Folge dem weißen Kaninchen ... in die Welt der Philosophie - Philipp Hübl - E-Book
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Folge dem weißen Kaninchen ... in die Welt der Philosophie E-Book

Philipp Hübl

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Beschreibung

Antworten auf die großen Fragen der Philosophie – unterhaltsam und verständlich

Der Philosoph Philipp Hübl hat mit »Folge dem weißen Kaninchen« eine ebenso unterhaltsame wie verständliche Einführung in die moderne Philosophie geschrieben. Er bietet Orientierung bei den großen philosophischen Fragen: Was können wir wissen? Wie erleben wir unseren Körper? Kann man Bewusstsein wissenschaftlich erklären? Wie erhalten Worte ihre Bedeutung, und wie frei sind wir in unseren Entscheidungen? Kann man ohne Gefühle leben? Haben Träume eine Funktion? Warum ist uns Schönheit so wichtig? Gibt es Gott, und hat der Tod einen Sinn?

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Professor Dr. Philipp Hübl hat Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford studiert und u. a. an der RWTH Aachen, der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Stuttgart gelehrt. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter Der Untergrund des Denkens. Eine Philosophie des Unbewussten (2015), Bullshit-Resistenz (2018) und Die aufgeregte Gesellschaft (2019). Sein Bestseller »Folge dem weißen Kaninchen« wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

 

Folge dem weißen Kaninchen … in der Presse:

»Hübls locker und luzide geschriebene Einführung ist

wärmstens zu empfehlen.«

Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

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PHILIPP HÜBL

FOLGE DEMWEISSENKANINCHEN

… IN DIE WELT DER PHILOSOPHIE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Die Erstausgabe ist 2012 im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, erschienen Covergestaltung: Bürosüd, München Covermotiv: Getty Images / Mara Gellerstedt / EyeEm E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-26481-9V001www.penguin-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Dem Kaninchen auf der Spur

Kapitel 1

Fühlen – Die Vernunft des Bauches

Kapitel 2

Sprechen – Das Spiel mit Bedeutung

Kapitel 3

Glauben – Der Gott im Gehirn

Kapitel 4

Träumen – Der Wahnsinn des Schlafes

Kapitel 5

Handeln – Die Freiheit des Willens

Kapitel 6

Wissen – Auf Umwegen zur Wahrheit

Kapitel 7

Genießen – Die Kunst der Schönheit

Kapitel 8

Denken – Das Rätsel des Bewusstseins

Kapitel 9

Berühren – Die Entdeckung des Körpers

Kapitel 10

Leben – Der Sinn des Todes

Anhang

Literaturliste

Personenregister

Sachregister

Einleitung

Dem Kaninchen auf der Spur

Als Alice im Garten spielt, hoppelt plötzlich ein weißes Kaninchen vorbei, das irgendetwas vor sich hin murmelt. Sie rennt ihm nach, fällt in den Kaninchenbau und gelangt so ins Wunderland. Alice reist von der Wirklichkeit in eine Phantasiewelt. Und wieder zurück. Lewis Carroll, der Autor vonAlice im Wunderland, war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Logiker und Philosoph. So entpuppt sich das Wunderland beim zweiten Lesen als ein Ort voller philosophischer Rätsel: Kann man schon vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge denken? Kann Humpty Dumpty die Bedeutung seiner Worte selbst festlegen? Kann die Grinsekatze komplett verschwinden, während ihr Grinsen zurückbleibt?

Im FilmThe Matrixgeht die Reise in die umgekehrte Richtung. Neo, die Hauptfigur, sieht auf seinem Computerbildschirm die Nachricht «Folge dem weißen Kaninchen». Kurz darauf klopft es an seiner Tür. Eine Frau, auf deren Schulter ein Kaninchen tätowiert ist, lädt ihn zu einer Party ein. Neo trifft den mysteriösen Morpheus, der ihn zwischen einer roten und einer blauen Pille wählen lässt. Neo nimmt die rote und reist aus seiner grünlich eleganten Phantasiewelt in die dunkle, rohe Wirklichkeit. Und kehrt mit geöffneten Augen wieder zurück. Wie Carroll haben die Regisseure Andrew und Lana (ehemals Laurence) Wachowski mit der Matrix einen Ort voller philosophischer Rätsel erschaffen: Könnte die ganze Welt eine Illusion sein? Können Maschinen denken? Haben wir einen freien Willen, oder ist alles Schicksal?

Wenn wir uns philosophische Fragen stellen, gehen unsere Gedanken auf Wanderschaft. In der Philosophie sind Metaphern der Fortbewegung wie «Wanderschaft» oder «Reise» allgegenwärtig. Immanuel Kant beschreibt das Philosophieren als «sich im Denken orientieren». Ludwig Wittgenstein zufolge hat ein philosophisches Problem die Form «Ich kenne mich nicht aus». Ziel der Philosophie sei es, der «Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas» zu zeigen. Fliegengläser sind unten offen und oben geschlossen. Hat die Fliege sich einmal da hinein verirrt, ist sie gefangen, denn sie will immer nach oben. Aus dem Glas findet sie so schwer wieder hinaus wie Menschen aus dem Wunderland oder der Matrix.

In diesem Buch können Sie dem weißen Kaninchen in ein anderes Wunderland folgen: die Wirklichkeit. Denn wer durch die philosophische Brille schaut, sieht Altbekanntes mit einem schärferen Blick. Die besten Entdeckungsreisen sind nicht die, bei denen man fremde Länder bereist, sondern die, bei denen man die Welt mit anderen Augen sieht, wie es bei Marcel Proust sinngemäß steht. Es ist eine Jagd mit reicher Beute, hin und her, querweltein, durchs ganze Leben und zurück.

Wir können wie gewohnt in den Supermarkt gehen oder gleichzeitig darüber nachdenken, ob ein Einkauf unsere Willensfreiheit auf die Probe stellt. Wir können ganz unbedarft die Oper besuchen oder uns dabei überlegen, ob wir dieWalkürevielleicht bloß deshalb schön finden, weil wir zu einer Gruppe dazugehören wollen. Wir können einen Joint rauchen und es einfach nur genießen oder uns zusätzlich fragen, ob wir so unser Bewusstsein verengen oder erweitern und was damit überhaupt gemeint sein soll.

Das Wunderland der Wirklichkeit

Dieses Buch ist eine Einführung in die moderne Philosophie. Zehn Kapitel geben klare Antworten auf große philosophische Fragen: Kann man ohne Gefühle leben? Gibt es Gott? Sind wir frei in unseren Entscheidungen? Was können wir wissen? Wie erhalten unsere Worte ihre Bedeutung? Kann man Bewusstsein wissenschaftlich erklären? Haben Träume eine Funktion? Wie erleben wir unseren Körper? Warum ist uns Schönheit so wichtig? Hat der Tod einen Sinn? Dabei steht jedes Kapitel für sich und ist unabhängig von den anderen verständlich.

Klassische Einführungsbücher haben mich immer gelangweilt. Ein Dutzend Mal las man etwas über die alten Denker*und deren schwerverständliche Theorien, ohne zu erfahren, wer eigentlichrecht hatte und warum. Die spannenden aktuellen Debatten kamenso gut wie gar nicht vor.

* Aus stilistischen Gründen stehen allgemeine Ausdrücke wie «Philosophin» oder «Student» und die Personalpronomen «er» und «sie» immer für Frauen, Männer und andere. Das grammatische Geschlecht spiegelt nicht das biologische wider.

Dieses Buch bietet Orientierung im Irrgarten der Philosophie, einschließlich der Abkürzungen und Schleichwege, die sich erst in den letzten Jahrzehnten auftaten. Bei den Ausflügen bleiben einige bekannte, aber konfuse Theorien auf der Strecke, viele Vorurteile und Mythen werden zurechtgestutzt. Das Buch ist also keine typische Einführung, in der alle möglichen Positionen aufgelistet sind, sondern eine, in der die guten Argumente im Vordergrund stehen.

In der Oberstufe haben wir in vielen Fächern philosophische Texte gelesen. Mich hat das begeistert, aber die geballte Wucht an grauer Theorie war sicherlich für zwei Irrtümer verantwortlich, denen ich damals aufsaß. Zum einen die Auffassung, dass ein Text umso «tiefsinniger» sei, je dunkler und unverständlicher er mir zuraunte. Im Studium zeigte sich bald, dass die Unverständlichkeiten oft nicht von mir, sondern von den Texten abhingen, und dass die vermeintlich «tiefen Weisheiten» entweder Banalitäten oder Unsinn waren.

Der zweite Irrtum: Ich glaubte, dass ich durch das Philosophiestudium einen Vorhang zur Seite ziehen und so in eine ganz neue Welt eintauchen könnte. Doch als Philosoph entdeckt man kein fremdes Wunderland, man sieht allenfalls die bekannte Welt klarer, zum Beispiel, indem man lernt, dass die Metaphern des «Vorhangs» und der «verborgenen Weisheiten» aus Platons Ideenlehre stammen, einer einflussreichen, aber unhaltbaren Theorie des Wissens. Tatsächlich ist da keine verborgene zweite Welt. Die Wirklichkeit ist das eigentliche Wunderland.

Gute Philosophen streben in ihren Texten nach einem Ideal von Klarheit und Verständlichkeit. Dafür setzen sie ihre sauber geputzten Begriffsbrillen auf. Manchmal gehen sie mit der Lupe ganz nah ran. Und manchmal arbeiten sie mit dem Weitwinkelobjektiv, um die großen Zusammenhänge in den Blick zu nehmen.

Dabei dürfen die begrifflichen Linsen den Blick nicht trüben. Viele nämlich, die sich intensiver mit einem Denker beschäftigen, fühlen sich nicht nur in dessen Vokabular und Gedankengängen heimisch, sondern nehmen auch immer nur eine Perspektive ein. Durch Nietzsches Sonnenbrille beispielsweise sieht die Welt düster aus, und mit Freuds pinker Brille auf der Nase entdeckt man überall Rosiges. Dieser Versuchung muss man widerstehen. Dann darf man auch sehenden Auges Bewegungsmetaphern für das Denken und visuelle Metaphern für das Wissen verwenden.

