Eisige Gezeiten - Morgan Rhodes - E-Book

Eisige Gezeiten E-Book

Morgan Rhodes

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Reich des Westens ist die junge Cleo aus dem besiegten Hause Auranos in der Ehe mit Prinz Magnus gefangen. Der Hass zwischen ihren Familien sitzt so tief, dass keiner von beiden sich eingestehen will, was sie wirklich füreinander empfinden. Doch Cleo fühlt sich auch zu dem kämpferischen Jonas von Paelsia hingezogen, der an nichts anderes mehr denken kann, als sie zu befreien. Derweil greift jenseits der Silbernen See eine gefährliche Macht nach der uralten Magie der Elemente, um die Herrschaft über alle Reiche an sich zu reißen. Nur ein Bündnis zwischen Magnus, Cleo und Jonas könnte die Gefahr noch abwehren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 581

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Ein eisiger Wind weht im Reich des Westens. Zwischen den drei blutig vereinten Königreichen Limeros, Auranos und Paelsia schwelen die Konflikte. Gleichzeitig erhebt sich jenseits der Silbernen See ein tödlicher Feind: Das mächtige Reich Kraeshia strebt nach der Elementia, der uralten Magie der Elemente, und steht nun dem Reich des Westens bedrohlich gegenüber. Für die drei jungen Thronfolger von Limeros, Auranos und Paelsia scheint die Lage auswegloser denn je. Während Blutkönig Gaius nach Kraeshia segelt, muss sein Sohn Magnus, der nach außen hin kühle Prinz von Limeros, den Thron besteigen. Magnus sucht die Anerkennung seines Vaters – und doch ist ihm dessen grausame Herrschaft zutiefst zuwider. Seine neue Stellung belastet auch sein Verhältnis zu Prinzessin Cleiona aus dem besiegten Hause Auranos. Einerseits ist Cleiona in der Ehe mit Magnus gefangen und wünscht sich nichts sehnlicher, als ihr Königreich zurückzuerobern, andererseits hegt sie starke Gefühle für ihn. Doch Cleo verbindet auch eine Freundschaft mit dem kämpferischen Jonas von Paelsia, der an nichts anderes mehr denken kann, als sie zu befreien. Als sich die skrupellose Thronerbin von Kraeshia anschickt, die Herrschaft über alle Reiche an sich zu reißen, könnte nur ein Bündnis zwischen Magnus, Cleo und Jonas die Gefahr noch abwehren …

Weitere Informationen zu Morgan Rhodes

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Morgan Rhodes

Eisige

Gezeiten

Falling Kingdoms

Band 4

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Anna Julia Strüh

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Frozen Tides« bei Razorbill, an Imprint of Penguin Random House, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2017

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Penguin Random House LLC

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in

any form. This edition published by arrangement with Razorbill, an imprint of

Penguin Young Readers Group, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München, Landkarte: © Penguin Random House LLC

Redaktion: Lothar Strüh

KS · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-21050-2V001

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

PERSONEN DER HANDLUNG

LIMEROS

Magnus Lukas Damora

Der Prinz

Lucia Eva Damora

Adoptierte Prinzessin; prophezeite Magierin

Gaius Damora

Der König von Mytica

Felix Gaebras

Assassine des Kobra-Klans

Gareth Cirillo

Königsvasall

Kurtis Cirillo

Sohn von Lord Gareth

Lord Francus

Mitglied des Königlichen Rats

Lord Loggis

Mitglied des Königlichen Rats

Hohepriester Danus

Mitglied des Königlichen Rats

Milo Iagaris

Palastwache

Enzo

Palastwache

PAELSIA

Jonas Agallon

Anführer der Rebellen

Lysandra Barbas

Rebellin

Olivia

Eine Hexe

Laelia

Eine Tänzerin in einer ­Taverne

AURANOS

Cleiona (Cleo) Aurora Bellos

Prinzessin von Auranos

Nicolo (Nic) Cassian

Cleos bester Freund

Nerissa Florens

Cleos Zofe

Galyn

Tavernenbesitzer

Bruno

Galyns Vater

KRAESHIA

Cyrus Cortas

Imperator

Dastan

Prinz, Erstgeborener

Elan

Prinz, Zweitgeborener

Ashur Cortas

Prinz, Drittgeborener

Amara Cortas

Prinzessin, Viertgeborene

Neela

Amaras Großmutter

Mikah Kasro

Kraeshianische Wache

Taran

Revolutionär

DAS HEILIGTUM

Timotheus

Ältester

Kyan

Die Feueressenz

PROLOG

35 JAHRE ZUVOR

Das schwarze Monster streckte seine grässlichen langen Klauen nach dem Jungen aus, drückte ihn aufs Bett, nahm ihm die Luft zum Atmen. Das tat es jede Nacht. Und jede Nacht hatte er schreckliche Angst.

»Nein«, flüsterte er. »Das ist kein Monster, sondern nur die Dunkelheit. Es ist nur die Dunkelheit!«

Er war kein kleines Kind mehr, das sich im Dunkeln fürchtete. Er war fast acht, und er schwor bei der Göttin, dass er diesmal nicht nach seiner Mutter schreien würde.

Doch seine Entschlossenheit hielt nur kurz an, dann gewann die Angst die Oberhand. »Mama!«, rief er. Wie immer kam sie sofort und setzte sich zu ihm auf die Bettkante.

»Mein Liebling.« Sie nahm ihn in die Arme, und er klammerte sich an sie, obwohl er sich dabei wie ein schwächlicher Versager fühlte, vergrub das Gesicht an ihrer Schulter und schluchzte.

»Jetzt ist alles gut. Ich bin bei dir.«

Licht schien auf, als sie die Kerze neben seinem Bett entzündete. Obwohl ihr schönes Gesicht im Schatten lag, konnte er die Wut darin sehen, doch er wusste, dass sie nicht ihm galt. »Ich habe ihnen so oft gesagt, dass sie nachts eine Kerze in deinem Zimmer brennen lassen sollen.«

»Vielleicht hat der Wind sie ausgeblasen«, wandte er ein, denn er wollte nicht, dass seine Kindermädchen seinetwegen Ärger bekamen.

»Ja, vielleicht.« Sie legte ihm eine Hand an die Wange. »Fühlst du dich jetzt besser?«

Nun, da die Finsternis vertrieben und seine Mutter bei ihm war, fühlte er sich nur noch lächerlich. »Tut mir leid. Ich hätte mutiger sein sollen.«

»Viele fürchten sich vor der Dunkelheit, und das aus gutem Grund«, erwiderte sie. »Du bist nicht der Einzige, der darin ein schreckliches Monster sieht. Aber ein Monster kann man nur besiegen, indem man … was tut?«

»Indem man sich mit ihm anfreundet.«

»Ganz genau.« Sie machte eine beiläufige Handbewegung in Richtung der Laterne an der Wand und entzündete sie mit ihrer Feuermagie. Starr vor Ehrfurcht schaute er zu, wie er es immer tat, wenn sie ihre Elementia einsetzte. Als sie sein entgeistertes Gesicht sah, hob sie eine Augenbraue. »Du denkst doch nicht, dass ich ein Monster bin, oder?«

»Natürlich nicht«, antwortete er ohne Zögern und schüttelte heftig den Kopf. Seine Mutter war eine Hexe – dieses Geheimnis hatte sie nur ihm anvertraut. Sie hatte ihm erzählt, dass manche Leute Angst vor Hexen hatten und sie für böse hielten, aber sie irrten sich. »Erzähl mir die Geschichte noch mal«, sagte der Junge.

»Welche Geschichte?«

»Über die Essenzen.« Das war seine Lieblingsgeschichte, und sie half ihm in unruhigen Nächten, wieder einzuschlafen.

»In Ordnung.« Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie die kleine Hand ihres Sohnes in ihre nahm. »Es waren einmal vier Kristallkugeln, die von Unsterblichen sorgsam gehütet wurden. Jede Kugel enthielt reine Elementarmagie – die Magie, die alles Leben möglich macht. Es hieß, man könne sehen, wie die Magie in ihnen endlos umherschwirrt, und jeder, der sie in der Hand hält, spüre ihre Macht. Die Bernsteinkugel barg Feuermagie. Der Aquamarin Wassermagie. Der Mondstein Luftmagie. Und die dunkelste Kugel, ein Obsidian, barg Erdmagie. Als die unsterblichen Göttinnen Valoria und Cleiona vor ihren Feinden flohen und hierher in unsere Welt kamen, brachten sie je zwei der Kugeln mit, die ihnen unvorstellbare Kräfte verliehen. Welche hat Valoria besessen und beschützt, Liebling?«

»Erde und Wasser.«

»Und Cleiona?«

»Feuer und Luft.«

»Richtig. Doch schon bald genügte es den Göttinnen nicht mehr, jeweils nur zwei der Essenzen zu besitzen. Sie wollten beide mehr, sodass sie alleine über die Welt herrschen und niemand ihnen mehr in die Quere kommen könnte.« Wenn seine Mutter diese Geschichten erzählte, nahmen ihre Augen immer einen verträumten, abwesenden Ausdruck an. »Leider ließ die Gier nach Macht die beiden Unsterblichen, die einst Schwestern gewesen waren, zu den erbittertsten Feindinnen werden. Sie kämpften in einem großen, fürchterlichen Krieg gegeneinander. Letztendlich trug keine von ihnen den Sieg davon. Sie wurden beide vernichtet, und die Kristalle gingen verloren. Seither schwindet die Magie aus dieser Welt – und sie wird weiter schwinden, bis jemand die Essenzen findet und ihre Magie freisetzt.

