Finstergrund - Willi Keller - E-Book
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Finstergrund E-Book

Willi Keller

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Beschreibung

Alban Berger und Tammy Bieger bauen im Polizeipräsidium Offenburg eine Cold-Case-Abteilung auf. Nach ersten Erfolgen befassen sie sich mit einem Fall, der ihre Kräfte bald überfordert. Bei Ermittlungen in einem geheimnisvollen Hof in der Moos, einem sagenreichen Gebirgszug in der Ortenau, werden sie angegriffen. Dabei kommt es zu einem tödlichen Zwischenfall, der zunächst das Augenmerk auf den ehemaligen Soko-Leiter Firner lenkt. Als klar wird, dass im Hof die Lösung des Falles zu suchen ist, geraten Berger und Tammy in Lebensgefahr.

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Willi Keller

Finstergrund

Schwarzwaldkrimi

Zum Buch

Bedrohlich So haben sich Alban Berger und Tammy Bieger den Aufbau einer Cold-Case-Abteilung nicht vorgestellt: Zwar können sie gemeinsam mit weiteren Kollegen schnell zwei alte Verbrechen aufklären, der dritte Fall erweist sich jedoch von Anfang an als rätselhaft. Er führt sie zu einem einsamen Hof in der Moos, einem dicht bewaldeten Gebirgszug in der Ortenau. Bei einem Besuch des Bauernguts werden die Kommissare angegriffen. Was für eine Rolle spielt der ehemalige Soko-Leiter Firner, der sich überraschend auf dem Hof aufhält? Zunächst scheint sich alles um ihn zu drehen, doch als es wenig später zu einem tödlichen Vorfall in der Nähe des Polizeipräsidiums in Offenburg kommt, wendet sich das Blatt. Verzweifelt versuchen Berger und Tammy, durch das Dickicht des Falles zu dringen. Mit Unterstützung von Tammys Lebensgefährten Falco Gmeiner erkennen sie, dass die Lösung in dem einsamen Hof zu finden ist, der eine bewegte Vergangenheit hat …

Willi Keller – Autor und ehemaliger Nachrichtenredakteur des SWR – sammelt Sagen, die er seit den 1980er-Jahren in mehreren Büchern veröffentlicht hat. Er liebt das Erzählen, die Fantasie und die Ortenau. Mit »Finstergrund« legt er seinen dritten Kriminalroman vor.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ThomasWolter / Pixabay

ISBN 978-3-8392-7796-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Der Regen eröffnete auf dem Dach ein Trommelfeuer, das bis in den Morgen anhielt.

Er war schon auf dem Weg zum Bett, machte aber noch einmal kehrt und ging zurück ins Badezimmer. Was ihn lenkte, wusste er nicht. Er schob am Fenster den Vorhang zur Seite und zog langsam den Rollladen hoch. Eine Weile stand er unentschlossen da, schließlich öffnete er das Fenster und sog die Luft ein, die leicht nach Räucherspeck roch. Er hatte den Eindruck, dass sich die Nacht schwärzer färbte als schwarz. Starken Regen und dichte Bewölkung hatten sie vorausgesagt. In der Nachbarschaft waren bereits alle Lichter gelöscht. Die Straßenlampen durchdrangen die Schwärze nur schwach. Ein letztes Mal füllte er die Lunge mit der würzigen Nachtluft, schloss das Fenster, ließ leise den Rollladen herunter und zog den Vorhang zu.

Das Trommeln der Tropfen ließ ihn lange nicht einschlafen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als das zu tun, was er in seinen dunklen Zeiten am besten konnte: grübeln. Das »verstörende Ereignis«, wie er das Geschehen vor drei Tagen nannte, war in seinem Gedächtnis hinterlegt wie ein Film in einer Mediathek, jederzeit in voller Länge abrufbar.

2

Drei Tage zuvor …

Sie fuhren in zwei Autos zu dem Hof tief im Mooswald. Kriminalhauptkommissar Alban Berger und der junge Kollege Waldo Kerkoff in dem einen, die Kommissarinnen Tammy Bieger und Mela von Erlenbach, die erst vor ein paar Tagen in ihr Team gekommen war, im anderen. Mehr als eine Stunde brauchten sie vom Polizeipräsidium in Offenburg bis zu ihrem Ziel.

Sie hatten mit einem alten Hof gerechnet. Doch das, was sie sahen, als sie ankamen, war ein riesiges Bauernhaus mit Walmdach, stilgetreu erneuert von der Grundmauer bis zum Giebel. Auf der linken Seite, nicht weit entfernt, befand sich ein großes Ökonomiegebäude mit geschlossenem Tor, das ebenfalls renoviert worden war.

Es war alles ruhig auf dem Hofgelände. Sie stiegen aus, alle vier bewaffnet. Berger hatte vor Beginn der Fahrt Tammy, Mela und Waldo gemahnt, die Dienstwaffe mitzunehmen. Als Waldo gefragt hatte, warum, hatte Berger geantwortet, bei diesem Cold Case habe er mehr als nur ein ungutes Gefühl. Wie ein Prophet hatte er verkündet, man müsse auf alles gefasst sein.

Waldo war ein sorgloser Draufgänger und ideenreicher Schnüffler, ihm fehlten die Erfahrung und die Fähigkeit, Situationen und Entwicklungen gründlich abzuwägen. Und Mela, die Neue, konnte Berger schlecht einschätzen. Sie war sehr zurückhaltend, was nicht unbedingt gegen sie sprach. Manchmal kam sie ihm allerdings unecht vor.

Ob sich die Fahrt zu diesem Hof lohnte, der wie eine Tonsur inmitten des Mooswaldes wirkte, wussten sie nicht. Sie ließen sich von ihrem Instinkt leiten. Der Hof war nur ein Mosaikstein in diesem Fall. Ein merkwürdiger Fall, den Berger zunächst nicht hatte bearbeiten wollen. Merkwürdig deshalb, weil alles offen war. Vielleicht gab es gar keinen kriminellen Hintergrund. Oder ganz im Gegenteil, und jede Spur führte in einen Abgrund. Tammy, Waldo und Mela hatten ihn jedoch gedrängt, an dem Fall dranzubleiben. Weil er so eine geheimnisvolle Aura verbreitete oder eine besonders große Herausforderung war? Berger wusste es nicht. Auch fragte er sich, warum der Fall bei den unerledigten Akten gelandet war. Lediglich vage und zum Teil widersprüchliche Zeugenaussagen und Andeutungen sprachen in Ansätzen für Mord. Mit was hatten sie es hier zu tun? Mit einer Familientragödie, einem tragischen Unglück, einem vertuschten Doppelmord?

Der Hof und seine Umgebung wirkten verlassen. Und der Wald schwieg. Die Haustür stand einen Spalt offen. Es musste also jemand da sein. Links und rechts vom Haus keine Spur von Bewohnern. Berger machte sich Gedanken, warum keine land- und forstwirtschaftlichen Geräte zu sehen waren. Bei so einem Hof war doch davon auszugehen, dass er bewirtschaftet wurde, selbst wenn er nur im Nebenerwerb betrieben wurde. Vielleicht befand sich alles im großen Ökonomiegebäude.

Die vier entschlossen sich, in das Haus zu gehen. Vorsichtig stiegen sie die Treppe aus Buntsandstein hoch. Den ausgetretenen Stufen sah man das Alter an. Berger schaute auf das Türschild: Annalotta und Roman Plenther. Der ungewöhnliche Familienname war ihm schon beim Aktenstudium aufgefallen. So ein Name war ihm in seinem Berufsleben noch nie begegnet. Der Vorname des Hofeigentümers, den sie aus den Unterlagen kannten, stand nicht auf dem Türschild, der Nachname war derselbe. Ob er noch hier wohnte?

