwar von hinten nicht alles wahrnehmen, aber was ich sah, reichte aus. Kräftig leuchtende Chakren und Energiebahnen, die mir alles sagten, was ich wissen wollte – und mehr. Ich musste mich darauf konzentrieren, weiterzuatmen. In meinem ganzen Leben war mir noch nie ein so unglaublicher, von Grund auf guter Mensch untergekommen.

Ich befeuchtete meine trockenen Lippen, dann steuerte ich, ohne zu zögern, auf Jims Büro zu und platzte hinein. Er schaute mich verdutzt an, als ich so abrupt eintrat, seine dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen, und die Fältchen um seine Augen und den Mund vertieften sich. »Jon. Alles okay?«

»Ich muss Sie mal kurz sprechen.« Mein Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er aufstehen sollte, und zwar sofort. Ich musste mich wirklich zusammennehmen, um den neuen Mann nicht anzusehen. Mir war klar: Wenn ich auch nur einen Blick auf ihn warf, würde ich ihn anstarren.

Jim hatte begriffen, wie dringend es war, nickte zustimmend und wandte sich an seinen Gast. »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Mr Havili.«

»Natürlich.«

Angenehme Stimme. Dunkel, sanft, aber nicht zu glatt. Stopp. Nicht verleiten lassen, hinzusehen. Ich ging rückwärts wieder hinaus und schlüpfte in mein Büro, wo uns niemand hören konnte.

Jim folgte mir und schloss die Tür, die Hände in die breiten Hüften gestemmt. Er erinnerte an eine Bulldogge, die auf einen Knochen hofft. »Sie haben ihn gelesen. Ist er wirklich so furchteinflößend, wie er rüberkommt?«

»Dieser Mann ist der Hammer«, sagte ich im Brustton der Überzeugung. »Stellen Sie ihn ein.«

Jim fiel die Kinnlade herunter, und er stotterte: »Diesen Kerl, der aussieht wie der Handlanger des Schurken in einem Horrorfilm?«

War es wirklich so schlimm? Vielleicht hätte ich doch einen Blick riskieren sollen. »Jim, vertrauen Sie mir. Das ist der beeindruckendste Mensch, der mir in meinem ganzen Leben je begegnet ist. Sie würden es zutiefst bereuen, wenn Sie ihn nicht einstellen.«

Jim kniff die dunkelbraunen Augen zusammen. Seine defensive Haltung lockerte sich, und er ließ die Schultern sinken. Die Aura meines Chefs leuchtete normalerweise schön gleichmäßig. Jetzt blitzten grüne und violette Wirbel im Weiß auf, Zeichen von neugierigem Interesse. »Was lesen Sie denn bei ihm?«

»So einen gewaltigen Beschützerinstinkt habe ich überhaupt noch nie gesehen – es ist, als würde er ihn umgeben wie ein Magnetfeld. Ein unglaublich gutmütiger Typ. Einer, der kleine Kätzchen von Bäumen rettet, verstehen Sie? Er würde sich für einen wildfremden Menschen eine Kugel einfangen und das Ganze noch als positives Ergebnis für sich verbuchen. Bitte stellen Sie ihn ein.«

Jim hatte in den zwanzig Jahren, die er dieses Unternehmen inzwischen leitete, schon so einige interessante Gestalten kommen und gehen sehen. Er hatte sogar mich eingestellt – einen der anstrengendsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Und alles, was er an mir auszusetzen hatte, war, dass ich teuer war. Angeblich hatte er nur meinetwegen graue Haare bekommen – dabei war er schon grau gewesen, als wir uns kennengelernt hatten.

Er antwortete nicht sofort. Mehrere Sekunden lang starrte er mich nachdenklich an, dann schien er sich entschieden zu haben. »Wenn ich ihn einstelle, wird er Ihr neuer Partner.«

Ich zuckte überrascht zurück. »Moment mal, Jim, das ist …«

»Haben Sie nicht gerade selbst gesagt, er ist einer der besten Menschen, die Ihnen je begegnet sind?«, erinnerte er mich mit zusammengekniffenen Augen.

»Na ja, schon. Aber ist es nicht vielleicht ein bisschen viel verlangt, wenn er sich gleich auf mich einstellen muss? Außerdem ist er doch wegen des Kriminalberater-Jobs hier, oder?«

»Er kommt ursprünglich von der Militärpolizei. Ich dachte, das würde ganz gut passen, weil Fort Campbell in der Nähe ist, und wir brauchen einen wie ihn. Was wir aber noch nötiger brauchen, Jon, ist jemand, der für Ihre Sicherheit sorgt.«

Das konnte ich nicht bestreiten. Es war nicht so, dass ich mich absichtlich in Schwierigkeiten brachte, wenn ich an einem Fall arbeitete. Aber die Menschen hassten es einfach, von mir durchschaut zu werden, und hatten die Tendenz, deswegen gewalttätig zu werden. »Das stimmt schon. Aber es ist doch bisher jedes Mal schiefgegangen, wenn Sie mir Partner zugeteilt haben.«

»War auch nur einer von denen wie Donovan Havili?«, setzte Jim nach. Seine Entschlossenheit war deutlich zu spüren, und seine Meridianlinien spiegelten eine seltsame Mischung aus Hoffnung, freudiger Erwartung und Erleichterung wider. Das ärgerte mich etwas – schließlich hatte ich ja noch gar nicht zugestimmt.