Eine uralte Prophezeiung besagt, dass eines Tages ein Kind mit mächtigen magischen Fähigkeiten geboren werden wird, wie sie seit tausend Jahren niemand zu Gesicht bekommen hat, mit denen es über alle vier Elemente gebieten kann.« Dazu wäre eine Hexe wie seine Mutter nie imstande. Sie konnte Feuermagie wirken – gerade genug, um eine Kerze zu entzünden – und mithilfe von Erdmagie seine aufgeschürften Knie und andere kleine Wunden heilen, aber mehr nicht. »Dieses prophezeite Kind wird der Schlüssel zu den Essenzen sein – und zu ihrer gewaltigen Macht.« Ihr Gesicht hatte sich vor Aufregung gerötet. »Natürlich halten das viele für einen Mythos.«

»Aber du glaubst, dass es wahr ist.«

»Von ganzem Herzen.« Sie drückte seine Hand. »Und außerdem glaube ich, dass du derjenige sein wirst, der dieses unendlich wichtige, magische Kind findet – du, mein Liebling, wirst diesen Schatz für dich beanspruchen. Das wusste ich bereits im Moment deiner Geburt.«

Wann immer sie ihm das sagte, fühlte er sich sehr besonders, aber es dauerte nie lange, dann schlichen sich die Zweifel wieder ein, und das Gefühl verging.

Als würde sie seine Unsicherheit spüren, nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und sah ihm tief in die Augen. »Du wirst nicht immer Angst im Dunkeln haben. Eines Tages wirst du stark und mutig sein – von Jahr zu Jahr wirst du immer tapferer werden. Die Dunkelheit wird dir keine Angst mehr machen. Nichts wird dir Angst machen. Und wenn du erst frei von Furcht bist, wirst du deinen rechtmäßigen Platz in der Welt einnehmen und deine Bestimmung erfüllen.«

»Wie Vater?«

Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. »Nein. Du wirst viel stärker sein, als er es je sein könnte.«

Die Zukunft, die sie für ihn voraussah, klang so fantastisch, dass er sie jetzt gleich erleben wollte. »Wann werde ich mich ändern?«

Sie küsste ihn auf die Stirn. »Die wichtigsten Veränderungen erfordern Zeit und Geduld. Aber ich glaube an dich – fester als ich je an irgendjemand anderen geglaubt habe. Du bist zu Großem bestimmt, Gaius Damora. Und ich schwöre dir: Ganz gleich, was ich dafür tun muss, du wirst wahre Größe erlangen.«

KAPITEL 1

MAGNUS

LIMEROS

Frauen sind hinterlistige, gefährliche Kreaturen. Sie gleichen alle giftigen Spinnen, die mit einem einzigen Biss töten können. Denk immer daran.«

Dieser Rat, den sein Vater ihm einst gegeben hatte, klang in Magnus’ Erinnerung nach, während er vom Hafen in Rabenhorst zusah, wie das Schiff der Kraeshianer in der Dunkelheit verschwand. Der König hatte keiner Frau je völlig vertraut. Weder seiner Königin noch seiner früheren Geliebten und Beraterin, ja, nicht einmal der Unsterblichen, die ihm in seinen Träumen Geheimnisse zuflüsterte. Das meiste, was sein skrupelloser Vater sagte, ignorierte Magnus einfach, doch jetzt hatte er Bekanntschaft mit der gefährlichsten, hinterlistigsten Frau von allen gemacht.

Amara Cortas hatte die Essenz – eine Aquamarinkugel, die reine Wassermagie enthielt – gestohlen und auf ihrer Flucht eine Spur von Tod und Zerstörung hinterlassen.

Das bitterkalte Schneegestöber drang ihm unter die Haut und betäubte den Schmerz in seinem gebrochenen Arm. Es würde noch Stunden dauern, bis die Sonne aufging, und die Nacht war frostig genug, dass er sich den Tod holen könnte, wenn er nicht vorsichtig war.

Und dennoch starrte er weiter wie gelähmt auf das schwarze Wasser hinaus – irgendwo dort draußen war der gestohlene Schatz, der ihm zustand.

»Was jetzt?« Cleos Stimme riss ihn aus seinen düsteren Gedanken.

Einen Moment hatte er vergessen, dass er nicht allein war.

»Was jetzt, Prinzessin?«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und bei jedem Wort bildeten sich kleine Dampfwolken vor seinem Mund. »Nun, ich denke, wir sollten die kurze Zeit genießen, die uns noch bleibt, ehe die Männer meines Vaters hier auftauchen und uns auf der Stelle hinrichten.«

Auf Verrat stand die Todesstrafe, selbst wenn der Betroffene der Thronerbe war. Und er hatte zweifellos Verrat begangen, als er ebenjener Prinzessin, die nun neben ihm stand, zur Flucht verholfen hatte.

»Ich habe einen Vorschlag, Eure Hoheit.« Es war Nics schneidende Stimme, die die Stille durchbrach. »Wenn Ihr damit fertig seid, das Wasser nach Hinweisen abzusuchen, springt doch einfach rein und schwimmt diesem mörderischen Miststück hinterher.«

Wie üblich, wenn er mit Magnus sprach, troff die Stimme von Cleos Lieblingslakai vor unverhohlener Verachtung. »Wenn ich eine Chance sehen würde, sie zu fassen, würde ich es tun«, entgegnete er in ebenso giftigem Ton.

»Wir werden uns die Essenzen zurückholen«, meinte Cleo. »Und Amara wird für ihre Taten büßen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Eure Zuversicht teile.« Erst jetzt sah Magnus über die Schulter zu ihr hinüber; Prinzessin Cleiona Bellos, deren vertraute Schönheit momentan nur vom Licht des Mondes und ein paar Laternen entlang des Piers erleuchtet wurde.

Er sah sie noch immer nicht als Damora. Vor ihrer Hochzeit hatte sie darum gebeten, ihren Familiennamen behalten zu dürfen, und er hatte zugestimmt. Der König hatte ihn scharf dafür zurechtgewiesen, dass er ihr – einer Prinzessin, die zwangsverheiratet worden war, um die Eroberer, die ihr Königreich eingenommen hatten, in den Augen ihres Volkes besser dastehen zu lassen und hoffentlich einen Aufstand zu verhindern – überhaupt irgendwelche Freiheiten gewährte.

Trotz des pelzgefütterten Umhangs mit Kapuze, die sie sich über den Kopf gezogen hatte, um ihre goldenen Haare vor dem Schnee zu schützen, fröstelte Cleo. Ihr Gesicht war blass, und sie schlang die Arme fest um sich.

Auf ihrer zügigen Reise vom Tempel der Valoria zurück in die Stadt hatte sie sich kein einziges Mal über die Kälte beschwert. Überhaupt hatten sie bis jetzt kaum ein Wort miteinander gewechselt.

»Nenn mir doch einen einzigen Grund, warum du nicht zugelassen hast, dass Cronus mich einen Kopf kürzer macht«, hatte sie verlangt, als sie ihn in Lady Sophias Villa zur Rede stellte.

Und anstatt weiter zu leugnen, was er getan hatte – dass er den Hauptmann der Wache getötet hatte, weil der die eingekerkerte Prinzessin auf Geheiß des Königs hinrichten sollte –, hatte er ihr eine ehrliche Antwort gegeben. Die Worte hatten sich seiner Kehle entrissen, als hätte er keinerlei Kontrolle über sie.

»Du bist der einzige Lichtblick, den ich noch sehe«, hatte er geflüstert. »Und koste es, was es wolle, dieses Licht lasse ich nicht ausgehen.«

Magnus wusste, dass er Cleo mit diesen Worten viel zu viel Macht über sich gegeben hatte. Auch jetzt noch spürte er diese Schwäche – tausendfach verstärkt durch die Ereignisse letzte Nacht, angefangen mit dem welterschütternden Kuss nach seinem törichten Geständnis, wie viel sie ihm bedeutete.

Zum Glück waren sie unterbrochen worden, bevor er sich völlig in dem Kuss verlor.

»Magnus? Alles in Ordnung?« Cleo berührte ihn am Arm, doch er versteifte sich und entzog sich ihrem Griff, als hätte sie ihn verbrannt. In ihren blaugrünen Augen rangen Verwirrung und Sorge miteinander.

»Mir geht’s gut.«

»Aber dein Arm …«

»Mir geht’s gut!«, wiederholte er, diesmal nachdrücklicher.

Sie presste die Lippen aufeinander, und ihre Miene verfinsterte sich. »Schön.«

»Wir brauchen einen Plan«, warf Nic ungehalten ein. »Und zwar sofort, bevor wir hier draußen erfrieren.«

Magnus riss den Blick von der Prinzessin los und wandte sich dem rothaarigen, mit Sommersprossen übersäten Jüngling zu, der ihm immer wie ein schwächlicher Taugenichts vorgekommen war … zumindest bis heute Nacht.

»Du willst einen Plan?«, knurrte Magnus. »Hier hast du einen: Nimm deine heißgeliebte Prinzessin und verschwindet. Steigt aufs nächste Schiff nach Auranos. Wandert nach Paelsia. Macht, was Ihr wollt. Ich sage meinem Vater, Ihr wärt tot. Wenn Ihr am Leben bleiben wollt, müsst Ihr ins Exil gehen.«

Nics Augen funkelten vor Überraschung, als wäre dies das Letzte, was er von Magnus erwartet hätte. »Ist das Euer Ernst? Ihr lasst uns gehen?«

»Ja, verschwindet von hier.« Das war für alle das Beste. Cleo war zu einer gefährlichen Ablenkung geworden, und Nic war bestenfalls ein Ärgernis und schlimmstenfalls eine Bedrohung. »Das ist ein Befehl.«

Er schaute zu Cleo auf und erwartete, Erleichterung in ihren Augen zu sehen.