Staunen oder Begreifen: Was ist Philosophie?

Die Philosophie beginne mit dem Staunen, sagt Aristoteles, oder gar mit einem kindlichen Staunen, wie viele behaupten. Das stimmt allerdings nur, wenn man mit «Philosophie» wie die antiken Griechen «Wissenschaft» meint. Kinder sind von klein auf Forscher und bleiben es ein Leben lang, wenn es ihnen nicht abgewöhnt wird. Aber sie sind noch keine Philosophen. Die kindliche Neugierde ist eine naturwissenschaftliche. Kinder wollen wissen, wie die Welt funktioniert: Löffel fallen lassen, Geräusch, Löffel fallen lassen, Geräusch. Sie fragen, warum es dunkel wird oder wo der Wind ist, wenn er nicht weht, lange bevor sie wissen wollen, ob Gott existiert oder was Gerechtigkeit ist.

Während die Naturwissenschaft typischerweise Warum-Fragen beantwortet wie «Warum fällt der Stein zu Boden?», «Warum teilen sich die Zellen?» oder «Warum gefriert Wasser?», stellt die Philosophie die dazu passenden Was-Fragen: Was ist Verursachung? Was ist Leben? Was ist ein Naturgesetz? An der Form der Was-Frage allein kann man die Philosophie natürlich noch nicht erkennen, aber am Ziel: Philosophen fragen nach dem Wesen der Dinge.

Die Philosophie im heutigen Sinn ist eine Wissenschaft der Begriffe, also der Kategorien des Denkens, und zwar derjenigen, die so grundlegend und allgemein sind, dass wir ohne sie überhaupt nichts verstehen würden: Raum und Zeit, Sprache, Vernunft, Bedeutung, Wahrheit, Wissen, Verursachung, Objekt, Ereignis, Bewusstsein, Gut und Böse, Wahrnehmung, Handlung, Gefühl, Mensch, Gerechtigkeit, Schönheit.

Naturwissenschaftler wollen wie Kinder wissen, warum etwas passiert. Philosophen hingegen gehen in ihrer Neugier dem Alltäglichen, schon Bekannten auf den Grund. Sie suchen das Mysterium im Selbstverständlichen. Sie fragen, wie die grundlegendsten Begriffe zusammenhängen: Kann die Zeit auch vergehen, wenn es kein Universum gibt? Muss man Vernunft haben, um sprechen zu können? Können Schmerzen oder Gefühle auch unbewusst auftreten?

Natur- und Humanwissenschaftler wenden ihre Theorien auf Daten aus Versuchen und Beobachtungen an. Philosophen führen auch Versuche durch. Allerdings sind das Gedankenexperimente, für die man keine Apparaturen braucht. Den sauberen Unterschied zwischen Daten und Theorie gibt es in der Philosophie nicht: Jeder philosophische Gedanke oder Text kann wiederum Gegenstand eigener philosophischer Gedanken sein.

So begibt sich schon jeder Philosophiestudent auf Augenhöhe mit den großen Denkern der Geschichte. Das geht nur, weil wir Spätgeborenen Zwerge auf den Schultern dieser Riesen sind, wie der mittelalterliche Philosoph Bernhard von Chartres sagt. Der Weg hinauf ist manchmal mühsam, aber von oben hat man einen fast unbeschreiblichen Ausblick. Oft kann man weiter sehen als die Riesen selbst. Man darf nur nicht vergessen, dass man ohne sie niemals so weit oben sitzen würde. Und man darf den langen Schatten des Riesen nicht mit der eigenen Größe verwechseln.

Philosophie als Wissenschaft

Der Titel «Philosoph» ist keine geschützte Berufsbezeichnung, so wenig wie «Detektiv», «Designer» oder «Journalist». Jeder kann ihn als Beinamen auf seine Visitenkarte schreiben. Diese Titelinflation irritiert einige seriöse Philosophen in der Wissenschaft genauso wie ausgebildete Journalisten oder diplomierte Abgänger von Kunstschulen. Aber man kann da großzügig sein: Wir sind alle Philosophen, so, wie wir alle Psychologen sind oder Fußballtrainer vor dem Fernsehschirm. Wie unter Fußballtrainern gibt es auch unter Philosophen gute und schlechte. Die guten arbeiten nach hohen wissenschaftlichen Standards. Sie schreiben klar und verständlich, argumentieren genau und wollen zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen.

Diesem Ideal verpflichtet sich unter anderem dieAnalytische Philosophie, die stark von der angloamerikanischen Forschung beeinflusst ist und der auch ich mich zuordne. Wie jedes Handwerk ist die Philosophie ein Kennen und Können: Man muss mit den Inhalten und den Methoden vertraut sein. Das Markenzeichen Analytischer Philosophen ist ihre Methode. Sie streben danach, sich so einfach wie möglich auszudrücken und Fachwörter nur dort zu verwenden, wo es nötig ist. Sie begründen ihre Argumente, wollen Probleme lösen, sind in der Logik geschult und bringen ihre Thesen präzise auf den Punkt. In der Analytischen Philosophie gibt es keinen falschen Respekt vor Autoritäten. Bei einem guten Argument ist es ganz gleich, von wem es stammt: von Aristoteles, Bertrand Russell oder einem Schüler aus der Oberstufe.

Analytische Philosophen schreiben mit einem unsichtbaren Augenzwinkern: Sie nehmen die fachlichen Fragen sehr, sich selbst aber nicht so ernst. Sie kultivieren keinen individuellen Jargon, um sich sozial abzugrenzen, sondern begreifen sich als Mitglieder eines Forschungsprojektes, zu dem jeder etwas beisteuert. Sie fassen es als Stärke auf, angreifbar zu sein, statt sich durch Unverständlichkeit gegen Kritik zu immunisieren. Sie denken gründlich nach und fragen sich, wie die Ergebnisse aller Wissenschaften zusammenpassen. Analytische Philosophen sehen ihre Aufgabe darin, die Redeweisen und Gedankengänge des Alltags und der Wissenschaften zu präzisieren.

In den Anfängen, vor etwa100Jahren, haben sich Analytische Philosophen vor allem auf die Sprachphilosophie und die Wissenschaftstheorie konzentriert. Heute diskutieren sie alle Themen, sei es aus der Ethik, Ästhetik, Kultur, Religion oder Politik.

Die philosophische Landschaft ist dichter bevölkert als jemals zuvor. Dafür hat die Landkarte auch einen feineren Maßstab bekommen, da viele Positionen früher gar nicht besetzt waren. In diesem Buch versuche ich, vor allem originelle Denker zu Wort kommen zu lassen, sei es aus der Philosophie oder aus angrenzenden Disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Anthropologie und den Neurowissenschaften.

Micky Maus, Rotwein und Heißluftballon

Dem Ideal von Klarheit und Genauigkeit der wissenschaftlichenPhilosophie folgen nicht alle. Im Gegenteil: Viele Philosophen haben sich weit davon entfernt. Auf drei Prototypen trifft manimmer wieder.

Da sind zum einen dieMicky-Maus-Philosophen, wie der amerikanische Philosoph John Searle sie nennt. Sie haben eine Vorliebe für steile Thesen: Es gibt keine Wahrheit, wir haben keine Willensfreiheit, Gefühle sind nichts als Hirnzustände. Anders als seriöse Philosophen jedoch machen sich Micky-Maus-Philosophen nicht die Mühe, für ihre Behauptungen zu argumentieren. Sie kennen die Forschungsliteratur nicht und leiten ihre Schlüsse aus halbverstandenen Theorien ab. Statt gründlich nachzudenken, wollen sie lieber unser «Weltbild» revolutionieren. Meist können sie jedoch nicht einmal sagen, was sie damit überhaupt meinen.

Manchmal sind sogar Neurowissenschaftler oder Physiker unter ihnen, besonders jene, die in ihrem eigenen Fach Erfolg hatten, gleichzeitig aber verkennen, dass andere Wissenschaften auf einem ebenso hohen Niveau arbeiten. Sie glauben in Experimenten Antworten auf Fragen zu finden, die sie schon von vornherein falsch gestellt haben. Statt dem weißen Kaninchen zu folgen, schießen einige Micky-Maus-Philosophen mit Kanonen auf Spatzen in einem Wald, den sie vor lauter Bäumen nicht sehen.

Der zweite Typ sind dieRotweinphilosophen, die bei einem guten Glas Bordeaux einfach so drauflos reden oder schreiben. Viele sind sehr gebildet und gute Stilisten, die ungewöhnliche Metaphern am Fließband produzieren. Aber sie stellen ihr Sprachtalent nicht in den Dienst der Sache. Sie interessieren sich ebenfalls nicht für den Forschungsstand, durchdenken ihre Thesen nicht systematisch, schreiben assoziativ und stellen Fragen, wenn sie nicht weiterwissen. Unter ihnen sind oft Publizisten, die die «Schulphilosophie» angreifen, manchmal vielleicht, weil ihnen die Anerkennung der Fachwelt verwehrt blieb. Sie wirken für Laien gelehrt, weil sie immer ein passendes Zitat zur Hand haben und ihre Einzelbeobachtungen geschickt als große Thesen verkaufen. Die Rotweinphilosophen sind an ihrem Stil und ihrer Inszenierung erkennbar, aber nicht an den Inhalten. Viele ihrer Texte lesen sich schön, aber am Ende weiß man nicht mehr als zuvor, sondern eher weniger.

Den dritten Typ stellen dieHeißluftballon-Philosophendar. Vor allem französische Kulturwissenschaftler haben Sinnestäuschungen im Alltag, Mehrdeutigkeiten in Texten oder Machtspiele in der Wissenschaft entdeckt und kühn daraus geschlossen, dass die Welt nur eine Konstruktion sei, unsere Worte unendlich viele Bedeutungen haben und dass es keine methodische Wahrheitssuche geben könne. Der amerikanische Philosoph Jerry Fodor hat einmal gesagt, das sei so, als würde man sich bei Kopfschmerzen den Kopf abhacken, statt ein Aspirin zu nehmen. Wie die Micky-Maus-Philosophen lieben sie provokante und radikale Thesen, haben daraus allerdings methodische Konsequenzen gezogen: Sie wollen nicht mehr wissenschaftlich arbeiten, klar und widerspruchsfrei schreiben oder für ihre Behauptungen argumentieren, sondern nur Literatur machen. Dafür blasen sie ihre Thesen auf. Im Höhenflug, wenn die Luft ganz dünn wird, verwechseln sie dann ihre Halluzinationen mit echten Einsichten. Den Mangel an Sauerstoff machen auch sie wie die Rotweinphilosophen mit metaphorischem Süßstoff wett.