Aber es schien ganz so, als wäre das nur eine Frage der Zeit. »Noch nicht mal ansatzweise«, gab ich mit einem Seufzer zu. »Ich will ja gar nichts gegen ihn sagen. Aber ich bin nun mal schwer auszuhalten, vor allem über einen längeren Zeitraum. Wollen Sie wirklich riskieren, dass er gleich wieder kündigt, indem Sie ihn als Erstes mit mir zusammenstecken?«

»Jon. Sie arbeiten gerade an mehreren Fällen gleichzeitig. Sie haben mehr und mehr Einsätze bei der Polizei. Und die Hälfte der Leute, gegen die Sie ermitteln, sind Mörder oder Serienkiller. Ich möchte nicht, dass Sie wieder im Dienst verletzt werden.« Er fuhr sich mit der Hand durch die grau gesprenkelten Haare. »Aber Sie haben auch nicht unrecht. Probieren Sie es einen Monat aus. Und wenn es nicht funktionieren sollte, gebe ich ihm eben den Job, auf den er sich eigentlich beworben hat.«

»Einverstanden«, stimmte ich ohne Zögern zu. Ob ich mit dem Neuen zurechtkommen würde oder nicht, musste sich zeigen, aber dass man so jemanden nicht einfach ziehen lassen durfte, war offensichtlich. Wir brauchten gute Leute. Die nötigen Qualifikationen schien er zu haben, sonst hätte Jim ihn gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch gebeten.

Nickend öffnete Jim die Tür und trat hinaus. »Na, dann wollen wir mal.«

Ich war hin- und hergerissen zwischen Überschwang und Nervosität. Wenn sich die anderen erst mal an ihn gewöhnt hatten, würde er gut in die »Psy« passen. Ich wollte aber keinesfalls der Grund dafür sein, dass er schon nach kurzer Zeit alles wieder hinwarf. Also. Ruhig Blut. Professionell sein. Ich rückte meine Weste gerade und folgte Jim in sein Büro. Und dann sah ich mir den Mann, der in Kürze mein Partner werden würde, zum ersten Mal richtig an.

Ah, jetzt verstand ich, warum die anderen ihn ein bisschen unheimlich fanden.

Von außen betrachtet war er ein echtes Raubein. Er hatte zum Vorstellungsgespräch ein langärmeliges Hemd und ordentliche Jeans angezogen, ganz offensichtlich um einen professionellen Eindruck bemüht. Aber unter seinem Kragen und an den Handgelenken blitzten rote und schwarze Tattoos hervor. Nein, Moment. Das waren keine Tätowierungen. Das waren Narben. Ich sah die Energielinien des zerstörten Gewebes und zuckte zusammen. Das waren Säureverätzungen.

Wer zum Teufel kippt bitte schön einem anderen Menschen Säure über den Körper?

Abgesehen von den Narben hatte er breite Schultern und eine Statur wie ein Gewichtheber. Er war locker doppelt so breit wie ich und hatte kein Gramm Fett am Leib. Selbst ein Sumoringer würde bei seinem Anblick ins Grübeln kommen. Seine Hautfarbe ließ auf hawaiianische Vorfahren schließen, und seine Meridianlinien gingen auf jeden Fall auf diese Herkunft zurück. Sein Körperbau dagegen sah mehr nach Tonga aus. Ethnische Zugehörigkeiten zu erkennen, war nicht meine Stärke, aber ich war ziemlich sicher, dass ich seine richtig gedeutet hatte.

»Donovan Havili, Jonathan Bane«, stellte Jim uns vor.

Ich gab ihm die Hand und konnte mir ein breites Lächeln nicht verkneifen. »Freut mich sehr.«

»Ganz meinerseits«, antwortete er leicht verdutzt und schüttelte mir die Hand. Er war nicht der Typ für einen zu festen oder dominanten Händedruck, aber seine Stärke war spürbar.