Doch stattdessen sah er nichts als ungläubige Wut.

»Ein Befehl, ja?«, fauchte sie ihn an. »Du hättest es bestimmt viel leichter, wenn wir nicht da wären, stimmt’s? Dann könntest du deine Schwester ganz einfach ausfindig machen und dir die übrigen Essenzen unter den Nagel reißen.«

Die Erinnerung an Lucia, die mit Alexius nach Limeros durchgebrannt war, um ihn zu heiraten, traf Magnus wie ein Schlag. Als sie den Tempel erreicht hatten, war überall Blut gewesen – und das konnte durchaus von Lucia stammen.

Sie muss noch leben. Er weigerte sich, irgendetwas anderes in Betracht zu ziehen. Sie war am Leben, und wenn er sie fand, würde er Alexius umbringen.

»Glaubt, was Ihr wollt, Prinzessin«, erwiderte er und wandte sich wieder dringlicheren Angelegenheiten zu. Natürlich wollte er die Essenzen für sich selbst. Erwartete sie etwa, dass er sie mit einem Mädchen teilte, das schon fast seit ihrer ersten Begegnung unentwegt auf eine Gelegenheit lauerte, ihren Thron zurückzuerobern? Mit der Macht der Essenzen könnte sie nicht nur ihren eigenen Thron erobern, sondern jeden Thron, den sie wollte.

Er selbst musste diese Macht erlangen – niemand sonst –, und dann würde er endlich die volle Kontrolle über sein Leben und seine Zukunft haben; dann müsste er sich vor niemandem mehr fürchten und wäre niemandem mehr Rechenschaft schuldig.

Daran konnte nicht einmal das, was zwischen Cleo und ihm vorgefallen war – was immer das auch gewesen sein mochte –, etwas ändern. Sie waren Widersacher, die beide für sich dasselbe wollten, und nur einer von ihnen konnte sein Ziel erreichen. Er würde nicht alles aufgeben, wonach er immer schon gestrebt hatte – für niemanden.

Ein bisschen Farbe war in die Wangen der Prinzessin zurückgekehrt, und ihre Augen blitzten vor Verärgerung. »Ich gehe nirgendwohin. Wir werden gemeinsam zum Palast fahren. Und wir werden gemeinsam nach Lucia suchen. Und wenn dein Vater kommt, um uns zu töten, werden wir uns seinem Zorn gemeinsam stellen.«

Magnus starrte die erboste Prinzessin grimmig an. Sie begegnete seinem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Schultern gestrafft, das Kinn gereckt, erinnerte sie an eine Fackel, die selbst in dieser kalten, endlosen Nacht hell loderte.

Wie sehr er sich wünschte, er könnte sie hassen …

»Also gut«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Aber vergesst nicht, diese Entscheidung habt Ihr ganz allein getroffen.«

Kurz nach Sonnenaufgang erreichte ihre Kutsche das Palastgelände von Limeros und passierte den bewachten Kontrollpunkt. Am Rande der Klippe gelegen, die zur Silbernen See hinabfiel, stand das schwarze Schloss in starkem Kontrast zu seiner blütenweißen Umgebung. Die Obsidian-Türme ragten hoch in den Morgenhimmel wie die Klauen eines dunklen, mächtigen Gottes.

Viele empfanden diesen Anblick als bedrohlich, doch Magnus fühlte sich hier zu Hause. Ein Anflug von Nostalgie durchströmte ihn; Erinnerungen an einfachere Zeiten, an Ausritte und Schwertkampf-Übungsstunden mit den Söhnen hiesiger Adliger. An Erkundungsausflüge mit Lucia, die immer ein Buch dabeihatte. An die Königin, die sich in Pelze gehüllt nach draußen wagte, um wichtige Gäste zu empfangen, die zu einem Bankett angereist waren. An seinen Vater, der mit den Früchten einer erfolgreichen Jagd nach Hause zurückkehrte und seinen jungen Sohn mit einem seltenen Lächeln begrüßte.

Überall, wohin er auch sah, waren Geister der Vergangenheit.

Magnus stieg aus der Kutsche und die Dutzenden Stufen hoch, die zu dem großen, massiven Haupttor hinaufführten – auf seiner Elfenbein-Oberfläche prangten das limerianische Wappen (eine Kobra vor gekreuzten Schwertern) und das Credo STÄRKE, GLAUBE, WEISHEIT. Er konnte hören, wie Cleo und Nic, die ihm in einigem Abstand folgten, aufgeregt miteinander tuschelten.

Magnus hatte ihnen oft genug die Chance gegeben, sich einfach zu verdrücken, doch stattdessen hatten sie beschlossen, ihn hierher zu begleiten. Was immer jetzt geschehen mochte, hatten sie allein sich selbst zuzuschreiben.

Vor den Eingangstüren standen zwei Wachen in der steifen roten Uniform der limerianischen Palastgarde, zum Schutz gegen die Kälte in gefütterte schwarze Umhänge gehüllt. Magnus wusste, dass er sich nicht vorzustellen brauchte. Die Gardisten salutierten vor ihm.

»Eure Hoheit!«, rief der eine, dann breitete sich Überraschung auf seinem Gesicht aus, als er Cleo und Nic bemerkte. »Hoheiten«, verbesserte er sich. »Geht es Euch gut?«

Angesichts seines gebrochenen, unbeholfen angewinkelten Arms, seines zerschrammten Gesichts und seines allgemein ziemlich ramponierten Aussehens wunderte es Magnus nicht, dass der Wachmann sich danach erkundigte. »Gut genug«, meinte er. »Öffnet das Tor.«

Einem niederen Wachmann musste er nicht erklären, warum er unangekündigt und noch dazu in einer solchen Verfassung in den Palast zurückkehrte. Das hier war sein Zuhause, und es war sein gutes Recht herzukommen, insbesondere wenn er gerade knapp dem Tod durch Amaras Handlanger entronnen war.

Und dennoch konnte er nicht einfach über die beunruhigende Tatsache hinwegsehen, dass womöglich bereits ein Haftbefehl gegen ihn im Palast eingegangen war. Als die Wachen das Tor anstandslos öffneten, atmete er auf und merkte erst da, dass er unbewusst die Luft angehalten hatte.

Er nahm sich einen Moment Zeit, um die Fassung wiederzuerlangen, betrat die große Eingangshalle, ließ den Blick schweifen und begutachtete eingehend die gewundene, in die Steinwände eingemeißelte Treppe, als würde er nach Mängeln suchen. »Wer hat hier das Sagen, solange Lord Gareth in Auranos weilt? Ich nehme an, er ist noch nicht von der Hochzeit seiner Tochter zurückgekehrt.«

»Lord Gareth wird erst in einigen Wochen zurückerwartet. In seiner Abwesenheit wurde Lord Kurtis zum Königsvasallen ernannt.«

Magnus traute seinen Ohren nicht. »Lord Kurtis Cirillo wurde zum Königsvasallen ernannt?«, fragte er nach einem Moment verblüfften Schweigens.

»Ja, Hoheit.«

Kurtis Cirillo, Lord Gareths ältester Sohn, herrschte derzeit über Limeros. Das war gelinde gesagt eine Überraschung, da Magnus vor Monaten das Gerücht zu Ohren gekommen war, Kurtis sei auf Reisen im Ausland ertrunken.

Doch offenbar entsprach das Gerücht nicht der Wahrheit – leider.

»Ich bin Euch bei meinem letzten Besuch hier begegnet«, sagte Cleo zu dem Wachmann und nahm ihre Kapuze ab. »Enzo, richtig?«

»Ja, genau.« Der Gardist beäugte sichtlich betroffen ihren zerrissenen Umhang und das getrocknete Blut in ihren goldblonden Haaren. »Hoheit, soll ich den Palastarzt rufen?«

Cleo berührte gedankenverloren die kleine, aber fiese Wunde an ihrer Stirn, die ihr einer von Amaras Handlangern zugefügt hatte. »Nein, nicht nötig. Danke.« Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ihr seid sehr freundlich. Daran erinnere ich mich noch vom letzten Mal.«

Enzos Wangen waren im Nu so knallrot angelaufen wie seine Uniform. »Ihr macht es einem sehr leicht, freundlich zu sein, Hoheit.«

Magnus verkniff sich ein entnervtes Augenrollen. Wie es schien, hatte die Prinzessin noch eine unglückselige Fliege in ihrem Netz gefangen.

»Enzo«, sagte er in gebieterischem Ton, und sofort galt die Aufmerksamkeit des Wachmanns ganz allein ihm. »Sag Lord Kurtis, dass ich ihn umgehend im Thronsaal sprechen möchte.«

»Ja, Hoheit.« Der junge Gardist verbeugte sich hastig und eilte ohne ein weiteres Wort davon.

»Kommt«, sagte Magnus zu Cleo und Nic, drehte sich auf dem Absatz um und machte sich auf den vertrauten Weg durch die Palastgänge.

»Kommt«, schnaubte Nic. »Er kommandiert uns rum wie dressierte Hunde.«

»Ich bin nicht sicher, ob der Prinz je gelernt hat, wie man höflich mit jemandem spricht«, meinte Cleo.

»Und dennoch«, gab Magnus ausdruckslos zurück, »folgt Ihr mir.«

»Fürs Erste. Aber Ihr solltet daran denken, dass man mit Charme viel mehr Türen öffnet als mit barschen Worten.«

»Und mit einer scharfen Axt öffnet man jede Tür.«

Am Eingang zum Thronsaal standen mehrere Wachen, die alle salutierten, als sie Magnus sahen. Hier war keine Axt erforderlich – sie drückten die Türen so schnell auf, dass er hindurchlaufen konnte, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten.

