Greenscreen - Julia K. Hilgenberg - E-Book

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Julia K. Hilgenberg

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Beschreibung

'Wie sah man eine Frau an, vor der man davongelaufen war? Eine Frau, die man nach reiflicher Überlegung ersatzlos aus seinem Leben gestrichen hatte?' Nach den Irrungen und Wirrungen rund um Moderator William Darcy verlässt Elizabeth Bennet den Regionalsender Meryton TV und heuert in London bei einer Produktionsfirma an. In der Hauptstadt herrscht ein anderer Ton, und unter den vielen neuen Eindrücken und Gesichtern tauchen schnell alte Bekannte auf - teils schneller und bekannter, als es der jungen Technikerin lieb ist. Wird Lizzy es schaffen, zwischen Kameras, Kabelsalat und Chaos ihren eigenen Weg zu gehen und am Ende ihr ganz persönliches Glück zu finden? Und wie sieht dieses Glück überhaupt aus? Die Fortsetzung von »Bluescreen«!

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Für Anne, Laura und Anna

Inhaltsverzeichnis

Hauptstadtsehnsucht

Wie im falschen Film

Ganz großer Käse

Gespräch unter Freunden

Alles nur gespielt?

Schubladendenken

Eifersucht für Anfänger

Wochenend’ und Dauerregen

Eifersucht für Fortgeschrittene

Vitamin B

Autogrammstunde

Eifersucht für Profis

Unzucht unterm Mistelzweig

Stille Nacht

Von Spekulationen und Spekulatius

Kurz(ent)schluss

Ein Winternachtstraum

Ein Glas zu viel

Back to business

Dialoge leicht gemacht

Zur falschen Zeit

Herzschlagzeug

Ein Blick zurück

Allerlei Wünsche

Süße Versuchung

Ein Kuss, ein Brautstrauß & ein Streit

Schlachtfeld der Gefühle

Gedankenkarussell

Hochzeitsnacht

Vergebens und vergessen

Nachwehen

Aufbruchstimmung

Von Freunden und vermeintlich Fremden

Eingeweihtes Chaos

Ein Traum in Grün

Begegnung im Regen

Drama, Baby!

Feierabend

Der Zug der Zeit

Früher war alles besser?

Sommer, Sonne, Schuldgefühle

Unwissen und Gewissen

Kein Weg zurück

Der Fluss des Lebens

Ein moralisches Angebot

Unerwartetes

Blitzhochzeit

Ein allerletzter Irrtum

Die Entscheidung

Abschied

Epilog

Kapitel 1Hauptstadtsehnsucht

Elizabeth Bennet legte den Kopf in den Nacken und sah in den wolkenverhangenen Himmel hinauf. Ein dicker Regentropfen landete punktgenau auf ihrer Nase. Volltreffer.

Es war eindeutig Herbst – Herbst in London. Vom berühmten goldenen Oktober der Kleinstädte war hier nichts zu spüren: Die Hauptstadt war grau, laut und voll.

Lizzy kniff die Augen zusammen, als ihr noch ein schwerer Tropfen auf die Stirn klatschte. Einen schönen Empfang mochte man sich anders ausmalen, aber ihr war das Regenwetter gerade recht. Sie blickte wieder hinab auf den Umzugskarton zu ihren Füßen, dann schob sie ihn mit einer Grimasse in das enge Treppenhaus. Sollte sie sich in diesem Klettersteig von Altbau nicht eines Tages die Beine brechen, konnte sie mit der neuen Wohnung gut leben! Auch mit der Tatsache, dass es keinen Aufzug gab.

Im dritten Stock angekommen bugsierte sie den Karton über die Schwelle. Hinter einem Stapel Kisten tauchte das Gesicht ihrer Schwester auf.

»War das der letzte …?«, fragte Jane hoffnungsvoll.

»Nein …«, setzte Lizzy an, wurde jedoch sofort unterbrochen.

»…das war der letzte!« Charles Bingley erschien etwas atemlos mit einem weiteren Karton im Türrahmen.

»Großartig«, seufzte Lizzy und ließ sich erleichtert auf ihren Karton fallen.