»Sie fragen sich bestimmt, wer ich bin und wieso ich hier so einfach hereinplatze. Lassen Sie es mich erklären.« Ich nahm neben ihm Platz und wandte mich ihm zu. Dann überlegte ich es mir noch mal anders: Taten statt Worte. »Nein, noch besser ist, ich demonstriere es Ihnen und erkläre dann. Also: Sie sind 34 Jahre alt, waren fünfzehn Jahre lang beim Militär, davon eines im … Krankenhaus? Rehazentrum? Wegen des Säureangriffs. Es tut mir wirklich leid, das muss die Hölle gewesen sein. Sie sind hauptsächlich hawaiianischer Abstammung, haben aber auch afroamerikanische Wurzeln. Sie sind Single und kinderlos, haben aber ein sehr enges Verhältnis zu … Ihren Eltern, Ihrem Bruder und Ihrer Schwester? Ich bin nicht ganz sicher, ob sie Ihre Schwester oder Ihre Schwägerin ist, aber es ist klar, dass Sie sie als Schwester betrachten. Heute Morgen haben Sie noch nichts gegessen. Vielleicht waren Sie nervös wegen des Vorstellungsgesprächs? Darüber hinaus sind Sie einer der beeindruckendsten Menschen, die mir je begegnet sind, und Sie haben einen Beschützerinstinkt, bei dem Captain America blass werden würde.«

Seine goldbraunen Augen in dem kastanienbraunen Gesicht wurden ganz groß. »Wie zum Teufel …?«

»Jon ist eines unserer Medien«, erklärte Jim lächelnd. Es war ihm immer wieder ein Vergnügen, mir bei dieser Showeinlage zuzusehen.

»Er nennt es ›Medium‹, weil es für mich kein wirklich passendes Wort gibt. Was ich eigentlich tue, ist, Ihre Energie zu lesen«, fügte ich gestikulierend hinzu. »Kennen Sie die indische Tradition der Chakren? Es ist so etwas in der Art, nur dass es richtige Energielinien gibt. Ich sehe viel, wenn ich diese Linien lese.«

»Und Sie können mir glauben: Er hat wesentlich mehr gesehen als das, was er gerade aufgezählt hat«, fügte Jim mit einem vielsagenden Blick auf mich hinzu. »Aus irgendwelchen Gründen hält er es für nötig, diskret zu sein.«

»Ich bin eben Kriminalmedium und keine Plaudertasche«, gab ich gespielt brav zurück.

»Sie sind außerdem eine Nervensäge«, brummte Jim. »Mr Havili, ich will ganz offen sein. Jon ist einer unserer besten Leute, aber man hat wirklich alle Hände voll zu tun mit ihm. Aufgrund seiner Gabe kann er nichts Elektronisches anfassen. Kein Telefon, keinen Computer, die meisten Autos auch nicht. Sie gehen innerhalb von Sekunden kaputt. Er hat außerdem die schlechte Angewohnheit, alles um sich herum zu vergessen, wenn er auf eine Lesung konzentriert ist. Letztes Jahr ist er deswegen in eine Schießerei geraten.«

»Es wurde auf mich geschossen. Er hat mich gar nicht richtig erwischt«, verbesserte ich gereizt.

»Und was ist mit der Narbe an Ihrem Bauch?« Jim erinnerte mehr denn je an eine Bulldogge.

»Ist doch nur ’ne Fleischwunde«, kommentierte ich mit meiner besten Monty-Python-Stimme.

Havili verkniff sich ein Lachen.

Offensichtlich um Geduld bemüht, rollte Jim nur mit den Augen. Er ignorierte mich und fuhr fort. »Was ich brauche, ist ein Partner für Jon, jemand, der ihm Rückendeckung gibt, wenn er arbeitet, und der sich um alles kümmern kann, wozu Jon nicht in der Lage ist. In Ihrem Lebenslauf steht, dass Sie eine Zeit lang bei den Special Forces waren, bevor Sie zur Militärpolizei gewechselt sind. Sie müssten sich also mit Tatorten und Ähnlichem auskennen, richtig?«

»Ja, Sir«, antwortete Havili.

Was war das für ein Akzent? Er war irgendwo im Westen aufgewachsen, ich konnte erkennen, dass er in der Wüste gelebt hatte. Nach den Südstaaten klang er aber nicht. Ich liebte Rätsel, die ich nicht auf Anhieb lösen konnte.

»Sie können also tippen und Berichte schreiben? Jon schreibt ja immer alles mit der Hand, und Marcy hilft mit dem Abtippen, wenn sie Zeit hat, aber es wäre natürlich viel besser, wenn sein Partner das erledigen könnte. Sie sind sowieso immer mit am Tatort und können alles ergänzen, was er nicht mitbekommen hat.«

»Ja, Sir. Ich kann ganz gut tippen. Der Papierkram macht mir nichts aus. Gehört eben zum Job.« Dann wandte er sich mir zu und betrachtete mich so durchdringend, dass ich kurz das Gefühl hatte, auch er könne meine Energielinien lesen. »Bevor Sie reingekommen sind, war ich ziemlich sicher, dass ich das Vorstellungsgespräch gerade in den Sand setze. Aber Sie haben sich offensichtlich für mich starkgemacht. Warum?«