Drinnen blickte er sich um. Auf der einen Seite des riesigen Raums erhob sich der schwarze, aus Eisen und Leder gefertigte Thron seines Vaters auf einem Podest, auf der anderen stand ein langer, bestuhlter Tisch für die Ratssitzungen. Die Wände waren mit limerianischen Bannern und Wandteppichen behängt, und Fackeln erleuchteten die Zierleisten, wo das Licht, das durch die großen Fenster hereinschien, nicht hingelangte.

Dieser Saal wurde für viele offizielle Anlässe genutzt. Hier empfing der König die limerianischen Bittsteller und entschied über ihre zahllosen Gesuche um finanzielle Unterstützung oder Gerechtigkeit im Hinblick auf irgendwelche Missetaten, deren Opfer sie geworden waren. Hier verurteilte er Gefangene für ihre Verbrechen und hielt Zeremonien ab, bei denen sowohl Würdige als auch Unwürdige hochtrabende Titel wie Königsvasall verliehen bekamen.

Aus dem Augenwinkel sah Magnus, dass Cleo näher an ihn herangetreten war.

»Ihr kennt Lord Kurtis bereits, nicht wahr?«, wollte sie wissen.

Magnus hielt seinen Blick auf den Thron gerichtet. »Ja.«

»Und Ihr mögt ihn nicht.«

»Ich mag niemanden, Prinzessin.«

Nic schnaubte.

Stille senkte sich über den Raum, während Magnus überlegte, wie er mit dem komplizierten Schlamassel, zu dem sein Leben geworden war, umgehen sollte. Er fühlte sich in eine Ecke gedrängt: verwundet, unbewaffnet und viel zu verletzlich. Sein gebrochener Arm pochte, doch anstatt den Schmerz zu ignorieren, konzentrierte er sich darauf, um sich von dem unaufhörlichen Tumult in seinem Innern abzulenken.

Seine letzte Begegnung mit Kurtis Cirillo war sechs Jahre her, dennoch erinnerte er sich so deutlich daran, als wäre es gestern gewesen.

An jenem Tag hatte die Sonne ungewohnt hell und warm geschienen, und der Schnee war so weit geschmolzen, dass Eislilien aus dem gefrorenen Boden gewachsen waren. Ein hierzulande äußerst seltener Sommerschmetterling, die goldenen Flügel mit blauen und violetten Punkten gesprenkelt, war im Garten am Rand der Klippe auf einer der Blumen gelandet. In Limeros galten Sommerschmetterlinge als Glücksbringer, da sie nie länger lebten als einen Tag.

Magnus hatte die rechte Hand ausgestreckt, und zu seinem Erstaunen kletterte der Falter auf seinen Knöchel, seine dünnen Beinchen kitzelten auf seiner Haut. Aus der Nähe war der Schmetterling so wunderschön, dass er fast nicht von dieser Welt zu sein schien.

»Ist das ein Schmetterling?«

Beim Klang von Kurtis’ schneidender Stimme überlief es Magnus eiskalt. Kurtis war vierzehn, er selbst erst zwölf, und der König bestand darauf, dass er stets freundlich zu dem älteren Jungen war, wenn Lord Gareth zu Besuch kam. Zu Kurtis freundlich zu sein, war allerdings alles andere als leicht, denn er verursachte Magnus schon aus zehn Schritten Entfernung eine Gänsehaut.

»Ja«, antwortete Magnus widerwillig.

Kurtis kam näher. Er war einen ganzen Kopf größer als Magnus. »Du solltest ihn töten.«

Magnus riss entsetzt die Augen auf. »Was?«

»Wenn er so dumm ist, einfach nur auf deiner blassen kleinen Hand zu hocken, verdient er es zu sterben.«

»Nein.«

»Du bist der Kronprinz. Irgendwann musst du mal erwachsen werden. Du wirst Menschen töten müssen, ohne danach rumzuheulen. Dein Vater würde dieses Viech ohne Zögern zerquetschen. Und ich auch. Sei nicht so ein Schwächling.«

Magnus wusste bereits, dass Kurtis gerne Tiere quälte. Bei seinem letzten Besuch hatte er eine streunende Katze abgeschlachtet und ihre zuckenden Überreste in einem Korridor hinterlassen, wo Lucia sie, wie er wusste, ganz sicher finden würde. Sie hatte tagelang geweint.

»Ich bin kein Schwächling!«, stieß Magnus zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Kurtis grinste. »Dann beweis es. Töte das Biest, bevor es wegfliegen kann, oder ich schwöre dir, wenn ich das nächste Mal zu Besuch komme, werde ich …«, er beugte sich vor und flüsterte Magnus ins Ohr, »… deiner Schwester den kleinen Finger abschneiden.«

Wie betäubt vor Entsetzen starrte Magnus ihn an. »Das werde ich meinem Vater erzählen. Dann darfst du nie wieder herkommen.«

»Nur zu, geh petzen. Ich werde einfach alles abstreiten. Wer wird dir schon glauben?«, entgegnete Kurtis lachend. »Also, was soll es sein? Dieser Schmetterling oder der Finger deiner Schwester? Ich werde ganz langsam schneiden und ihr sagen, dass du mich dazu angestiftet hast.«

Magnus wollte die Drohung als Bluff abtun, aber die Erinnerung an die abgeschlachtete Katze schnürte ihm die Kehle zu.

Er wusste, dass er keine Wahl hatte. Also presste er die linke Hand in die rechte und spürte, wie die zarten Flügel langsam in sich zusammenfielen, als er die wunderschöne, friedliche Kreatur zerquetschte.

Kurtis’ Mund verzog sich zu einem gehässigen Schmunzeln. »Oh Magnus. Weißt du denn nicht, dass es Unglück bringt, einen Sommerschmetterling zu töten?«

»Prinz Magnus, Ihr seht aus, als wärt Ihr gerade aus dem Krieg zurückgekehrt.« Kurtis’ Stimme riss Magnus aus der grauenhaften Erinnerung.

Schnell fasste er sich und setzte einen möglichst wohlwollenden Gesichtsausdruck auf, ehe er sich umdrehte. Kurtis war immer noch unglaublich groß – sogar noch ein Stück größer als Magnus. Mit seinen rötlich-braunen Haaren, schlammgrünen Augen und seinem spitzen Gesicht hatte er Magnus schon immer an ein Wiesel erinnert.

»Aus dem Krieg nicht direkt. Aber die letzten Tage waren fordernd.«

»Das sehe ich. Euer Arm …«

»Darum werde ich mich kümmern, sobald ich ein paar geschäftliche Dinge erledigt habe. Es freut mich zu sehen, dass es Euch gut geht, Kurtis. Mir ist das schreckliche Gerücht zu Ohren gekommen, dem sei nicht so.«

Kurtis setzte sein typisches schmieriges Grinsen auf und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ah ja, das Gerücht, ich wäre tot. Diese absurde Geschichte habe ich einem sehr leichtgläubigen Freund aufgetischt, und er hat sie im Nu in der ganzen Welt verbreitet. Aber wie Ihr sehen könnt, geht es mir prächtig.« Kurtis’ Blick schweifte zu Cleo, die neben Magnus stand, und dann zu Nic, der sich ein Stück abseits bei den Wachen an der Tür hielt.

Offensichtlich erwartete er, vorgestellt zu werden.

Magnus beschloss, fürs Erste mitzuspielen. »Prinzessin Cleiona Bellos, das ist Lord Kurtis Cirillo, der Königsvasall von Limeros.«

Cleo nickte, während Kurtis ihre Hand nahm und sie küsste. »Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen«, sagte sie.

»Die Ehre ist ganz meinerseits«, antwortete Kurtis. »Mir wurde von Eurer Schönheit berichtet, aber Ihr habt meine Erwartungen bei Weitem übertroffen.«

»Ihr seid zu freundlich, wo ich heute Morgen doch sicher schrecklich aussehe.«

»Nicht doch. Ihr seid absolut bezaubernd. Aber bitte, Ihr müsst mir versichern, dass Ihr keine Schmerzen habt.«

Ihr Lächeln blieb unverändert. »Nein, keine Sorge.«

»Das freut mich zu hören.«

Beim Klang der schmeichlerischen Stimme des »Königsvasallen« hatte sich jeder Muskel in Magnus’ Körper angespannt. »Und das ist Nicolo Cassian, Prinzessin Cleionas …« Wie sollte er am besten erklären, wer der Junge war und was er hier machte? »… Diener.«

Kurtis’ Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ein männlicher Diener? Wie ungewöhnlich.«

»Nicht im Süden.« Nic steckte die Beleidigung erstaunlich locker weg, das musste man ihm lassen. »Dort erachtet man meine Tätigkeit als ehrenwert und äußerst mannhaft.«

»Natürlich.«

Magnus hatte genug von dieser aufgesetzten Höflichkeit. Es war höchste Zeit, endlich zum Punkt zu kommen.

