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Für Sorge E-Book

Jo Lücke

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Beschreibung

Equal Care: Der Paradigmenwechsel als Erfolgsrezept, um auch nach der Geburt ein Team zu bleiben Kaum ist das erste Kind da, wird die Beziehung des frischgebackenen Elternpaares auf die Probe gestellt. Stress, Schlafmangel und unterschiedliche Erwartungshaltungen prallen aufeinander. - Wer nimmt wie lange Elternzeit? - Wie können wir das Familienleben gleichberechtigt gestalten und organisieren? - Wie wollen wir die Care-Arbeit aufteilen? - Wie können wir rechtzeitig vorsorgen? Vor dem Hintergrund starrer gesellschaftlicher Rollenbilder und institutioneller Strukturen werden diese Fragen schnell zu Streitthemen. Damit sich niemand in der Familie mit der Sorgearbeit alleingelassen oder finanziell abgehängt fühlt, ist die Lösung: Equal Care und einen gemeinsamen Fahrplan zu erstellen, um die Vor- und Nachteile des Familienlebens fair zu verteilen –  am besten schon vor der Ankunft des Kindes. Jo Lücke, Expertin und Aktivistin für Equal Care, hilft Eltern, die Weichen für gleichberechtigtes Elternsein, glückliche Partnerschaft und modernes Familienleben zu stellen.  Dabei nimmt sie den strukturellen Kontext in den Blick und zeigt, dass die Wertschätzung und faire Verteilung von Care-Arbeit inklusive der emotionalen Arbeit die Basis all dessen bilden. Ihr Ratgeber deckt alle relevanten Themen ab: von Elternzeit, über Vorsorge und Partnervertrag, Beziehung und Rollenerwartungen, Erziehungsvorstellungen bis hin zur Verteilung der Lohn- und Sorgearbeit. »Es ist nicht eure Schuld und nicht die eures Partners oder eurer Partnerin, wenn diese Lebensphase unglaublich zehrend und erschöpfend ist. Solange es keine Care-Infrastruktur über ein paar Stunden Kita hinaus oder eine reduzierte Wochenarbeitszeit für alle gibt, müssen Familien die Lasten alleine tragen.« Jo Lücke

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Seitenzahl: 369

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Jo Lücke

Für Sorge

Wie Equal Care euer Familienleben rettet

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Kaum ist das erste Kind da, wird die Beziehung des frischgebackenen Elternpaares auf die Probe gestellt.

Wer nimmt wie lange Elternzeit? Wie wollen wir die Haushaltsaufgaben aufteilen? Wie können wir rechtzeitig vorsorgen?

Damit diese Fragen nicht zu Streitthemen werden, sich niemand in der Partnerschaft mit der Sorgearbeit alleingelassen oder finanziell abgehängt fühlt, ist die Lösung: schon vor der Geburt einen gemeinsamen Fahrplan zu erstellen.

Jo Lücke, Expertin und Aktivistin für Equal Care, nimmt den gesellschaftlichen und strukturellen Kontext in den Blick und hilft werdenden Eltern, darin die individuellen Weichen für gleichberechtigtes Elternsein, glückliche Partnerschaft und modernes Familienleben zu stellen. Ihr Ratgeber deckt alle relevanten Themen ab: von Elternzeit, über Vorsorge und Partnervertrag, Erziehungsvorstellungen bis hin zu Lohn- und Care-Arbeit.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Einleitung

Teil 1 Die dysregulierte Gesellschaft

Kapitel 1 Entwertete Arbeit

»Care-Arbeit« und »Mental Load«

Emotionale Arbeit und kognitive Empathie

Ist Care-Arbeit optional?

Eine neue Bedürfnispyramide

Kapitel 2 Androzentrismus

Die unsichtbare Macht

Die Entstehung des Patriarchats

Homo oeconomicus

Care-Arbeit im Kapitalismus

Emotionale Arbeit im toten Winkel

Kapitel 3 Die große Care-Krise

Care am Limit

Das moralische Dilemma

Kleinfamilie in Einzelhaft

Kapitel 4 Das psychologische Patriarchat

Die Basis des Eisbergs

Care-Shaming

Toxische Männlichkeit

Muttermythos

Toxischer Individualismus

Die Macht der Stereotype

Familienstandsdiskriminierung

Kapitel 5 Für Sorge

Eine neue Norm

Das Ende der Trittbrettfahrt

Teil 2Work-Work-Life-Balance

Kapitel 6 Patriarchat verlernen

»Helfen«

Glaubenssätze erkennen und ersetzen

Aber weiß das Huhn das auch?

Es liegt ein Trost in allem Vertrauten

Kapitel 7 Care-Arbeit teilen

Care-Arbeit sichtbar machen

Das Post-it-Projekt

Cluster bilden und Pakete schnüren

Mindeststandards

Goldene Regeln

Langfristig erfolgreich sein

Kapitel 8 Hürden verstehen und überwinden

Kompetenz und Beziehung

»Aber mir ist das nicht so wichtig«

»Aber ich sehe das nicht«

»Aber ich kann das nicht«

Zwischenruf an die Väter und männlich sozialisierten Elternteile

»Aber ich darf ja nicht«

»Aber ich muss das doch machen«

Zwischenruf an die Mütter und weiblich sozialisierten Elternteile

Kapitel 9 Zeit gestalten

Die Bewertung von Zeit

Elternzeit gleichberechtigt teilen

Der care-freundliche Arbeitsplatz

Was ist eigentlich fair?

Selbstfürsorge

Banden bilden

Mehr Zeit schaffen

In guten wie in schlechten Zeiten

Kapitel 10 Versorgen und vorsorgen

Pay-for-Care-Paradox

Drei-Konten-Modell

Solidarisch vorsorgen

Kapitel 11 Liebe üben

Konflikte relational betrachten

Patriarchale Paartherapie

Trennung

Elternwut

Equal Care für Kinder

Kapitel 12 Die langsame Revolution

Die Wut, die bleibt

Von der Produktion zur Reproduktion

Wege zum Glück

Danksagung

Für meine Kinder J & J. Mögen gute Beziehungen euch stets begleiten.

Vorwort

Meinen ersten Kontakt mit Equal Care hatte ich in Bielefeld. Nicht dass Bielefeld im Kreis Ostwestfalen-Lippe als Stadt eine Rolle spielen würde. Meine Geschichte könnte überall beginnen, und die Lebensphase, die ich 2018 in der spärlich möblierten Gastwohnung an einer Hauptverkehrsstraße in einer westdeutschen Kleinstadt durchmachte, erleben jeden Tag Hunderte Menschen in kleineren und größeren Städten, in Dörfern und Speckgürteln, in Einfamilienhäusern mit Seezugang und in Zweiraumwohnungen im zwölften Stock. Das war also nichts Besonderes. Menschen erfahren solche Momente und wenn sie davon erzählen, sagen die Leute, das sei doch ganz normal und gehöre eben dazu zum Elternsein. Man solle sich daher nicht so viele Gedanken machen, sondern sich einfach freuen. Schließlich geben einem die Kinder so viel zurück, nicht wahr, da wisse man doch immer, wofür man all das tue, und sowieso, die Zeit verginge so schnell, man müsse das einfach genießen!

Ich persönlich war mir nicht so sicher, was genau es zu genießen galt. Mein Baby war zu diesem Zeitpunkt fünf Monate alt und ich fühlte mich allein und von der Welt abgeschnitten. Wie in den kinderlosen Jahren zuvor hatte ich meinen Mann an seinen temporären Arbeitsort begleitet. Es war für mich nie ein Problem gewesen, als »digitale Nomadin« unterwegs zu sein, und wir hatten eine Menge Routine darin. Wieso nicht auch mit Kind? Nun also Bielefeld. Das erste Mal zu dritt. Kurz vor unserer Abreise hatte ich zu Hause in Berlin selbst einen Auftrag abgeschlossen und dabei einen absoluten Vereinbarkeitstraum gelebt: ein pflegeleichtes Baby zwischen Bibliothek und Homeoffice mit Vollzeit-Papa an meiner Seite. Top! Aber jetzt war er dran mit Lohnarbeit. Und ich hätte mir nicht vorstellen können, wie schwierig das für mich werden und wie nutzlos ich mir dabei vorkommen würde.