»Wie gesagt: Sie sind der beeindruckendste Mann, den ich je gesehen habe.« Ich tat mein Bestes, um meine Worte nicht so zu wählen, als wollte ich ihn anbaggern. Das war nicht ganz einfach, da ein Teil von mir am liebsten genau das getan hätte. Wieso musste er auch bi sein? Es wäre so viel einfacher, wenn sich das von selbst ausschließen würde. »Darf ich Du sagen?« Als er nickte, fuhr ich fort. »Danke. Also, Donovan. Es ist so: Ich bin kein einfacher Mensch, und das weiß ich auch. Mich auch nur kurze Zeit auszuhalten, ist für viele Leute schon zu viel. Manche sind schon nach ein paar Wochen am Ende. Ich könnte mir vorstellen, dass wir beide zusammenarbeiten können, weil du eine Geduld hast wie Hiob persönlich. Und dein Beschützerinstinkt ist so ausgeprägt, dass er anspringen wird, wenn dir der Geduldsfaden mal reißt. Hoffe ich wenigstens. Ich bin jedenfalls einigermaßen sicher, dass du nicht schon im ersten Monat Mordgelüste bekommst und mich irgendwo im Straßengraben zurücklässt.«

»Das ist übrigens wirklich fast passiert«, warf Jim ein. »Mr Havili, ich kann es mir nicht leisten, auf diesen Mann zu verzichten. Er macht buchstäblich ein Drittel unseres Umsatzes aus. Das ist einer der Gründe, warum ich bei ihm so viele Ausnahmen mache – das und die Tatsache, dass ich weiß, dass er für das meiste gar nichts kann. Wir würden Sie auch nicht sofort als seinen Partner einstellen, sondern für den ausgeschriebenen Beraterjob. Trotzdem hätten wir gerne, dass Sie versuchen, mit ihm zusammenzuarbeiten. Wenn Sie vierzig Stunden pro Woche miteinander zurechtkommen, bleiben wir dabei. Wenn nicht, nehmen Sie die Stelle, wegen der Sie eigentlich hier sind. Sie beziehen ein Gehalt von sechzigtausend Dollar im Jahr, es gibt Sozialleistungen und zwei Wochen Urlaub. Möchten Sie den Job annehmen?«

Donovan sah mich unverwandt an, als er antwortete: »Ja, Sir, das will ich.«

»Ausgezeichnet.« Jim atmete erleichtert auf. »Jon, Sie stellen ihn allen vor. Ich kümmere mich um den Vertrag.«

»Na klar.« Ich sprang auf, wandte mich um und wartete, bis er mich eingeholt hatte. Meine Güte, er war wirklich groß. Ich maß schon fast eins fünfundachtzig, aber ich reichte dem Mann kaum bis zum Kinn. Das musste sein Tonga-Blut sein. Ich zupfte meine Weste glatt und bedeutete ihm, mir zu folgen. Dann fragte ich leise: »Nur so aus Interesse: Haben eigentlich immer alle erst mal Angst vor dir?«

»Ja, schon«, seufzte er resigniert. »Die meisten sind total eingeschüchtert von mir.«

»Ist ja beneidenswert. Bei mir ist das genau umgekehrt«, scherzte ich, in dem Versuch, die Stimmung etwas aufzulockern. Als hellhäutiger, schlanker, blonder Mann wirkte ich alles andere als Furcht einflößend. Jedenfalls bis ich den Mund aufmachte und anfing, unangenehme Wahrheiten von mir zu geben. Aber auf der Straße gingen die meisten Menschen an mir vorbei, ohne mich groß zu beachten. »Mach dir keine Sorgen wegen der Kollegen. Sie sind vielleicht erst mal unsicher, aber sie sind einiges gewohnt. Die haben sogar mich aufgenommen.«

Er schien nicht überzeugt, aber er nickte gutmütig.

Vor der überfüllten Kaffee-Ecke blieb ich stehen und lächelte die anderen an, während ich auf den Zehenspitzen wippte. »So, Leute. Ich möchte euch meinen neuen Partner vorstellen, Donovan Havili. Er sieht gefährlich aus, aber in Wirklichkeit ist er ein großer Teddybär.«

»Das bin ich, der große braune Teddybär«, stimmte Havili mit einem Funken Humor zu.