»Ihr fragt Euch sicherlich, warum meine Frau und ich hier in Limeros sind und nicht bei meinem Vater in Auranos. Oder wurdet Ihr über unsere derzeitige Situation in Kenntnis gesetzt?«

»Nein. Euer Besuch ist eine unerwartete, aber höchst angenehme Überraschung.«

Die Anspannung in Magnus’ Schultern löste sich etwas. »Dann verrate ich Euch ein gut gehütetes Geheimnis: Wir suchen hier nach meiner Schwester, die mit ihrem Tutor durchgebrannt ist. Wir müssen sie davon abhalten, diesen schrecklichen Fehler zu begehen … und womöglich noch weitere.«

»Ach du meine Güte …« Kurtis verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Lucia steckt seit jeher voller Überraschungen, nicht wahr?«

Du hast ja keine Ahnung. »Ja, in der Tat.«

Mit einem wissenden Nicken stieg Kurtis das Podest hinauf und setzte sich auf den Thron. Fassungslos sah Magnus dabei zu, entschied sich aber, den Mund zu halten.

»Ich werde Euch für diese wichtige Suche ein Dutzend Soldaten zur Verfügung stellen«, verkündete Kurtis, dann wandte er sich an einen der Gardisten am Eingang: »Kümmere dich umgehend darum und kehr dann hierher zurück.«

Der Soldat verneigte sich. »Ja, Eure Hoheit.«

Magnus sah zu, wie der Wachmann aus dem Saal eilte. »Sie befolgen Eure Befehle ohne Widerrede.«

»Ja, dazu wurden sie ausgebildet. Limerianische Soldaten nehmen jeden Befehl widerspruchslos an und führen ihn auf der Stelle aus.«

Magnus nickte. »Mein Vater würde nichts anderes zulassen. Alle, die auch nur das geringste Anzeichen von Schwäche zeigen, werden … diszipliniert.« Das war ein viel zu milder Ausdruck für die grausamen Strafen, die sein Vater an all jenen vollstreckte, die sich nicht mit Leib und Seele ihrem Dienst für das Vaterland verschrieben.

»Und das sollten sie auch«, meinte Kurtis. »Nun denn, ich werde Quartiere für Euch, Eure wunderschöne Frau und ihren Diener herrichten lassen.«

»Gut. Ich werde in meinem üblichen Zimmer wohnen. Die Prinzessin benötigt ein eigenes, ihres Standes würdiges Gemach. Und Nic …« Er beäugte den Jungen prüfend. »Für Nic genügt eine Dienstbotenunterkunft. Vielleicht eins der größeren Zimmer.«

»Wie nett von Euch«, sagte Nic grimmig.

»Getrennte Schlafzimmer für Mann und Frau?«, hakte Kurtis stirnrunzelnd nach.

»Das habe ich doch gesagt«, entgegnete Magnus, ehe ihm schlagartig bewusst wurde, dass das ein seltsames Anliegen für ein glücklich verheiratetes Paar war.

»Magnus ist so nett, für mich darum zu bitten«, ergriff Cleo das Wort, um Kurtis’ Bedenken zu zerstreuen. »In meiner Familie ist es seit jeher Brauch, das erste Ehejahr in getrennten Zimmern zu schlafen – das bringt Glück, und außerdem wird die Zeit, die wir zusammen verbringen, dadurch … aufregender und unvorhersehbar.« Sie errötete und senkte den Blick, als brächte sie dieses Eingeständnis in Verlegenheit. »Eine alberne Tradition, ich weiß.«

»Keineswegs«, erwiderte Magnus, beeindruckt, dass die Prinzessin sofort die passende Lüge parat hatte.

Kurtis nickte, anscheinend stellte ihn die Erklärung zufrieden. »Also gut. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr bekommt, was Ihr benötigt.«

»Gut.« Magnus richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den »Königsvasallen«. »Außerdem muss ich einige Männer umgehend zum Tempel der Valoria schicken. Dort hat letzte Nacht ein heftiger Eissturm gewütet und viele getötet. Die Opfer sollten bis heute Mittag beerdigt und der Tempel so schnell wie möglich in all seiner Pracht restauriert werden.«

Gemäß den religiösen Bräuchen von Limeros mussten die Verstorbenen innerhalb von zwölf Stunden nach ihrem Tod begraben werden, in von einem Priester mit Weihwasser besprenkelter Erde.

Magnus’ Blick schweifte wie von selbst zu Nic, dessen Gesicht bei der Erwähnung der Toten beim Tempel einen schmerzerfüllten Ausdruck angenommen hatte. Unter den Verstorbenen war auch Prinz Ashur, Amaras Bruder. Zwischen ihm und Nic hatte sich eine innige Freundschaft entwickelt, ehe seine Schwester ihn kaltblütig ermordet hatte.

»Ein Eissturm?« Kurtis zog verblüfft die Augenbrauen hoch. »Kein Wunder, dass Ihr alle so mitgenommen ausseht. Ich bin sehr dankbar, dass Ihr und Eure Frau mit dem Leben davongekommen seid. Sicher müsst Ihr Euch nach einer solchen Erfahrung erst einmal ausruhen.«

»Das kann warten.«

»Wie Ihr wünscht.« Kurtis umfasste die Armlehnen des Throns. »Was denkt Ihr, wie lange uns die Ehre Eurer Anwesenheit zuteilwird, ehe Ihr nach Auranos zurückkehrt?«

Ein Dutzend Soldaten betraten den Thronsaal und lenkten Magnus’ Aufmerksamkeit einen Augenblick ab. Ganz gleich, wie eifrig die limerianischen Wachen auch Befehle ausführten, zwölf von ihnen würden nicht einmal ansatzweise ausreichen, um seine Schwester ausfindig zu machen.

»Ich habe nicht vor, nach Auranos zurückzukehren«, sagte Magnus und wandte sich wieder Kurtis zu.

Sichtlich irritiert neigte Kurtis den Kopf. »Ich kann Euch nicht ganz folgen.«

»Dies ist mein Zuhause, mein Palast, mein Königreich. Und in Abwesenheit meines Vaters steht der Thron, auf dem Ihr Euch niedergelassen habt, mir zu.«

Kurtis starrte ihn einen Moment ungläubig an, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Das verstehe ich vollkommen. Allerdings hat der König mich zu seinem Stellvertreter ernannt. Ich habe diese Aufgabe bereitwillig – und äußerst erfolgreich – übernommen und werde sie erfüllen, solange er und mein Vater außer Landes sind. Der Rat hat sich bereits daran gewöhnt, meine Befehle zu befolgen.«

»Dann müssen sie sich daran gewöhnen, von jetzt an meine Befehle zu befolgen.«

Kurtis’ Lächeln verblasste. Er setzte sich noch aufrechter hin, machte aber keine Anstalten aufzustehen. »Magnus …«

»Prinz Magnus, meint Ihr wohl. Oder Eure Hoheit.« Selbst vom Fuß der Treppe aus konnte Magnus sehen, wie Kurtis’ grüne Augen vor Wut blitzten.

»Verzeiht, Prinz Magnus, aber ohne vorherige Benachrichtigung von König Gaius muss ich Protest gegen diese plötzliche Änderung einlegen. Vielleicht solltet Ihr …«

»Wachen«, sagte Magnus, ohne sich umzudrehen. »Ich verstehe, dass Ihr in den letzten Wochen Befehle von Lord Kurtis angenommen habt, wie es Eure Pflicht war. Aber ich bin Euer Prinz, der Thronerbe von König Gaius, und jetzt, da ich hier bin, untersteht Ihr allein meinem Kommando.« Mit hartem, stechendem Blick starrte er in die Augen des Jungen, den er schon seit seiner Kindheit bis aufs Blut hasste. »Der Königsvasall hat mich mit seinem Protest beleidigt. Holt ihn von meinem Thron herunter und schneidet ihm die Kehle durch, wenn ich es Euch sage.«

Die heiße Wut in Kurtis’ Gesicht wich in Sekundenschnelle kalter Angst, als die Wachen auf ihn zukamen. Ehe er irgendetwas unternehmen konnte, waren vier von ihnen das Podest hinaufgestürmt, zerrten ihn vom Thron und schleiften ihn die Treppe hinunter, wo sie ihn auf die Knie zwangen. Magnus nahm seinen Platz auf dem Podest ein.

Mit diesem kalten, harten, unerbittlichen Thron verband Magnus eine Menge unschöne Erinnerungen, aber bis heute hatte er nie darauf gesessen.

Er war um einiges bequemer, als er erwartet hatte.

Die rot uniformierten Wachen standen vor ihm und sahen alle ohne Zweifel oder Bedenken zu ihm auf. Cleo umklammerte Nics Arm, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und sie wirkte vollkommen verunsichert.

Zu Magnus’ Füßen kniete Kurtis, die Augen vor Angst weit aufgerissen, das Gesicht schweißüberströmt. An seiner Kehle ruhte das Schwert eines Gardisten.

»Eure Hoheit«, stieß er panisch hervor. »Wenn ich Euch in irgendeiner Form beleidigt habe, tut es mir leid – das war nicht meine Absicht!«

»Das mag sein.« Magnus beugte sich vor und musterte ihn nachdenklich. »Bettel um dein Leben, dann werde ich dir vielleicht nur den kleinen Finger abschneiden.«

Einen Augenblick wirkte Kurtis verwirrt, dann dämmerte es ihm.

Ganz recht, dachte Magnus. Jetzt sind unsere Rollen vertauscht.

»Bitte«, ächzte Kurtis. »Bitte, Eure Hoheit, lasst mich leben. Ich flehe Euch an. Bitte, ich tue alles, um mich in Euren Augen zu beweisen und mir Eure Vergebung zu verdienen.«

Eine Woge reiner Macht durchflutete Magnus. Beim Anblick des jammernden Wiesels vor seinem Thron erschien ein echtes Lächeln auf seinem Gesicht.

»Sag noch einmal ›bitte‹.« Als Kurtis nicht sofort reagierte, nickte Magnus dem Wachmann zu, woraufhin der sein Schwert fester an Kurtis’ blasse Kehle drückte. Ein Tropfen Blut quoll unter der Klinge hervor.