Natürlich, das Baby war da und brauchte mich. Immerzu. Wenn es schlief, wusste ich nicht, was ich zuerst machen sollte. Ebenfalls schlafen, essen, Sport, lesen, jemanden anrufen? Wenn ich mich endlich entschieden hatte, blieben meist nur noch ein paar Minuten, bis das Baby wieder aufwachte. Dann trug ich es spazieren, stillte, gab ihm Gurke aus dem Kühlschrank zum Zahnen, wickelte es, trug es im Wäschekorb in den Keller und auf der nassen Wäsche liegend wieder hinauf, ich kaufte ein, ich rollte Bälle und warf dünne Tücher in die Luft, ich stillte erneut, tröstete, machte Faxen, hängte Wäsche auf, kochte, spülte, googelte Zahnungshilfen und Entwicklungsfortschritte, fotografierte das Kind, sendete die Bilder an die erweiterte Familie, vereinbarte U-Termine beim Kinderarzt, googelte Kitas in Berlin, Öffnungszeiten des Second-Hand-Shops, Babykeksrezepte. Und kam mir immer noch nutzlos vor.

Mein Mann arbeitete von 9 bis 15 Uhr und von 18 bis 22 Uhr. In seiner Pause nahm er das Kind. Manchmal wurde er aufgehalten und kam später. Manchmal musste er abends früher wieder los. Mir war das irgendwann egal. Ob ich jetzt zwei oder drei Stunden ohne Kind hatte, machte keinen Unterschied. Stattdessen überlegte ich, ob ich mit dem Baby zurück nach Berlin gehen sollte. Dort hätte ich zwar gar keine Zeit mehr für mich, würde aber immerhin auch nicht konstant daran erinnert werden, dass es da draußen eine Welt gab, in der Leute tolle Berufe ausübten und inspiriert nach Hause kamen. Sie waren auch gestresst und müde, ja, aber erfüllt von Ideen und Lösungen und Entwicklung. Ich war nicht erfüllt oder gelöst oder entwickelt. Im Gegenteil. Ich war leer. Hatte keine Ideen. Führte keine Erwachsenengespräche. Wurde nicht um meine Expertise gebeten. Lernte nichts. Verdiente kein Geld. Ich war das Letzte, was ich auf der ganzen großen Welt jemals hatte sein wollen. Ich war »Hausfrau und Mutter«.

Obwohl ich keinen Schimmer hatte, warum, wusste ich genau, dass der Job als Vollzeitmama kein erstrebenswerter war. Emanzipation bedeutete für mich finanzielle Unabhängigkeit, größtmögliche Entscheidungsfreiheit, emotionale Abgeklärtheit. Autonomie war mir wichtig – nicht zuletzt hatte ich mich wenige Jahre zuvor selbstständig gemacht, um nie mehr in einer Festanstellung von der Gunst alter weißer Männer abhängig zu sein. Kinder wollte ich trotzdem. Aber ich hatte den irrwitzigen Plan, dass ich sechs Wochen nach der Geburt bereits wieder acht Stunden am Tag arbeiten, fünfmal die Woche zum Sport gehen und generell mein altes Leben weiterführen würde. Es lag vollkommen außerhalb meiner Vorstellungskraft, wie viel Zeit die Pflege meines Kindes in Anspruch nehmen und wie schwer es mir fallen würde, meine neue Rolle und den damit einhergehenden Autonomieverlust anzunehmen. Mit dem Baby kamen hunderttausend Fragen und das diffuse Gefühl, dass ich als Mutter die Antworten dazu kennen sollte. Was wiederum dazu führte, dass ich zu jeder möglichen Gelegenheit die Inhalte diverser Babyratgeber, Elternblogs und Internetforen aufsaugte, um ja nichts falsch zu machen. Meine Lernkurve war erstaunlich. Und dennoch war ich mir selbst peinlich. Was machte ich nur so viel Aufhebens um all dieses Gedöns? Ich verdiente ja noch nicht mal Geld damit. Nutzlos eben!

Doch als eines Morgens die Sonne durch den Spalt zwischen den improvisierten Handtuchvorhängen ins Zimmer fiel, Mann und Baby neben mir friedlich schnaufend, begann mir etwas zu dämmern. »Was, wenn ich jetzt nicht hier wäre?«, dachte ich. »Was wäre dann eigentlich?« Mein Mann hätte immer noch sein Projekt und müsste Geld verdienen, und das Baby bräuchte auch immer noch Betreuung und Versorgung. Es gäbe zwei Optionen: Entweder er cancelte seinen Auftrag und hörte auf zu arbeiten, um sich um das Kind zu kümmern, oder wir müssten eine Betreuung organisieren, die wir bezahlten. Was würde so etwas wohl monatlich kosten? Für 10 Stunden am Tag, 5 Tage die Woche? Bei 12 Euro Mindestlohn wären das 2400 Euro plus Sozialabgaben. Oh, wow. Das war sogar mehr, als ich in meiner letzten Festanstellung verdient hatte.

Nach und nach wurde mir immer klarer, welch essenzielle Aufgabe ich in diesem Gefüge übernommen hatte. Hausfrau und Mutter zu sein war nicht nutzlos, es war im Gegenteil der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Unternehmung. Ich verstand plötzlich: Wer Kinder bekommt, muss sich um sie kümmern und dafür auf Lohnarbeit verzichten – die verfügbare Zeit ist schließlich begrenzt –, oder das Einkommen muss dafür aufgewendet werden, um jemanden zu bezahlen, der das Kümmern übernimmt. Aber dass sich jemand kümmert, ist nicht optional. Das Baby würde sonst sterben. Es würde nicht erwachsen werden und keine Steuererklärung machen und sich in den Ferien nicht um die Katze der Nachbarn kümmern und im Hochsommer den Baum vorm Haus nicht gießen und der Freiwilligen Feuerwehr keine zehn Euro in die Kaffeekasse stecken und uns Eltern, wenn wir alt waren, nicht besuchen, nicht für uns einkaufen und uns schon gar nicht drölfzig Mal erklären, dass im Jahr 2050 wirklich niemand mehr TikTok nutzt. Das Kind war auf jemanden angewiesen. Auf mindestens einen Elternteil oder eine fürsorgende Person. Ohne eine solche kann es keinen Nachwuchs geben und ohne Nachwuchs keine Lohnarbeit, keine Steuern, kein Ehrenamt, keinen Staat, ja: kein Leben.

Statt vorzeitig nach Berlin zurückzukehren, begann ich mit diesem Tag, zwischen Windeln wechseln und Krabbeln üben immer mehr Aspekte meiner verinnerlichten Ablehnung von Care-Arbeit zu erfassen. Ich dachte darüber nach, was das mit mir machte und was es wohl mit meiner Mutter und meiner Großmutter gemacht hatte und wie sich die Erfahrungen und Erwartungshaltungen von Generation zu Generation vererbt, aber auch verändert hatten. Es ist eine perfide Zwickmühle, in der man als Mutter plötzlich steckt. Man möchte eine »gute Mutter« sein, weil alle sagen, dass das dazu gehört, um als Frau anerkannt und wertgeschätzt zu werden, aber alles, was die vermeintlich »gute Mutter« tut, all ihre Aufgaben, werden zugleich gesellschaftlich herabgesetzt. Dass sie aber essenziell für den Fortbestand der Zivilisation sind, darüber hatte ich noch nie etwas gehört oder gelesen. Das war auch weder in meinem Politikwissenschafts- noch in meinem VWL-Studium vorgekommen – obwohl es da ziemlich viel um Zivilisation und Wirtschaft ging.