Charles grinste. »Tja dann – in welcher Kiste ist der Champagner?«

»Ähm. Welcher Champagner?«

»Mit dem wir auf deine fabelhafte neue Bude anstoßen, verehrte Schwägerin in spe!« Bingleys Grinsen zog sich fast bis zu den Ohren.

»Mein lieber Charles, erstens ist diese Bude nicht fabelhaft, sondern sündhaft, und zwar teuer, und zweitens …«

»Zweitens«, unterbrach Jane ihre Schwester, »ist es mein lieber Charles, der heute Abend noch Auto fahren und deswegen auf den Champagner verzichten muss.«

»Dann wird dein lieber Charles auch sicher kein Problem damit haben, dass wir gar keinen Champagner haben …«

»Nicht, dass er ein Problem damit hätte, wenn wir welchen hätten …«

»Aber so kann er nicht mal eins draus machen. Dein lieber Charles.« Lizzy blinzelte ihre Schwester an und knuffte sie in die Seite. Jane verdrehte die Augen.

»Also gehen wir jetzt Champagner kaufen …?«, kam es vom lieben Charles.

Die Schwestern sahen sich für einen Moment an, dann lachten sie los.

*

Im Supermarkt um die Ecke – Lizzy bat Jane, sie zu kneifen, als sie am Eingang die Öffnungszeiten von sechs Uhr morgens bis ein Uhr nachts las – erstanden sie zwar trotz des durchaus vorhandenen Sortiments keinen Champagner, dafür aber eine solide Grundausstattung an Lebensmitteln und Haushaltsgegenständen, die Lizzy entweder nie besessen oder in Meryton vergessen hatte. Charles kurvte mit einem eigenen Korb durch die Regale, wachsam darauf bedacht, den Damen immer genau das hinterherzutragen, was sie im Eifer der Vernunft achtlos hatten liegen lassen: Original Schweizer Nougatschokolade, Bio-Limetten-Meersalz-Peeling (Lizzy hatte die Schachtel sogar für einen Moment ehrfürchtig mit den Fingerspitzen berührt), Rosenblüten-Körperlotion, eine gewaltige Dose Fertig-Bolognese und die Familienpackung Kekse.

Als Jane, die ein Stück hinter Lizzy an der Kasse stand, einen Blick in den Korb warf, schnappte sie nach Luft.

»Charles?! Was …«

»Der liebe Charles bittet hiermit um den Erhalt seiner Autonomie beim Einkauf. Sowohl jetzt als auch in Zukunft.« Er schenkte seiner Verlobten ein strahlendes Lächeln.

»Aber …«

»Es soll dein Schaden nicht sein, mein Schatz.«

Jane öffnete den Mund, doch als Charles verschwörerisch einen Finger an die Lippen legte, schloss sie ihn wieder. Lizzy zahlte soeben und hatte von dem kleinen Intermezzo nichts mitbekommen, und Jane ahnte, warum Charles darauf bedacht war, dass es so blieb.

Seine Großzügigkeit war einer der Gründe, warum sie zugestimmt hatte, ihn zu heiraten. Und zwar nicht der Teil, den er ihr gegenüber immer wieder zeigte – die vielen Geschenke waren ihr anfangs oft unangenehm gewesen, und in seinem Überschwang hatte Charles eine Weile gebraucht, seine Gaben auf ein Maß zu beschränken, das auch die bescheidene Jane genießen konnte – sondern seine Großzügigkeit anderen gegenüber. Und dass der Berg an Luxusartikeln in dem Korb für Lizzy gedacht war, war nicht zu übersehen.

Jane lächelte gerührt und sah Charles liebevoll an. Der grinste nur und räusperte sich schließlich vernehmlich.

»Schatz … wenn wir nicht den Groll der anderen Kunden auf uns ziehen wollen, sollten wir vielleicht …« Er nickte nach vorn.

Jane drehte sich hastig um und schloss die inzwischen beträchtliche Lücke in der Schlange.

Während Charles bezahlte, packte sie seine Einkäufe schnell und vor Lizzys Blicken geschützt in eine große Stofftasche, und bevor sie den Supermarkt verließen, drückte sie ihrem Verlobten einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Charles lächelte nur und nahm ihre Hand, und in seliger Eintracht folgten sie Lizzy durch die große Glastür.