Berger drückte auf die Türklingel und wartete. Als sich nichts regte, stieß er die schwere Holztür etwas weiter auf und rief: »Hallo, ist da jemand?«

Keine Antwort.

Berger winkte den anderen und öffnete die Tür vollends. Ein breiter, dunkler Flur lag vor ihnen. Rechts sahen sie eine geschlossene Tür, die wahrscheinlich in die Stube führte. Die Tür links stand nur einen Spalt offen wie vorhin die Haustür.

Berger rief noch einmal: »Hallo, ist da jemand?«

Als wieder keine Antwort kam, öffnete er die Tür auf der linken Seite ganz weit und blickte in eine riesige Küche, im Landhausstil eingerichtet. Sie sah neu und unbenutzt aus. An der Wand gegenüber der Tür stand der Herd, ein moderner Holzherd, in dem ein kleines Feuer knisterte. An der langen Fensterfront zum Hof befand sich eine große Doppelspüle mit einer Ablage für das Geschirr.

Als Berger sich zur anderen Küchenseite umdrehte, blieb ihm fast das Herz stehen. Am Ende eines massiven rechteckigen Holztisches saß Firner, der ehemalige Soko-Leiter, in einem Korbstuhl. Hubert Firner, der so lange nicht erreichbar gewesen war, verschwunden zu sein schien. Nicht einmal beim LKA Stuttgart, wohin er abgewandert war, wussten sie, wo er steckte. Er habe sich krankgemeldet, hieß es dort. Der robuste Firner, der Mann, der in seiner Zeit beim Offenburger Polizeipräsidium kaum ausgefallen war, der so oft für sein Durchhaltevermögen und seinen eisernen Willen gelobt und bewundert worden war, sollte sich krankgemeldet haben? Daran hatte Berger nicht geglaubt. Doch jetzt saß Firner an einem langen Küchentisch in einem abgelegenen Hof, tief im Wald. Ungesund sah er aus, blass, die Wangen eingefallen. Wie eingefroren und bis zur Brust eingehüllt in eine beige Wolldecke hing er im Korbstuhl und bewegte sich nicht. Offenbar fror er, obwohl es in der Küche warm war.

»Firner, was machen Sie hier?«

Berger hätte sich die Frage sparen können. Firner antwortete nicht und blieb regungslos im Korbstuhl sitzen. Von dem dynamischen Firner, den er kannte, war nichts mehr zu sehen und zu spüren. Was hatte ihn in so kurzer Zeit verändert? Zweimal hatten sie seit Firners Weggang zum LKA nach Stuttgart am Telefon miteinander gesprochen. Da war er noch der alte Firner gewesen.

Firner richtete sich leicht auf. Wollte er etwas sagen? Er blickte in die Runde und zuckte kurz zusammen. Auf was oder wen hatte er reagiert? Auf Mela? Die müsste er aus der Abteilung Internes kennen. Ahnte oder befürchtete er etwas? Spürte er eine Gefahr? Mela verhielt sich so, als würde sie Firner nicht kennen, was Berger seltsam vorkam. Er trat näher an den Korbstuhl und beugte sich zu Firner hinunter. Ein seltsamer Geruch ging von ihm aus. Hatte er Medikamente eingenommen, Psychopharmaka etwa? Aus eigener Erfahrung wusste Berger, dass bestimmte Antidepressiva den Körpergeruch und auch den Mundgeruch veränderten, nicht unbedingt zum Vorteil.

»Firner, brauchen Sie einen Arzt?«

Firner bewegte seine Lippen. Berger beugte sich noch weiter zu ihm.

»Ich habe Sie doch gewarnt, Berger«, flüsterte Firner. Und er sagte noch mehr.

Jeder Satz, jedes Wort brachte Berger fast aus der Fassung.

Die anderen hatten offenbar nichts gehört, denn Waldo fragte: »Hat er was gesagt?«

Berger schüttelte wahrheitswidrig den Kopf. »Er hat nur die Lippen bewegt. Ich habe jedenfalls nichts gehört.«

Firner korrigierte Bergers Aussage nicht.

»Wir müssen einen Arzt rufen«, meinte Tammy. »Firner sieht ziemlich schlecht aus.«

Tammy, Mela und Waldo hielten sich mit einigem Abstand hinter Berger. Sie schienen mit der Situation überfordert.

Plötzlich hallten Schüsse vom Waldrand vor dem Küchenfenster her. Sie galten ganz sicher dem Hof, trafen aber die Gebäude nicht. Es hörte sich an, als kämen sie aus verschiedenen Gewehren. Den Schussgeräuschen nach mussten es mindestens zwei Schützen sein.

Berger, Tammy, Mela und Waldo zogen ihre Waffen und brachten sich in Position. War er zu einem Hellseher geworden, fragte sich Berger. Trat jetzt ein, was er befürchtet hatte? Berger und Waldo stellten sich links und rechts an der Fensterfront auf. Tammy stellte sich schräg hinter Waldo. Mela zog sich – von der Tür aus gesehen – nach rechts hinten zurück.

Nach einer kurzen Pause waren wieder Schüsse zu hören, aber keine Einschläge zu vernehmen. Die vier sahen auch niemanden. In kurzen Abständen folgten jetzt Salven. Mehrere Kugeln pfiffen knapp über das Dach. Alle sahen gespannt zum Waldesrand, konnten jedoch keinen Schützen entdecken.

Berger fragte sich, ob es sich lohnen würde, zu schießen, wenn sie die Angreifer nicht orten konnten. Mit einer Handbewegung deutete er den anderen an, vorerst ruhig zu bleiben. Im Stillen beantwortete er seine Frage selbst: Würden sie zurückschießen, böten sie den Angreifern gute Ziele. Um einen Gegenangriff zu starten, müssten sie die Fenster öffnen oder aus dem Haus gehen und die Distanz zu den Angreifern verringern. Sie hatten ja nur ihre Dienstpistolen, die eine geringere Schussweite hatten. Beide Möglichkeiten waren in diesem Augenblick zu riskant.

Niemand achtete auf Firner, der reglos im Korbstuhl saß.

Plötzlich war ein Schuss im Raum zu hören. Berger fuhr herum und sah gerade noch, wie Firner in seinem Stuhl zusammensank. Aus seiner linken Schläfe tropfte Blut. Die Wolldecke war zurückgeschlagen. Mela ging auf Firner zu.

»Sind Sie verrückt? Warum haben Sie auf ihn geschossen?«, brüllte Berger. Für ihn bestand daran kein Zweifel.

»Schreien Sie mich nicht so an! Firner hat seine Waffe gezogen und auf Sie gezielt. Wenn ich nicht reagiert hätte, wären Sie jetzt tot. Und wir anderen vielleicht auch.«

»Warum hätte er auf mich schießen sollen? Und selbst wenn, hätten Sie ihn nur kampfunfähig zu machen brauchen.«

»Ihre Belehrung können Sie sich sparen«, giftete ihn Mela an. »Ich habe seitlich von Firner gestanden und mich auf die Fensterfront konzentriert. Aus dem Augenwinkel habe ich eine Bewegung gesehen. Als ich zu ihm geschaut habe, hielt er die Waffe gezielt auf Sie gerichtet und hatte den Finger am Abzug. Es ist mir keine andere Wahl geblieben, als reflexartig zu reagieren. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass man in solchen Situationen keine Zeit zum Abwägen hat.«

Berger schaute fassungslos auf den toten Firner, dessen Kopf auf die rechte Seite gekippt war. Er hielt tatsächlich eine Waffe in der rechten Hand. Niemand hatte mitbekommen, dass Firner, unter der Decke versteckt, eine Waffe bei sich gehabt hatte. Sie hatten das auch gar nicht in Betracht gezogen bei Firners angeschlagenem Zustand. »Danke«, sagte Berger leise zu Mela. »Alles Weitere wird sich später klären.« Mehr brachte er nicht heraus, so geschockt war er. Er drückte den Mittel- und Zeigefinger der linken Hand auf Firners Halsschlagader. Es war nichts zu spüren.