»Bitte«, presste Kurtis heraus.

Magnus wedelte mit der Hand, und sofort zog der Gardist sein Schwert zurück und steckte es weg. »Na, siehst du? Fühlst du dich jetzt nicht besser?«

Kurtis zitterte am ganzen Leib. Vielleicht war er im Gegensatz zu Magnus noch nie körperlich für seine Fehler gemaßregelt worden.

Er senkte demütig den Kopf. »Danke, Eure Hoheit. Ich stehe Euch zu Diensten.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Magnus. »Also, ich muss meinem Vater schnellstmöglich eine Nachricht zukommen lassen. Er sollte wissen, weshalb ich hier im Norden bin. Schließlich möchte ich nicht, dass er sich Sorgen um mich machen muss.«

»Natürlich nicht, Hoheit.«

»Seid ein braver Königsvasall und holt mir Papier und Tinte, ja?«

Kurtis’ Gesicht verfinsterte sich, aber er riss sich rasch zusammen. »Ja, Hoheit.«

Cleo beobachtete, wie Kurtis hastig aus dem Thronsaal eilte, aber sie sagte nichts, und auch Nic schwieg. Als sie sich wieder Magnus zuwandte, funkelten ihre Augen vorwurfsvoll. Anscheinend gefiel es ihr nicht, dass er den jungen Königsvasallen wegen eines – wie es für sie scheinen mochte – kleinen Vergehens zu einem unterwürfigen Sklaven herabgesetzt hatte.

Ja, Prinzessin, dachte Magnus. Ich bin der Sohn von Gaius Damora, dem Blutkönig. Und es ist höchste Zeit, dass ich mich entsprechend verhalte.

KAPITEL 2

JONAS

AURANOS

Nach einem anstrengenden Arbeitstag auf dem Weingut von Paelsia hatte Jonas’ bester Freund schon immer lieber Bier als Wein getrunken, wenn er sich in der hiesigen Taverne entspannte. Den drei leeren Humpen neben ihm nach zu schließen, war das heute Abend nicht anders. Jonas näherte sich ihm bedächtig und setzte sich ihm gegenüber ans Feuer.

»Guten Abend«, begrüßte ihn Brion mit einem schiefen Grinsen.

Jonas lächelte nicht zurück. Stattdessen starrte er seinen Freund unsicher und argwöhnisch an. »Was hat das zu bedeuten?«

»Wie bitte?«

»Bin ich … tot? Oder träume ich?«

Brion leerte lachend seinen vierten Humpen Bier. »Was denkst du?«

»Wahrscheinlich träume ich. Das Ganze ist zu schön, um sich in den Dunkellanden abzuspielen.«

»So ernst heute.« Brion reckte das Kinn vor und bedachte Jonas mit einem vielsagenden Blick. »Hattest du einen harten Tag auf der Arbeit?«

Ein Traum. Das ist nur ein Traum. Und dennoch genoss Jonas es, wieder mit Brion Radenos zusammen zu sein. Er war sein engster Freund, ja, wie ein Bruder für ihn gewesen, und er hatte kaum Zeit gehabt, um ihn zu trauern. »Das könnte man so sagen.«

»Brauchst du einen Rat?«, erkundigte sich Brion und signalisierte der Serviererin, ihm noch ein Bier zu bringen.

»Ehrlich gesagt hätte ich nichts dagegen.«

»In Ordnung, dann hör zu. Du solltest aufgeben.«

Verblüfft blinzelte Jonas ihn an. »Was?«

Brion begegnete seinem Blick, und der vertraute Anflug von Belustigung auf seinem Gesicht verschwand. »Gib auf. Was immer du denkst, jetzt noch ausrichten zu können – vergiss es. Du hast sowohl als Rebell als auch als Anführer wieder und wieder versagt. Allein wegen deiner dummen, eigensinnigen Entscheidungen bin ich tot. Ich und so viele andere – Dutzende sind deinetwegen ums Leben gekommen.«

Jonas zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen. Betroffen senkte er den Kopf und starrte auf den Holzfußboden hinunter. »Ich habe mein Bestes gegeben.«

»Begreifst du das denn nicht? Dein Bestes ist nicht gut genug. Alle, die ihr Vertrauen in dich gesetzt haben, sind qualvoll gestorben. Du bist erbärmlich. Du solltest dich dem König einfach ergeben und dich mir im Tod anschließen – damit würdest du allen einen Gefallen tun.«

Das war kein Traum. Es war ein Albtraum.

Aber etwas hatte sich verändert. Während seiner Tirade hatte sich Brions Stimme gewandelt. Jonas blickte zu seinem Freund auf – und starrte stattdessen in seine eigenen Augen.

»Ganz recht!«, brauste der andere Jonas auf. »Du bist wertlos. Du hast Tomas sterben lassen, du hast Brion sterben lassen, du hast deine Rebellenkameraden sterben lassen. Und Prinzessin Cleo? Sie hat sich darauf verlassen, dass du ihr diesen magischen Stein bringst und sie vor den Damoras rettest. Jetzt ist sie höchstwahrscheinlich auch tot. Felix hätte sich nicht damit zufriedengeben sollen, dich zu verletzen. Er hätte dich töten und aus deinem elenden Dasein befreien sollen.«

Jedes einzelne Wort traf Jonas wie ein Schlag in den Magen. Natürlich wusste er das alles bereits, und jetzt türmten sich all seine Fehler und Misserfolge zu einem Berg aus Schmerz auf, über den er unmöglich hinwegsehen konnte.

Aber aus jedem Fehler hatte er etwas gelernt. Er war daran gewachsen. Er war nicht mehr der naive Junge, der Häuptling Basilius und dem Blutkönig in einen auf Lügen und Heimtücke basierenden Krieg gefolgt war, in dem er und seine Landsleute nie mehr als Spielsteine gewesen waren. Er hatte sich in die Schlacht gestürzt, als er selbst und seine Rebellen noch nicht bereit waren. Jetzt trug er die Narben, die dieser Kampf hinterließ, sowohl am Körper als auch in der Seele, jede noch tiefer und blutiger als die letzte.

»Nein«, flüsterte er.

Der andere Jonas sah ihn fragend an. »Was hast du gesagt?«

»Nein«, sagte er noch einmal, lauter diesmal. »Die Dinge können sich ändern. Ich kann mich ändern.«

»Unmöglich.«

»Nichts ist unmöglich.« Er schaute auf und blickte direkt in seine eigenen braunen Augen. »Jetzt lass mich endlich in Ruhe, damit ich tun kann, was ich tun muss.«

Sein Spiegelbild grinste und nickte anerkennend, dann löste es sich auf.

Jonas erwachte schweißgebadet auf einer Pritsche und starrte hinauf in die Dunkelheit. Als er sich aufzurichten versuchte, schrie seine linke Schulter vor Schmerz.

Unter dem Verband, der straff um seine Wunde gewickelt war, klebte eine dicke Schicht graugrüner Schlamm. Galyn, der Besitzer der Taverne Zur Silbernen Unke, hatte sie aufgetragen und Jonas erzählt, eine Hexe, die einst im Gasthaus untergekommen sei, habe die Heilpaste seinem Großvater Bruno als Bezahlung dagelassen.

Sein fiebriger Körper schmerzte, als er sich mühsam aus dem Bett wälzte und sich den Korridor entlangschleppte, vorbei an Türen, aus denen sowohl leises Schnarchen als auch Stille hervordrangen. Vorsichtig stieg er die morsche Holztreppe hinunter, die in die Schänke führte. Er wusste nicht, wie spät es war, aber es war noch dunkel, noch Nacht, und das Einzige, was ihn davor bewahrte zu stolpern, waren ein paar brennende Fackeln an der Wand. Seine Beine fühlten sich schwach an, und ihm war übel, doch er wusste, dass er nicht im Bett bleiben konnte. Es gab viel zu viel zu tun.

Zuerst würde er sich etwas zu trinken holen; sein Mund war so trocken wie das Ödland Ost-Paelsias.

Er blieb abrupt stehen, als er gedämpfte Stimmen aus dem dunklen Schankraum hörte.

»Auf gar keinen Fall. Das muss er nicht wissen«, sagte eine Frauenstimme.

»Die Nachricht war für ihn, nicht für dich«, erwiderte ihr männlicher Gefährte.

»Stimmt. Aber das alles ist momentan einfach zu viel für ihn.«

»Kann schon sein. Aber er wird bestimmt wütend, wenn er es herausfindet.«

»Dann soll er wütend werden. Willst du etwa, dass er in seinem Zustand losstürmt und in den sicheren Tod rennt? Dafür ist er im Moment ganz bestimmt nicht stark genug.«

Jonas bog um die Ecke und lehnte sich an die Wand, von wo aus er freie Sicht auf Lysandra und Galyn hatte.

»Oh Lys«, sagte er in affektiert gerührtem Ton, »ich weiß dein Vertrauen in mich wirklich zu schätzen.«

Lysandra Barbas, seine Freundin und letzte verbliebene Kameradin, verzog das Gesicht, als sie sich zu ihm umdrehte, und zwirbelte eine Strähne ihrer dunklen, lockigen Haare zwischen den Fingern. »Du bist wach.«

»Ja. Und ich belausche schamlos die einzigen beiden Freunde, die ich noch habe, dabei, wie sie über mich reden, als wäre ich ein krankes Kind.« Er rieb sich die Stirn. »Wie lange hab ich geschlafen?«

»Drei Tage.«

Entgeistert starrte er sie an. Drei ganze Tage?