Ich war der festen Überzeugung gewesen, dass meine Abneigung gegenüber der Vorstellung, als Hausfrau und Mutter tätig zu sein, schlicht meinen persönlichen Präferenzen entspräche. Dass ich durch meine Eltern anders geprägt worden war, auch weil meine Mutter ein für Frauen untypisches Fach studiert und sich – meiner Vorstellung nach – eher wenig klischeehaft verhalten hatte. Doch meine Vorbehalte gegenüber der Arbeit einer Hausfrau, die ich damals in Bielefeld so unangenehm deutlich spürte, sind kein individuelles Phänomen. Sie wurden geprägt von einer gesamtgesellschaftlichen Haltung zur Care-Arbeit, die auch meine Eltern an mich weitergegeben haben – trotz aller Emanzipation. Noch nie hatte ich jemanden stolz über die eigene Arbeit als fürsorgende Person sprechen hören. Hartnäckig hält sich vielmehr die Vorstellung, der daheimbleibende Elternteil würde den ganzen Tag »nichts« machen, während der andere im Schweiße seines Angesichts die wortwörtliche »Kohle« ranschafft. Das eine gilt als »leichte Arbeit«, das andere als »schwer« oder »stressig«. Von außerhäuslicher Arbeit darf man erschöpft sein und Feierabend brauchen, aber das bisschen Haushalt macht sich von alleine?

Das war der Beginn meiner Auseinandersetzung mit Care-Arbeit und feministischer Elternschaft, die bis heute andauert und zu meinem Lebens- und Forschungsmittelpunkt geworden ist. Entgegen der individualistischen »Jeder ist seines Glückes Schmied«-Haltung wollte ich wissen, wo es hinführt, wenn wir begreifen, dass wir uns in einem Kosmos bewegen, der von zahlreichen Einschränkungen gekennzeichnet ist. Ein Kosmos, in dem viele unserer Annahmen über das So-Sein der Welt konstruiert sind. Zu welchen Schlüssen gelangen wir, wenn wir Equal Care, also die gleichwertige Aufteilung der Sorgearbeit, anstreben und als Allererstes der Aufforderung folgen, die systemrelevante und unersetzliche Care-Arbeit in den Fokus zu nehmen und ihre momentan vorherrschende Verteilung und Bewertung infrage zu stellen?1 Was, wenn wir diese Fragestellung auf Rollenbilder erweitern? Wessen Erwartungen versuchen wir hier eigentlich zu erfüllen? Wer profitiert – und wer leidet darunter?

Dieses Buch soll mein Wissen zu all diesen Fragen versammeln und dabei helfen, so früh und nachhaltig wie möglich die Weichen für ein gleichberechtigtes Elternsein zu stellen.

Einleitung

Wenn ein Kind in das Leben zuvor kinderloser Menschen tritt – sei es durch Geburt, Adoption, Pflege oder Leihelternschaft –, verändert sich einiges. Doch während werdende Eltern sich intensiv mit Babypflege, Windelfragen, unbedenklicher Wandfarbe und moderner Erziehung befassen, sind sie in den allermeisten Fällen nicht darauf vorbereitet, was der plötzliche Anstieg an zu erledigender Care-Arbeit mit ihnen als Paar macht und welche Herausforderungen ihnen dabei heute begegnen.2

Das Elternsein ist der Philosophin L.A. Paul zufolge eine »transformative Erfahrung«.3 Das bedeutet, man muss es erlebt haben, um es zu verstehen. Es verändert die Lebenswelt einer Person so radikal, dass empathisches Einfühlen und der Verstand nicht ausreichen, um es begreiflich zu machen. Deswegen ist (noch) kinderlosen oder kinderfreien Menschen auch so schwer zu vermitteln, was es heißt, einige Jahre lang nicht durchzuschlafen, und wie angespannt die Nerven manchmal sein und wie sehr Kinder ihre Eltern mit Problemen aus der eigenen Kindheit konfrontieren können, von deren Existenz sie zuvor gar nicht wussten.

Auch sonst haben Eltern plötzlich sehr viel weniger unter Kontrolle als vorher. Kitakinder haben zwischen November und März eine Erkältung nach der anderen und Magen-Darm-Infekte und Scharlach machen keinen Halt vor Mama oder Papa. Kaum sind die Kleinen dann wieder gesund, reißt aufgrund von Erkrankungen der Erzieher*innen die viel zu dünne Personaldecke der Kitas und die Öffnungszeiten werden eingeschränkt. Und wer denkt schon im Voraus daran, dass diese Schließzeiten in manchen Fällen eine wochenlange Abwesenheit eines Elternteils vom Arbeitsplatz bedeuten und so Karrieren den Bach runtergehen können? Oder dass Arbeitgeber*innen genau solche Fehlzeiten prognostizieren und den aus der Elternzeit Zurückkehrenden keine wichtigen Projekte mehr geben. Oder dass der Erwartungsdruck im Job so groß werden kann, dass man freiwillig auf Karriereschritte oder Positionen verzichtet, weil sonst die Care-Arbeit zu Hause nicht mehr zu schaffen wäre. Oder dass einem der geistige Freiraum fehlt, weil die Belastung durch die Familienorganisation alle vorhandenen Kapazitäten belegt. Es wird auch wenig daran gedacht, dass rund vierzig Prozent der Ehen in Deutschland wieder geschieden werden.

 

Zweifelsohne: Kinder beim Aufwachsen zu begleiten macht unheimlich viel Freude und erweitert den eigenen Horizont in einzigartiger Weise. Auch das ist Teil der transformativen Erfahrung, die vorher unmöglich zu erklären ist. Hier eine Balance zu finden zwischen berechtigter Vorfreude und berechtigter Skepsis ist eine schwierige Übung in Ambiguitätstoleranz.

Kinder zu haben ist wunderschön und Kinder zu haben ist mit zahlreichen Herausforderungen verbunden. Dabei ist verständlich, dass man über Letzteres weniger gerne nachdenken möchte und dass in einer Situation, aus der es kein gesellschaftlich akzeptables Zurück mehr gibt, der Fokus eher auf die positiven Aspekte gerichtet und die Wahrnehmung optimistisch verzerrt wird.

Wer den Filter rausnimmt und äußert, dass er oder sie schon Respekt hat vor den Herausforderungen, wird schnell verdächtigt, sich nicht ausreichend zu freuen. Der soziale Druck, Elternschaft unvoreingenommen zu begrüßen, ist groß. Dabei sollten wir alle stärker differenzieren. Es ist möglich, sich unvoreingenommen auf ein Kind zu freuen und Elternschaft dennoch mit einem gewissen Argwohn zu betrachten. Das Gefühl im Hinblick auf das Kind muss nicht das Gleiche sein wie im Hinblick auf die Situation von Eltern und Familien in unserer Gesellschaft. Zu erwarten, dass sich beide Gefühle niemals überlagern dürfen, ist Teil des Problems.

Denn die Care-Arbeit, die mit dem Kinderhaben notwendigerweise einhergeht, fordert einen Tribut, und es ist niemandem geholfen, dies zu verschweigen oder zu beschönigen. Im Gegenteil: Sich der strukturellen Nachteile und Kosten bei der Übernahme von Care-Verantwortung bewusst zu werden ist der erste Schritt, um innerhalb einer Beziehung auf Augenhöhe gleichberechtigte Elternschaft – Equal Care – zu verhandeln. Dabei zu erfahren, wo die Grenzen des eigenen Wirkungsbereichs sind und wo äußere Bedingungen dazu führen, dass jede noch so große Anstrengung im Sande verlaufen wird, entlastet unsere Beziehungen.

