Moralspektakel - Philipp Hübl - E-Book

Moralspektakel E-Book

Philipp Hübl

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Beschreibung

Moral als Show: Wenn es wichtiger ist die richtige Haltung zu zeigen, als sie zu haben - und warum das ein Problem ist

Wir wollen gute Menschen sein, aber das allen anderen auch zeigen. Denn unser moralischer Charakter verschafft uns Anerkennung und Attraktivität. Doch durch den Einfluss der digitalen Medien wird Moral immer mehr zum Statussymbol und die öffentliche Diskussion zu einem Moralspektakel. Mit negativen Folgen, denn die inszenierte Moral führt zu Populismus, Symbolpolitik, verzerrter Forschung und wirkungslosen Maßnahmen gegen Diskriminierung. Statt uns in Schaukämpfen zu profilieren, zeigt uns Philipp Hübl, wie wir einer universellen Ethik folgen können, um reale Missstände zu beseitigen – einer Ethik, in der weder autoritäres Denken noch Opfergruppen im Mittelpunkt stehen, sondern der selbstbestimmte Mensch.

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Buch

Wir wollen gute Menschen sein, aber das allen anderen auch zeigen. Denn unser moralischer Charakter verschafft uns Anerkennung und Attraktivität. Doch durch den Einfluss der digitalen Medien wird Moral immer mehr zum Statussymbol und die öffentliche Diskussion zu einem Moralspektakel. Mit negativen Folgen, denn die inszenierte Moral führt zu Populismus, Symbolpolitik, verzerrter Forschung und wirkungslosen Maßnahmen gegen Diskriminierung. Statt uns in Schaukämpfen zu profilieren, zeigt uns Philipp Hübl, wie wir einer universellen Ethik folgen können, um reale Missstände zu beseitigen – einer Ethik, in der weder autoritäres Denken noch Opfergruppen im Mittelpunkt stehen, sondern der selbstbestimmte Mensch.

Autor

Philipp Hübl ist Philosoph und hat Theoretische Philosophie an der RWTH Aachen, der Humboldt-Universität Berlin und als Juniorprofessor an der Universität Stuttgart gelehrt. Danach war er Gastprofessor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Er ist Autor des Bestsellers Folge dem weißen Kaninchen (2012), der Bücher Der Untergrund des Denkens (2015), Bullshit-Resistenz (2018) und Die aufgeregte Gesellschaft (2019) sowie von Beiträgen unter anderem in der Zeit, FAZ, taz, NZZ, Welt, FR, im Standard, Deutschlandradio und Philosophie Magazin. Hübl hat Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford studiert.

PHILIPP HÜBL

MORALSPEKTAKEL

Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht

Siedler

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Copyright © 2024 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: total italic/Thierry Wijnberg

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-23228-3V001

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Einleitung Schöne neue Moral

Von den großen Problemen zur moralischen Sensibilität

Von der analogen zur digitalen Öffentlichkeit

Vom Konsum zur Moral

Von den Gedanken zu den Worten

Das krumme Holz der Moral

Arbeit und Struktur

Aufmerksam der Wissenschaft folgen

Die Kosten des Moralspektakels

Was tun?