Die Teammitglieder starrten mich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Verblüffung an, alle bis auf Carol, die selbstzufrieden wirkte und mit ausgestreckter Hand vortrat. »Schön, dich kennenzulernen, Donovan. Ich bin Carol Palmer, das andere Medium in diesem Laden. Oh, was für eine sympathische Aura – ich sehe schon, wir werden super klarkommen. Das hier ist Sharon, meine Schwester und mein Anker. Sie macht Buchhaltung und juristischen Kram. Die charmante, geduldige Frau zu meiner Linken ist Marcy, unsere Mitarbeiterin am Empfang, und der harte Kerl da drüben ist Tyson, unser Kriminalberater. Und unser IT-Spezialist Sho springt auch noch irgendwo herum, den müssen wir dir dann später vorstellen.«

Wahrscheinlich spürte er, dass es nicht gut ankommen würde, den anderen die Hand zu schütteln, also versuchte Donovan es gar nicht erst, sondern nickte und lächelte in die Runde. »Hallo zusammen.«

Die anderen drei nickten zögernd, dann starrten sie wieder mich an, als wäre ich ein Doppelgänger oder Klon. Das war ich gewohnt, also störte ich mich nicht weiter daran. »Komm, Donovan, wir setzen uns kurz in mein Büro. Ich erkläre dir, wie wir arbeiten. Und dann können wir gleich losziehen und uns um einen der Jobs kümmern, die heute Morgen anstehen.«

»Na klar.« Er folgte mir auf leisen Sohlen wie ein Bodyguard in Aktion. Im Ernst, seine Schritte waren kaum zu hören, was für einen Mann seiner Größe wirklich beeindruckend war.

Ich fühlte seinen Blick durchdringend und forschend auf mir ruhen und musste einen Schauer unterdrücken. Es machte mich etwas nervös, so angestarrt zu werden, selbst von einem Mann wie ihm. Besser gesagt, ganz besonders von einem Mann wie ihm.

In meinem Büro befand sich eigentlich nichts, was so funktionierte, wie man es von modernen Büros gewohnt ist. Es gab zwei bis zum Anschlag vollgestopfte Bücherregale, zwei Schreibtische, diverse Ordner und Fallakten, außerdem vier Stühle, zwei davon für Besucher. Ich zeigte auf den zweiten Schreibtisch. »Das da ist deiner. Du kannst gerne Computer und all so was installieren, aber lass mich bloß nicht in die Nähe, sonst sind deine Geräte in fünf Sekunden Toast.«

»Ernsthaft? Bist du so was wie Elektra?«

»Comic-Referenz, sehr schön«, lobte ich. »Marvel oder DC?«

Donovan grinste mich an und setzte sich auf seinen neuen Bürostuhl, dessen Kunststoffteile leise ächzten.

»Eher Marvel. Trotzdem ist und bleibt mein absoluter Favorit Green Lantern.«

»Ja? Für ihn und Batman hatte ich auch schon immer etwas übrig. Wir werden uns noch viel über Comics unterhalten, so viel kann ich dir versprechen. Aber ja, ich meine es wirklich ernst. Ich darf auf gar keinen Fall in die Nähe von Elektronik kommen. Mein Auto hat einen EMP-Schutz um den Motor und das Cockpit. Damit kann ich fahren – aber bitte versuch gar nicht erst, mich in etwas anderem abzuholen.«

»Verstehe. Muss ja ziemlich schwierig sein.«

»Es ist superschwierig.« Mittlerweile war ich so resigniert, dass ich nur noch die Achseln zuckte. »Ich muss wohl in die falsche Zeit hineingeboren worden sein. Oder vielleicht auch nicht. Vor ein paar Hundert Jahren wäre ich wahrscheinlich noch auf dem Scheiterhaufen gelandet. Na ja, jedenfalls würde ich draußen gerne alles, was mit Elektronik zu tun hat, dir überlassen, okay?«

»Roger. Kannst du mal erklären, was genau du eigentlich tust?«

»Für die Polizei arbeite ich hauptsächlich als Profiler, aber es kommen auch andere Fälle rein. Vermisste, Mord, Betrug. Bei Betrugsfällen setzen sie mich besonders gerne ein, wenn jemand mit übernatürlichen Fähigkeiten involviert ist, weil ich die Betrüger sofort von den tatsächlich Begabten unterscheiden kann. Was nicht allen klar ist, ist, dass ich nur lebende Menschen lesen kann – ich nehme keinen Kontakt zum Jenseits auf oder so. Außerdem nutzt die Polizei mich gerne als Lügendetektor.«

»Was ist mit Tieren?«

»Das ist schwieriger«, gab ich offen zu und setzte mich mit einer Pobacke auf meinen Schreibtisch. Es fühlte sich komisch an, zu stehen, wenn Donovan saß. »Manche Dinge kann ich sehen. Aber für meine Fähigkeiten gibt es keine Ausbildung. Vieles, was ich weiß, beruht einfach auf Erfahrung, manchmal sind es gut begründete Vermutungen, so in der Art läuft es. Ich habe mich hauptsächlich mit Menschen beschäftigt, Tiere sind eher zweitrangig.«

»Alles klar.« Donovan lehnte sich zurück, was der Stuhl mit einem leisen Knarzen quittierte. Ein stabilerer Bürostuhl musste her, das lag auf der Hand, denn dieser hier würde es nicht lange machen. »Und wie oft wird auf dich geschossen?«

»Nicht besonders oft«, beruhigte ich ihn und versuchte ein schiefes Lächeln. »Meistens wollen die Leute mich eher verprügeln oder gehen mit dem Messer auf mich los.«