Denn wir haben uns das alles eben nicht selbst ausgesucht.

Freiheit, Autonomie und Eigenverantwortung sind als politische Schlagworte Nebelkerzen, die verschleiern, dass wir uns in einer Realität bewegen, in der soziale Praktiken so verfestigt sind, dass diese sich als Strukturen etabliert haben. Obwohl unsere Wirklichkeit, unser Blick auf die Welt und unser gesellschaftliches Zusammenleben das Ergebnis menschlichen Handelns sind, liegen die geschaffenen Strukturen nicht mehr in unserem unmittelbaren Einflussbereich.

Gleichzeitig müssen wir Normen und Werte als konstruiert und damit wandelbar begreifen, um daran glauben zu können, dass wir unsere Realität verändern können. Diese Annahme ganz oder zumindest weitgehend zu teilen, ist die Voraussetzung dafür, aus dem vorliegenden Buch etwas mitnehmen zu können. Gleichzeitig wäre es ein Fehler, diese Übereinkunft so zu verstehen, als könne jede und jeder sich die Welt machen, was ihr oder ihm gefällt. Dass wir jederzeit und in jeder Hinsicht freie Entscheidungen treffen, die unseren persönlichen Präferenzen entsprechen, ist ein Mythos.

Denn wie frei sind Entscheidungen in einer Welt, in der beispielsweise kinderfreie Frauen4 als Sonderlinge wahrgenommen werden und einen gesellschaftlichen Abstieg erleben? Wie frei ist die Entscheidung eines Mannes, der für die Übernahme von Care-Arbeit von Freund*innen und Kolleg*innen beschämt wird, und deshalb nach der Geburt des Kindes doch lieber keine Elternzeit nimmt? Mütter werden überproportional häufig als Verantwortliche für Haushalt und Ordnung wahrgenommen. Ist es also eine freie Entscheidung, wenn sie unbedingt noch putzen müssen, bevor der Besuch kommt? Mit kleinen Jungen wird weniger über Gefühle geredet und sie kennen weniger Worte für Emotionen als Mädchen. Sind sie also selber schuld, wenn sie später in der Partnerschaft emotional nicht erreichbar sind?

Besonders wenn wir unter Druck stehen und schnell reagieren müssen, greift das Gehirn auf Verhaltensweisen zurück, die unmittelbar verfügbar sind. Anstelle reflektierter, bewusster Entscheidungen bestimmt der am stärksten ausgeprägte Trampelpfad im neuronalen Netzwerk, welcher Weg eingeschlagen wird. Zwischen Schlafmangel und Windeleimer bleibt keine Zeit für große Überlegungen: »Was hat meine Mutter damals gemacht? Sie war Tag und Nacht für das Kind da und ist später in Teilzeit gegangen, um alles zu schaffen. Ja, das war in allen Kinderbüchern genauso, alle Mütter machen das, auch die in der Werbung, jetzt bin ich Mutter, jetzt mach ich das auch, so macht man das, wenn man Mutter ist!« Oder: »Was hat mein Vater damals gemacht? Er hat sich auf die Beförderung beworben und noch mehr gearbeitet, um seinen Teil beizutragen. Ja, das war in allen Kinderbüchern genauso, alle Väter machen das, auch die in der Werbung, jetzt bin ich Vater, jetzt mach ich das auch, so macht man das, wenn man Vater ist!«

Diese Bilder sitzen in den meisten Köpfen fest. Selbst wenn das Elternhaus nicht vollständig dem Klischee entsprach, hinterlassen Großeltern, Nachbar*innen oder Freund*innen, Schulen, Kinderbücher und Werbestrategien immense Spuren. Wer gegen den Strom schwimmt, muss Durchhaltevermögen mitbringen – nicht zuletzt auch aufgrund eines Systems, das mit dem Ehegattensplitting ungleich verteiltes Einkommen honoriert, das eine »Mütterrente« kennt, aber keine »Väterrente«, und das die 40-Stunden-Woche als Normalarbeitszeit ansetzt. Ein System, in dem die rentenrelevante Kindererziehungszeit lediglich drei Jahre beträgt und das seit Jahren im professionellen Care-Bereich wie Pflege und Pädagogik kürzt und spart und spart und kürzt. Es braucht eine bewusste Investition von Zeit und Kapazitäten, um dagegen anzugehen.

Die Interpretation struktureller Zwänge und Differenzen zwischen den Geschlechtern als natürlich und damit unveränderlich oder aber als das Ergebnis individueller Präferenzen ist da einfacher. Genau diese widersprüchlichen Interpretationen sind es, die sich niederschlagen in einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das eine Hierarchie zwischen Lohnarbeit und Care-Arbeit und zwischen Männern und Frauen beinhaltet. Dieses System wird auch »Patriarchat« genannt, was sich aus dem Griechischen ableitet und »Herrschaft der Väter« bedeutet.

Wir alle sind das Patriarchat, weil wir darin sozialisiert wurden, und zugleich ist es außerhalb von uns, weil es tatsächlich nicht in unseren Genen liegt. Soziale Praktiken sind so etabliert, dass sie den Eindruck unveränderlicher Gesetzmäßigkeiten vermitteln, obwohl in Wirklichkeit jede Generation neu lernt, was es bedeutet, ein Mann oder eine Frau, ein Vater oder eine Mutter zu sein.5 Daher der feministische Slogan »Unlearn patriarchy« statt »Smash the patriarchy«:6 Wir müssen alte Praktiken verlernen und neue einüben, um die Gesellschaft zu verändern. Die gute Nachricht ist: Das ist möglich. Indem wir uns in der Wahrnehmung internalisierter Bilder üben und immer wieder an die soziale Konstruktion und damit die Veränderlichkeit der Bilder erinnern, kann es gelingen, sich davon zu befreien. Die schlechte Nachricht ist: Die inneren und äußeren Herausforderungen und Hürden dabei sind größer, als die meisten von uns erwarten würden.

 

Eine solche Hürde ist, dass die unbezahlte Übernahme von Fürsorgeverantwortung Zeit in Anspruch nimmt, die in der Folge für andere Tätigkeiten nicht mehr zur Verfügung steht. Im Durchschnitt verbringen Frauen 4 Stunden und 13 Minuten am Tag mit unbezahlter Arbeit.7 Männer arbeiten mit 2 Stunden und 46 Minuten etwa halb so viel unbezahlt. Der Gender Care Gap, der diesen Unterschied benennt, beträgt damit 52,4 Prozent.8 Das ist allerdings der Durchschnittswert für die Gesamtbevölkerung. Paare mit Kindern haben einen Care Gap von 83,8 Prozent, wobei die Lücke bei Menschen im Alter von 34 Jahren mit 110,6 Prozent am größten ist. Während Mütter in diesem Alterssegment täglich 5 Stunden und 18 Minuten Care-Arbeit leisten, reduzieren Väter mit kleinen Kindern im Vergleich zum Durchschnitt ihren häuslichen Einsatz auf 2 Stunden und 31 Minuten – und erhöhen lieber die Stunden im Job.9