Weil es nicht um die Wahrheit geht, zählt in diesen Kreisen die Währung der Aufmerksamkeit mehr als anderswo: Sie müssen lauter schreien, um sich Gehör zu verschaffen, weil alle Themen nur Moden sind, die wie die Ballons schnell vom Winde verweht werden. Die Heißluftballon-Philosophen sammeln kein echtes Lehrwissen an, dafür grenzen sie sich durch ihre Wortwahl ab. Sie folgen nicht dem weißen Kaninchen, sondern ziehen es vor, im Land der Blinden als Kurzsichtige die Fremdenführer zu spielen.

Dagegen verorten sich unter anderem Analytische Philosophen im Idealfall in der Mitte eines Dreiecks mit den Eckpunkten: Text, Natur und Kultur. Sie kennen die einschlägigen Schriften genau, um nicht alte Debatten zu wiederholen. Sie verschaffen sich außerdem einen Überblick über die empirische Forschung, denn sie können nicht wie früher in ihrem sprichwörtlichen Lehnsessel versinken, bis nur noch der Kopf herausschaut, sondern müssen am runden Tisch auf die unbequemen Fragen der anderen Wissenschaften antworten. Wie die Kulturwissenschaftler schließlich sensibilisieren sich Analytische Philosophen für Moden und Machtspiele, für die soziale und kulturelle Dimension ihres Faches, ohne dafür jedoch die Genauigkeit, den Realismus und die wissenschaftliche Methode zu opfern.

Vorurteile über die Philosophie

Keine Wissenschaft ist so vielen Vorurteilen ausgesetzt wie die Philosophie. Manche glauben, Philosophie sei hauptsächlich Textkunde, also die Auslegung alter Schriften. Ihnen reicht es, wenn sie einen Gedanken geistesgeschichtlich einordnen können. Doch Philosophie beginnt erst dort, wo man sich fragt, ob eine Behauptung gut begründet ist.

Andere finden blumige Kalendersprüche besonders philosophisch, vor allem, wenn sie Begriffe wie «Freiheit» oder «Sinn» enthalten. Auch hier beginnt die Philosophie erst, wenn der Aphoristiker erklärt, was er mit seinem Ausspruch eigentlich meint.

Manche halten sich selbst für Philosophen, weil sie alles anzweifeln. Ganz gleich, was man sagt, sofort kommt ein «Woher willst du das wissen?». Dieser reflexartige Skeptizismus ist die Karikatur wissenschaftlicher Skepsis. Er verwechselt gesichertes Wissen mit Unfehlbarkeit. Ironischerweise kann man philosophisch zeigen, dass es unmöglich ist, alles gleichzeitig in Frage zu stellen.

Verwandt mit dem Zweifel ist die Kritik. So nehmen viele an, zu großen gesellschaftlichen Fragen müssten gerade Philosophen Stellung beziehen, weil sie besonders qualifiziert seien. Doch erstens kann sich jeder zu drängenden Themen ein kompetentes Urteil bilden. Und zweitens hat auch jeder die Pflicht, Missstände und Ungerechtigkeiten anzuprangern und zu beheben. Eine philosophische Ausbildung mag dabei helfen. Sie ist aber nicht derKönigsweg zur politischen Mündigkeit.

Philosophen sind auch nicht von Haus aus Lebensberater, die uns sagen können, wie wir ein glückliches und erfülltes Leben führen, auch wenn einige in dieser Branche ihr Glück versuchen.

Und schließlich ist die Philosophie nicht an ihrem «Ende» angekommen und wurde auch nicht durch die anderen Wissenschaften ersetzt. Der englische Philosoph JohnL.Austin verglich die Philosophie einmal mit der Sonne, die nach und nach die Einzelwissenschaften ausgeworfen habe, die dann zu Planeten erkalteten. Manche gehen weiter: Die Sonne habe aufgehört zu strahlen, und nur noch die Planeten seien übrig geblieben.

Das ist ein ansprechendes Bild, doch leider ist es schief. Aristoteles beispielsweise hat danach gefragt, was ein Wesen lebendig macht oder warum wir träumen. Das waren empirische Probleme: Aristoteles war eben auch Naturwissenschaftler, selbst wenn es dafür noch keine eigene Bezeichnung gab. Er diskutierte aber vor allem echte philosophische Fragen, zum Beispiel nach der Natur der Zeit oder der Verursachung. Das hat sich bis heute nicht geändert. Zwei Beispiele: Physiker formulieren Naturgesetze, aber was ein Naturgesetz ist, gehört nicht zu den Fragen der Naturwissenschaft. Und Psychologen erklären unser Verhalten, aber sie fragen sich selten, was eine gute psychologische Erklärung ausmacht. Wenn sie es tun, dann betreiben sie Philosophie.

Lassen Sie mich durch, ich bin Philosoph!

Wer auf einer Party zugibt, dass er Philosophie studiert oder gar unterrichtet, steht immer wieder einer Mischung aus Bewunderung und Befremden gegenüber. Manchmal überwiegt die Bewunderung, weil man die großen Rätsel der Menschheit in Angriff nimmt, manchmal das Befremden, weil man sich mit so wahnsinnig lebensfernen Themen befasst.

Darauf folgen immer die gleichen Fragen, zum Beispiel: «Wer ist dein Lieblingsphilosoph?», als seien Philosophen Schriftsteller, Schauspieler oder Regisseure. Die einzig passende Antwort ist «Woody Allen», denn der ist alles gleichzeitig.

Die zweite typische Frage lautet: «Warum Philosophie?» Ganz ehrlich: Das frage ich mich auch jeden Tag. Fodor hat eine gute Antwort. Er sagt: Die Bezahlung ist schlecht, der Fortschritt ist langsam, aber man lernt spannende Leute kennen.

Die dritte typische Frage ist oft von einem besorgten Blick begleitet: «Und was macht man damit?» Ich war viele Jahre Studienberater am Philosophischen Institut. Zuerst habe ich immer meinen Standardsatz aufgesagt: Philosophen arbeiten in Verlagen, in den Medien, in der Politik und in der Unternehmensberatung. Dann habe ich gemerkt, dass es wirkungsvoller ist, Absolventen der Philosophie aufzuzählen, die etwas aus ihrem Leben gemacht haben: Bruce Lee, Martin Luther King, Papst BenediktXVI.

Wittgenstein, der immer eine starke Metapher aus dem Ärmel schütteln konnte, sagt, die Philosophie sei ein «Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache». Heute sind Philosophen Ärzte ohne theoretische Grenzen, die nicht nur Sprachverwirrungen therapieren, sondern Unsinn in allen Lebenslagen entlarven. Sie arbeiten mit einem Wahrheits-Detektor, der Alarm schlägt bei den Worthülsen der Politik, der Propaganda der Werbung, den Klischees des Kinos und den Fehlschlüssen in Fernsehsendungen und Zeitungsberichten.

Trotzdem ist die These weit verbreitet, die Philosophie erfülle keine gesellschaftliche Funktion. Philosophen haben selbst zu diesem Vorurteil beigetragen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel meint, die Philosophie käme immer zu spät, nämlich dann, wenn schon nichts mehr zu ändern sei: Die «Eule der Minerva», also die allegorische Weisheit, beginne erst «mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug». Das weiße Kaninchen jedenfalls ist schon im Morgengrauen wach und schlägt bei Sonnenaufgang seine Haken.

Kapitel 1

FühlenDie Vernunft des Bauches

Wir können nicht mehr zusammen sein, sagte sie. Ich verstand überhaupt nichts. Dann weinte sie, und plötzlich verstand ich alles. Ich erschrak. Ich wollte auch weinen, doch ich konnte nicht. Ich war sprachlos … Mir ging es schlecht, doch es fällt mir schwer, genau zu beschreiben, wie sich das anfühlte. Es war kein Schlag in die Magengrube. Aber irgendwo im Brustkorb spürte ich ein flaues Ziehen, als ob der Herzschlag für einen Augenblick aussetzt. Zuerst hoffte ich, dass sie nur einen Scherz machte, obwohl ich längst wusste, dass es keiner war. Dann wurde ich wütend. Was findet sie an dem anderen?

Therapeuten sagen, bei einem Verlust ginge man durch mehrere Phasen: Schock, Verneinung, Wut, Traurigkeit und Akzeptanz. Die letzte Phase kam nie. Am Ende blieb nur die Sehnsucht: nach ihrem Duft, ihren neugierigen Augen, ihrer Wärme. Ich war verletzt, enttäuscht und eifersüchtig: Der andere würde sie jetzt küssen.

Es gibt kein typisches Gefühl des Verlassenwerdens, aber viele Gefühle, die es auslöst: Erschrecken, Angst, Eifersucht, Enttäuschung, Sehnsucht und vor allem Traurigkeit. Unsere Gefühle packen uns schnell und unmittelbar, wir erleben sie oft heftig, und sie sind typischerweise von kurzer Dauer: Nur selten halten Wut und Freude auch lange an. Gefühle sind außerdem Widerfahrnisse: Wir können sie normalerweise nicht willentlich hervorrufen oder abschalten, sondern sie stoßen uns zu. In alten Texten heißen sie deshalb auch «Leidenschaften», weil wir sie im alten Sinne des Wortes passiv «erleiden». Natürlich lernen wir, mit unseren Gefühlen umzugehen. Wir können tief durchatmen und uns beruhigen, wenn wir die Wut in uns aufsteigen spüren, und wir können uns klarmachen, dass unsere Angst unbegründet ist. Aber das ungewollte Element bleibt. Selbst der Schauspieler, der sich vor der Kamera seine schmerzlichen Erlebnisse so in Erinnerung rufen kann, dass er wirklich traurig wird, ist in diesem Gefühl dann gefangen.