Wieder waren Salven aus dem Wald zu hören. Dieses Mal wurden Ziegel direkt über der Küche getroffen. Alle vier warfen sich auf den Boden. Berger kam das Liegen auf dem Küchenboden wie eine Ewigkeit vor.

Als nach einiger Zeit keine Schüsse mehr die Stille zerrissen, stand er vorsichtig auf und spähte aus dem Fenster. »Ich glaube, den Angriff haben wir überstanden. Tammy, ruf im Präsidium an. Da kommt was auf uns zu. Ein Angriff, ein toter LKA-Beamter …« Er hoffte, dass sie hier oben Netz hatten. Allerdings meinte er, unterwegs in unmittelbarer Nähe zum Hof einen Umsetzer gesehen zu haben. Und hatte Mela nach dem Aussteigen aus dem Auto nicht telefoniert? Vielleicht war es am besten, sich bei diesem Fall über nichts zu wundern.

Solange sie auf die Verstärkung und die Techniker warteten, blieben sie in der Küche und beobachteten die Umgebung.

»Wir dürfen uns nicht unnötig in Gefahr begeben«, riet Berger.

Waldo schien Bedenken zu haben. »Müssten wir nicht das Haus durchsuchen?«, fragte er. »Es kann doch sein, dass sich hier drin jemand versteckt und uns angreifen will.«

»Wir bleiben vorerst in der Küche. Wir müssen aber auf jedes Geräusch achten. Und wir sollten kurz besprechen, was seit unserer Ankunft passiert ist.« Berger schaute Tammy und Mela an, die zunächst nichts sagten. Sie schienen keinen Einwand gegen seinen Vorschlag zu haben. Im Gegensatz zu Waldo. Er hatte oft Zweifel und hinterfragte viel. Berger hatte sich mit der Zeit darauf eingestellt.

»Geht das überhaupt?«, wollte Waldo wissen. »Sich auf Geräusche im Haus konzentrieren und gleichzeitig über die Entwicklung seit unserer Ankunft sprechen? Das eine lenkt doch vom anderen ab. Außerdem, ist eine Einschätzung der Lage so kurz nach dem Angriff sinnvoll?«

»Ich glaube, wir sind trainiert genug, um die Situation schon jetzt zu analysieren. Uns werden sicher viele Fragen gestellt. Darauf müssen wir vorbereitet sein.« Berger wollte erst gar keine Diskussion aufkommen lassen, obwohl er innerlich zugeben musste, dass Waldo durchaus recht hatte. Aber nun kam es darauf an, zur Ruhe zu kommen und überlegt vorzugehen. Bei Tammy war er sich sicher, dass sie mit der Situation zurechtkam. Ob Mela und Waldo schon Ähnliches erlebt hatten, wusste er nicht. »Also, was haben wir vorgehabt?«

Als Erster antwortete Waldo. »Wir wollten uns im Zusammenhang mit dem aktuellen Fall diesen Hof anschauen und mit den Bewohnern sprechen.«

»Aber keine Spur von Bewohnern«, schloss sich Tammy an. »Wir gehen vorsichtig ins Haus und entdecken in der Küche unseren ehemaligen Kollegen Firner. Als wir mit ihm ins Gespräch kommen wollen, fallen draußen Schüsse. Es ist eindeutig, dass das Ziel der Hof ist. Wir nehmen unsere Positionen ein.«

»Plötzlich fällt hier in der Küche ein Schuss. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Firner zusammensackt«, sagte Berger.

»Den Schuss habe ich abgegeben. Ich musste das tun, weil Firner eine Waffe zielgenau auf Sie, Berger, richtete. Ich hatte keine andere Wahl.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Mela. Nochmals danke.«

Tammy stellte die entscheidenden Fragen: »Wo sind die Bewohner? Warum hat Firner sich hier aufgehalten? Und wieso hat er eine Waffe auf dich gerichtet, Alban? Weshalb wird der Hof zu dem Zeitpunkt angegriffen, als wir im Haus sind? Wem hat der Angriff gegolten? Firner? Oder uns? Falls er uns gegolten hat – woher haben die Angreifer gewusst, dass wir herkommen?« Sie schaute in die Runde, als ob sie prüfen wollte, ob jemand etwas zu verbergen hatte. Doch die Gesichter verrieten nichts, und niemand gab eine Antwort.

»Und wieso haben die Angreifer so schlecht geschossen?« Waldo sprach einen weiteren wichtigen Punkt an.

»Genau das habe ich mich auch gefragt«, warf Berger ein.

»Aber die Einschläge sind zuletzt immer zielgenauer geworden«, sagte Mela. »Vielleicht haben sie sich zunächst in der Position vertan. Oder uns nur Angst einjagen wollen.«

Melas Hinweis war nicht zu leugnen, dachte Berger.

»Was mich wundert, ist die Tatsache, dass die Salven jetzt urplötzlich aufgehört haben«, bemerkte Waldo.

Tammy nickte und ergänzte: »Möglicherweise sind die noch ganz in der Nähe und warten, bis wir uns aus dem Haus wagen. Wenn nicht, müssen wir auch daran denken, dass das Ganze ein Ablenkungsmanöver sein könnte. Fragt sich nur, von was.«

»Tammy, wir müssen uns gedulden«, meinte Berger. »Sobald die Verstärkung da ist, können wir das klären.«

Sie blieben in der Küche, bis eine SEK-Einheit angerückt war und den Hofbereich sicherte. Berger wunderte sich, dass das SEK das Haus nicht durchsuchte. Während ihrer Wartezeit hatten sie keine verdächtigen Geräusche gehört. Sie bemühten sich, keine Spuren zu verändern, und mieden den Bereich um den Küchentisch, an dessen Ende der tote Firner saß.

Der Polizeipräsident und die neue Kripochefin Lydia Gallheimer, die die Leitung des Kommissariats von Hajo Winker übernommen hatte, waren inzwischen eingetroffen und zeigten sich überrascht von dem, was auf dem Hof geschehen war. Sie hatten bereits mit dem LKA in Stuttgart telefoniert und berichteten, dass man dort sehr wütend sei. Sie müssten sich jetzt warm anziehen, meinte die Kripochefin.

Berger sagte aufgebracht: »Was heißt hier ›warm anziehen‹? Wir sind hierhergefahren, um zu ermitteln. Und plötzlich ist die Situation außer Kontrolle geraten. Noch ist nichts geklärt. Oder wissen Sie oder das LKA schon mehr?«

Kleinlaut antwortete Lydia Gallheimer, die merkte, dass sie zu weit gegangen war: »Sie haben ja recht, Berger. Allerdings kommt ein größeres Problem auf uns zu. Das LKA wird die Ermittlungen übernehmen. Eine Gruppe ist schon unterwegs. Wir sind gebeten worden, nichts zu unternehmen.«

»Dieses schnelle Vorgehen des LKA ist doch merkwürdig. Finden Sie nicht auch? Innerhalb von gerade mal zwei Stunden wird uns der Fall entrissen. Haben Sie sich darüber mal Gedanken gemacht?«

»Davon können Sie ausgehen, Berger.«

»Dann sind wir hoffentlich auf einer Linie. Haben die Stuttgarter ihr Vorgehen begründet?«

»Nein. Aber vermutlich hängt es mit Firner zusammen.«

3

Als der Film vom Angriff auf dem Hof in der Moos abgelaufen war, startete ein neuer in Bergers Kopf-»Mediathek«. Er drehte und wälzte sich im Bett, kam jedoch einfach nicht zur Ruhe.