Einladung zur radikalen Selbstkritik

Teil I  Das Statusspiel

1  Unbemerkter Fortschritt Das Moralparadox

Der lange Lauf der Geschichte

(1) Selektive Medien

(2) Negative Verzerrung

(3) Steigende Ansprüche

(4) Erweiterte Begriffe

(5) Erhöhte Frequenz

(6) Eindeutige Signale

Unbemerkter Fortschritt

2  Tugenden als Attraktion Über den Ursprung der Moral

Die Moralillusion

Alltagsmoral versus Ethik

Instinkt versus Vernunft

Selbstüberhöhung versus Fremdverurteilung

Überleben der Moralischsten

Die Erotik der Tugenden

Der Schutz der Gruppe

Charakter versus Tat

3  Ehre, Würde und der Sinn des Lebens Moralkulturen

Sonderbare Menschen

Ehrenkultur, Würdekultur, Opferkultur

Autorität, Autonomie, Fürsorge

Vom Kollektiv zum Individuum

Vom Individuum zurück zum Kollektiv

Moralische Identität

Moralischer Sinn

4  Im Rampenlicht Alle Menschen spielen Moraltheater

Dominanz und Prestige

Das Zirpen des Siegers

Status durch Bewunderung

Sozialer Vergleich

Moralisches Prestige

Moralische Selbstdarstellung

Kostspielige und billige Signale

5  Ein kostbares Gut Moralisches Kapital

Moralische Werte

Moralische Investitionen

Moralfälscher

Kosten und Nutzen der Vielfalt

Moral als kostbares Gut

6  Der Zwang zur Vereindeutigung Digitale Moral

Online-Reputation

Anerkennung in Zahlen

Die Funktionen von Empörung

Moralische Effekthascherei

Moralische Reinheit

Teil II  Die Kosten des Moralspektakels

7  Narzissten, Feuerstürme, Cancel Culture Die dunklen Seiten der Selbstdarstellung

Digitale Sortiermaschinen

Polarisierung und Populismus

Trittbrettfahrer

Moralischer Narzissmus

Opfer-Hochstapler

Moralische Dominanz

Cancel Culture als Einschüchterungskultur

Online-Pranger

Im Auge des digitalen Feuersturms

Die Folgen der Einschüchterungskultur

8  Magische Worte Die Sprache der neuen Moral

Sprachmagie

Die exklusive Sprache der Inklusion

Gendern als Progressivitätsmarker

Sprachliche Besonderheiten

9  Feuer frei! Moral als Waffe im Statuskampf

Die feinen moralischen Unterschiede

Feuer frei!

Der Statuskampf als Elitenkampf

Moralische Selbstverteidigung

10  Von der Theorie zum Hashtag Gesellschaft des Spektakels

Schlagworte

Vom Gerechtigkeitskampf zum Statuskampf

Opferhierarchie

Verzerrungen in der Wissenschaft

Affektive Polarisierung

Verteidigung der Moral Die Zukunft des Zusammenlebens

(1) Gemeinsamkeiten statt Unterschiede

(2) Universalismus statt Relativismus

(3) Fakten statt Ideologie

(4) Taten statt Symbole

(5) Gerechtigkeit statt Identität

(6) Diskussionskultur statt Einschüchterungskultur

(7) Vernunftmoral statt Moralinstinkt

(8) Demokratie statt Spektakel

Dank

Anmerkungen

Literatur

Register

Teil I  Das Statusspiel

1  Unbemerkter FortschrittDas Moralparadox

Der lange Lauf der Geschichte

Die Menschheit existiert seit mindestens 100 000 Jahren, vermutlich sogar deutlich länger.[1] Stellt man sich die letzten 100 000 Jahre als Hundertmeterlauf mit der Gegenwart als Ziellinie vor, dann steht jeder einzelne Meter für 1000 Jahre Geschichte. Läuft man diese Strecke dann vor dem inneren Auge ab, wird einem klar, dass auf den ersten 90 Metern kaum etwas passiert. Der technische Fortschritt ist über lange Strecken minimal, moralischer Fortschritt so gut wie gar nicht vorhanden. Sesshaft werden die Menschen auf den letzten zehn Metern, die Schrift erfinden sie auf den letzten sechs und die ältesten bekannten Gesetzestexte werden auf den letzten vier Metern formuliert.

Erst auf den letzten zehn Zentimetern ändert sich alles. Zum ersten Mal dürfen Frauen wählen – vor 1900 hatte nur ein einziges Land, Australien, das Frauenwahlrecht eingeführt. Die Menschenrechte werden in der heute bekannten Form erst auf den letzten acht Zentimetern formuliert und von den Vereinten Nationen verabschiedet, nämlich im Jahr 1948. Und in Deutschland wird erst auf den letzten 15 Millimetern die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eingerichtet und die gleichgeschlechtliche Ehe erst auf den letzten fünf Millimetern anerkannt – also nach 99,995 Prozent der gesamten Strecke.

Vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Welt eine unvorstellbare moralische Revolution erlebt, eine Erfolgsgeschichte des Guten, von der Umsetzung der Menschenrechte bis hin zur Verbreitung von Demokratie und Freiheit. Gleichzeitig sind Krieg, Gewalt, Krankheiten, Armut und Hunger dramatisch zurückgegangen, was innerhalb eines Jahrhunderts zu einer Verdopplung der Lebenserwartung weltweit von etwa 35 Jahren auf über 70 Jahre geführt hat.[2] Noch um das Jahr 1900 war die weltweite Kindersterblichkeit so hoch, dass fast jedes zweite Kind das fünfte Lebensjahr nicht erreichte. Heute sterben immer noch vier Prozent aller Kinder, aber das ist weniger als ein Zehntel des ursprünglichen Anteils.[3] Noch 1970 waren etwa 30 Prozent der Menschen in den ärmsten Ländern der Welt unterernährt, heute sind es etwa zehn Prozent.[4]

Dennoch glaubt die Mehrheit der Menschen, die Weltlage habe sich verschlechtert.[5] In sogenannten Entwicklungsländern, wie die Weltbank sie nennt, etwa in China, Senegal, Kenia, Nigeria und Indien, sind die Einschätzungen noch am besten.[6] Dort geben immerhin zwischen 30 und 50 Prozent korrekt an, dass Kindersterblichkeit und extreme Armut weltweit deutlich zurückgegangen sind. Außerdem erwartet in diesen Ländern der größte Anteil der Menschen im globalen Vergleich, dass sich die Weltlage auch in Zukunft verbessert.[7]

In den hochentwickelten Industrieländern liegen die Menschen in ihren Einschätzungen am weitesten von den Fakten entfernt. In Ländern wie Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien oder Japan schätzen fast 90 Prozent der Menschen die Weltlage schlechter ein, als sie tatsächlich ist – also gerade in denjenigen Ländern, deren Wohlstand beispiellos in der Menschheitsgeschichte ist.

Und obwohl die Menschenrechte besser geschützt werden als jemals zuvor,[8] sind sich Leute in allen Erdteilen darin einig, dass die Welt moralisch verfällt, wie eine Studie mit 12 Millionen Befragungen in 60 Ländern über die letzten 70 Jahre zeigt.[9] Ganz gleich, in welcher Weltregion man nachfragt, überall geht ein Großteil der Bevölkerung davon aus, dass Menschen heute weniger ehrlich, freundlich und hilfsbereit sind als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, wie alle großen Untersuchungen zu diesem Thema belegen.[10]

Befragt man Personen allerdings zu ihrem Nahbereich, sieht die Sache ganz anders aus: Sie schätzen ihr Umfeld heute genauso positiv ein wie vor 20 Jahren. Man könnte ihre Haltung also so ausdrücken: »Die Welt geht unter, doch bei mir ist alles in Ordnung.« Diese Fehleinschätzung kann man übrigens in allen politischen Lagern messen, wobei Konservative am stärksten von einem allgemeinen Werteverfall ausgehen.

Dass wir die beispiellose Erfolgsgeschichte der letzten 70 Jahre als Niedergang erzählen, ist das große Moralparadox unserer Zeit. Dafür gibt es mindestens sechs Gründe.

(1) Selektive Medien

Der erste Grund ist ein Wahrnehmungsfehler. In den Medien und der Öffentlichkeit geht es vor allem um drastische Ereignisse und eklatante Missstände, die es immer noch gibt. Dagegen thematisieren die Nachrichten selten den sozialen Fortschritt, der sich stetig und langsam vollzieht.[11] Wir hören zu Recht von der Hungersnot in Ostafrika, lesen aber nicht die Schlagzeile »Heute sind wieder 100 000 Menschen der extremen Armut entkommen«, auch wenn man diesen Satz in den letzten 20 Jahren täglich hätte titeln können.[12] Wer nur von den Nachrichten der Tagesschau ausgeht, ohne die Daten zur Weltlage zu kennen, muss den Eindruck gewinnen, dass alles schlimmer wird. Doch das ist ein Irrtum, der durch selektive Wahrnehmung zustande kommt. Und diese Urteilsverzerrung ist weit verbreitet.[13]

Stellt man Probanden Fragen wie »Wie viele Menschen in der Welt haben Zugang zu Elektrizität?« oder »Wie viele einjährige Kinder weltweit sind gegen eine Krankheit geimpft?« mit den Optionen »20«, »50« und »80« Prozent, so kreuzen die wenigsten »80 Prozent« an. Das aber ist in beiden Fällen die korrekte Antwort. Der Statistiker Hans Rosling hat mehr als 12 000 Teilnehmern aus 14 Ländern insgesamt zwölf solcher Fragen gestellt. Nur eine einzige Person hat alle richtig beantwortet. Im Mittel lagen die Probanden in nur zwei von zwölf Fällen richtig, deutlich unterhalb der Zufallswahrscheinlichkeit von vier richtigen Antworten, die man durch bloßes Würfeln erreichen würde. Bei Intellektuellen ist die Urteilsverzerrung übrigens am stärksten ausgeprägt: Nobelpreisträger liegen in ihren Einschätzungen der Weltlage noch weiter daneben als Durchschnittsbürger.