Donovan sah mich an wie jemand, der auf die Pointe wartet. »Ehrlich jetzt? So was ist an der Tagesordnung?«

Ich rieb mir den Hinterkopf und bemühte mich um eine Erklärung: »Na ja, es ist ja auch irgendwie verständlich. Die meisten Leute würden das auch nicht so cool nehmen wie du, was ich vorhin im Vorstellungsgespräch gemacht habe. Sie würden eher wütend oder eingeschnappt reagieren. Und wenn ein Krimineller denkt, dass er keine Geheimnisse vor mir hat, dann ist das natürlich noch schlimmer. Meistens geht es darum, dass ich zum Schweigen gebracht werden soll.«

Donovan atmete durch den Mund aus und stellte nachdenklich fest: »Langsam verstehe ich, warum Jim so dringend jemanden haben will, der auf dich aufpasst. Kann dich die Polizei denn nicht vor diesen Typen schützen?«

»Ja, sicher, das versuchen sie natürlich. Aber ich arbeite ja nicht nur für die Polizei, weißt du? Wie dem auch sei, es wäre gut, wenn du die Augen offen halten könntest, wenn wir einen Job haben. Gauner mögen mich nun mal nicht besonders.« Es wurde Zeit, das Thema zu wechseln. »Heute stehen zwei Fälle an. Ich glaube kaum, dass du dir dabei Sorgen um meine Sicherheit machen musst, das wird also ein sanfter Einstieg. Ein Freund auf dem Revier hat mich gebeten, heute Vormittag Lügendetektor zu spielen, und danach begleiten wir Kurt zu einem Verhör im Gefängnis. Das sind aber beides einfache Befragungen, und bei der einen bin ich noch nicht mal mit im Raum. Alles easy.«

Donovans Miene war skeptisch. »Und wie oft haben solche easy Befragungen schon mit einer Verletzung geendet?«

»Viel zu oft«, gab ich mit einer Grimasse zu. »Darum bist du ja hier. Gehen wir?«

KAPITEL 2

Als Donovan auf dem Parkdeck hinter dem Gebäude mein Auto erblickte, kam die unvermeidliche Reaktion. Ich nannte es einfach Auto, aber in Wirklichkeit war es ein ehemaliger Militär-Humvee, von aller Elektronik befreit und mit einem EMP-Schutzschild um den Bordcomputer ausgestattet. Donovan fing an, über das ganze Gesicht zu strahlen wie ein Kind zu Weihnachten.

»Ich glaub’s nicht. Du hast nicht wirklich einen Humvee.«

»Okay«, erwiderte ich sarkastisch. »Dann hab ich wohl keinen.«

»Ich glaub’s nicht. Du hast wirklich und wahrhaftig einen Humvee«, gackerte Donovan. »Kann ich ihn mal fahren? Bitte lass mich fahren. Ich habe seit zwei Jahren nicht mehr in so einem Ding gesessen.«

Ich drückte ihm die Schlüssel in die Hand. Es war wirklich süß, wie begeistert er war. »Es wird dich freuen, dass Sitze und Aufhängung ausgetauscht wurden, er ist also sogar ganz bequem.«

Immer noch gackernd – ernsthaft, der Mann klang wie ein verrückt gewordener Hahn – stieg er in das dunkelgrüne Fahrzeug und schob als Erstes den Sitz nach hinten, damit seine Beine Platz hatten. Donovan war locker zehn Zentimeter größer als ich, und die saßen alle in den Beinen. Ich ließ ihn also ohne Kommentar machen und stieg auf der Beifahrerseite ein. Normalerweise saß ich am Steuer, damit mein Partner sich um Telefon, Papierkram und all solche spaßigen Dinge kümmern konnte. Aber heute mussten wir niemanden anrufen, es war also kein Problem, wenn Donovan fuhr.

Er schnallte sich an und fragte: »Wohin zuerst?«

»Zum Revier. Weißt du, wo das ist?« Ich setzte die dunklere Brille auf.

»Keine Sorge, ich kenne den Weg. Ich bin zwar nicht hier aufgewachsen, aber – ach so, das siehst du ja alles.«

»Nein, nein. Erzähl nur«, ermunterte ich ihn. »Es ist so: Ich sehe Emotionen und welche Art Erfahrungen jemand gemacht hat, und bis zu einem bestimmten Punkt auch die Auswirkungen auf den Körper, aber ich bin kein Telepath. Ich kann nicht alle Einzelheiten über eine Person lesen.«

Das nahm er mit einem Nicken zur Kenntnis, dann sprach er seinen Satz zu Ende. »Ich bin in den letzten drei Highschooljahren hier zur Schule gegangen, habe hier Autofahren gelernt, all so was. Die Straßen kenne ich also ganz gut, in der Innenstadt jedenfalls. Die Randbezirke sind neu für mich.«