Der Film, der nun in seinen Gedanken ablief, war ein Ereignis, das sich einige Zeit vor dem Drama auf dem Hof abgespielt und ebenfalls mit Hubert Firner zu tun hatte: Er hatte sich mit Berger bei der Heidenkirche in der Moos treffen wollen, hatte den Termin aber nicht eingehalten. Grund für das Treffen war die Mordakte »Albert Firner« gewesen. Diese Akte hatten Tammy und er gefunden, als sie mit der Abteilung Cold Case betraut worden waren und im Archiv nach ungelösten Fällen gesucht hatten. Fast im selben Moment war ihnen die Akte vom LKA Stuttgart genommen worden – angeblich für die Internen. Berger hatte daraufhin mehrmals versucht, Firner beim LKA zu erreichen. Als er ihn endlich ans Telefon bekommen hatte, hatte Firner ihn angeschrien: »Lassen Sie die Finger von den Fällen! Sie reißen alte Wunden auf und noch viel mehr. Aus dieser Geschichte werden Sie als gebrochener Mann gehen!« Berger war gar nicht zu Wort gekommen, hatte sich jedoch gewundert, warum Firner von »Fällen« gesprochen hatte. Er selbst hatte nur die Akte erwähnt.

Tage später hatte Firner sich erneut gemeldet und ein Treffen bei der Heidenkirche in der Moos angeboten, an einem Mittwochnachmittag um 15 Uhr. Berger müsse allein kommen und dürfe niemanden einweihen. Den Bedingungen hatte Berger zunächst widersprechen wollen, sich dann jedoch gefügt, weil er gehofft hatte, so an Informationen über die verschwundene Akte zu kommen.

4

Vor mehreren Wochen an der Heidenkirche …

Gegen 14.30 Uhr erreichte Alban Berger den Parkplatz auf dem Löcherwasen. Er musste sich beeilen. Die Heidenkirche befand sich in zwei Kilometer Entfernung. Er sah sich um. Auf der anderen Seite des Parkplatzes stand Firners Wagen mit Lahrer Kennzeichen. Vermutlich war er schon unterwegs zur Heidenkirche. Es war kalt hier oben. Berger zog seine Jacke zu, die links leicht ausgebeult war vom Schulterhalfter und seiner Dienstwaffe.

Der Weg zog sich eben dahin und gabelte sich nach etwas mehr als einem Kilometer. Er musste die rechte Abzweigung nehmen, die an der Fridolinhütte vorbeiführte. Nebelschwaden waren auf der linken Seite zu sehen. Von rechts schien die Sonne durch die Bäume und blendete ihn immer wieder. Er kam beim Anstieg zum Ziel ins Schwitzen.

Am Vormittag hatte Berger sich über die Heidenkirche, einen mystischen Ort, informiert. Im Internet hatte er sich Bilder von der Felsenmasse aus zusammengewürfelten Buntsandsteinblöcken angesehen, die man Schiff, Kanzel und Haus nannte. Er war gespannt auf das Naturdenkmal, das er schon lange nicht mehr besucht hatte. Damals hatte er sich nicht mit der Mythologie dieses Ortes befasst. Heute Vormittag allerdings hatten sich die Sagen, die sich um diese Felsenformation rankten, in sein Gedächtnis eingebrannt und ließen ihn nun auf dem Weg zum Treffen nicht mehr los. Sie erzählten, dass eines Tages die Riesen in der Gegend den Himmel stürmen wollten. Sie schleppten Felsblöcke herbei und schichteten sie zu Bergen auf, am Platz der Heidenkirche waren es mächtige Buntsandsteine. Auf der Kanzel opferten sie Menschen und Tiere. Zur Zeit Karls des Großen waren irische Mönche in den Schwarzwald vorgedrungen und verbreiteten den christlichen Glauben. Bald darauf geriet die heidnische Stätte in der Stille des Waldes in Vergessenheit. In Kriegszeiten kamen die Talbewohner jedoch zur Heidenkirche, um sich selbst sowie ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Es hieß, auch die letzten Wodanpriester hätten ihre Kultgegenstände aus Gold und Silber in einer Höhle unter den mächtigen Sandsteinfelsen versteckt. Ein großer schwarzer Hund bewache die Schätze und zerreiße jeden, der es wage, sie zu rauben.

Je näher Alban Berger der Heidenkirche kam, desto mehr stieg seine Anspannung, aber nicht aus Furcht vor dem schwarzen Hund. Vielmehr fragte er sich, was Firner mit ihm besprechen wollte. Und warum gerade hier oben? Und warum hatte er seine Meinung geändert?

Endlich sah er das Ziel. Auf seiner Seite warf die Sonne einen Glanz auf die bemoosten Riesensteine, und auf der anderen Seite krochen Nebelkrieger den Wald hoch und schluckten auf ihrem Weg alles, was ihnen in die Quere kam. Berger schaute auf seine Armbanduhr. Es war jetzt genau 15 Uhr. Von Firner keine Spur. Früher hatte er bei Besprechungen und sonstigen Terminen doch immer streng auf Pünktlichkeit geachtet.

Der Wald war menschenleer. Kein Wanderstiefel war zu hören, kein Mountainbike, kein Lachen, kein Gespräch. Wo war Firner? Berger lief langsam ein Stück weiter und beschloss, das Gelände um die Heidenkirche abzusuchen.

Als er auf den Weg zurückkehrte, hörte er Schritte. Instinktiv öffnete er seine Jacke und kontrollierte Schulterhalfter und Dienstwaffe. Die Schritte kamen von unten her und wurden immer schneller. Berger zog seine Waffe aus dem Schulterhalfter. Endlich sah er den Menschen, dessen Schritte zu hören waren, und wurde ein weiteres Mal enttäuscht. Es war nicht Firner. Ein keuchender Mann mit großem Schlapphut, langem, abgeschabtem Mantel und Rucksack, den Kopf gesenkt vor Anstrengung, lief auf ihn zu. In der rechten Hand hielt er einen großen, knorrigen Holzstock. Seine langen Beine waren etwas krumm. Berger schätzte den imposanten Mann mit Spitzbart auf etwa 50 Jahre.

Der Mann stoppte erschrocken, als er Berger und seine Waffe sah. Berger steckte sie schnell wieder in das Schulterhalfter und zog seinen Dienstausweis aus der Jacke.

»Sie haben mich fast zu Tode erschreckt«, schnaufte der Mann.

»Entschuldigung. Tut mir leid.«

»Verfolgen Sie jemanden?«

»Nein. Ich suche jemanden.«

»Und dafür brauchen Sie eine Waffe?«

»Das hat einen bestimmten Grund.«

»Den Sie mir natürlich nicht nennen dürfen.«

»Richtig. Aber vielleicht können Sie mir helfen. Woher kommen Sie gerade?«

»Vom Parkplatz.«

»Ist Ihnen unterwegs ein Mann begegnet oder aufgefallen?« Berger beschrieb ihm das Aussehen Firners.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Aber Moment mal, als ich auf den Parkplatz gefahren bin, haben sich dort zwei Männer erregt unterhalten.«

»Erregt?«

»Die haben wild gestikuliert. Es hat nach Streit ausgesehen. Der eine hat dem anderen mit dem Zeigefinger der rechten Hand mehrmals auf die Brust getippt. Wobei das fast schon eine Untertreibung ist. Ich habe gedacht, die gehen gleich aufeinander los. Einer von denen könnte der Mann gewesen sein, den Sie suchen. Und zwar der, der bedrängt worden ist. Als sie mich gesehen haben, sind sie schnell in ihre Autos gestiegen und weggefahren.«

»Können Sie sich an die Autos erinnern?«

»An das eine in etwa, an das andere nicht.« Die folgenden ungefähren Hinweise des Mannes deuteten darauf hin, dass das eine Auto Firner gehörte.