*

Zurück in der Wohnung bauten Charles und Lizzy gemeinsam den Esstisch zusammen, während Jane sich auf die Suche nach dem Geschirr machte, und weil sie nach mehreren Anläufen nur Sektgläser, Tassen und einen Wasserkocher gefunden hatte, saßen sie wenig später fröhlich zwischen gestapelten Kisten, verpackten Möbeln und Bergen von Papier beim Tee.

Gerade als Lizzy zu einer Dankesrede für ihre unerschütterlichen Umzugshelfer ansetzte, sprang Charles auf und wuchtete die Leinentasche auf den Tisch.

»Herzlich willkommen in der Hauptstadt!«

»Äh … danke – was um Himmels willen …?«

»Für dich. Von mir.« Charles drehte die Tasche um, und der Inhalt ergoss sich über den Tisch. »Oh …«

Jane griff geistesgegenwärtig zur Seite und rettete die Bolognese vor dem Absturz, während Lizzy reflexartig die überdimensionale Kekspackung festhielt. Charles selbst warf sich beherzt nach vorn und erwischte die Rosenblüten-Körperlotion kurz vor der gegenüberliegenden Tischkante.

»Hoppla. Verzeihung …«

Jane schüttelte nur den Kopf und stellte die Bolognese zurück auf den Tisch. Charles schenkte ihr ein dankbares Lächeln und streckte ihr die Lotion entgegen. »Hier. Die ist für dich, mein Sonnenschein.«

Jane verdrehte die Augen, aber ihre Ohren liefen trotzdem zartrosa an.

»Rosenblüten also, so so …«, neckte Lizzy, dann öffnete sie die Kekse und schob sie in die Mitte. »Will noch jemand Tee?«

»Nein, aber bring doch mal die Sektgläser rüber«, meinte Charles, »ich würde gern endlich anstoßen.«

»Mit Tee?«

»In Ermangelung von Champagner …«

»Was natürlich kein Problem ist.«

»Überhaupt kein Problem!«

»Also mit Tee.«

»Tee.«

»Aus Sektgläsern?«

»Exakt.«

»Charles, du spinnst.«

»Weil ich Tee aus Sektgläsern trinke?«

»Nein, aber – was soll ich denn bitte mit zwei Kilo Bolognese?!«

»Essen.«

»Dann passe ich nicht mehr durchs Treppenhaus …«

»Liebe zukünftige Schwägerin, natürlich sollst du die Bolognese nicht alleine essen! Aber wie ich dich kenne, wirst du bald viele Menschen hier deine Freunde nennen können, und wenn du spontan mal eine Meute Leute einladen willst, musst du ihnen nicht gleich deine Kochkünste zum Fraß vorwerfen«, erklärte Charles mit ernster Miene.

»Hm«, machte Lizzy und warf Jane einen verschmitzten Blick zu, »gar nicht so dumm, dein lieber Charles.«

Sie stießen an, und Lizzy biss zufrieden in einen gewaltigen Schokoladenkeks. Sie freute sich auf ihren neuen Job. Sicher, London war nicht Hollywood und Vorstadtsehnsucht war nicht James Bond, und als ausgebildete Fernsehtechnikerin war sie für eine Kabelhilfe eigentlich hoffnungslos überqualifiziert – aber eine Telenovela war eine überregionale szenische Produktion und bot so einiges an neuen Erfahrungen für sie. Und das würde sie nutzen.

Ein neues Leben lag vor ihr, und es würde großartig werden. Sie wusste es. Sie würde es dazu machen!

Kapitel 2Wie im falschen Film

»Guten Morgen! Ich soll mich im Produktionsbüro für Vorstadtsehnsucht melden. Können Sie mir sagen, wo ich hin muss?« Etwas atemlos, aber mit bester Laune hielt Lizzy dem verschlafenen Pförtner ihr Einladungsschreiben hin.

Er musterte den Wisch eingehend.

»Halle 6 ist auf der linken Seite, vierte Kreuzung … die Büros sind im Container nebenan. Da drüben steht ’n Geländeplan«, brummte er.