Die Folgen dieser »Arbeitsteilung« sind vielfältig. Die wohl prägnanteste Zahl in diesem Zusammenhang ist die Höhe des Lebenserwerbseinkommens. Mütter verdienen im Laufe ihres Lebens durchschnittlich 62 Prozent weniger als ein westdeutscher Durchschnittsmann.10 Dabei treiben die Väter das Durchschnittseinkommen ihrer Geschlechtsgruppe noch nach oben, denn während Frauen eine motherhood penalty erfahren, bekommen Väter einen fatherhood premium: Sie erhalten nach der Familiengründung fünf bis zehn Prozent mehr Gehalt als kinderlose Männer.11 Diese riesige Kluft beim Lebenserwerbseinkommen speist sich zum größten Teil aus den Faktoren Berufswahl und Teilzeit.1248 Prozent der Frauen in Deutschland sind in Teilzeit tätig.13 Dazu kommt, dass es eine Stundenlohnlücke, also einen Pay Gap zwischen Vollzeit- und Teilzeitstellen gibt und Karrieren oder Führungspositionen in Teilzeit kaum erreichbar sind.14 Das Risiko, von Altersarmut betroffen zu sein, ist entsprechend für Frauen viermal höher als für Männer, und Deutschland hat mit 46 Prozent Europas größten Gender Pension Gap.15

Kein Wunder, dass Frauen wütend sind. Dazu fühlen sich viele Mütter überlastet und wünschen sich mehr Engagement von ihren Partnern16, die der Situation oft hilflos gegenüberstehen. Hin- und hergerissen zwischen Job und Familie verstärkt sich auch bei Vätern der Eindruck, es niemandem recht machen zu können. Sie sind wütend darüber, dass die kleine Familie ihnen nicht das bietet, was versprochen wurde, dass Arbeitgeber*innen ihrer Elternzeit kritisch gegenüberstehen, dass Kolleg*innen sich über sie lustig machen, wenn sie sich um ihre Kinder kümmern und Gefühle zeigen, dass der Druck, eine Familie zu ernähren, zu groß ist. Auch für Männer gibt es also viele Gründe, neue Wege zur Rettung des Familienlebens zu suchen.

Dennoch ist die Dringlichkeit, sich als Mann mit diesem Thema auseinanderzusetzen, weniger existenziell. Aus diesem Grund wird dieses Buch wohl vor allem von Frauen gelesen, obwohl es sich an Frauen und Männer richtet und Männer von der Lektüre besonders profitieren könnten. Ein anderer Grund dafür ist, dass die Lektüre eines solchen Buches in den weiblich konnotierten Aufgabenbereich der emotionalen Arbeit fällt. Es sind meistens die Frauen, die sich aufmachen, um das Familienleben zu retten, die Ratgeber kaufen und Paartherapie buchen. Sie sind es, die wissen, welche Bedeutung die Beziehungen in ihrem Leben haben, und die unter dem moralischen Dilemma leiden, wenn Care-Arbeit vernachlässigt wird. Diese Schieflage zieht sich auf mehreren Ebenen als roter Faden durch die nachfolgenden Kapitel.

»Für Sorge« tritt jedoch nicht an, Männer und Väter bloßzustellen oder sie zu beschuldigen. Es soll vielmehr helfen zu verstehen, wie die binäre Sozialisation von cis Personen dazu beiträgt, Care-Arbeit zu einem so schwierigen Thema in der Beziehung zu machen und welch komplexe Herausforderung Equal Care in einer Welt ist, in der Ungleichberechtigung systemrelevant ist. Das Buch zeigt neue Möglichkeiten auf, wie die Anerkennung und Wertschätzung von Care-Arbeit innerhalb von Familien sowie als zentrale Säule unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens gestärkt werden kann. Es erhöht das Bewusstsein für und die Sichtbarkeit von Care-Arbeit und befreit von dem Druck, als Paar mit Kind(ern) unter Bedingungen, die nicht selbst gewählt und nicht beeinflussbar sind, perfekte Lebensläufe zu generieren, und es macht Vorschläge, wie das Teilen der Arbeit gestalten werden kann.

 

Im ersten Teil »Die dysregulierte Gesellschaft« zeige ich auf, wie unser gesellschaftliches und wirtschaftliches System einem gleichberechtigten Familienleben Steine in den Weg legt, und wie Equal Care als Paradigmenwechsel den Weg aus der gesamtgesellschaftlichen Care-Krise weist. Im zweiten Teil »Work-Work-Life-Balance« geht es um Equal Care als Beziehungsmodell und somit um Veränderungen am eigenen, patriarchal geprägten Mindset sowie um konkrete Lösungen für eine faire Aufteilung der Familienaufgaben und der finanziellen Lasten in der eigenen Familie.

Denn obwohl die strukturellen Bedingungen, die Equal Care entgegenstehen, nicht unmittelbar veränderlich sind, können Eltern doch beginnen, ihr Leben mit Kind(ern) so zu gestalten, dass die Nachteile, die durch die wachsende Care-Arbeit entstehen, fair aufgeteilt und ausgeglichen sind. Equal Care rettet Familienleben, indem das Paar oder die Familie durch einen Zugewinn an Wissen und einen grundlegenden Perspektivwechsel zu einer neuen Bewertung von Care-Arbeit gelangt und die Vorstellung davon erweitert, was ein glückliches Familienleben ausmacht und in welchen Konstellationen das möglich ist.

So einfach ist das – theoretisch. Praktisch wird bei der nachfolgenden Lektüre schnell deutlich, wie tief die Geringschätzung von Care-Arbeit in unserem Alltag verankert ist und wie Sprache, Humor, Popkultur, Wirtschaft und Gesetze diese Verankerung stärken. Ein Paradigmenwechsel ist schwer, und das ist auch beabsichtigt. Doch wer einmal verstanden und gefühlt hat, dass Care-Arbeit die Basis allen menschlichen Zusammenlebens ist, verlernt diese Erkenntnis nicht mehr.

Das bedeutet im Übrigen nicht, dass das Zusammenleben als verheiratetes, heterosexuelles Paar mit leiblichem Kind stattfinden muss. Equal Care adressiert mit der Wertschätzung und fairen Verteilung von direkter, indirekter und kognitiver Care-Arbeit eines der wichtigsten Streitthemen in allen Beziehungen, unabhängig von Gender, Partnerschaftsstatus oder Verwandtschaftsgrad. Equal Care ist eine Haltung, die jeder Form von Familienleben zugutekommt. Sie löst allerdings nicht jedes zwischenmenschliche Problem und wird längst nicht jede Partnerschaft vor der Auflösung retten.

Dieses Buch gibt das Wissen und die Instrumente an die Hand, um in der Rush-Hour des Lebens unter nicht selbstgewählten Bedingungen möglichst gleichberechtigt Familie leben zu können – gegebenenfalls auch nach einer Trennung. Im besten Falle sorgt das theoretische und praktische Wissen über Equal Care dafür, dass vielleicht schon bevor ein Kind in der Familienkonstellation ankommt, eigene Prioritäten gesetzt und auf Augenhöhe Zeit, Geld und Aufgaben verhandelt werden.

Teil 1 Die dysregulierte Gesellschaft

Wir befinden uns in einer Situation, in der die zu Produktionszwecken erforderliche reproduktive Arbeit nicht mehr in ausreichender Weise von Frauen geleistet werden kann. Wir erkennen diesen dysregulierten gesellschaftlichen Zustand unter anderem an der Erschöpfung der Frauen, einem Anstieg psychischer Erkrankungen und einem Rückzug der Menschen aus den Care-Berufen.

Es ist mein Anliegen zu erklären, dass es notwendig ist, mit Equal Care »die Kluft zwischen den privaten Kosten und dem gesellschaftlichen Nutzen der Care-Arbeit zu überbrücken«, wie Nancy Folbre es formuliert.17 Gelingt das nicht, besteht die Gefahr, dass wir uns in Sachen Gleichstellung rückwärts bewegen. Dazu lege ich im Folgenden dar, welche Rolle Care-Arbeit und besonders emotionale Arbeit bei der Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse spielt und dass der Verzicht auf Fürsorge als gemeinschaftliche Aufgabe Frauen in das moralische Dilemma stürzt, diese für alle leisten zu müssen.