»Haben Sie sich die Kennzeichen gemerkt?«

»Das eine hatte LR für Lahr. Beim anderen bin ich mir nicht ganz sicher, ich meine, ein S gesehen zu haben.«

Wenn das zutraf, was der Wanderer eben gesagt hatte, war Firner offensichtlich von einem Mann unter Druck gesetzt worden. Wahrscheinlich war er deswegen nicht zum Treffpunkt gekommen. Wer war dieser Mann? Hatte Firner sich mit ihm auf dem Parkplatz verabredet gehabt, bevor er Berger treffen wollte?

»Wie hat der andere Mann ausgesehen?«

»Der ist so gestanden – verdeckt hinter der Person, die Sie suchen –, dass ich Ihnen dazu nichts sagen kann. Erstaunlich, dass die Einzelheiten nach so kurzer Zeit schon so verschwommen sind.«

»Das erleben wir täglich. Zeugenaussagen sind nicht immer verlässlich. Verstehen Sie das bitte nicht als Vorwurf. Ich danke Ihnen. Sie haben mir sehr geholfen.«

»Bitte. Und erschrecken Sie niemanden mehr. Es reicht, wenn der Moospfaff hier oben herumgeistert.« Der Wanderer fing an zu lachen. »Der hat auch vor bewaffneten Polizisten keinen Respekt«, sagte er und ging weiter.

Der Moospfaff? Er hatte den Namen schon mal gehört. Wer war das nur? Berger schaute dem Wanderer verwirrt nach.

Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch und drehte sich um. Er horchte aufmerksam und blickte konzentriert in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen zu sein schien. Doch da war nichts. Als er sich erneut umwandte, war der Wanderer wie vom Erdboden verschluckt.

Da fiel Berger wieder ein, was es mit dem Moospfaff auf sich hatte. Er hatte vor vielen Jahren in einem Buch, das im Bücherschrank seiner Eltern prominent platziert gewesen war, von ihm gelesen. »Wilhelm Straub – Sagen des Schwarzwaldes« hatte es geheißen. Der Moospfaff geisterte ruhelos in der Moos umher und führte Menschen in die Irre. Um ihn rankten sich unterschiedliche Erzählungen. Einmal wurde dieser Geist als ehemaliger Mönch aus dem berühmten Kloster Allerheiligen beschrieben, der auf einem Versehgang eine Hostie verloren hatte und seither umging. Ein andermal hieß es, er sei ein betrügerischer Abt des Klosters Gengenbach gewesen, der mit einem Meineid ein Stück Wald ergaunert habe. In beiden Varianten ging es um Schuld, die zu Lebzeiten nicht abgetragen worden war.

Berger sah sich um. Die Moos, dieser lange Bergwald, war ein ideales Gebiet für allerlei unheimliche Sagen. Man konnte sich hier gut finstere Gestalten vorstellen.

Als hätte die Natur seine Gedanken gelesen, kam plötzlich Wind auf, der die Bäume und Sträucher in Bewegung versetzte. Es rauschte, ächzte und knackte geheimnisvoll. Berger lief es kalt den Rücken hinab, und er bekam eine Gänsehaut. Schnell machte er sich auf den Weg zu seinem Auto. Auf der anderen Seite hatten die Nebelkrieger schon den ganzen Wald bis zur Höhe eingenommen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie auch diese Seite in Angriff nahmen.

Berger ärgerte sich, dass er in die Irre geführt worden war, nicht vom Moospfaff, sondern von Firner. Als er am späten Nachmittag ins Präsidium zurückkehrte, versuchte er Kontakt zu Firner aufzunehmen. Es gelang ihm nicht. Auch in den nächsten beiden Tagen blieben seine Versuche erfolglos.

Immer wieder kamen ihm Firners Worte in den Sinn: »Lassen Sie die Finger von den Fällen! Sie reißen alte Wunden auf und noch viel mehr. Aus dieser Geschichte werden Sie als gebrochener Mann gehen!« Im Gegensatz zu früher hatte Firners Stimme verzweifelt und flehentlich geklungen, als er das gesagt hatte. Wer oder was hatte aus dem selbstbewussten und zielstrebigen Firner ein menschliches Wrack gemacht? Und welche Schuld hatte er auf sich geladen?

In seiner Zeit im Kriminaldauerdienst hatte sich Berger nicht so viele Gedanken gemacht über Schuld. Seine Aufgabe war es gewesen, Tatorte zu sichten und einzuschätzen. Seit er jedoch die Abteilung Cold Case aufbaute, rückte die Frage nach der Schuld erstaunlich oft in den Vordergrund, obwohl Gerichte darüber zu entscheiden hatten. Was bedeutete dieser Wandel in seiner Arbeit als Kriminalist?

5

Das Trommelfeuer auf dem Dach ließ allmählich nach. Berger drehte sich noch einmal um, fand aber keine Ruhe. Er fühlte sich zerschlagen, richtete sich langsam auf und schlug die Bettdecke zurück. Ariane war schon aufgestanden. Warum hatte er es nicht mitbekommen? War er doch kurz eingenickt? Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war Zeit zum Aufstehen. In zwei Minuten würde der Wecker klingeln. Er stellte ihn aus und saß eine Weile unentschlossen auf der Bettkante. Der Schlafanzug, der vom Nachtschweiß noch feucht war, klebte kühl und unangenehm auf seiner Haut.

Endlich zerbrach der lähmende Ring um ihn, der ihn an der Bettkante festgehalten hatte. Er stand mit einem Ruck auf, zog den Schlafanzug aus, warf ihn im Bad in die Wäschetruhe und stieg in die Dusche. Das Wasser, das in feinen Perlen auf die Haut traf, erlöste ihn von der Schwere der Nacht.

»Hast du schlecht geschlafen?« Ariane sah ihn fragend und voller Sorge an. Sie hatte den Tisch gedeckt, ihm ein Müsli zubereitet und Schwarztee gekocht. Für sich hatte sie lediglich Kaffee gemacht. Sie wollte ein bisschen schlanker werden, obwohl viele ihre Figur bewunderten. Seit rund zwei Wochen verzichtete sie deshalb auf ein Frühstück.

»Ja. Du musst dir aber keine Gedanken machen. Es wird keinen Rückfall geben.« Dass er die vergangene Nacht so unruhig verbracht hatte, würde ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen, redete er sich ein. Kurz vor seinem letzten Fall war er nach längerer Auszeit in den Dienst zurückgekehrt. Der Tod seines Kollegen hatte ihn ziemlich aus der Bahn geworfen.

»Es ist doch sicher etwas vorgefallen. So habe ich dich schon lange nicht mehr erlebt. Du hast dich ständig hin und her gewälzt. Ich bin davon immer wieder aufgewacht.«

»Wann bist du nach Hause gekommen?«, wollte Berger wissen, denn seine Frau war mehrere Tage unterwegs gewesen.