Gefühle sind seit etwa zwanzig Jahren eines der meistdiskutierten Themen in der Neurologie, Psychologie und in der Philosophie. Die wissenschaftliche Begeisterung für Gefühle entbrannte erstaunlich spät, wenn man bedenkt, wie sehr sie unser Leben bestimmen. Viele Forscher sprechen von «Emotionen» statt von «Gefühlen». Ich verwende diese Ausdrücke gleichbedeutend. Oft ist allerdings eine sprachliche Genauigkeit wichtig, weil wir uns im Deutschen mit dem Wort «Fühlen» auf mindestens drei unterschiedliche Erlebnisse beziehen: Wir fühlen die Wut in uns aufsteigen, wir fühlen uns manchmal niedergeschlagen, und wir fühlen den Grashalm an der Nasenspitze. Wut ist einGefühlim Sinne einerEmotion, Niedergeschlagensein ist eineStimmung, und das Kitzeln ist eine einfacheKörperempfindung.

Während wir Empfindungen wie Kitzeln, Hunger oder Schmerz direkt am Körper spüren, sind Stimmungen und Gefühle komplexer: zwar allgegenwärtig, aber schwer zu fassen. Stimmungen wie Unbehagen oder Gereiztheit unterscheidet man traditionell von Gefühlen, denn Gefühle haben einen direkten Bezug zu ihrer Ursache: Wir sind eifersüchtigaufandere oder freuen unsüberdie Sonnenblumen. Man kann nicht einfach so eifersüchtig sein oder sich einfach so ärgern. Bei Stimmungen ist das anders: Wir können den ganzen Tag niedergeschlagen oder nach dem Sport beschwingt sein, ohne dass uns die Ursache präsent ist.

Stellen Sie sich vor, der schlechterzogene Dobermann des Nachbarn steht plötzlich ohne seinen Maulkorb knurrend vor Ihnen. Dann werden Sie das vermutlich typischste aller Gefühle erleben: Angst. Einige Philosophen konstruieren zwischen den Wörtern «Angst» und «Furcht» einen künstlichen Unterschied, aber in unserer Alltagssprache gibt es keinen, allenfalls dass «Furcht» etwas altertümlich klingt. Angst hat wie alle anderen Gefühle mindestens fünf typische Eigenschaften. Erstens den erwähntenBezug: Man hat immer Angst vor etwas, zum Beispiel vor dem Hund. Zweitens eine automatischeEinschätzungder Situation: Die Angst lässt den Hund gefährlich erscheinen. Drittens einErleben: Angst empfinden wir anders als etwa Zorn oder Freude. Viertens einen spezifischenGesichtsausdruck: Unsere Augen weiten sich, die Lippen strecken sich geradlinig zu den Ohren, und das Kinn wandert zum Hals. Fünftens eineHandlungsvorbereitung: Adrenalin flutet das Hirn und erhöht unsere Aufmerksamkeit, Blut fließt in die Beine und bereitet uns auf die Flucht vor, und natürlich entsteht in uns auch der Drang, tatsächlich wegzulaufen.

Wer Angst und andere Gefühle mit einer Theorie erklären will, muss zwei wichtige Fragen beantworten. Erstens: «Was ist wesentlich für Gefühle?» Wesentlich ist ein Merkmal dann, wenn es nicht fehlen darf. Denken wir noch einmal an den Dobermann: Damit ein Tier ein Hund ist, muss es ein bestimmtes Genom haben. Das Genom ist für das Hundsein wesentlich. Die Anzahl der Beine ist nicht wesentlich: Ein dreibeiniger Hund ist immer noch ein Hund. Die Farbe des Fells ist auch nicht wesentlich. Man kannzum Beispiel einen Pudel rosa färben. Damit nimmt man demPudel nicht seinen Kern.

Auf Gefühle bezogen, lautet die Frage also: Welche der fünf Charakteristika dürfen nicht fehlen, damit ein Zustand ein Gefühl ist? Als sich meine Freundin von mir getrennt hat, war ich traurig. Was ist wesentlich für dieses Erlebnis? DieKörpertheoriensagen: Wesentlich ist eine Form von Körpererleben. Keine Traurigkeit ohne Tränen oder einen Kloß im Hals. Diekognitiven Theorien, also die Gedankentheorien, sagen: Gefühle haben immer etwas mit einer Interpretation oder Beurteilung zu tun. Keine Traurigkeit ohne das Wissen, dass man etwas verloren hat, zum Beispiel eine Partnerschaft oder auch die Großeltern. DieMischtheoriensagen: Gefühle sind aus mehreren Elementen zusammengesetzt. Man kann Gefühlstheorien gut in diese drei Gruppen einteilen.

Die zweite Frage lautet: «Welche Funktion haben Gefühle?» Bei Angst scheint die Funktion offensichtlich zu sein: Vorbereitung und Motivation zur Flucht. Bei meiner Traurigkeit war das nicht so offensichtlich. Sie hat mich gelähmt, aber es ist schwer zu sagen, ob sie mich dadurch auf etwas vorbereitet hat.

Unsichtbare Schlangen und körperliche Alarmglocken

Doch zuerst zu den Theorien: Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie, beobachtete um1870, dass Affen bei Überraschung die Brauen hochziehen und die Augen aufreißen. Dadurch vergrößert sich ihr Sichtfeld, sodass sie besser auf Beute oder Gefahr reagieren können. Ein klarer Überlebensvorteil. Wenn Katzen Angst haben, machen sie einen Buckel. Dadurch erscheinen sie größer. Auch das kann in der Evolution ein Vorteil gewesen sein, denn es mag Angreifer abgeschreckt haben. Nun könnte man meinen, dass Darwin auch die menschlichen Emotionen untersucht hat. Immerhin haben wir die gleichen wie andere Säugetiere und noch einige, die bei Tieren nicht vorkommen, zum Beispiel Scham oder Neid. Überraschenderweise hielt er den Ausdruck menschlicher Gefühle jedoch weitgehend für funktionslose Überbleibsel der Evolution. Eine Gefühlstheorie für Menschen entwickelte Darwin nicht. Dennoch kann er als ein früher Körpertheoretiker gelten, denn ihm zufolge sind Gefühle am Körper ablesbare Verhaltensmuster.

Die erste ausgearbeitete Körpertheorie begründeten zwei Wissenschaftler um1900unabhängig voneinander, nämlich der amerikanische Psychologe William James und sein dänischer Kollege Carl Georg Lange. DerJames-Lange-Theoriezufolge sind Gefühle Wahrnehmungen von Körpervorgängen. Das klingt zunächst wenig überraschend, hat aber eine paradoxe Pointe: Laut James zittern wir nicht, weil wir Angst haben, sondern wir haben Angst, weil wir zittern. Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen. Die Wahrnehmung der Körpervorgänge geht dem Gefühl nicht voran, sondern die Wahrnehmungistdas Gefühl. James lädt uns zu einem Gedankenexperiment ein: Wenn man alle Körpererlebnisse von der Angst wegnähme, bliebe nur ein blasser Gedankenrest übrig, der nichts mit dem Gefühl zu tun hat. Ein einfaches psychologisches Experiment scheint diesen Ansatz zu belegen. Setzen Sie sich einmal hin, und verziehen Sie Ihr Gesicht zu einem Lachen. Nach einiger Zeit werden Sie dann wirklich fröhlich. Inzwischen gibt es Seminare für Lach-Yoga, in denen die Teilnehmer den schmunzelnden Löwen oder den kichernden Pinguin imitieren und am Ende freudestrahlend nach Hause gehen. Diesen Effekt kann man so auslegen, als sei Freude nichts anderes als die Wahrnehmung der veränderten Gesichtsmuskulatur.

Dennoch hat die Theorie einen Haken: Sie sagt voraus, dass ein vermindertes Körpererleben zu einem verminderten Gefühlserleben führt. Sie ist also widerlegt, wenn Menschen ohne Körperempfindungen dennoch Gefühle haben. Dieses Problem hat schon James gesehen. Einige Querschnittsgelähmte klagen zwar, dass ihr emotionales Leben nach den Unfällen ärmer geworden sei. Aber das gilt nicht für alle. Ein eindrückliches Gegenbeispiel stellt der Journalist Jean-Dominique Bauby dar, ehemals Chefredakteur der französischen ZeitschriftElle, der nach einem Schlaganfall amLocked-In-Syndromlitt. Bis auf sein linkes Augenlid konnte er seinen Körper nicht mehr bewegen. Daher musste er lernen, nur durch Blinzeln Buchstaben aus einer Reihe auszuwählen, die ihm seine Therapeutin hinhielt. Die Buchstaben waren nach Häufigkeit geordnet. Einmal blinzeln hieß «ja», zweimal «nein». Seite für Seite diktierte Bauby so das BuchSchmetterling und Taucherglocke, das der amerikanische Regisseur Julian Schnabel im Jahr2007verfilmt hat. In dem Buch spricht Bauby über sein Leben vor und nach dem Schlaganfall. Und über sein fast gänzlich ausgelöschtes Körpergefühl: Er spürt nichts als einen konstanten Druck von Kopf bis Fuß, so als sei er in einer alten Taucherglocke gefangen. Bauby ist todtraurig und doch voller Hoffnung, wieder zu genesen. Er ist stolz, als er sieht, wie sein Sohn und seine Tochter heranwachsen. Das erzählt Bauby mit wenigen Worten, aber doch so eindringlich, dass es einen berührt. Wer die James-Lange-Theorie verteidigen will, müsste behaupten, dass er sich all diese Gefühle nur einbildet, denn er hat ja keine Körperwahrnehmung mehr. Doch das ist schwer vorstellbar. Vor allem: Könnten wir uns überhaupt ein Gefühl einbilden, ohne es auch gleichzeitig zu haben?