Drei Tage war es her, dass Felix ihm seinen Dolch in die Schulter gerammt und ihn am Boden der Taverne festgenagelt hatte.

Und kurz davor hatte Jonas Lysandra zum ersten Mal geküsst.

Zwei Erinnerungen – die eine schlecht, die andere gut –, die sich auf ewig in sein Gedächtnis eingebrannt hatten.

Galyn, ein großer, stämmiger Mann Mitte zwanzig, hob eine buschige blonde Augenbraue. »Wirkt die Heilsalbe schon?«

Jonas rang sich ein Lächeln ab. »Ja, wie Magie.«

Sein ganzes Leben hatte er nie an Magie geglaubt. Doch diese Überzeugung hatte sich radikal und unwiderruflich geändert, als er mithilfe von mächtiger Erdmagie von der Schwelle des Todes zurückgeholt worden war. Diese Heilpaste allerdings … Nun, er hegte den leisen Verdacht, dass sie nicht mehr war als gewöhnlicher Schlamm.

Jonas’ Lächeln verschwand, als ihm auffiel, wie Lysandra gekleidet war. Sie trug Hosen und ihre Ledermontur, über ihrer einen Schulter hing ein Leinensack, über der anderen ihr Bogen und ein Köcher mit Pfeilen.

»Wo willst du zu so später Stunde hin?«, fragte er.

Sie presste die Lippen aufeinander und warf ihm wortlos einen trotzigen Blick zu.

»Na schön, dann bleib eben stur.« Jonas wandte sich an Galyn. »Welche Nachricht war für mich bestimmt, und wer hat sie geschickt?«

»Sag ihm nichts«, fauchte Lysandra.

Galyn blickte unsicher zwischen ihnen hin und her, die Arme vor der Brust verschränkt. Schließlich seufzte er und wandte sich mit einem entschuldigenden Blick in Lysandras Richtung an Jonas. »Nerissa. Sie ist gestern vorbeigekommen.«

In den letzten Monaten hatte sich Nerissa Florens als fähige, sehr hilfreiche Spionin erwiesen. Sie hatte sich eine Anstellung im Palast von Auranos erschlichen und besaß die seltene Gabe, den Rebellen genau dann Informationen zu beschaffen, wenn sie sie am dringendsten benötigten.

»Was hat sie berichtet?«

»Galyn …«, knurrte Lysandra warnend.

Er verzog das Gesicht. »Tut mir leid, Lys. Du weißt, dass ich es ihm sagen muss.« Der aufrichtige, geduldige Wirt wandte sich wieder an Jonas. »Jonas, der König lässt ein Schiff zur Abreise vorbereiten. Nerissa weiß nicht genau, wann er aufbrechen wird, aber es kann sich nur noch um Tage handeln.«

Dass ein König sich auf eine Reise begab, ging normalerweise nicht als wichtige Information durch. Aber König Gaius hatte sich seit der katastrophalen Hochzeit von seinem Sohn und Prinzessin Cleiona wochenlang im Palast verschanzt und keinen Fuß nach draußen gesetzt. Angeblich fürchtete er sich vor einem weiteren Angriff der Rebellen, und Jonas konnte nicht recht sagen, ob das feige war oder schlau.

Dass der König jetzt nicht nur den Palast verließ, sondern sich auf eine lange Schiffsreise aufmachte, war eine ungeheuer wichtige Neuigkeit.

Jonas’ Herz schlug schneller. »Hat sie gesagt, wo er hinwill? Zurück nach Limeros?« Das nördliche Königreich war auf dem Landweg erreichbar, aber es war um einiges komfortabler – und königlicher –, mit einem Schiff die Westküste entlangzufahren.

»Nein. Sie konnte herausfinden, dass er plant zu verreisen, aber anscheinend weiß niemand, wann oder wohin.«

Jonas sah zu Lys – ihr Gesicht war rot angelaufen, und sie durchbohrte Galyn mit einem bitterbösen Blick.

»Sieh ihn nicht so vorwurfsvoll an. Du hättest mir selbst davon erzählen sollen.«

»Wann?«, gab sie ärgerlich zurück. »Du warst tagelang ohnmächtig.«

»Ja, aber jetzt bin ich wach, und es geht mir schon viel besser.« Das war eine Lüge. Er fühlte sich schwach und unsicher auf den Beinen, aber er wollte nicht, dass sie sich Sorgen um ihn machte. »Also, was hattest du vor? Wolltest du alleine losziehen und ein Attentat auf den König verüben, sobald er seine Nase hinaus an die frische Luft streckt?«

»Das war in etwa der Plan, ja.«

»Ein dummer Plan.« Frustrierte Wut wallte in ihm auf und drängte den Schmerz in seiner Schulter in den Hintergrund. »Das würdest du ernsthaft machen, oder? Du würdest einfach losrennen und dich im Versuch, den Blutkönig auszuschalten, umbringen lassen.«

»Vielleicht. Oder ich würde es schaffen und ihn mit einem Pfeil direkt zwischen die Augen treffen, und dann wären wir den Bastard endlich los!«

Jonas starrte sie wütend an, die Hände zu Fäusten geballt, außer sich, dass sie sich ohne Rückendeckung in solche Gefahr begeben wollte. »Warum solltest du so etwas tun? Warum ganz allein?«

Mit zornig funkelnden Augen ließ sie ihren Reisebeutel, Bogen und Köcher fallen und bewegte sich so schnell auf Jonas zu, dass er sicher war, sie würde ihn schlagen. Aber stattdessen blieb sie direkt vor ihm stehen, und ihr Blick wurde sanfter.

»Ich dachte, du wärst tot«, sagte sie leise. »Als ich dich dort liegen sah, mit einem Dolch an den Boden genagelt …« Sie verstummte, und ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen. Wütend wischte sie sie weg. »Verdammt noch mal, Jonas. Erst meine Eltern, dann Brion und mein Bruder, und … und dann dachte ich, ich hätte dich auch noch verloren. Selbst als klar war, dass Felix dich nicht getötet hatte, ging’s dir so schrecklich schlecht. Du hattest so hohes Fieber … Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich habe mich so hilflos gefühlt, und ich hasse es, mich hilflos zu fühlen. Aber jetzt, wo der König verreist … Jetzt kann ich endlich etwas unternehmen – etwas bewirken. Um …« Ihre Stimme brach. »Um dich zu beschützen.«

Jonas rang nach Worten, doch im ersten Moment fiel ihm nichts zu sagen ein. Er kannte Lysandra noch nicht lange – jedenfalls nicht annähernd so lange wie Brion. Brion hatte sich sofort Hals über Kopf in sie verliebt, trotz ihrer manchmal sehr ruppigen Art, mit der sie sich zu schützen versuchte. Jonas hatte länger gebraucht, um mit ihr warm zu werden, aber jetzt hatte er sie ins Herz geschlossen und …

»Ich will dich auch nicht verlieren«, brachte er mit belegter Stimme heraus.

»Wirklich?«

»Kling doch nicht so überrascht.« Er schaute vom Boden zu ihr auf, und ihre Blicke trafen sich. »Du solltest wissen, dass ich fest vorhabe, dich eines schönen Tages wieder zu küssen.«

Ihre Wangen röteten sich erneut, und diesmal, vermutete Jonas, nicht aus Wut.

»Soll ich euch zwei allein lassen?«, fragte Galyn.

»Nein«, antwortete Lys schnell und räusperte sich. »Ähm. Also, wo wir gerade von Felix sprechen …«

Bei der Erwähnung dieses Namens zuckte Jonas zusammen. »Was ist mit ihm?«

»Er ist verschwunden. Niemand hat von ihm gehört, weder Nerissa noch sonst irgendjemand«, erklärte Lysandra. »Aber wenn ich ihn sehe, werde ich ihm auch einen Pfeil zwischen die Augen schießen für das, was er dir angetan hat.«

»Er hätte mich töten können. Aber das hat er nicht.«

»Nimmst du ihn etwa in Schutz? Muss ich dich daran erinnern, dass er uns auch noch die Luftessenz gestohlen hat?«

»Und wir werden sie uns zurückholen.« Die Erdessenz hielt Jonas nach wie vor in seinem Zimmer versteckt – auch wenn er immer noch nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Für einen glänzenden Stein, dem angeblich göttliche Kräfte innewohnten, mit denen man die ganze Welt aus den Fugen reißen könnte, hatte sie sich bisher als ziemlich nutzlos erwiesen. Aber sie war ja auch nicht für ihn bestimmt – er hatte sie jemand anderem versprochen. »Galyn, hat Nerissa noch etwas gesagt? Irgendetwas … über die Prinzessin? Hat man sie gefunden?«

Galyn schüttelte den Kopf. »Nein. Prinzessin Cleiona wird immer noch vermisst, genau wie Prinz Magnus. Im Dorf geht jedoch das Gerücht um, Prinzessin Lucia sei mit ihrem Tutor durchgebrannt. Vielleicht sind sie alle zusammen irgendwo.«

»Vergiss die Prinzessin.« In Lysandras Stimme schlich sich wieder ein zorniger Unterton. »Was spielt es schon für eine Rolle, ob sie am Leben ist oder tot?«

Jonas’ Gesicht verfinsterte sich. »Sie hat sich darauf verlassen, dass ich ihr den Kristall bringe. Sie hat mir vertraut.«

Lys stöhnte. »Dafür hab ich jetzt echt keine Zeit. Ich muss los.« Sie hob ihre Sachen auf. »Geh wieder ins Bett, Jonas. Kurier dich aus. Wir können uns später darum kümmern, wo deine goldene Prinzessin steckt.«

»Warte!«

»Was? Wir können uns diese Chance, den Blutkönig zu beseitigen, nicht entgehen lassen. Willst du mich wirklich aufhalten?«

Einen Moment musterte er sie schweigend. »Nein. Ich komme mit.«

Sie runzelte die Stirn und bedachte seine Wunde mit einem besorgten Blick.