»So gegen Mitternacht. Ich habe noch einen Sauvignon blanc getrunken. Danke, dass du eine Flasche kalt gestellt hast. Danach bin ich ins Bett. Da warst du noch ruhig.«

»Dann habe ich wohl doch für kurze Zeit geschlafen. Sonst hätte ich dich gehört.«

»Darfst du mir erzählen, was passiert ist?«

»Wenn du alles für dich behältst. Es ist bisher nichts an die Öffentlichkeit gelangt. Falls es publik wird, wird es sicher für Unruhe sorgen.«

»Dann muss es etwas Besonderes sein.«

»Ist es leider auch.« Berger erzählte emotionslos in übersichtlichen Sätzen, so, wie seine Frau es von ihm gewohnt war, was sich auf diesem seltsamen Hof in der Moos zugetragen hatte. Einiges musste er allerdings aussparen. »Wir sind angegriffen worden. Und unsere junge Kollegin Mela hat Hubert Firner erschossen.«

»Was?« Sie schaute ihn verblüfft an. »Das ist doch der ehemalige Soko-Leiter, mit dem du dich immer gezofft hast.«

»Ja, aber wir haben uns nicht ständig gestritten.«

»Hat sich aber so angehört damals.«

»Gut, in den letzten zwei Jahren sind wir oft unterschiedlicher Meinung gewesen. Doch ich habe ihn immer respektiert. Er ist ein exzellenter Ermittler gewesen. Nur, als bekannt geworden ist, dass ich als Leiter der neuen Ermittlungsgruppe ›Cold Case‹ vorgesehen bin, hat er sich plötzlich abweisend verhalten. Nicht direkt mir gegenüber. Aber im Hintergrund hat er sich negativ über die Entscheidung geäußert, mich zum Leiter der Cold-Case-Abteilung zu machen. Den genauen Grund kenne ich nicht. Jedenfalls hat Mela mir wohl das Leben gerettet. Sie sagt, Firner habe seine Waffe auf mich gerichtet und gerade abdrücken wollen. In dem Moment hat sie ihn erschossen.«

Ariane, die vor Schreck mitten im Kaffeetrinken innegehalten hatte, setzte die Tasse wieder auf den Unterteller ab. Sie rang sichtbar um Fassung. »Ich habe gedacht, du hast jetzt mehr oder weniger einen Bürojob!«

»Natürlich sitzen wir oft stundenlang am Schreibtisch und wälzen alte Akten, studieren Berichte, Protokolle von Vernehmungen, Fotos, Beweismittel, digitalisieren Archivmaterial. Wir schreiben Unklarheiten auf und schauen, ob bei den Ermittlungen Fehler gemacht worden sind. Aber wir müssen auch Tatorte besuchen, Wege, Entfernungen, Sichtfelder einschätzen, Zeugen befragen, mit Experten reden, Forensiker einschalten, moderne Technik nutzen, wenn es zum Beispiel um Haare und Blutspuren geht. Wenn wir Tatorte inspizieren, haben wir unsere Waffen dabei. Als reinen Bürojob kann man die neue Tätigkeit wirklich nicht bezeichnen. Außerdem werden wir auch zu anderen Einsätzen gerufen. Das ist in der Kriminaldirektion so geregelt.«

»Aha.« Die einzelnen Schritte, die notwendig waren, um einen Fall zu lösen, schienen sie nicht sonderlich zu interessieren. »Was hat Firner denn auf dem Hof zu suchen gehabt?«

»Das wissen wir noch nicht. Und dass unser Team nun Teil der Ermittlungen ist, verkompliziert das Ganze.«

»Gegen dich wird ermittelt?«

»Nicht so, wie du denkst. Wir werden befragt, was auf dem Hof passiert ist, wieso wir ihn besucht haben, warum Mela Firner erschossen hat. Das ist Routine und geht so in Ordnung. Ich bin trotzdem gespannt, wie das alles ausgeht.« Er wollte nicht weiter über diesen Fall sprechen. »Und was ist mit deiner Arbeit? Du siehst auch nicht gerade frisch aus. Hast du viel zu tun?«

»Schon, besser gesagt: mächtig. Manchmal fürchte ich, es wächst mir alles über den Kopf. In den Augen der Kolleginnen und Kollegen bin ich taff, aber dem ist nicht so. Außerdem habe ich Ärger am Hals, weil ich gemeinsam mit anderen Lektorinnen ein Grundsatzpapier für eine femininere Linie des Verlags geschrieben habe. Das ist beim Verleger nicht gut angekommen. Er hat unsere Linie sofort als radikal-feministisch attackiert, obwohl wir das gar nicht anstreben. Wir haben stundenlang debattiert und an vielen Beispielen versucht zu verdeutlichen, wie wichtig es unter anderem ist, die Frau in der Gesellschaft und gerade in der katholischen Kirche anders zu sehen und Autorinnen zu gewinnen, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Es ist leider noch nichts entschieden worden. Zurzeit gestaltet sich vieles zäh, obwohl die Verlagsspitze weiß, dass wir uns umstellen müssen, sonst verlieren wir große Teile der Leserschaft. Da hilft auch Digitalisierung oder ein modernes Layout nichts.« Sie trank einen großen Schluck Kaffee, bevor er vollends erkaltete. »Gestern Abend habe ich unterwegs einen interessanten Anruf aus München bekommen, von einem Großverleger. Er hat mir ein sehr gutes Angebot als Cheflektorin gemacht.«

Überraschenderweise versetzte die Neuigkeit Berger keinen Stich. Weil er so etwas schon erwartet hatte. »Heißt das, dass du dann nur am Wochenende hier bist?«

»Zugesagt habe ich ihm noch nicht, obwohl mich das Angebot sehr reizt. Er hat angedeutet, dass ich viel im Homeoffice arbeiten könnte. Ich habe ihm klargemacht, dass ich es mir nicht vorstellen kann, für längere Zeit oder ganz nach München zu ziehen. Daraufhin hat er mehrfach betont, dass wir sicher einen guten Kompromiss finden. Natürlich müsste ich mehrmals im Monat in München präsent sein. Aber zu deiner Beruhigung: Ich habe ihm gesagt, dass ich alles in Ruhe mit dir besprechen will.«

Nach den schwierigen Zeiten in der Vergangenheit hatten sie sich geschworen, offen miteinander umzugehen, Probleme mit gegenseitigem Respekt zu lösen und dem anderen nicht im Weg zu stehen, wenn sich berufliche Änderungen und Chancen ergaben.

Allerdings verschwieg Ariane ihrem Mann in diesem Moment etwas. Sie hatte den Großverleger auf einer Tagung in München kennengelernt und wäre dem Charme dieses Mannes beinahe erlegen. Das war in der Zeit gewesen, als ihre Beziehung durch Albans Krise an Stabilität verloren hatte und fast in die Brüche gegangen wäre. Ariane war bewusst, dass sie mit einer neuen Charmeoffensive des Münchner Verlegers rechnen musste, wenn sie auf sein Angebot, das Cheflektorat zu übernehmen, einging. Ob er wirklich nur an ihr als Lektorin interessiert war? Sie musste gelegentlich mehr über ihn herausbekommen, um vor Überraschungen sicher zu sein. In Gedanken lachte sie über ihre Situation. Zusätzlich amüsant fand sie es, dass sie gerade ein Manuskript lektorierte mit dem Titel »Und führe uns nicht in Versuchung«. Der provokante Untertitel versprach noch mehr: »Nonnen zwischen Gott und Teufel.« Das, was sie bisher bearbeitet hatte, las sich spannend und mitunter ergreifend. Ariane hoffte, dass der Verleger wie versprochen das Werk drucken ließ. Befand sie sich persönlich auch zwischen Gott und Teufel? Auf ihre Lage zugeschnitten müsste es eher heißen: »Zwischen Treue und Aufbruch.« Oder spielte sie einfach nur mit dem Feuer?

»Haben sich unsere Töchter mal wieder gemeldet?«, wollte Berger wissen und riss Ariane damit aus ihren Gedanken.

Die Frage, die er in unregelmäßigen Abständen stellte, ging ihr auf die Nerven. Beide Töchter riefen immer sie an, nie ihn. Sie musste ihnen mal deutlich machen, dass das so nicht ging. Allerdings war Alban an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Doch das wollte sie ihm heute nicht unter die Nase reiben. Alban hatte sich während ihrer Brustkrebserkrankung in sein Schneckenhaus verkrochen, wofür ihre Töchter nicht viel Verständnis gehabt hatten. Sie hatten, wie Ariane auch, zunächst nicht begriffen, dass er sich in einem seelischen Notstand befand. Und jetzt verhielten sie sich so, als könne man ihn nicht mit Problemen behelligen, weil er noch immer nicht stabil genug sei.