Die Aufladung des moralischen Dilemmas mithilfe verschiedener Mechanismen des psychologischen Patriarchats sorgt dabei für die beständige Reproduktion von Ungleichheit. Das ist der Grund, warum wir in Sachen Gleichstellung nicht weiterkommen und ein Buch brauchen, das uns erklärt, wie Equal Care Familienleben retten kann. Das Verständnis des Status Quos ist das Sprungbrett für Veränderungen.

Kapitel 1Entwertete Arbeit

Die Erkenntnis, dass Hausfrausein Machtlosigkeit bedeutet

»Care-Arbeit« und »Mental Load«

Die Abwertung der Care-Arbeit ist bis heute ein konstantes Phänomen in der menschlichen Geschichte. Auch ich hatte noch bis vor wenigen Jahren perfekt verinnerlicht, dass »Hausfrau und Mutter« das Allerletzte war, was jemand auf der ganzen großen Welt sein wollte. Andererseits wurde mein Gefühl der Wertlosigkeit dieser Arbeit nur bedingt durch das gestützt, was ich als »Hausfrau und Mutter« den ganzen Tag tat. Immerhin war für das Wohlergehen eines Menschen verantwortlich, der auf mich angewiesen war. Wieso also diese übertriebene Abneigung gegen Care-Arbeit?

Care-Arbeit oder »Sorgearbeit« ist dabei zunächst ein Sammelbegriff für alle Sorgetätigkeiten. Sorgearbeit gibt es im privaten und im beruflichen Umfeld und sie kann sowohl bezahlt als auch unbezahlt erfolgen.18 In diesem Buch geht es in weiten Teilen (aber nicht nur) um die unbezahlte Care-Arbeit, die im Privaten stattfindet. Care-Arbeit sind dann »alle unbezahlten Tätigkeiten, die für einen Haushalt und seine Mitglieder zur Verfügung gestellt werden und essenziell für die Gesundheit, das Wohlbefinden, die Pflege und den Schutz für jemanden oder etwas sind«.19 Also: Putzen, Kochen, Wickeln, Zuhören, Einkaufen, und so weiter. Sie stehen der bezahlten Arbeit gegenüber, also der Lohn- oder Erwerbsarbeit. Care-Arbeit ist deswegen Arbeit, weil sie mit einer physischen und/oder kognitiven Anstrengung einhergeht und zeitliche Ressourcen bindet. Als Arbeit gilt sie auch deswegen, weil sie ausgelagert werden könnte. Das heißt, dass jemand anderes die Tätigkeiten gegen Bezahlung übernehmen könnte, zum Beispiel als Putzhilfe oder Babysitter.

Analytisch wird zwischen »direkter« und »unterstützender« Sorgearbeit unterschieden.20 Die direkte Form ist das unmittelbare Kümmern um Menschen: Füttern, Wickeln, Spielen, jemanden Fahren oder Begleiten und so weiter. Die unterstützende Form umfasst die Tätigkeiten, die um die Personen herum erledigt werden müssen. Dazu zählen etwa das Einkaufen und Kochen, das Putzen, die Erledigung von Papierkram und Telefonate.

Ein anderes Wort für Care-Arbeit ist »Reproduktionsarbeit«. Dem gegenüber steht der Begriff »Produktionsarbeit«. Produktionsarbeit bezieht sich auf die Herstellung von Gütern oder die Erbringung von Dienstleistungen, die auf dem Markt verkauft werden können. Es handelt sich um Arbeit, die darauf abzielt, den Gewinn des Unternehmens zu erhöhen. Produktionsarbeit wird in der Regel entlohnt und von Arbeitnehmenden im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses geleistet. Reproduktionsarbeit hingegen ist Arbeit, die der Aufrechterhaltung des täglichen Lebens und des Funktionierens der Gesellschaft dient. Dazu gehört die Care-Arbeit, also Hausarbeit, Kinderbetreuung oder Pflege von Familienangehörigen.

Mental Load und kognitive Sorgearbeit

Neben der direkten und der unterstützenden Care-Arbeit gibt es eine dritte Form der unbezahlten Care-Arbeit. Das ist die kognitive Sorgearbeit, am besten bekannt unter dem Stichwort »Mental Load«.

»Mental Load« meint die Belastung durch die Gesamtheit der mentalen Anforderungen, die mit der Organisation und Koordination des Familienalltags verbunden sind. Welche Kleidergröße trägt das Kind als nächstes, was ist noch vom größeren Kind übrig und was muss für die kommende Saison noch besorgt werden? Was kochen wir diese Woche und was muss auf den Einkaufszettel? Wann ist die nächste U-Untersuchung und wer nimmt sich dafür frei? Wer gibt die Geschenkewünsche der Kinder an Freund*innen und Familie weiter? Wo sind die Kinderwünsche notiert? Wer denkt an die Wechselsachen in der Kita und dass man mittwochs immer früher da sein muss? Wie gehen wir am besten mit den Wutausbrüchen des Kleinkinds um? Ist es normal, dass ein Kind keine Kleidung tragen will, oder sollten wir ärztlichen Rat suchen?

In dem Kontext dieses Buches werden die Begriffe Mental Load und kognitive Sorgearbeit nicht synonym verwendet, da der Terminus Mental Load im Allgemeinverständnis mit einer Überlastung verknüpft und entsprechend normativ geladen ist. Kognitive Sorgearbeit dient als neutrale Bezeichnung für Care-Arbeit, die im Kopf stattfindet und das Denken betrifft. Die Unterscheidung beugt darüber hinaus dem Missverständnis vor, dass jede mentale Aufgabe gleich eine Belastung ist. Außerdem wird klar: Wer unter Mental Load leidet, muss kognitive Sorgearbeit reduzieren, was bedeutet, dass diese Arbeit aktiv von jemand anderem übernommen werden muss. Der tätigkeitszentrierte Begriff beugt der Verkennung von geistiger Arbeit als etwas Passivem und weniger Anstrengendem vor. Diese Sicht spiegelt sich häufig in Kommentaren zur Mental Load, die diese nicht als Belastung anerkennen: »Soll sie doch mal acht Stunden bei jedem Wetter auf einer Baustelle schuften, dann wird sie sich ihre lächerliche Mental Load noch zurückwünschen!«

Bei genauerer Betrachtung wird schnell deutlich, dass kognitive Sorgearbeit keineswegs »lächerlich« ist, sondern ein umfangreiches Skillset erfordert. So zum Beispiel beim Familienmanagement und als Wissensspeicher.

Das Familienmanagement betrifft die Koordination und das Monitoring aller Abläufe im Familienalltag. Dazu gehört die Abstimmung von Terminen, die Optimierung von Abläufen, die Planung von Mahlzeiten, das Monitoring der Vorräte, die Verabredungen mit Freund*innen oder die Delegation von Aufgaben. Eine besondere kognitive Beanspruchung entsteht darüber hinaus durch die ununterbrochene Verfügbarkeit der Personen mit Fürsorgeverantwortung. Es gibt weder Urlaub, Wochenende oder Feierabend von der Sorgearbeit und das ist eine permanente Grundanstrengung, obwohl die tatsächliche intellektuelle Beanspruchung nicht zu allen Zeitpunkten hoch ist. Die permanente Erreichbarkeit kann zu Schlafstörungen führen und zur Unfähigkeit, sich zu entspannen, wie unter anderem zahlreiche Untersuchungen zu Bereitschaftsdienst belegen.21

Orts-, Sach- und Fachkenntnis

Teil von Care-Arbeit ist auch das Wissen um diverse Orts- und Verortungskenntnisse sowie interdisziplinäre Sach- und Fachkenntnisse.