Der portugiesisch-amerikanische Neurowissenschaftler Antonio Damasio hat sich von der James-Lange-Theorie inspirieren lassen. Damasio vertritt eine moderne Körpertheorie. Er unterscheidet zwischenGefühl(emotion) undGefühlserleben(feeling). Seine Pointe ist: Gefühle regulieren unser Verhalten, auch wenn wir sie nicht immer bewusst erleben. Das klingt zunächst eigenartig, immerhin steckt im Wort «Gefühl» schon das «Fühlen». Wie kann ein Gefühl nicht gefühlt sein? Passenderweise findet sich im alternativen Ausdruck «Emotion» das lateinische Wort «motio» für «Bewegung» und «Antrieb». Das sagt zwar noch nichts über die Natur der Gefühle, aber Damasio geht es genau um diesen zweiten Aspekt. Er glaubt, dass Gefühle uns auch dann antreiben, wenn wir sie nicht fühlen. Dafür sprechen seiner Meinung nach Experimente der Neurowissenschaft und Psychologie.

Ein Beispiel: Zeigt man Versuchspersonen das Bild einer Spinne für50Millisekunden, also nur eine Zwanzigstelsekunde, und gleich darauf das neutrale Bild eines Wohnhauses, so nehmen sie nur das Haus bewusst wahr. Niemand berichtet, dass er eine Spinnegesehen habe. Das zweite Bild «maskiert» das erste, daher heißendiese VersucheMasking-Experimente. Dennoch schlägt bei den Versuchspersonen sofort das Herz schneller, und Schweiß bildet sich an den Fingerspitzen: zwei typische Anzeichen für Angst, die fast so deutlich ausfallen, als hätten die Probanden die Spinne bewusst gesehen. Mehr noch: Die Versuchspersonen merken manchmal gar nicht, dass sie sich in diesem unruhigen Zustand befinden. Angst ist Damasio zufolge Teil unseres eingebauten emotionalen Alarmsystems, denn sie bereitet uns aufs Fliehen vor. Dieses System funktioniert auch dann, wenn wir die Alarmglocke gar nichthören. Es ist, als ob unser Körper für uns reagiert, so, wie wir instinktartig zurückschrecken, wenn etwas großes Dunkles aufuns zukommt.

Damasios Kollege Joseph LeDoux konnte diese These neurologisch belegen: Im Hirn gibt es einen kurzen und einen langen Schaltkreis für Angst. Der kurze Schaltkreis reagiert unmittelbar und ohne unser Bewusstsein, ist aber auch fehleranfällig und löstoft falschen Alarm aus. Die zweite Verbindung läuft über Großhirnareale, die erst spät in der Evolution entstanden sind. Diese langsame Bahn ist zuverlässiger, und sie ist es, die unseren bewussten Urteilen zugrunde liegt. Darüber können wir auch die Informationen der anderen Verbindung stoppen. Wir erschrecken vor der Riesenspinne, merken dann aber, dass es nur ein Scherzartikel aus Gummi ist, und beruhigen uns schnell wieder. Manchmal ist diese bewusste Korrektur allerdings gestört. Menschen mit einer Spinnenphobie beispielsweise fürchten sich auch vor Attrappen, selbst wenn sie wissen, dass diese ungefährlich sind. Der kurze Schaltkreis ist bei ihnen offenbar so fest verdrahtet, dass sie nicht umschalten können.

Damasios und LeDoux’ wichtige Entdeckung lautet: Gefühle können auch unbewusst auftreten und unser Handeln beeinflussen. Bewusste Gefühle sind demnach ein Sonderfall: nicht Körperwahrnehmungen wie bei James, sondern eher so etwas wie höherstufige Abbildungen von Körpervorgängen, genauer von Hirnprozessen. Von diesen Abbildungen bekommen wir Damasio zufolge im Bewusstsein nichts mit außer eben dem warmen Erleben der Freude oder dem brodelnden Erleben der Wut.

Allerdings bleibt offen, warum wir Gefühle so oft bewusst fühlen, wenn sie ihre Funktion auch jenseits des Bewusstseins erfüllen können. Es kann ja kein Zufall sein, dass wir Angst als unangenehm erleben und sie deshalb vermeiden wollen. Außerdem scheint Angst mehr als bloß ein automatischer Fluchtmechanismus zu sein.

Denkende Gefühle und gefühlte Gedanken

Wenn wir uns ängstigen, dann haben wir auch Gedanken: Wir halten den zähnefletschenden Dobermann des Nachbarn für gefährlich. Auf diesen Aspekt zielen die kognitiven Theorien, denen zufolge Gefühle eine Form von Gedanken sind, nämlich Einschätzungen oder Beurteilungen. Viele kognitive Theoretiker geben zu, dass manchmal Gefühle auch etwas mit Fühlen zu tun haben, aber dieser Zusammenhang sei eher zufällig.

Das behauptet zum Beispiel die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum. Wie könnte man von «Angst» sprechen, fragt sie, wenn es nicht eine Angstvordem Dobermann ist, wie von Trauer, wenn es nicht die Trauerüberden Tod des Großvaters ist? Damit Angst und Trauer diesen Bezug haben, müssen sie für Nussbaum Einschätzungen oder Urteile beinhalten. Nussbaum dreht James’ Frage einfach um: Was bliebe von einer Wut übrig, wenn man alle Gedanken und Einschätzungen wegnähme? Laut Nussbaum nichts als ein undefinierbares Körpererleben, das nicht einmal bei allen Menschen gleich sei. Amerikanische Männer würden Wut eher als brodelnd empfinden, während die Frauen sie eher als eine Anspannung im Nacken spürten. Das könnte kulturelle Gründe haben: In der amerikanischen Mittelschicht dürfen Männer ihre Wut herauslassen, während man von Frauen erwartet, dass sie sich kontrollieren. Für Italienerinnen gilt das nicht, wie wir aus Filmen wissen. In jedem Fall zeigt dieser Unterschied laut Nussbaum, dass Gefühle wie Wut keine typische Physiologie haben. Sie seien vielmehr Urteile über das, was in unserem Leben Bedeutung hat oder was unsere Selbstzufriedenheit bestimmt.

Nussbaum ist mit einem Problem konfrontiert: Unsere Gefühle müssten sich ändern, sobald sich unsere Urteile ändern. Doch viele Menschen haben auch dann noch Angst vor Spinnen, wenn sie wissen, dass sie nicht gefährlich sind. Falsche Urteile können wir schnell verwerfen, unsere Gefühle aber nicht. Und oft ist die Angst schon da, bevor wir überhaupt begreifen, wovor wir uns fürchten. Ein überlegtes Urteil kann also nicht wesentlich für die Angst sein.

Vielleicht entstehen die «Urteile» unserer Gefühle aber auch gar nicht aus Überlegungen, sondern ganz automatisch. Wenn uns jemand anrempelt, sind wir sofort wütend, noch bevor uns der Gedanke kommt: Der hätte besser aufpassen können. Dieses Phänomen erklärt der amerikanische Psychologe Richard Lazarus mit seinerBewertungstheorie, die weniger gedankenlastig ist als Nussbaums Ansatz. Auch Lazarus beginnt mit der Beobachtung, dass wir durch Gefühle Bezug auf unsere Umwelt nehmen. So, wie wir uns durch die Wahrnehmung ein Bild von der Welt machen, so zeigen uns Gefühle wichtige Faktoren für unser Zusammenleben in der Gruppe und für unser Überleben in der Wildnis an. Lazarus nennt diese Faktoren «Kernthemen». Man könnte auch von «grundlegenden Lebensthemen» sprechen. Die Angst vor der Schlange lässt uns nicht einfach nur die Schlange sehen, sondern vielmehr das Kernthema: eine Gefahr in Form der Schlange. Die Angst «bewertet» sozusagen die Schlange als Gefahrenquelle. Diese «Bewertung» darf man sich aber nicht als ein bewusstes Nachdenken vorstellen. Es ist eher ein automatisches und schnelles Einschätzen einer Situation.

Lazarus hat für alle Gefühle die entsprechenden Kernthemen aufgelistet: Traurigkeit zeigt beispielsweise Verlust an, Scham das Überschreiten einer sozialen Norm, Wut eine Beleidigung. So sichern wir unser Überleben, denn wir meiden Gefahr, suchen Schutz, und wir funktionieren in der Gruppe: Wir versuchen, Normen nicht zu überschreiten. Lazarus’ Theorie ist innovativ und passt zu der Beobachtung, dass Gefühle unser Verhalten steuern, auch wenn er selbst die Kernthemen nicht immer genau trifft. Ein Beispiel: Beleidigungen als Auslöser unseres Ärgers sind zu speziell, denn wir ärgern uns auch, wenn der Computer abstürzt. Das Kernthema des Ärgers ist eher: Etwas hindert uns, unser Ziel zu erreichen.

Vor allem bleibt offen, warum wir überhaupt Körpererlebnisse brauchen, wenn die Kernthemen allein ausreichen würden. Es scheint, als hätten sowohl die Körper- als auch die Gedankentheorien Lücken. Haben beide nur zur Hälfte recht? Die Wahrheit liegt in großen Debatten zwar selten in der Mitte, aber oft in einer geschickten Kombination von Gegensätzen. Hier kommen die Mischtheorien ins Spiel. Sie fassen Gefühle als Bündel von Elementen auf.

Gemischte Gefühle

Der kleine Max ist wütend. Anton hat ihm sein Feuerwehrauto weggenommen. Max schreit. Er trommelt mit seinen kleinen Fäusten in den Sand. Dann geht er mit hochrotem Kopf auf Anton los und schubst ihn weg. Max spürt eine Wut in sich, sie bezieht sich auf Anton, bewertet ihn als Störenfried, drückt sich in seinen aufeinandergepressten Lippen aus und führt dazu, dass Max kämpfen will. All diese Elemente scheinen zur Wut zu gehören. Daher muss man sich vielleicht gar nicht auf ein spezielles festlegen. Der israelische Philosoph Aaron Ben-Ze’ev vertritt ebendiese These: Gefühle sind durch ein Bündel von Merkmalen charakterisiert.Typische Gefühle wie Wut oder Angst mögen alles haben: Bezug, Bewertung, Erleben, Ausdruck und Verhaltenssteuerung.Aber manchen Gefühlen mag der Bezug fehlen, wie der gutenLaune, anderen das Erleben, wie den unbewussten Gefühlen, oderein typischer Gesichtsausdruck, wie vielleicht der Eifersucht. DerFehler der klassischen Theorien sei, dass sie an genau einem Merkmal festhalten, an dem man Gefühle erkennen muss. Laut Ben-Ze’ev liegt darin gerade die Stärke seines eigenen Ansatzes: Er spiegelt die Vielfalt unserer Erlebnisse wider. Aus philosophischer Sicht ist diese pluralistische Lösung aber unbefriedigend, denn einige Fragen bleiben offen: Welche Funktion hat jedes einzelne Element? Und wie hängen Erleben und Bewertung zusammen?