»Laura will mit ihrem Freund zusammenziehen«, antwortete Ariane.

»Das geht aber schnell. Und was macht ihr Germanistikstudium?«

»Sie kommt gut voran. Im nächsten Jahr wird sie wahrscheinlich fertig sein.«

»Hat sie schon Pläne?«

»Zurzeit tendiert sie zum Verlagswesen. Sie ist sich aber noch nicht ganz sicher. Und Beata hat gesagt, sie wolle nach dem Medizinstudium noch Rechtsmedizin dranhängen.«

»Hat sie sich das gut überlegt?«

»Du weißt ja, wenn sie sich etwas vornimmt, zieht sie es durch.« Ariane beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und ihren Mann doch auf das Telefonieren anzusprechen. »Willst du Laura und Beata nicht mal anrufen? Es darf sich nicht einschleifen, dass sie nur mit mir Kontakt halten, weil sie Angst haben, dass du nicht belastbar bist.« Es klang nicht vorwurfsvoll, aber sie sah Alban an, dass ihm dieses Thema nicht behagte.

Er schlürfte seinen Tee und konzentrierte sich auf sein Müsli. Und schwieg. Wie so oft.

6

Berger, Tammy und Waldo saßen zu dritt in ihrem Arbeitszimmer, blätterten in Akten, gaben wichtige Erkenntnisse in ihren Computer ein, folgten ihrem Digitalisierungsplan. Die Akte, in der der seltsame Hof in der Moos mit dem Namen Schwedengrundhof eine Rolle spielte, hatten sie seit dem Tod von Hubert Firner nicht angerührt. Der Fall beschäftigte sie dennoch. Vor allem berührte sie die Frage, was Firner mit dem Hof zu tun gehabt hatte und warum das Landeskriminalamt sie von den Ermittlungen ausschloss.

»Ich glaube, Mela kommt«, sagte Berger, ohne aufzuschauen.

»Hast du etwas gehört?«, fragte Waldo.

»Nein, aber ich kann ihr Parfüm riechen.«

»Du bist eben der beste Schnüffler im Präsidium«, lachte Tammy.

In diesem Moment ging die Tür auf und Mela kam herein. Alle schauten zu ihr und kamen aus dem Staunen über das Outfit ihrer Kollegin nicht mehr heraus.

Mela trug einen engen schwarzen Hosenanzug und hielt einen kleinen schwarzen Koffer in der Hand. Sie grüßte kurz mit einem »Hallo«, setzte sich an ihren Schreibtisch, stellte das Köfferchen ab, fuhr den PC hoch und starrte konzentriert auf den Bildschirm, während ihr Parfüm den ganzen Raum einnahm. Es war ein teures Parfüm mit intensivem Rosenduft, das aus Damaszener Rosen gewonnen wurde, wie sie Berger einmal erzählt hatte. Manchmal trug sie zu viel davon auf, immer dann, wenn etwas Besonderes anstand, durchfuhr es Berger. Vielleicht wollte sie so Stress abbauen.

»Auf welchen Laufsteg gehst du denn heute noch?«

Waldo bekam keine Antwort auf seine Frage, nur ein unbestimmtes Lächeln.

Für Berger sah Mela eher aus wie eine Agentin oder Killerin in einem Thriller. Für wen hatte sie sich so in Schale geworfen, fragte er sich. Hatte sie einen wichtigen Termin? Wollte sie jemanden beeindrucken? Ihre erste Befragung nach dem Angriff auf den Schwedengrundhof und der Tötung Firners hatte sie hinter sich. Sie hatte danach einen zufriedenen Eindruck gemacht, sich aber nicht zur Befragung geäußert. Stuttgarter Kollegen aus dem Landeskriminalamt, Abteilung Internes, hatten die Befragung übernommen. Berger hielt diese Vorgehensweise für fragwürdig und nicht korrekt. Mela und Firner hatten in der Abteilung Internes eng zusammengearbeitet, wie er inzwischen erfahren hatte. Dennoch hatten sie auf dem Hof so getan, als wären sie sich fremd. Hatten sie etwas miteinander gehabt und es war ihnen peinlich gewesen?

Tammy, Waldo und Berger waren auch »vernommen« worden, hatten aber nicht viel klären können. Es hatte sich ja alles hinter ihrem Rücken abgespielt. Die Kollegen aus Stuttgart hatten die Befragung routiniert abgewickelt und nicht nachgebohrt, was Berger misstrauisch gemacht hatte. Waldo, Tammy und er hatten mehrmals über den Ablauf des Geschehens in der Küche des Schwedengrundhofes diskutiert und festgestellt, dass einiges für Melas Version sprach, dennoch könnte es auch anders gewesen sein, als sie behauptete. Sicher waren sie sich in dem Punkt, dass Firner zu weit weg von der Fensterfront gesessen hatte, um sie bei der Abwehr des Angriffs zu unterstützen. Was ihn jedoch dazu bewogen hatte, seine Waffe auf Berger zu richten, darauf fanden sie keine überzeugende Antwort. Firner! Der Mann war für Berger plötzlich zum Rätsel geworden. Und er musste feststellen, dass er Firner überhaupt nicht gekannt hatte.

Alle vertieften sich nach Melas berauschendem Auftritt wieder in ihre Arbeit. Waldo begann mit der linken Hand sein Spiel mit dem Kugelschreiber, das er, seit er den James-Bond-Film »Golden Eye« gesehen hatte, professionell beherrschte. Wie der Hacker Boris Grishenko wirbelte er das Ding herum, ohne dass es seinen Fingern entglitt. Er schien das Spiel fast besser zu beherrschen als Grishenko. Jedenfalls war ihm der Kugelschreiber bisher kein einziges Mal runtergefallen. Sie hatten schon überlegt, eine Wette abzuschließen. Mit der rechten Hand blätterte Waldo in seinen Unterlagen oder tippte auf der Tastatur, wenn er wichtige Fakten festhalten wollte.

Mela stand auf, nahm ihr Köfferchen und sagte: »Ich bin kurz auf der Toilette.«

Ein paar Minuten später kam sie mit rot geschminkten Lippen zurück und hatte offenbar das Parfüm noch einmal aufgefrischt. Im Stehen tippte sie etwas in ihren Computer, schob das Köfferchen mit ihrem linken Fuß behutsam unter den Tisch und setzte sich in ihren Stuhl.

Berger überlegte, ein Fenster zu öffnen, um dem Parfümduft im Büro die Schwere zu nehmen, entschied sich aber dagegen. Irgendwann wollte er sie darum bitten, die Parfümmenge dem beengten Raumvolumen anzupassen. In dem ohnehin nicht großen Zimmer war vor lauter Akten fast kein Durchkommen mehr.

Der Fall um den Schwedengrundhof lag noch auf Bergers Schreibtisch, auch wenn sie momentan von den Ermittlungen ausgeschlossen waren. Die Entscheidung, ob sie diesen Fall endgültig ans LKA abgeben mussten, stand noch aus. Der Polizeipräsident und die Kripochefin verhandelten weiter über den Verbleib der Akte und wollten, dass die Cold-Case-Gruppe die Ermittlungen fortsetzte. Sie hatten dem Landeskriminalamt angeboten, dass Stuttgarter Ermittler parallel an dem Fall arbeiten könnten. Inzwischen war der Polizeipräsident so genervt, dass er das Innenministerium als Vermittlungsinstanz einschalten wollte.