Unsere Urteilsverzerrung durch selektive Wahrnehmung hat noch eine zweite Quelle. Oft haben wir unser Wissen einfach nicht aktualisiert. Vor wenigen Jahrzehnten hatten tatsächlich deutlich weniger Menschen einen Stromanschluss im Haus als heutzutage, und Kinder waren deutlich seltener geimpft. Unsere Annahmen über die Weltlage sind also in gewisser Weise korrekt, nur gelten sie eben für eine längst vergangene Zeit. Da sich die Welt schnell ändert, kommen wir mit den Updates unseres Wissens nicht immer hinterher.

(2) Negative Verzerrung

Fragt man in Experimenten sinngemäß: »Bei einer Operation liegt das Sterberisiko bei 33 Prozent. Soll operiert werden?«, so stimmen etwa 20 Prozent der Menschen zu. Fragt man hingegen: »Bei einer Operation liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit bei 66 Prozent. Soll operiert werden?«, sind es etwa 70 Prozent. Inhaltlich sagen beide Fragen dasselbe aus. Allein das negative Wort »Sterberisiko« gibt also den Ausschlag.[14]

Wir sind für Negatives besonders sensibilisiert.[15] Diese Einschätzung hat in der Forschung sogar einen Namen, nämlich Negativverzerrung(negativity bias).[16] Sie ist der zweite Grund, warum wir glauben, dass alles schlechter wird. Evolutionsbiologen erklären das folgendermaßen: Wie für andere Tiere war es auch für unsere Vorfahren vorteilhaft, auf Gefahren hypersensibel zu reagieren. Angenommen, es raschelt im Unterholz: Wer sofort wegrennt, weil er irrtümlich denkt, dass ein Tiger angreift, hält sich lediglich fit; doch wer einmal zu wenig wegrennt, wenn sich tatsächlich ein Tiger anschleicht, wird gefressen und kann seine Gene nicht weitergeben.

Den ersten Fehler nennt man falsch-positiv (der Warnmechanismus sagt »Tiger: ja«, obwohl keiner da ist), den zweiten falsch-negativ (der Warnmechanismus sagt »Tiger: nein«, obwohl einer da ist). Wir kennen das noch aus der Corona-Pandemie. Der Antigen-Test aus der Apotheke hat immer mal wieder falsch-negative Ergebnisse produziert: Man hielt sich für kerngesund, obwohl man tatsächlich ansteckend war. Der PCR-Test aus dem Labor dagegen hat, wenn überhaupt, allenfalls falsch-positive Ergebnisse produziert.

Bei Gefahren oder Schäden ist es grundsätzlich besser, überempfindlich zu reagieren, denn die beiden Fehler wirken sich unterschiedlich aus. Die Theorie dazu, entwickelt von den Evolutionsbiologen Martie G. Haselton und David Buss, heißt Fehler-Management-Theorie.[17] Man kann sie auf viele Bereiche anwenden, beispielsweise auf Feuermelder. Manche Feuermelder sind so sensibel eingestellt, dass sie schon anspringen, wenn man lediglich Haarspray verwendet. Das ist zwar nervtötend, aber immerhin nicht tödlich wie der andere Fehler, wenn nämlich nachts das Schlafzimmer in Flammen steht und kein Alarm angeht.

Viele unserer Emotionen funktionieren wie Feuermelder. Sie haben sich in der Evolution entwickelt, weil sie das Leben unserer Vorfahren schützten, indem sie verlässlich auf Gefahren ansprangen.[18] Und sie sind bis heute hypersensibel eingestellt. Angst beispielsweise schützt uns vor Gefahren. Beim Anblick von Schlangen und Spinnen zu erschrecken, ist sogar angeboren.[19] Dieser Mechanismus ist so fein justiert, dass wir auch vor ungefährlichen Winkelspinnen und Ringelnattern zurückschrecken, manchmal sogar vor Gummispinnen und Plastikschlangen.