Orts- und Verortungskenntnis bedeutet, sowohl die kleinen Verstecke als auch die regulären Aufbewahrungsorte im eigenen Zuhause zu kennen und, auch im Vorbeigehen, die Position wichtiger Gegenstände wahrzunehmen, die wahrscheinlich später jemand suchen wird. Beispiele: Wo sind die Schuhe in der nächsten Größe gelagert, wo kommen die Schuhe hin, die dem anderen Kind noch zu groß sind, aber vielleicht nächsten Sommer passen könnten? Wo befindet sich das Geschenk, das für den Kindergeburtstag besorgt wurde? Wo könnte sich das gesuchte Lieblingskuscheltier verstecken? Wo ist die Butter? Wo ist der Kellerschlüssel? Wo ist das grüne T-Shirt?

Die Sach- und Fachkenntnis bezieht sich auf Themen wie kindliche Entwicklung, Kindererziehung, Gesundheit, Technologie, Finanzen oder Recht. Beispiele: Was braucht ein Kind, wenn es abgestillt wird? Wie wäscht man Wollkleidung? Wie lange müssen Nudeln kochen? Kann man mit Nudeln den Nährstoffbedarf eines dreijährigen Kindes decken? Wann sind die verpflichtenden ärztlichen Untersuchungstermine? Wie sterilisiert man einen Schnuller? Wie lange vor der Bearbeitung muss man einen Keksteig herstellen, damit er sich gut ausrollen lässt? Wie gehen Grasflecken wieder raus? Was können wir tun, wenn wir keinen Kitaplatz finden? Wie lange reicht das Elterngeld? Wie kriegen wir den Kinderkanal werbefrei?

 

Die Mental Load ist groß. Die, die diese Last tragen, haben ihren Druck auch schon immer gespürt, aber erst, seit der Begriff Mental Load von der französischen Illustratorin Emma in ihrem Comic »Fallait demander« (auf Deutsch unter »Ein anderer Blick« erschienen) geprägt und dank der Bloggerin und Autorin Patricia Cammarata22 auch hierzulande populär geworden ist, gibt es die Bestätigung des diffusen Gefühls, dass Familienmanagement doch einiges mehr als »das bisschen Haushalt« ist. Mit »Mental Load« ging ein kollektiver Seufzer der Erleichterung durch die Reihen der Care-Arbeitenden. Die Hoffnung: endlich besser vermitteln zu können, was Care-Arbeit so anstrengend macht, und in der Folge mehr Anerkennung für diese Arbeit zu erhalten.

Während die direkte und die unterstützende Sorgearbeit in der Zeitverwendungserhebung erfasst und zur Berechnung des Gender Care Gaps verwendet werden, steckt die Operationalisierung kognitiver Sorgearbeit noch in den Kinderschuhen.23 Die Versuchung, an dieser Stelle stehen zu bleiben und sich ab sofort auf die Messung kognitiver Sorgearbeit zu konzentrieren, ist dabei stark. Wie verlockend, sich vorzustellen, dass mit einer belegbaren Zahl sämtliche Gedankengänge sichtbar und alles anders wird!

Das zu tun wäre allerdings ein Fehler, denn die beste Liste hilft nicht, wenn sie eine weitere Schlüsseldimension der Ungleichberechtigung nicht erfasst. Das Puzzleteil, das uns in den Diskussionen über Equal Care und gleichberechtigte Partnerschaften noch fehlt, ist gut versteckt. Selbst die, die sie jeden Tag leisten, wissen nur selten um ihre Existenz: emotionale Arbeit. Emotionale Arbeit umfasst die Mühe und das Wissen, die notwendig sind, damit wir Emotionen ausdrücken, regulieren oder verbergen können, um eine bestimmte soziale Rolle oder Erwartung zu erfüllen, und um Beziehungen aufbauen und erhalten zu können.

Emotionale Arbeit und kognitive Empathie

Der Begriff der emotionalen Arbeit, beziehungsweise »emotional labor« im Englischen, wurde von der Soziologin Arlie Hochschild in ihrem Buch »The Managed Heart: Commercialization of Human Feeling« aus dem Jahr 1983 geprägt. Hochschild beschreibt darin die emotionalen Anforderungen, die mit bestimmten Arbeitsplätzen einhergehen und die Fähigkeit erfordern, Gefühle auszudrücken oder zu unterdrücken, um den Anforderungen der Arbeit gerecht zu werden. So müssen etwa Stewardessen besonders freundlich und zuvorkommend sein, egal, wie unangenehm ihr Gegenüber wird. Ebenso gehen im privaten Bereich verschiedene soziale Settings mit unterschiedlichen Erwartungen an Emotionen einher. Bei einer Party wird erwartet, dass die Gäste in fröhlicher Stimmung erscheinen, und bei einer Beerdigung, dass die Anwesenden traurig sind. Wer nicht in der passenden Stimmung ist, muss wenigstens so tun als ob.24

 

Emotionale Arbeit ist dann besonders offensichtlich, wenn jemand den Gefühlen einer oder mehrerer anderer Personen stets Priorität gibt. »People Pleaser« werden solche Menschen auch genannt.25 Häufig leiden diese Menschen darunter, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse zu oft zurückstellen. Allerdings muss man kein People Pleaser sein, um unter stark zurückgestellten Bedürfnissen zu leiden, man kann auch Eltern werden. Da kleine Kinder noch nicht in der Lage sind, ihre Bedürfnisse aufzuschieben, bleibt Eltern oft nichts anderes übrig, als sich zurückzunehmen. Wahrgenommen wird diese emotionale Arbeit jedoch kaum.

Emotionale Arbeit findet ebenfalls weitgehend unsichtbar statt, wenn Präferenzen und Verhaltensweisen der Mitmenschen antizipiert werden, um Erlebnisse zu schaffen, die dazu beitragen, »friedliche Bindungen zwischen Menschen zu erhalten«.26 Rituale zu besonderen Feiertagen zu pflegen, jemandem für etwas zu danken und ein Geschenk zu machen, freundliche Worte zu finden und zuzuhören – solche Dinge gehören wie selbstverständlich zu Beziehungen und einem Familienleben dazu, und auch am Arbeitsplatz kennen wir die Bedeutung solcher vermeintlich kleiner Gesten.

Die Kompetenz, solche Gesten und Handlungen passend zu wählen, heißt »kognitive Empathie«.27 Der Begriff beschreibt die Fähigkeit, die Gedanken, Perspektiven und emotionalen Zustände anderer Menschen zu erkennen und zu verstehen sowie sich in die Lage einer anderen Person zu versetzen. Dabei gelingt es einem kognitiv empathischen Menschen, Gedanken und Gefühle aus der anderen Perspektive zu betrachten, ohne jedoch dieselben Emotionen zu erleben. Die Fähigkeit, sich die Gedanken- und Gefühlswelt einer anderen Person vorstellen zu können, ermöglicht es, die Reaktionen anderer zu antizipieren, ihre Handlungen besser zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren.

Menschenkenntnis

Die Familienmitglieder sowie die Menschen im engeren sozialen Umfeld und ihre jeweiligen Eigenheiten, Präferenzen und Entwicklungsstände zu kennen und mithilfe kognitiver Empathie Bedürfnisse zu antizipieren ist ein wesentlicher Teil der kognitiven Sorgearbeit und damit der Mental Load.

Im Alltag betrifft das zum Beispiel Fragen wie: Welche Essenspräferenzen hat ein Kind? Welche Bücher oder Geschichten mag es gern? Was bringt den Partner immer auf die Palme? Welches ist das Lieblingskuscheltier? Was könnten wir zum Geburtstag verschenken?