Eine Antwort auf diese Fragen gibt der amerikanische Philosoph Jesse Prinz mit seiner Theorie derverkörperten Bewertungen. Laut Prinz sind Gefühle Wahrnehmungen von Körperveränderungen, allerdings repräsentieren sie gerade dadurch Kernthemen wie Gefahr oder Verlust, und zwar, indem sie diese Kernthemen verlässlich anzeigen. Das Körpererleben eines Gefühls ist so etwas wie ein Hinweisschild. Das Schild für absolutes Halteverbot ist zum Beispiel einfach aufgebaut: roter Kreis, rotes Kreuz, blauer Hintergrund. Dieses Zeichen steht aber für einen komplexen Inhalt: «Hier darf man weder parken noch kurz halten, es sei denn verkehrsbedingt oder im Notfall.» Für viele sagt es auch noch: «Werde ich erwischt, bekomme ich einen Strafzettel.» Prinz zufolge sind Gefühle wie Straßenschilder. Das Herzklopfen und die Aufregung der Angst stehen für eine Gefahr und vermitteln uns so eine komplexe Information, obwohl sie nicht wörtlich sagen: «Da ist eine Gefahr. Ich sollte sie besser vermeiden, sonst riskiere ich Kopf und Kragen.»

Prinz führt beide Denktraditionen zusammen. Wie James und Damasio nimmt er an, dass Gefühle erlebte oder wahrgenommene Körperveränderungen sind. Wie Nussbaum und Lazarus glaubt er, dass Gefühle uns über unsere Umwelt informieren und eine Funktion in unserer Lebensführung haben. Prinz’ Lösung ist verblüffend einfach: Über Gefühle als körperliche Erlebnisse erhalten wir automatische Bewertungen über unsere Umwelt – ein bisschen so, als würde unser Körper zu uns sagen: «Achtung, Gefahr!», ohne dass wir selbst den Gedanken fassen müssen.

Auf den ersten Blick scheint es, als stellten Fehleinschätzungen ein Problem für diesen Ansatz dar. Was ist, wenn man sich vor Mäusen fürchtet, obwohl sie harmlos sind, und was, wenn umgekehrt der Container mit radioaktivem Abfall keine Regung in uns auslöst, obwohl er gefährlich ist? Darauf hat Prinz eine einfache Antwort: Jede Theorie muss solche Fälle zulassen, denn sie treten tatsächlich auf. Um im Bild zu bleiben: Jedes Halteverbotsschild kann auch falsch aufgestellt sein oder dort fehlen, wo es gefordert wäre. Und wir können die Schilder auch übersehen. Manchmal führen uns Gefühle in die Irre, und manchmal bemerken wir sie nicht. In den meisten Fällen vermitteln sie uns jedoch verlässliche Einschätzungen unserer Umgebung.

Sind Gefühle angeboren?

Es geschah in den achtziger Jahren, in einer Zeit, als nur wenige Eingeweihte an Universitäten E-Mails kannten. Weil es gelegentlich zu Missverständnissen kam, schlug der amerikanische Informatiker Scott E.Fahlman in einer Nachricht an seine Kollegen vor, Witze mit Hilfe von drei Zeichen zu markieren: Doppelpunkt, Bindestrich und Klammer. Damit hatte er das elektronische Smiley erfunden, und zwar am19. September1982, genau um11.44Uhr, wie das alte Speicherband belegt. Schon der russische Schriftsteller Vladimir Nabokov hatte diese Idee. In einem Interview mit derNew York Timesvon1969schlug er vor, ein typographisches Zeichen für Witze einzuführen. Doch erst Fahlmans Vorschlag setzte sich durch. Seitdem sind die Smileys nicht mehr wegzudenken. Inzwischen kann man mit ihnen dasselbe wie mit einem echten Lachen ausdrücken: Witz, Ironie, Freude, Glück oder einfach nur Freundlichkeit.

Alle glücklichen Menschen ähneln einander, und alle unglücklichen sehen auf die gleiche Weise unglücklich aus. Darum konnte das Smiley so schnell weltweit Erfolg haben. Unsere Gesichtserkennung ist angeboren, daher blicken schon Babys länger auf Gesichter mit Augen als auf solche ohne. Die Gesichtserkennung funktioniert so gut, dass wir in Wolken, Felswänden und Korktapeten Fratzen und Grimassen entdecken. Wie jedes Kind weiß, brauchen wir beim Zeichnen nur wenig: Punkt, Punkt, Komma, Strich. Auch die emotionalen Gesichtsausdrücke sehen überall auf der Welt gleich aus. Wenn wir lächeln, schmunzeln oder lachen, verändern sich unsere Gesichter nach demselben Muster: Der Jochbeinmuskel zieht die Mundwinkel nach oben, und der Augenringmuskel lässt die Lachfältchen entstehen. Wir könnenzwar Freude vortäuschen, indem wir absichtlich grinsen, aber ganzgelingt uns das nie, denn der Augenringmuskel ist nicht vollständig willentlich steuerbar.

Menschen freuen sich, wenn ihnen etwas Gutes widerfährt, und strahlen dabei über das ganze Gesicht. Das spricht dafür, dass das Gefühl der Freude angeboren ist und, mit anderen Vorzeichen, auch viele andere, oder vielleicht sogar alle Gefühle. Viele Gegner der Angeborenheitsthese machen den Fehler, «angeboren» mit «unveränderlich» zu verwechseln. Doch das Kriterium ist ein anderes: Eine Fähigkeit oder Eigenschaft kann als angeboren gelten, wenn sie sichunabhängigvon individueller Prägung entwickelt. Ein guter Beleg ist daher, dass sie bei allen Menschen vorkommt, ein noch besserer, dass sienicht erlernbarist. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Die Farbwahrnehmung gilt als angeboren. Wir alle sehen die Welt in Farbe, ohne dass uns jemand gezeigt hätte, wie das geht. Ja, wir wüssten nicht einmal, wie man jemandem das Farbsehen beibringen könnte. Das heißt aber nicht, dass nichts dazwischenkommen kann, denn jede Fähigkeit hat eine Grundlage. Ist die Grundlage beschädigt, verliert man auch die Fähigkeit. Menschen können erblinden oder eine Genmutation haben wie die Inselbewohner im südpazifischen Pingelap-Atoll, die die Welt in Schwarzweiß sehen. Aber auch diese Genmutation ist selbstverständlich angeboren.

Wenn Eigenschaften oder Fähigkeiten angeboren sind, muss es Gene geben, die deren Entwicklung steuern. Und wenn sie als komplexe Fähigkeiten im Erbmaterial verwurzelt sind, haben sie sehr wahrscheinlich einmal einen Überlebensvorteil mit sich gebracht. Einige Tiere sichern das Überleben ihrer Spezies durch reichhaltigen Nachwuchs. Auch wenn der Hecht große Happen vom Froschlaich wegfrisst, bleiben immer noch genug Eier übrig, aus denen die Kaulquappen schlüpfen. Die meisten Säugetiere produzieren allerdings nur wenig Nachwuchs. Dafür haben sie viele Verhaltensweisen entwickelt, um ihre Jungen zu schützen. Der Mensch hat von allen Säugern nicht nur eine der längsten möglichen Lebensdauern, sondern auch die höchste durchschnittliche Lebenserwartung. Bei jeder angeborenen Fähigkeit kann man also fragen, welchen Vorteil sie bot, ihren Träger und seinen Nachwuchs zu schützen.

Doch bevor Wissenschaftler die evolutionären Funktionen von Gefühlen erforschen konnten, mussten sie erst einmal zeigen, dass alle Menschen die gleichen Gefühle kennen. Der amerikanische Psychologe Paul Ekman, einer der wichtigsten Emotionsforscher des letzten Jahrhunderts, wollte Ende der sechziger Jahre überprüfen, ob Gefühle universell sind. Das kam fast einer Provokation gleich, denn damals beherrschte dersoziale Konstruktivismusdie akademische Welt. Diesem Ansatz zufolge sind Gefühle «soziale Konstrukte», die nicht angeboren sind und dementsprechend zwischen Kulturen und Epochen stark schwanken. Noch heute ist «angeboren» vor allem unter Kulturwissenschaftlern ein Reizwort: Auf einigen Konferenzen wird man ausgebuht oder als «Proto-Faschist» bezeichnet, wenn man es nur in den Mund nimmt. Wer angeborene Eigenschaften propagiert, steht unter dem Generalverdacht, damit gesellschaftliche Missstände rechtfertigen zu wollen, oder gar Schlimmeres. Dennoch war die Frage nach angeborenen Eigenschaften schon immer eine Tatsachenfrage und nicht eine der politischen Korrektheit.

Ekmans Projekt war also eine Provokation, während seine Idee ganz einfach war. Im Anschluss an Darwins Untersuchungen zeigte er Menschen verschiedener Kulturen Fotos mit den Gesichtsausdrücken bestimmter Gefühle. Ordnen Versuchspersonen diese unabhängig von ihrer Kultur richtig zu, hat man einen starken Hinweis darauf, dass Gefühle angeboren sind. Dazu reiste Ekman zu den Fore nach Papua-Neuguinea, die damals kaum Kontakt mit anderen Zivilisationen hatten und in seinen Worten wie «Steinzeitmenschen» lebten. Die Fore waren oft nur mit Grasröcken bekleidet, und sie kannten keine Kameras. Ekman zeigte ihnen Fotos der westlichen Gesichtsausdrücke von Angst, Trauer, Ekel, Freude, Überraschung und Wut, die sie allesamt ohne Probleme identifizierten. Dann erzählte Ekman den Fore dramatische Geschichten und fotografierte dabei ihr Mienenspiel. Zurück in San Francisco, kam er zu dem Ergebnis: Amerikaner können die Gefühlsausdrücke der Fore ebenso klar zuordnen.