»Vielen Dank und noch einen schönen Tag!«, wünschte Lizzy fröhlich und marschierte los.

Halle 6 hatte sie schnell gefunden, und auch der Bürocontainer war nicht zu übersehen. Lizzy wunderte sich ein wenig über die gar so unspektakuläre Örtlichkeit, ließ sich davon aber nicht aus dem Konzept bringen. Vielleicht sah es in diesem grauen Kasten mit Wellblech-Optik ja doch ganz anheimelnd aus …? Vorsichtig öffnete sie die Tür. Und tatsächlich: Dahinter lag ein sauberer, weißer Gang mit weiteren Türen. Lizzy suchte solange, bis sie auf einem Schildchen »Prod. Off.« entziffert hatte. Sie klopfte.

Es blieb still.

Lizzy wartete einen Moment, dann klopfte sie energisch noch einmal und drückte die Türklinke – das Büro war verschlossen.

Sie sah auf ihr Handy. 07:42 Uhr – ihren Termin hatte sie um acht. Na gut. Sie lehnte sich neben der Tür an die Wand und wartete.

Um Punkt acht ging plötzlich das Licht an. Lizzy richtete sich erwartungsvoll auf und spähte zum Eingang, doch es kam niemand. Das Licht funktionierte offenbar nach einer Zeitschaltung …

Als es fast zwanzig nach acht war, saß Lizzy schon seit geraumer Zeit im Schneidersitz auf dem Boden und spielte gedankenverloren mit ihrem Handy herum. Bei der Kontaktnummer hatte sich natürlich niemand gemeldet, dafür war auf der anderen Seite der verschlossenen Tür ein deutliches Klingeln zu hören gewesen. Lizzy seufzte. Allmählich fragte sie sich, ob sie einfach wieder gehen sollte. War sie hier richtig? War das Datum der Einladung vielleicht falsch? Waren alle Leute, die normalerweise in diesem Container arbeiteten, krank oder im Urlaub? Oder ging draußen möglicherweise gerade die Welt unter …?

Just als sich Lizzy erhob, um dieser gewagten Vermutung auf den Grund zu gehen, öffnete sich die Eingangstür. Eine Frau, die von der glamourösen Art ihrer Aufmachung her eine gewisse Ähnlichkeit mit Caroline Bingley, Charles’ Schwester, an den Tag legte, stakste auf Pfennigabsätzen herein. Als sie Lizzy erblickte, blieb sie irritiert stehen.

»Morgen. Fan von Rick? Autogramme gibt’s hier keine …«

Lizzy zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hatte eigentlich einen Termin.«

»Die Pressestelle ist da drüben«, die Frau deutete über ihre Schulter nach hinten und stöckelte auf Lizzy zu, dann schloss sie die Tür zum Produktionsbüro auf und okkupierte einen der beiden Schreibtische.

Lizzy trat in den Türrahmen. Die Frau sah auf.

»Soll ich dir den Weg aufschreiben, Schätzchen?«

»Elizabeth Bennet«, erwiderte Lizzy und streckte forsch die Hand aus, »ich sollte als Kabelhilfe arbeiten und mich hier melden. Um acht Uhr.«

»Acht Uhr? Wer hat dir das denn erzählt?«

Lizzy zog wortlos das Einladungsschreiben hervor und legte es auf den Schreibtisch.

»Ach Gott, tja, das war unsere alte Praktikantin, sorry, die war etwas … konfus. Na ja. Bleibt’s eben wieder an mir hängen. Produktionsassistenz ist echt ein Scheiß-Job!« Sie beachtete das Schreiben nicht weiter und zückte einen Taschenspiegel.

Lizzy beobachtete mit zunehmend ungläubiger Miene, wie sich die Dame in aller Seelenruhe die Lippen nachzog und die Wangen puderte. Sie fühlte sich wie im falschen Film. Nach einer gefühlten Ewigkeit, als das Makeup der Produktionsassistenz offenbar endlich ihren Anforderungen entsprach, hatte sie wieder Augen für Lizzy.