»Nashville ist in den letzten Jahren förmlich explodiert. Heute ist es dreimal so groß wie früher, es gibt also bestimmt Gegenden, in denen du dich nicht so gut auskennst, denn die waren noch gar nicht da, als du das letzte Mal hier warst. Ich staune, dass du so schnell eine Wohnung gefunden hast.«

Donovan warf mir einen merkwürdigen Blick zu, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn, um vom Parkdeck auf die Straße abzubiegen. »Du kannst sehen, dass ich eine neue Wohnung habe?«

Und da war es wieder. Genau das war der Grund, warum ich nie mit jemandem ausging. Ich vergaß ständig, was mir tatsächlich erzählt wurde und was ich einfach gesehen hatte. Persönliche Themen versuchte ich zu vermeiden, weil sie mich bei neun von zehn Malen in Schwierigkeiten brachten. Ich verzog also das Gesicht und sah aus dem Fenster. »Tut mir leid.«

»Ist schon okay«, versicherte mir Donovan. Er klang überhaupt nicht verärgert. »Ich muss mich nur erst daran gewöhnen, was du siehst und was nicht, das ist alles. Ja, ich habe eine neue Wohnung. Also, mehr oder weniger. Meine Großmutter ist letztes Jahr gestorben, und ich wohne jetzt in ihrem Haus. Ich bin dabei, es Stück für Stück zu renovieren. Wahrscheinlich werden wir es anschließend verkaufen, es ist nicht gerade für einen Kerl von meiner Statur gebaut, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.«

»Ja, kann ich.« Um vorsichtig das Terrain zu sondieren, fragte ich zögernd: »Hast du dir so diese spektakuläre Prellung am Knie zugezogen?«

»Es ist einfach nicht genug Platz zwischen der Wanne und dem Waschtisch«, klagte Donovan.

Ich musste mir auf die Unterlippe beißen, um nicht laut loszulachen – diese morgendliche Szene konnte ich mir lebhaft vorstellen. »Mein Beileid.«

»Ach, ist schon in Ordnung. Wenigstens habe ich ein Dach über dem Kopf, und die Klimaanlage funktioniert. Oh Mann, ich hatte ganz vergessen, wie es hier in Tennessee im Frühsommer ist.«

»Heiß, feucht und regnerisch. Du bist einfach die Luftfeuchtigkeit nicht mehr gewohnt nach all der Zeit in der Wüste. Ach, verdammt. Das sollte ich eigentlich auch nicht wissen.«

Donovan hielt an einer roten Ampel. Dann wandte er sich zu mir, legte mir die Hand auf die Schulter und sah mir direkt in die Augen. Was für wunderschöne Augen er hatte, ein helles Braun mit einem goldenen Ring um die Iris. »Bane. Entspann dich. Mir scheint, du bist es gewohnt, Stress zu bekommen, weil du so viel sehen kannst. Aber weißt du was? Ich habe in meinem Leben noch nie etwas getan, wofür ich mich schämen müsste. Ich bin also ein offenes Buch, okay?«

Seine Worte waren wie ein Freispruch, und ich atmete tief und erleichtert auf. »Danke.«

»Kein Problem.« Die Ampel sprang auf Grün, und er fuhr wieder an, was der Humvee mit einem leisen Grollen quittierte. »Erzähl mal, was ist das gleich für ein Job?«

»Leider ein Routinefall, so traurig es auch ist.« Ich sah aus dem Fenster und ratterte die Einzelheiten herunter. »Eine College-Studentin kommt für ein Sommersemester hierher, lässt sich mit einem verheirateten Politiker ein, die Affäre endet unschön, und sie beschließt, zurück nach Hause zu gehen. Sie packt zusammen, sagt allen Bescheid, dass sie wieder nach Kalifornien zieht, taucht dort aber nie auf. Bevor jemandem auffällt, dass sie nicht dort ist, wo sie eigentlich sein sollte, gehen fünf Tage ins Land.«

»Und wie kommst du da ins Spiel?«

»Die Psy ist gleich zu Beginn eingeschaltet worden. Die Polizei hatte nur die Vermisstenmeldung aufgenommen, aber die Eltern befürchteten, dass ihre Tochter tot war. Sie haben uns beauftragt, weil Carol mit den entsprechenden Hilfsmitteln Dinge und Menschen ausfindig machen kann. Sie hat uns zu einem Park gelotst, wo wir ein paar Stunden lang die Büsche durchkämmt und Marsha Brown schließlich tot am Flussufer aufgefunden haben. Nachdem wir die Leiche hatten, hat die Polizei die Sache als Mordfall eingestuft und angefangen zu ermitteln. Das Problem ist, dass der ehebrechende Politiker bestreitet, etwas mit ihrem Verschwinden und dem Mord zu tun zu haben, und die Polizei kann ihm bisher nichts nachweisen.«