Ekman und andere Wissenschaftler haben diese Pionierarbeit systematisch ausgedehnt. Inzwischen gehen fast alle von angeborenenGrundgefühlenaus. Die Forscher streiten sich bloß um die genaue Anzahl. Ekman hielt es lange mit den oben genannten sechs. Inzwischen nimmt er an, dass alle Gefühle grundlegend sind. Seine vorläufige Liste: Freude, Wut, Verachtung, Zufriedenheit, Ekel, Scham, Peinlichkeit, Aufregung, Angst, Schuld, Stolz, Entspannung, Traurigkeit, Erfüllung und sinnliches Vergnügen. Nur die Überraschung sieht er nicht mehr als ein Gefühl an. Alle anderen Affekte sind Ekman zufolge nur Spielarten oder Kombinationen dieser grundlegenden Gefühle.

Neben dem weltweit gleichen Gesichtsausdruck finden sich noch weitere Hinweise: Blind Geborene haben dieselbe emotionale Mimik wie sehende Menschen. Wie aber sollten sie die gelernt haben? Nicht nur der Gesichtsausdruck, auch die Auslöser unserer Gefühle sind gut untersucht. Der schwedische Psychologe Arne Öhman fand heraus, dass Kleinkinder auf Bildern Schlangen schneller im Gras erkennen als Salamander, selbst wenn sie Schlangen noch nie zuvor gesehen haben. Das spricht dafür, dass der Begriff, also die mentale Kategorie «Schlange», angeboren ist. Außerdem hat Öhman in einem Versuch Affen sowohl Blumen als auch Schlangen gezeigt und ihnen dabei jeweils einen kleinen elektrischen Schlag verpasst. Schon bald hatten die Affen auch dann Angst, wenn sie bloß die Blumen oder Schlangen erblickten. Bei den Blumen verflüchtigte sich der Effekt jedoch schnell wieder, bei den Schlangen hielt er an. Jeder Reiz kann also im Prinzip Angst auslösen, aber bei einigen wie den Schlangen ist das Affen- und auch das Menschenhirn schon vorbereitet: Es wartet sozusagen nur auf den richtigen Auslöser.

Gefühle äußern sich in typischen Gesichtsausdrücken und haben alle Auslöser vom selben Typ. Auch die neuronalen Schaltkreise sind dieselben: Imlimbischen Systemunseres Hirns entsteht unsere Angst genauso wie bei Tauben, Katzen oder Ratten. Zusammen genommen deutet das darauf hin, dass unsere Gefühle angeboren sind. Evolutionspsychologen vermuten, dass Angst schon beiden ersten Wirbeltieren vor rund500Millionen Jahren zu finden war. Aber welche Funktion hatten Angst und andere Gefühle dann im Überlebenskampf?

Überleben der Gefühlvollsten

Mit sechzehn Jahren habe ich im Sommer in einem Altenheim gearbeitet. Einmal musste ich am Hinterausgang der Küche entlang in den Keller gehen. Als ich an den Abfalltonnen vorbeilief, überkam mich plötzlich ein Brechreiz, ohne dass ich wusste, warum. Erst dann wurde mir klar, dass in einer Tonne Fleischreste lagen. Und es war ein wirklich heißer Tag. Auf dem Weg zurück war ich vorbereitet, doch es half mir nichts. Der Reflex war schlagartig wieder da. Als ein Pfleger mich sah, fragte er besorgt, ob es mir gutgehe. Mein Ekel hatte also mindestens drei Funktionen. Er beeinflusste mein Verhalten. Er informierte mich automatisch über meine Umwelt, noch bevor ich darüber nachdenken konnte. Und er deutete durch den Gesichtsausdruck anderen an, dass hier etwas nicht ganz koscher war. Gefühle erfüllen mindestens diese drei Funktionen: Sie sind ein automatisches Verhaltens-, Informations- und Kommunikationssystem.

Einige Beispiele für die Verhaltenssteuerung: Wut lässt das Blut in die Arme und in den Kopf schießen. Wir bekommen buchstäblich einen dicken Hals, ein knallrotes Gesicht und haben das Gefühl, dass uns der Kragen platzt. Nirgendwo ist das besser dargestellt als in den alten Zeichentrickfilmen mitBugs Bunny, wenn seine Gegenspieler vor Wut in die Luft gehen. Wie andere Affenarten blähen wir manchmal zornig unsere Nüstern auf. Das könnte den Sauerstofffluss zum Gehirn erhöhen. Zusammen mit den durchbluteten Armen ist das ein klarer Vorteil im Kampf. Ekel hingegen lässt uns vor verdorbenem Essen, Kadavern, Körperflüssigkeiten und kranken Menschen zurückschrecken. Auch dieses Verhalten ist ein Vorteil, denn es verhindert, dass Krankheitserreger in unseren Körper gelangen. Gefühle motivieren uns außerdem zu Handlungen. Angst, Zorn und Ekel funktionieren direkt: Wir wollen fliehen, kämpfen oder uns abwenden. Andere Gefühle motivieren uns indirekt. Scham und Trauer erleben wir als unangenehm, also versuchen wir, sie zu vermeiden. Von Freude hingegen kann man nie genug haben, also versuchen wir alles, um uns zu amüsieren.

Auch unser emotionales Gedächtnis beeinflusst unser Verhalten. Der Körpertheoretiker Damasio nimmt nicht nur an, dass es unbewusste Gefühle gibt, sondern hat auch einen berühmten Gedächtnistest durchgeführt. Er untersuchte Patienten, die sich nach Unfällen keine neuen Informationen merken konnten, also an einer sogenanntenanterograden Amnesielitten. Für sie ist jeder Tag wie der erste Tag nach ihrem Unfall. Die Hauptfigur aus Christopher Nolans FilmMementoaus dem Jahr2000ist ein eindrückliches Beispiel für diese Gedächtnisstörung: Weil sich die Hauptfigur nichts Neues merken kann, lässt sie sich wichtige Informationen auf ihren Körper tätowieren.

Damasio führte mit den Amnesie-Patienten ein Guter-Arzt-Böser-Arzt-Experiment durch. Einer der beiden Versuchsleiter war herzlich zu den Patienten und erfüllte all ihre Wünsche, während der andere sie schon bei der Begrüßung in die Hand piekste oder ihnen langweilige Aufgaben erteilte. Am nächsten Tag konnten sich die Patienten weder an die Ärzte noch an die Erlebnisse erinnern. Doch wenn sie gefragt wurden, wer von den beiden ihr Freund sei, wählten sie fast immer den «guten» Arzt und nicht den «bösen». Dabei ließen sie sich offensichtlich von ihrem Bauchgefühl leiten. Unsere Erlebnisse hinterlassen also Spuren in unserem emotionalen Gedächtnis, die selbst dann unser Handeln leiten, wenn wir gar nicht mehr wissen, warum.

Wenn wir uns auf unser Bauchgefühl verlassen, können wir viel über uns und unsere Umwelt erfahren. Das ist die zweite Funktion von Gefühlen: Sie sind ein Informations- oder Frühwarnsystem. Wie uns Lust auf Schokolade Unterzuckerung anzeigt undSchmerz eine Verletzung, so zeigen auch Gefühle potenzielleBelohnungen oder Bedrohungen an. Als ich mich vor dem vergammelten Fleisch ekelte, musste ich nicht lange überlegen, ob es giftig ist, denn diese Einschätzung hat mein Körper für mich vorgenommen. Ein Versuch dazu: Würden Sie aus einem Glas Wasser trinken, in das Sie kurz zuvor gespuckt haben? Vermutlich nicht. Damit sind Sie nicht allein. Die meisten Menschen ekeln sich vor ihrem eigenen Speichel, sobald er den Körper verlassen hat. Auf den ersten Blick ist das eigenartig, immerhin war der Speichel ja noch Sekunden zuvor im eigenen Mund. Doch die meisten unserer Ausscheidungen enthalten Keime, so könnte es von Vorteil sein, sich vor dem zu ekeln, was aus dem Körper herauskommt wie zum Beispiel Blut, Kot, Eiter, Schweiß, Ohrenschmalz und eben auch Speichel, selbst wenn der eher ungefährlich ist. Der Ekel warnt uns so vor Keimen.

Aber nicht nur das. Andere Menschen können uns den Ekel vom Gesicht ablesen. Sie wissen dann, dass das Essen verdorben ist, ohne es selbst probieren zu müssen. Gefühle haben also auch diese dritte Funktion: Unser Gesichtsausdruck und unsere Körpersprache teilen anderen ganz automatisch mit, wie wir uns fühlen. Viele Theorien haben diesen Aspekt bisher vernachlässigt. Dabei scheint es offensichtlich, dass Gefühle nicht nur uns selbst informieren. Unsere Traurigkeit muss uns nicht mitteilen, dass wir jemanden verloren haben, der uns am Herzen lag. Das wissen wir ja schon. Traurigkeit sagt aber anderen etwas über uns. Das Baby weint, wenn die Mutter weg ist, und signalisiert ihr so, dass sie wiederkommen soll. In der Herde oder Gruppe könnte Trauer anzeigen, dass man Hilfe, Fürsorge und Schutz braucht, besonders weil Tränen offenbar keine eigene Körperfunktion haben: Bei vielen Säugetieren hält die Tränenflüssigkeit zwar die Augen feucht, aber nur der Mensch weint, wenn er traurig ist.