Angst und andere Emotionen sind die Feuermelder des Körpers, die uns signalisieren: »Achtung, Gefahr!« Sie helfen uns, all das zu schützen, was einen Wert für uns hat, zum Beispiel unser Leben, unsere Gesundheit und unsere Kinder. Die Parallele zur Moral liegt auf der Hand. Moralische Regeln sollen uns ebenfalls vor Gefahren und Schaden bewahren. Und so wie die Emotionen sind unsere moralischen Detektoren fein justiert, denn auch hier gilt: Übertreibung ist besser als Nichtbeachtung. Wir halten die Weltlage für schlimmer, als sie ist, weil nicht nur die Nachrichten, sondern wir selbst ganz automatisch den Fokus auf Nöte und Gefahren lenken und uns dabei selten die Mühe machen, unser Bauchgefühl mit den statistischen Daten abzugleichen.

(3) Steigende Ansprüche

In den letzten Jahrzehnten sind unsere Ansprüche noch schneller gestiegen als der moralische Fortschritt. Das ist der dritte Grund für das Moralparadox, den Alexis de Tocqueville schon Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben hat. Der französische Politikwissenschaftler hat 1831 in den Vereinigten Staaten ein Jahr lang die damals junge Demokratie beobachtet, in der es zumindest unter den freien Bürgern (die Sklaverei war noch nicht abgeschafft) keine Ständeunterschiede mehr gab, im Gegensatz zu vielen Ländern Europas. Tocqueville stellte fest, dass Menschen einen universellen Gerechtigkeitssinn haben, der unter den richtigen Bedingungen zu moralischem Fortschritt führt. »Der Hass der Menschen gegen das Privileg wird umso größer, je seltener und unbedeutender die Privilegien werden«, schrieb er und lieferte gleich die Erklärung: »Sind alle gesellschaftlichen Bedingungen ungleich, so verletzt keine noch so große Ungleichheit den Blick des Betrachters; inmitten allseitiger Gleichförmigkeit dagegen wirkt die kleinste Verschiedenheit anstößig; der Anblick wird umso unerträglicher, je weiter die Gleichförmigkeit fortgeschritten ist. Es ist daher ganz natürlich, dass die Gleichheitsliebe zusammen mit der Gleichheit wächst; man nährt sie, indem man sie befriedigt.«[20]

Je besser die Welt, desto ungerechter erscheint sie. Tocqueville nahm an, dass der Wunsch nach Gleichheit den richtigen Nährboden benötigt, um Menschen zur Tat schreiten zu lassen. So vermutete er, einen Umsturz wie die Französische Revolution hätte es im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Jahr 1789 nicht geben können. In Frankreich waren die Menschen schon relativ frei und sehnten sich daher nach noch mehr Selbstbestimmung, während in den deutschen Ländern die Macht der Feudalherren so groß war, dass die Leibeigenen gar nicht von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu träumen wagten.

Aus Sicht der heutigen Forschung liegt es nahe, dass der Hauptfaktor für dieses sogenannte Tocqueville-Paradox unsere Aufmerksamkeit ist. In großer Not achten wir aufs nackte Überleben, nicht auf kleinteilige zwischenmenschliche Probleme. Erst das Fressen, dann die Moral, wie Brecht es ausdrückt. In einem Kriegsgebiet zum Beispiel empört man sich nicht über die herablassende Art der Nachbarn. Doch in Zeiten von Frieden und Wohlstand fällt uns dieses Verhalten umso mehr auf. »Auffallen« ist das Stichwort. Unsere Aufmerksamkeit hat natürliche Grenzen. Erst wenn Ressourcen frei werden, weil große Missstände aus der Welt geschafft sind, können wir uns um andere, bisher vernachlässigte Fälle kümmern. Oft sind das Fälle, die aus Sicht der Menschenrechte immer schon moralisch falsch waren. Der amerikanische Schauspieler und Comedian Chris Rock hat das als Moderator bei der Oscarverleihung im Jahr 2016 satirisch so zugespitzt: »Mindestens 71-mal gab es keine schwarzen Kandidaten für den Academy Award. Schwarze haben nicht protestiert. Warum? Wir waren zu beschäftigt, gelyncht und vergewaltigt zu werden, um uns darüber zu sorgen, wer den Oscar für die beste Kamera erhalten hat.«[21]