Aus solchen persönlichen Kenntnissen über Menschen leiten sich oft zahlreiche Aufgaben ab. Wer die Wünsche des Kindes kennt, ebenso wie die Präferenzen und die Hobbys, ist zum Beispiel am besten dazu geeignet, ein passendes Geschenk auszusuchen. Wer die Unverträglichkeiten kennt, übernimmt am besten das Kochen. Wer weiß, zu wem das Kind gerne geht und die Telefonnummer der Eltern hat, plant am besten die Verabredung. Wer jemanden gut trösten kann, übernimmt am besten das schwierige Gespräch über den abgesagten Termin, auf den sich schon lange gefreut wurde.

Weitere Beispiele für die Überschneidung von Wissen, Management und kognitiver Empathie gibt es beim Thema Essen. Welche Präferenzen haben die Familienmitglieder? Wie lange dauert es, das Essen zuzubereiten? Was passiert, wenn das Essen nicht gemocht wird? Wie schnell steht eine Alternative bereit, die allen schmeckt? Kann die Alternative schon vorher bereitstehen? Und im Nachklapp: Bekommen die Kinder eigentlich genug Nährstoffe und wie könnte es gelingen, dass das Kind auch mal was anderes isst als Nudeln?

Auch bei Sachkenntnissen gibt es Überschneidungsbereiche mit kognitiver Empathie und damit mit emotionaler Arbeit: Kreative und angemessene Antworten auf Kinderfragen zu geben oder zu recherchieren erfordert Einfühlungsvermögen und Sachwissen. Ebenso, wenn es darum geht, zu zeigen, wie Dinge funktionieren oder ihre Handhabung zu üben. Das Gleiche gilt für analytische Fähigkeiten, wenn beispielsweise ein Streit geschlichtet oder eine unpopuläre Entscheidung getroffen werden muss. Mithilfe von Antizipations- und Planungskompetenzen versucht der Elternteil unter Berücksichtigung der Eigenheiten und Präferenzen aller Beteiligten, einen reibungsfreien Tagesablauf hinzukriegen und dabei möglichst viele Konflikte zu vermeiden, um genug Energie für die unvermeidlichen Streitpunkte zu haben.

Co-Regulation

Darüber hinaus fällt auch das Trösten und Beruhigen eines Kindes in den Bereich der emotionalen Arbeit. Der Begriff »Co-Regulation« beschreibt, wie zwei oder mehrere Personen miteinander interagieren, um emotionale, soziale oder Verhaltensregulation zu erreichen.28 Im Kontext von Erziehung geht es meist darum, dem Kind bei starken Emotionen Unterstützung, Anleitung und Sicherheit zu geben, um ihm so zu helfen, sich zu regulieren und ein angemessenes Verhalten zu entwickeln. Das Ziel ist, dem Kind Bewältigungsstrategien zu vermitteln, sodass es später unabhängig von den Eltern in der Lage ist, einen guten Umgang mit den eigenen Gefühlen zu pflegen. Co-Regulation hilft nämlich beim Erlernen der sogenannten intrapersonellen Emotionsregulation oder Selbstregulation.29 Die intrapersonelle, also die innere Emotionsregulation, umfasst Aspekte wie die Fähigkeit, eigene Emotionen bewusst wahrzunehmen und zu erkennen, ihre Bedeutung und Intensität zu verstehen und zu bewerten und Strategien anzuwenden, um Emotionen zu beeinflussen oder zu verändern. Es gehört auch dazu, Emotionen angemessen und sozial akzeptabel auszudrücken und zu kommunizieren.

Doch nicht nur Kinder benötigen Co-Regulation. Bei Erwachsenen kann sie beispielsweise im Arbeitsumfeld oder in therapeutischen Settings auftreten. Hier bezieht sich Co-Regulation darauf, wie Menschen miteinander interagieren, um emotionale und soziale Herausforderungen zu bewältigen, Stress zu reduzieren und effektive Arbeits- oder Therapieergebnisse zu erzielen. Es geht um das Anpassen und Abstimmen von Verhalten, Kommunikation und Ressourcen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Solche Gespräche oder Interaktionen sind ebenfalls emotionale Arbeit, die teilweise im Bereich der »interpersonellen« Emotionsregulation zu verorten ist. »Inter« bedeutet »zwischen« und »interpersonell« entsprechend »zwischen Personen« oder »zwischenmenschlich«. Die Abgrenzung zwischen Co-Regulation und interpersoneller Regulation ist nicht ganz trennscharf. Co-Regulation konzentriert sich eher darauf, einer anderen Person zu helfen, ihre eigenen Emotionen zu regulieren, während interpersonelle Emotionsregulierung die Regulation der eigenen Emotionen durch oder mithilfe anderer Personen enthält. Wenn ein Elternteil seinem Kind hilft, sich zu beruhigen, nachdem es durch ein lautes Geräusch erschreckt wurde, ist das Co-Regulation. Interpersonelle Regulation ist es, wenn meine Freundin mit Liebeskummer zu mir kommt, weil sie sich von mir Trost wünscht.

Aber es ist an dieser Stelle nicht entscheidend, die Unterschiede genau zu benennen. Wichtig ist, dass vor allem Kinder, aber auch Erwachsene nur bedingt in der Lage sind, ihre Gefühle selbst zu regulieren, sondern bei der Regulation massiv von stabilen Beziehungen zu anderen Menschen profitieren, die sie dabei unterstützen. Zwar wächst im besten Falle dank positiver Co-Regulation während der Kindheit und Jugend die Fähigkeit, mit den eigenen Gefühlen umgehen zu können, aber auch als Erwachsene brauchen wir andere Erwachsene, um mit ihrer Hilfe Gefühle zu verarbeiten. Beziehungen tragen dazu bei, Stress abzubauen und das Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit zu fördern, was sich positiv auf die psychische Gesundheit auswirkt. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass interpersonelle Strategien zur Emotionsregulation oft besser funktionieren als intrapersonelle.30 Das ist besonders dann der Fall, wenn das Gegenüber sehr gut in der Lage ist, die Perspektive der anderen Person einzunehmen.31 Mitgefühl kann effektiv helfen, das Leid der anderen Person zu lindern.32

Darüber hinaus schaffen solche Interaktionen Nähe, die für den Zusammenhalt der sozialen Gruppe – sei es nun eine Familie oder ein Team an einem Arbeitsplatz – wichtig ist. Die Notwendigkeit der wechselseitigen Unterstützung bei der Gefühlsbewältigung ist also kein Selbstzweck, sondern erfüllt gleichzeitig die Funktion, Vertrauen und Bindung zwischen Menschen zu schaffen, was wiederum das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit befriedigt. Möglicherweise ist es sogar andersherum: Denkbar wäre, dass sich im Verlauf der Evolution das Bedürfnis nach gemeinschaftlicher Emotionsbewältigung entwickelt hat, um Menschen aneinander zu binden. Das ist auch insofern wahrscheinlich, als dass die meisten Emotionen nur im zwischenmenschlichen Bereich auftreten und nur in der Interaktion relevant sind.33 Bindung und Vertrauen sorgen dann wiederum dafür, dass man sich – meistens jedenfalls – nicht gegenseitig im Schlaf überfällt.

Emotional Load

Eine andere Person zu co-regulieren oder für eine interpersonelle Regulation zur Verfügung zu stehen – gegebenenfalls unter Zurückstellung der eigenen Bedürfnisse, also inklusive intrapersoneller Emotionsregulation – ist emotionale Arbeit. Die Masse der emotionalen Aufgaben kann auch als »Emotional Load« bezeichnet werden, die wiederum eine Teilmenge der Mental Load ist. Kognitive Sorgearbeit ist also in weiten Teilen emotionale Sorgearbeit, und ihre Unterkategorien – Familienmanagement und Wissensspeicher – sind untrennbar mit ihr verbunden.

Widerstände