»Ich komme schon klar«, meinte Jonas. »Du kannst mich nicht davon abbringen.«

Er rechnete fest damit, dass sie dennoch gegen seine Entscheidung Sturm laufen würde – und in seinem Zustand würde er diesen Kampf wahrscheinlich verlieren. Er konnte nur versuchen, so stark und entschlossen wie möglich auszusehen.

Letztendlich leistete sie jedoch keinen Widerstand, sondern seufzte resigniert. »Also gut. Aber so kannst du nirgendwo hin.«

»Wie meinst du das? Sehe ich so krank aus?«

»Nein, es ist nur …« Sie warf Galyn einen hilfesuchenden Blick zu.

»Jeder weiß, wer du bist«, erklärte der Wirt und gestikulierte mit beiden Händen in Jonas’ Richtung. »Dein Gesicht ist hier berühmt, schon vergessen?«

Natürlich. Dafür hatten die Plakate gesorgt, die in Mytica an jeder Straßenecke hingen und eine stattliche Belohnung für die Gefangennahme von Jonas Agallon, dem Anführer der Rebellen und (zu Unrecht beschuldigten) Mörder von Königin Althea, in Aussicht stellten. In den letzten Wochen war er schon mehrfach erkannt worden, besonders in Auranos.

»Na schön. Ich brauche eine Verkleidung.« Er wandte sich wieder an Lysandra und zog vielsagend eine Augenbraue hoch. »Aber du auch. Eine große Zuschauermenge konnte dich in aller Ruhe betrachten, als du fast hingerichtet worden wärst.«

Sie ließ ihre Sachen wieder fallen. »Da hast du wohl recht.«

Jonas fuhr sich durch seine dunkelbraunen Haare, die inzwischen so lang waren, dass sie sich um seine Ohren kräuselten und ihm in die Augen fielen, wenn er sie sich nicht ständig aus dem Gesicht strich. »Ich werde mir die Haare schneiden.«

»Das ist ein Anfang«, meinte Galyn. »Und du hast Glück. Ich habe eine Augenklappe, mit der du dich tarnen kannst. Wurde vor ein paar Jahren mal von einer Stabwanze gestochen, da musste ich das Teil einen Monat lang tragen.«

»Eine Augenklappe?« Bei der Vorstellung, auch nur vorübergehend seine Sicht einzuschränken, wurde Jonas mulmig. »In Ordnung, das klingt … äh, großartig. Schätze ich. Danke.«

Lysandra zog einen Dolch aus ihrem Leinenbeutel. »Ich schneide dir die Haare, sobald ich mit meinen fertig bin.«

Sie hob die Klinge an eine ihrer langen Locken, aber Jonas fing ihre Hand ab. »Du wirst deine Haare nicht abschneiden.«

Lysandra starrte ihn verwirrt an, während er sie rasch entwaffnete. »Und warum nicht?«

Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Weil ich deine Haare genau so mag, wie sie sind. Wunderschön und unmöglich zu bändigen – genau wie du.«

Sie stemmte die Hände in die Hüften, doch er konnte sehen, dass sie gegen ein Lächeln ankämpfte. »Was für eine Verkleidung schlägst du dann für mich vor?«

Sein Grinsen wurde noch breiter. »Ein Kleid.«

Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Ein Kleid?«

»Ja, und zwar ein richtig hübsches. Seide, wenn möglich. Galyn? Hast du hier zufällig so was rumliegen?«

Der Wirt lachte leise. »Ich glaube, ich habe noch irgendwo ein altes Kleid von meiner Mutter.«

»Gut.« Jonas amüsierte sich köstlich über Lysandras entrüsteten Gesichtsausdruck. »Wie es scheint, werden wir im Nu reisefertig und überhaupt nicht wiederzuerkennen sein. Dann mal los.«

KAPITEL 3

CLEO

LIMEROS

Ihre Schwester Emilia hatte einmal gesagt, sie könne Cleos Laune am Zustand ihrer Fingernägel erkennen. Wann immer sie angespannt oder aufgebracht war, knabberte sie daran herum, bis es wehtat. Ihrem Kindermädchen zufolge hatte sie auch viel länger als üblich am Daumen genuckelt, darum vermutete Cleo, dass es sich bei dem Nägelkauen um einen natürlichen Entwicklungsprozess handelte.

Ein kurzer, scharfer Schmerz fuhr ihr in die Kopfhaut. »Autsch!«, rief sie und zog ihren malträtierten Daumen von ihrem Mund weg.

Sie begegnete dem erschrockenen Blick ihrer Kammerzofe Petrina im Spiegel. Das Mädchen hielt eine dünne Strähne von Cleos langen blonden Haaren zwischen den Fingern. »Oh, Hoheit, bitte verzeiht! Ich wollte Euch nicht … An einer solchen Frisur habe ich mich noch nie versucht.«

»Mir die Haare an der Wurzel auszureißen, ist nicht die beste Art, es zu lernen«, erwiderte Cleo unwirsch. Ihre Kopfhaut schmerzte noch immer. Sie zwang sich, geduldig mit dem Mädchen zu sein, auch wenn sie mittlerweile sicher war, dass selbst Nic ihre Haare besser flechten könnte.

Nicht zum ersten Mal wünschte sie inständig, Nerissa wäre hier bei ihr und nicht weit weg im Palast von Auranos. Nerissa war nicht nur eine gute Freundin und Cleos wichtigste Verbindung zu Jonas Agallon, sondern auch eine unglaublich fähige Zofe.

»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll, Hoheit«, stammelte Petrina. »Der Prinz wird außer sich sein, wenn er erfährt, wie ungeschickt ich bin. Er wird mich bestrafen!«

»Der Prinz wird dich nicht bestrafen«, versicherte Cleo ihr und tätschelte beruhigend ihre Hand. »Das werde ich nicht zulassen.«

Das Mädchen sah sie voller Ehrfurcht an. »Ihr müsst der mutigste Mensch der Welt sein, wenn Ihr jemandem, der so stark und … entschlossen ist, die Stirn bieten könnt. Ich bewundere Euch mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt.«

Vielleicht war Petrina doch gar nicht so dumm. Sie verfügte anscheinend über eine gute Menschenkenntnis. Zumindest für eine Limerianerin.

»Wir sollten Rüpeln wie ihm die Stirn bieten, wann immer es uns möglich ist«, sagte Cleo. »Sie müssen lernen, dass sie nicht alles bestimmen können, ganz gleich, wer sie auch sein mögen. Oder für wen sie sich halten.«

»Prinz Magnus macht mir Angst. Er erinnert mich so sehr an den König.« Petrina schauderte, biss sich dann jedoch tapfer auf die Unterlippe. »Verzeiht. Es schickt sich nicht, dass ich Euch mit diesen Gedanken behellige.«

»Unsinn. Du kannst mir alles anvertrauen, was dich bedrückt. Ich bestehe darauf.« Auch wenn Cleo dieses ungeschickte Mädchen nicht als Zofe behalten würde, wusste sie, dass es das Beste war, so viele Freundschaften wie möglich zu schließen. »Wenn du im Palast irgendetwas hörst, wovon du denkst, dass ich es wissen sollte, dann komm bitte sofort zu mir. Ich verspreche, dass ich jedes Geheimnis bewahren werde.«

Petrinas Gesicht wurde aschfahl. »Bittet Ihr mich, für Euch zu spionieren, Hoheit?«

»Nein!« Cleo überspielte ihren Schreck mit einem strahlenden Lächeln. Nerissa hatte immer gerne für sie spioniert – sie ging richtig darin auf. »Natürlich nicht. Was für eine alberne Vorstellung.«

»Der König hat Spione immer hart bestraft. Es heißt, er würde ihnen die Augen ausstechen und sie seinen Hunden zum Fraß vorwerfen.«

Übelkeit stieg in Cleo auf, und ihr freundlicher Gesichtsausdruck geriet ins Wanken. »Das ist sicher nur ein Gerücht. Wie dem auch sei, du kannst jetzt gehen.«

»Aber Eure Haare …«

»Sehen gut genug aus. Wirklich. Ich danke dir.«

Petrina knickste und ging ohne weitere Widerrede. Endlich allein, betrachtete Cleo sich im Spiegel und sah zu ihrer Bestürzung, dass ihre Haare in halb geflochtenen Strähnen und völlig zerzaust am Hinterkopf herunterhingen. Nachdem sie ein paar Minuten erfolglos mit der Bürste daran herumgefuhrwerkt hatte, gab sie auf.

»Ich brauche Nerissa«, stellte sie laut fest.

Nicht nur, weil sie ihre Dienste als Zofe benötigte, sondern vor allem, weil sie wissen musste, ob Nerissa noch mit Jonas in Kontakt stand. Zuletzt hatte sie ihm eine Nachricht von Cleo übermittelt, in der stand, wie er drei der Essenzen an sich bringen konnte. Doch seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört.

Womöglich war er gescheitert. Oder schlimmer noch, er hatte die Aufgabe erfolgreich erfüllt und die Kristalle an den Höchstbietenden verkauft. Oder – und das wäre das Allerschlimmste – er war tot.

»Ja«, murmelte sie und nickte. »Ich brauche Nerissa dringend.«

Aber wie sollte sie Magnus überreden, nach ihr zu schicken?

Nun, sie musste es einfach von ihm verlangen