Da es moralisch immer etwas zu verbessern gibt, erscheint die Weltlage am Anspruch gemessen schlecht, obwohl sie sich im Vergleich zu früheren Zeiten zum Besseren gewandelt hat. Beide Sätze sind also gleichzeitig wahr: Die Welt ist schlecht. Und: Die Welt ist besser als früher.

Höhere Ansprüche können zu mehr sozialem Fortschritt führen, indem bisher vernachlässigte Probleme in den Blick geraten. Allerdings schwingt das Pendel dann oft in die andere Richtung, und das ist der vierte Grund für das Moralparadox.

(4) Erweiterte Begriffe

Wenn Menschen nicht mehr durch Kriege traumatisiert sind, beginnen sie irgendwann, auch ein missglücktes Date als »traumatisch« zu beschreiben. Und sobald man keine Makroaggressionen mehr erlebt wie Prügeleien und Messerstechereien, kann man nach sogenannten Mikroaggressionen suchen.[22] Mikroaggressionen sollen, wie der Name schon sagt, winzige Fehltritte mit vermeintlich schädlichen Folgen sein, zu denen laut Theorie Komplimente für Schuhe gehören, aber auch Äußerungen wie: »Jeder, der sich anstrengt, kann es schaffen.«[23] Dem Erfinder dieses Ansatzes, dem Psychologen Derald Wing Sue zufolge, können diese »Aggressionen« sogar so schwach sein, dass weder Sprecher noch Hörer sie richtig bemerken.[24]

Zwar ist die Rede von Mikroaggressionen inzwischen in die Alltagssprache vorgedrungen, die Forschungsdaten dazu sind allerdings sehr fragwürdig. Ein Zusammenhang zwischen unbedachten Äußerungen und negativen Folgen für die mentale Gesundheit konnte bisher nicht empirisch belegt werden, auch nicht, dass vermeintliche Mikroaggressionen irgendetwas mit Vorurteilen oder feindseligen Motiven zu tun haben.[25]

Wieso kommen Wissenschaftler dennoch auf die Idee, Komplimente als Aggressionen anzusehen, sogar dann, wenn niemand einen Schaden davonträgt? Ein Grund ist, dass in der Wissenschaft und der Gesellschaft neue Entdeckungen mit Anerkennung belohnt werden, insbesondere wenn es um moralisches Fehlverhalten geht. Mit einem Begriff wie »Stalking« beispielsweise kann man ein gefährliches Verhaltensmuster besser erkennen und sogar zu einem Straftatbestand erklären.[26] Ohne den Begriff ist das zwar auch möglich, aber deutlich schwieriger.

Einerseits kalibrieren neue Begriffe also unsere Aufmerksamkeit, sodass uns plötzlich Dinge auffallen, die uns bisher entgangen waren. Andererseits tritt auch der umgekehrte Fall ein: Wenn wir stärker auf etwas achten, zum Beispiel auf Gefahren oder Aggressionen, dehnen wir dadurch unsere Begriffe aus. Und so können sogar Forscher zu dem Fehlschluss gelangen, sie seien einer großen Sache auf der Spur, zum Beispiel bisher unentdeckten »Mikroaggressionen«, ohne zu bemerken, dass sie keinem realen, sondern einem rein sprachlichen Phänomen hinterherjagen.

Eine Reihe von faszinierenden Experimenten macht das deutlich.[27] In einer Variante sehen Versuchspersonen unterschiedliche Gesichter auf einem Bildschirm, die sie auf einer Skala zwischen »sehr bedrohlich« und »gar nicht bedrohlich« einordnen sollen. Bei jedem Durchlauf geben sie dieselben Einschätzungen. Doch sobald die Probanden immer weniger bedrohliche Gesichter zu sehen bekommen, passiert etwas Merkwürdiges. Plötzlich ordnen sie auch bisher harmlose Gesichter als »bedrohlich« ein. Im Englischen heißt dieses Phänomen concept creep