Einige Psychologen vermuten zwar, dass wir so Spannungen abbauen, da wir mit den Tränen Stresshormone ausscheiden und uns nach dem Weinen erleichtert fühlen. Wahrscheinlicher ist aber, dass Tränen vor allem ein Signal der Hilfsbedürftigkeit sind. Sie haben sich wohl im evolutionären Duett mit unserer Fähigkeit entwickelt, sie auch so zu deuten. Unser Lachen hat ebenfalls keine sichtbare Funktion für unser Handeln oder unsere Selbstkenntnis. Es zeigt aber anderen, wie wir uns fühlen. Wichtig für die emotionale Kommunikation ist, dass die Signale aufrichtig sind, wir sie also, wie Tränen und Lachen, schwer fälschen können. Menschen sind auf Zusammenarbeit angewiesen. Indem wir andere täuschen, können wir zwar ihre Gutgläubigkeit zu unserem Vorteil nutzen, sie unsere umgekehrt aber auch. Wenn jeder immer unehrlich und argwöhnisch wäre, käme keine Zusammenarbeit zustande. Daher zahlen sich Aufrichtigkeit und Durchschaubarkeit auf Dauer aus, wie viele Experimente zur menschlichen Kooperation zeigen.

Die drei Funktionen haben sich vermutlich in folgender Reihenfolge entwickelt: Am Anfang war nur das Verhalten, zum Beispiel das angewiderte Zurückschrecken. Dann lernten unsere Vorfahren, den Verhaltensausdruck anderer als Signal zu deuten: Wer die Muskeln neben der Nase hochzieht, ekelt sich. Als die Menschen schließlich denken konnten, haben sie aus ihren Gefühlen etwas über sich und ihre Umwelt gelernt. Nur wir wissen, dass unser Essen verdorben ist und Keime enthält. Affen wenden sich einfach nur ab. Wer Gefühle hatte, überlebte eher in der Wildnis und in der Gruppe. Und wer sie zeigen konnte, hatte noch bessere Chancen.

Empathie: Gefühle lesen

Ein einfacher Zeichentrickfilm, in dem sich ein kleines und ein großes Dreieck und ein kleiner Kreis hin und her bewegen: Diesen Film zeigten die österreichischen Psychologen Fritz Heider und Marianne Simmel im Jahr1944ihren Versuchspersonen und baten sie, die Ereignisse zu beschreiben. Zur ihrer Überraschung behandelten die Versuchspersonen die geometrischen Figuren wie Menschen. Sie sagten Dinge wie: «Der kleine Kreis und das kleine Dreieck sind verliebt», oder: «Der Kreis hat Angst vor dem großen Dreieck», als ob die Figuren tatsächlich Gefühle hätten. Wer den Film sieht, kann sich dieser Suggestion nicht entziehen. Die Fähigkeit, uns in andere einzufühlen und hineinzudenken, nennen Forscher «mind reading», also dasGedankenlesen. Damit ist nicht Telepathie gemeint, sondern unsere angeborene Gabe, nur am Verhalten anderer zu erkennen, was sie denken, fühlen und beabsichtigen – die «soziale Intelligenz» könnte man sagen. Wir sind darin so gut, dass wir überall menschliche Neigungen erkennen, auch dort, wo gar keine Menschen sind. Ein Grund vielleicht, warum es schon Kindern leichtfällt, sich sprechende und denkende Steine, Bäume oder Tiere vorzustellen.

Im Heider-Simmel-Experiment hatten weder die Dreiecke noch der Kreis Gesichtszüge. Neben den Körperbewegungen erhalten wir vor allem aus der Mimik anderer Menschen Informationen, die wir ganz automatisch verarbeiten. Das sieht man am besten im Kontrast zu Patienten, die darin Defizite haben. Autisten zum Beispiel können Gesichtsausdrücke oft nicht voneinander unterscheiden. Gesunde Menschen sehen sofort, ob jemand wütend oder nur überrascht ist. Für Autisten ist das eine schier unlösbare Aufgabe. Patienten, die an einer schwachen Autismusform, demAsperger-Syndrom, leiden, legen sich daher Hilfsregeln zurecht, beispielsweise: «Wenn ich jemandem den Parkplatz wegschnappe, dann ist er eher wütend als überrascht.» Manche werden darin so gut, dass sie im Alltag gar nicht auffallen. Etwas anders verhält es sich mit Menschen mitdissozialer Persönlichkeitsstörung, die man auch «Psychopathen» oder «Soziopathen» nennt. Soziopathen haben eine schwache Impulskontrolle, empfinden keine Schuld, sind aggressiv, genusssüchtig und lieben das Risiko und den Nervenkitzel. Dabei sind sie oft einnehmend charmant, behandeln andere Menschen aber entweder nur als Hindernisse oder als Instrumente, um ihre Pläne zu verwirklichen. Soziopathen wissen zwar oft indirekt, was in anderen vor sich geht, können sich aber nicht in sie einfühlen und haben auch kein Mitleid mit ihnen.

Schätzungen zufolge zeigen drei Prozent der Bevölkerung diese antisozialen Neigungen. Und das sind fast nur Männer. Bei Soziopathen sind die Strukturen imFrontallappenbesonders unterentwickelt, also in dem Teil des Hirns, in dem Forscher den Sitz unserer Empathiefähigkeit ansiedeln. Nur wenige Soziopathen werden übrigens zu Serienmördern. Was machen die anderen? Einige Psychologen antworten: «Sie werden Extremsportler oder Investmentbanker.»

Nicht die Augen sind das «Tor zur Seele», sondern die Gesichtsmuskeln. Nur wer sie richtig deutet, kann andere verstehen. Ekman, der Entdecker der universellen Gefühlsausdrücke, wollte nicht nur die Grundgefühle erforschen. Er schätzt, dass wir mit unseren Gesichtsmuskeln mehr als10000unterschiedliche Ausdrücke erzeugen können. Wer alle kennt, der weiß, was Menschen denken, wenn er sie nur ansieht. Mit Kollegen hat Ekman daher in jahrelanger Arbeit nicht nur alle Ausdrücke untersucht und systematisiert, sondern gelernt, sie selbst einzeln zu erzeugen. Sein Wissen macht ihn zu einem lebenden Lügendetektor, denn Lügen und Täuschungen zeigen sich oft in mimischenMikro-Ausdrücken, die man ohne Training gar nicht erkennen kann.

Als junger Psychologe betreute Ekman eine Patientin, die mehrere Suizidversuche hinter sich hatte. In einem gefilmten Therapiegespräch gab sie an, glücklich und wohlauf zu sein. Alles deutete auf eine Genesung hin, bis Ekman den Film langsam laufen ließ. Die Rolle hatte24Einstellungen pro Sekunde. Nur auf zwei davon war das Gesicht der Patientin vor Verzweiflung verzerrt, für das ungeschulte Auge nicht erkennbar. Sie wollte ihre wahren Gefühle verbergen. Wie den meisten Menschen ist ihr das nicht ganz gelungen. Es liegt nahe, das Wissen über Signale der Täuschung für Verhöre einzusetzen. Ekman trainiert die amerikanische Polizei, den Zoll und die Geheimdienste. Und er hat eine eigene Software entwickelt, mit der man trainieren kann, Mikro-Ausdrücke zu erkennen.

Soziale Gefühle

Wenn sich Europäer schämen, dann schauen sie zu Boden oder wenden sich ab. Japanerinnen hingegen kichern und halten beide Hände vors Gesicht. Zudem kontrollieren Japaner ihren Gefühlsausdruck mehr als Europäer, besonders wenn Autoritäten in der Nähe sind. Auch das hat Ekman mit Kollegen herausgefunden. Diese kulturelle Variation findet sich besonders bei den sozialen Gefühlen wie Scham, Neid, Eifersucht und Schuld. Spricht das dafür, dass soziale Gefühle nicht angeboren sind, sondern erst erlernt werden müssen?

Dazu gibt es mindestens drei Vorschläge. Der erste sagt: Grundgefühle und soziale Gefühle unterscheiden sich ganz klar. Angst und Ekel sind angeboren, aber Scham und Eifersucht muss man erst lernen. Wenn dieser Ansatz stimmte, müsste man Kulturen finden, die weder Scham noch Eifersucht kennen, oder umgekehrt solche, die Gefühle kennen, die uns fremd sind. Ein vieldiskutiertes Beispiel: Männer der Gururumba in Papua-Neuguinea verspüren ein Gefühl, das sie als «wie ein Wildschwein sein» beschreiben. Sie laufen stürmisch umher und greifen andere Menschen an. Die Verteidiger sozial erlernter Gefühle halten das für einen klaren Beleg ihrer These. Allerdings ist fraglich, ob das Verhalten der Gururumba überhaupt einem bestimmten Gefühl zuzuordnen ist. Die Gururumba fühlen sich diesem Zustand zwar passiv ausgeliefert, aber das Verhalten erinnert eher an einen willentlich veranlassten Kontrollverlust. Um den zu beobachten, muss man nicht in ferne Länder reisen. Wer schon einmal auf dem Kölner Karneval oder auf dem Oktoberfest war, weiß, dass auch Westeuropäer willentlich die Sau rauslassen können.

Der zweite Vorschlag behandelt soziale Gefühle alsMischgefühleaus grundlegenden Gefühlen. Ekman hat beispielsweise herausgefunden, dass Ekel und Wut zusammen eine tiefe Verachtung ausmachen, die die häufigste Ursache für Gewalt und Aggressionen ist. Mittlerweile hält er zwar Verachtung für ein eigenständiges Gefühl, aber man könnte auch behaupten, dass es ein Mischgefühl ist. Sind Ekel und Wut angeboren, so ist es Verachtung auch. Der amerikanische Evolutionspsychologe Robert Plutchik vertritt diesen Ansatz. Nach dem Vorbild des Farbkreises hat er einen Gefühlskreis entworfen. Genau, wie es Mischfarben gibt, so existierten auch Mischgefühle. Laut Plutchik sind Scheu ein Mix aus Angst und Überraschung und Gewissensbisse eine Kombination aus Trauer und Ekel. Die Idee ist faszinierend, die konkreten Hypothesen aber wenig überzeugend. Man kann ein schlechtes Gewissen haben, ohne sich vor sich selbst zu ekeln. Wer Gewissensbisse hat, bedauert seine Tat, muss aber nicht unbedingt traurig sein.