»Und jetzt holen sie dich, um rauszufinden, ob er lügt.« Donovan trommelte gedankenverloren aufs Lenkrad. »Um was genau geht es dabei? Einfach sehen, ob sie den Richtigen in Verdacht haben?«

»Jepp. Das würdest du doch auch machen. Wieso sollte man Zeit und Manpower verschwenden, wenn man nicht wirklich sicher ist, dass er es war? Wieso sollte man nicht mich nutzen, um das zu klären? Ich bin zuverlässiger als jeder Lügendetektor. Sollte er schuldig sein, kann man danach Beweise suchen. Es ist günstiger für die Polizei und lukrativ für mich. Eine Win-win-Situation.«

»Hast du diesen fremdgehenden Mistkerl schon gesehen?«

»Noch nicht. Wir haben den Fall letzte Woche erst übernommen, und wie alles, bei dem Behörden involviert sind, dauert es etwas.« Ich studierte aus dem Augenwinkel seinen Gesichtsausdruck, aber es schien ihn nicht weiter zu beunruhigen, mit Mord, Leichen und betrügerischen Schweinehunden zu tun zu bekommen. Aber natürlich hatte er schon weit Schlimmeres erlebt. »Ich habe ein, nein, zwei Anliegen an dich, wenn wir gleich aufs Revier kommen. Die haben da diese ganzen elektronischen Schließanlagen, und sie werden sauer, wenn ich sie kaputt mache. Du müsstest mir also bitte die Türen aufhalten.«

»Na klar«, erwiderte Donovan einfach und bog rechts Richtung Innenstadt ab. »Was noch?«

»Wir haben ein System. Der Polizist, der das Verhör führt, hat einen Knopf im Ohr, sodass ich ihm von der anderen Seite des Verhörspiegels aus Hinweise geben kann. Normalerweise hält jemand das Walkie-Talkie für mich, oder wir kleben es irgendwo an. Von jetzt an ist das dein Job.«

Donovan nickte, während er an der letzten Ampel vor dem Parkplatz des Polizeireviers abbremste. »Was ist denn für dich ein sicherer Abstand?«

»Fünf Meilen«, scherzte ich und musste grinsen, als er die Augen verdrehte. »Nein, ganz im Ernst – am besten so weit wie möglich. Mindestens dreißig Zentimeter von mir weg, wenn das geht.«

»Dreißig Zentimeter?« Wir fuhren über die erste Rüttelschwelle, die im Humvee kaum zu spüren war, und Donovan lenkte den Wagen flüssig auf zwei Plätze am hinteren Ende des Parkplatzes. Dieses Monster war einfach zu groß für einen einzigen Parkplatz. »Ernsthaft, so elektrisch bist du?«

»Leider ja«, seufzte ich und kippte den Rest meines lauwarmen Kaffees hinunter. »Eine Sache solltest du noch wissen. Die Beamten hier sind uns wohlgesinnt, die meisten jedenfalls, aber ein paar Ausnahmen gibt es auch. Lass dich von denen nicht ärgern. Wir wurden von Detective Borrowman einbestellt. Er ist ein Freund von mir, also sollte es dieses Mal keine Probleme geben. Trotzdem. Wenn jemand anfängt, mich zu provozieren, sagst du am besten nichts dazu und guckst ihn einfach böse an.«

Donovan hielt inne, als er die Tür schon aufgestoßen hatte, das eine Bein noch in der Luft. Sein Blick war wieder so durchdringend, dass ich das Gefühl hatte, er könnte durch mich hindurchsehen. »Ich vermute, dazu gibt es eine Geschichte.«

»Ja, und es waren ruinierte Telefone, ein Laptop, das ich vielleicht, vielleicht auch nicht mit Absicht angefasst habe, und Vernachlässigung polizeilicher Dienstpflicht mit im Spiel«, erwiderte ich mit einer Grimasse. »Das kann ich dir später alles in Ruhe erzählen. Jetzt gehen wir erst mal rein. Oh, und bevor ich es vergesse – du bist offiziell Kriminalberater, und wenn jemand fragt, nennst du deinen Namen und sagst, dass du bei der Agentur arbeitest. Dann bekommst du keinen Stress.«

»Verstanden.«

Ich wurde das Gefühl nicht los, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Hoffentlich würde es mir wieder einfallen, bevor wir in Schwierigkeiten gerieten. Ich stieg aus, warf mir meine Ledertasche über die Schulter und ging vor durch die schmierige Hintertür der Polizeistation. Keine Ahnung, warum, aber dieses Revier sah für mich immer irgendwie dreckig aus. Ich wusste, dass hier regelmäßig sauber gemacht wurde, und man roch auch die Putzmittel, aber hier hatten fünfzig Jahre Schmutz ihre Spuren hinterlassen, und um den Laden wieder blitzblank zu bekommen, würde es mehr brauchen als eine Behandlung mit dem Wischmopp. Eine Bombe vielleicht.