Berger wurde in seinen Gedanken gestört, als Mela einige Papiere ordnete und auf die Seite legte, sich von ihrem Platz erhob, den Computer herunterfuhr und sagte: »Macht es gut, ihr drei.« Und an Berger gewandt: »Ich habe einen wichtigen Termin. Die Stunden hole ich nach.«

Manchmal sprühte sie vor Charme, aber meist wirkte sie wie eine verschlossene Auster oder wie ein Mensch, der etwas zu verbergen hatte. Ihr schwarzer Hosenanzug verstärkte diesen geheimnisvollen Zug.

Wie die anderen wünschte Berger Mela einen schönen Tag und fragte sich, was für ein wichtiger Termin das wohl war.

Fast katzenhaft verließ Mela den Raum. Ihr Duft blieb zurück.

Berger versuchte, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren, als ihn ein Geräusch aufschreckte. Waldo war der Kugelschreiber aus der Hand geglitten und auf den Boden gefallen. Zum ersten Mal, seit er hier angefangen hatte.

Waldo bückte sich nach dem Kugelschreiber. »Mela hat ihr Schminkköfferchen stehen lassen. Vielleicht erreiche ich sie noch.« Er griff nach dem kleinen Koffer und rannte zur Tür.

Berger nutzte die Gelegenheit und öffnete die Fenster.

»Danke!« Tammy reckte den rechten Daumen nach oben. »Das wird wohl dauern, bis dieser Duft verschwindet.«

Berger wollte gerade antworten, als Tammys Telefon läutete.

»Hallo?«

»Ich bin’s, Sakura. Hast du kurz Zeit?«

Wenn Sakura, ihre Kollegin aus dem Bereich »Cybercrime und Darknet«, ein Gespräch so einleitete, hatte sie in der Regel etwas Wichtiges mitzuteilen.

»Ja, um was geht es?«

»Die richtige Frage lautet: Um wen geht es?«

»Um eine Person also. Kennen wir die?«

»Ist jemand bei dir?«

»Im Moment nur Berger. Mela hat sich zu einem Termin verabschiedet, und Waldo ist ihr nachgerannt, weil sie ihr Schminkköfferchen vergessen hat.«

»Also, pass auf. Ich habe einen Tipp bekommen, dass irgendetwas mit Mela nicht stimmt. Näheres weiß ich noch nicht.«

»Das ist alles? Hast du nicht ein bisschen mehr?«

»Ich muss mich zurückhalten. Es hat sich herumgesprochen, dass Mela bei einem Einsatz Firner erschossen hat. Und jemand hat mir angedeutet, dass sie sich auch in Stuttgart schon seltsam verhalten habe. Mehr hat dieser Jemand nicht sagen wollen, jedoch betont, man müsse im Umgang mit Mela sehr vorsichtig sein. Es hat sich so angehört, als sollte man ihr nichts anvertrauen.«

»Haben wir bisher auch nicht. Wir studieren gemeinsam Akten, suchen nach fallbezogenen Lösungen. Privatgespräche mit ihr kannst du eh vergessen. Sie redet nur das Notwendigste.«

»Hört aber offenbar gut zu. Und mit ›vorsichtig‹ hat meine Quelle nicht das Private gemeint, sondern die Ermittlungen.«

»Dann kann es wohl nur um unseren jetzigen Fall gehen.«

»Das glaube ich auch.«

»Hast du in den letzten Tagen mal was über Firner gehört? Du weißt ja, dass nach seinem Weggang zum LKA die Mordakte ›Albert Firner‹ angefordert worden ist.«

»Ja, davon hast du mir erzählt. Aber ich weiß nicht viel. Nur dass jeder sich fragt, in was der reingeraten ist.«

Ein heftiger Knall schreckte Tammy und Berger hoch.

»Was war das denn?«, fragte Sakura. »Hast du das auch gehört?«

»Ja, das muss hier ganz in der Nähe gewesen sein. War das eine Explosion?«

»Wird doch nichts bei der Bahn passiert sein!«

»Wir werden es sicher gleich erfahren.«

»Also, ich lege auf. Ich halte dich auf dem Laufenden.«

»Gut. Bis bald.«

»Ich schau mal nach, was da passiert ist.« Berger stand auf und drückte seinen Rücken durch. Die lange Arbeit am Schreibtisch machte sich allmählich bemerkbar. Demnächst sollte er sich wieder mal behandeln lassen.

»Wo bleibt Waldo eigentlich?«

»Wahrscheinlich hat ihn die Neugier gepackt. Oder er unterhält sich noch mit Mela.«

Berger verließ den Raum, während Tammy ihre Notizen am PC überprüfte. Eine seltsame Unruhe erfasste sie, die ihren Puls beschleunigte. Sie war versucht, Berger zu folgen, entschied sich jedoch dagegen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und stand doch auf.

Als sie das Büro verließ und Richtung Hauptausgang lief, hörte sie am Lärm, der von den Straßen gegen das große Polizeigebäude brandete, dass das Ausmaß der Explosion schlimm sein musste. An der Pforte stauten sich die Kolleginnen und Kollegen, die wissen wollten, was es mit dem Knall auf sich hatte. Aus den Wortfetzen schloss Tammy, dass ein Auto an der Ecke Prinz-Eugen-Straße und Rammersweierstraße in die Luft geflogen war. Offenbar waren einige Kolleginnen und Kollegen bereits am Explosionsort, um ihn abzusperren und die Ermittlungen aufzunehmen. Sicher war die Bereitschaftspolizei schon informiert. Entsprechende Töne, die nach Polizei- und Feuerwehreinsatz und Krankenwagen klangen, ließen darauf schließen.

Tammy suchte an der Pforte nach Berger, konnte ihn aber nicht ausfindig machen. Das hieß, dass er sich draußen aufhielt. Sie steuerte den Ausgang an, blieb dann aber stehen, als die Kripochefin versuchte, sich Gehör zu verschaffen, und sich mit Mühe durch die Leute kämpfte. Nach mehreren Anläufen wurde es endlich still.

»Kolleginnen und Kollegen, wie ihr mitbekommen habt, ist draußen etwas Schreckliches passiert. Ein Auto ist explodiert. Das ist das Einzige, was wir sicher wissen. Die Ursache ist noch unklar. Möglicherweise sind Opfer zu beklagen. Wir werden Sie in rund einer halben Stunde kurz auf den neuesten Stand bringen. Ich bitte alle, zunächst an den Arbeitsplatz zurückzukehren.«

Ohne größeres Murren löste sich die Versammlung auf.

Tammy folgte der Aufforderung. An ihrem Schreibtisch wollte sie sich wieder auf ihre Arbeit konzentrieren, doch es gelang ihr nicht. Die Ungewissheit machte es ihr unmöglich.

Sie stierte schon gefühlte zehn Minuten auf ihren Bildschirm, als die Tür aufging und Berger hereinkam, mit einem Gesichtsausdruck, der das Schlimmste befürchten ließ.

»Bist du draußen gewesen?«

Er brauchte Zeit, bis er heiser antwortete. »Ja.«

»Und?«

»Schrecklich! Vorne an der Straße ist ein riesiges Loch. Und überall liegen Autotrümmer herum. Es ist vermutlich das Auto von Mela.«

»Was? Und wo ist Waldo?«

Wie ein alter, gebrechlicher Mann setzte sich Berger auf seinen Stuhl. »Ich habe ihn nirgends gesehen.«

»Denkst du, dass er …?«

»Möglich.«

»Und Mela?«

»Wenn sie im Auto war, mit Sicherheit.«

Tammy begann zu schluchzen. Hatten sie schon wieder einen Kollegen verloren? Und eine Kollegin? Sie sah Berger an, dass er ähnliche Gedanken hatte. »Alban, war diese Explosion ein schrecklicher Zufall oder böse Absicht?«