»Also, Schätzchen …«, sie packte umständlich ihre Schminkutensilien weg, »wenn du kabeln willst, dann meld dich im Studio bei Robert. Wenn er dir blöd kommt, sag ihm, ich hab dich geschickt.« Sie wühlte weiter in ihrer Handtasche.

»Okay – und Sie sind …?«

Die Frau seufzte entnervt. »Louisa. Vergiss das Sie, hier duzen sich eh alle.« Sie stopfte die Tasche rabiat unter den Schreibtisch. »Wie war dein Name noch gleich?«

»Elizabeth.«

»Hm. Viel zu lang, kann sich kein Mensch merken … stell dich als Beth vor. Oder Elsie, oder sowas.«

Lizzy starrte Louisa sprachlos an. War das ihr Ernst?

»Hier, Schätzchen.« Louisa streckte ihr das Einladungsschreiben entgegen, dann verzog sie ihr Gesicht zu einem zuckrigen Lächeln. »Willkommen bei der Vorstadtsehnsucht, Elsie-Beth.«

*

Mit einem Becher Kaffee in der Hand saß Lizzy auf einer Bierbank in einem kahlen Nebenraum der Studiohalle.

Natürlich war auch hier noch kein Mensch gewesen, den sie nach Robert hätte fragen können, nur der Junge vom Catering war ihr über den Weg gelaufen und hatte ihr bereitwillig gezeigt, wo sie künftig ihre Mittagspause verbringen würde.

Kantinen gab es auf dem riesigen Gelände wohl mehrere, doch aus zeitlichen Gründen – die Pausen waren knapp und der Drehplan straff – zog man es gerade bei Staffelproduktionen vor, dem Stab einen eigenen Pausenraum zur Verfügung zu stellen. Der Junge hatte Lizzy voller Stolz erzählt, dass sich an diesen Tischen alle versammelten, egal, was ihre Aufgabe war; von den Stars bis zur Putzfrau sei hier wirklich jeder vertreten. Einmal hätte ihm die Hauptdarstellerin persönlich den Teller zurückgebracht …

Lizzy brachte schnell in Erfahrung, dass der Drehbeginn täglich um neun Uhr war und die ersten Techniker in der Regel nicht vor acht Uhr vierzig erschienen. Als der Junge wieder bei einer ausführlichen Beschreibung der weiblichen Hauptrolle gelandet war, hatte Lizzy höflich gefragt, ob sie denn schon einen Kaffee bekommen könnte, und das Thema war beendet gewesen.

Inzwischen war es kurz nach halb neun, und Elizabeth Bennet wusste nicht recht, wie sie sich fühlen sollte. Bislang war der Tag wenig vielversprechend, und irgendwie hatte sie sich ihren Start bei Vorstadtsehnsucht anders vorgestellt …

Hinter der Theke am anderen Ende des Raums winkte der Junge vom Catering hinüber. Lizzy nickte nur, dann stand sie auf, nahm ihren Becher und verließ die Halle. Wenn eh noch niemand da war, konnte sie genauso gut draußen herumlungern.

*

»So, so, so, wen haben wir denn hier …?«

Lizzy fuhr herum. Ein Mann spazierte auf sie zu, die blonden Haare zu einer kunstvollen Frisch-aus-dem-Bett-gefallen-Frisur zerwühlt, einen Becher Kaffee in der Hand. Er warf demonstrativ einen Blick auf die Uhr.

»Überpünktlich«, stellte er fest.

»Robert?«, fragte Lizzy ihn direkt.

Er grinste nur. »Wenn das mal nicht die neue Praktikantin ist.«

»Kabelhilfe«, verbesserte Lizzy freundlich.

»Schon recht.« Er gähnte und nahm einen Schluck Kaffee, die freie Hand lässig in der Hosentasche. »Kennst du dich mit Kameras aus?«

»Ja.«

»Ich meine nicht dein Handy oder deine Urlaubsknipse.«

»Dafür bräuchte man dann ja auch keinen Kabler.« Lizzy schenkte ihm ein unschuldiges Lächeln. Der Typ verfügte über etwas zu viel Selbstgefälligkeit für ihren Geschmack. Wenn das ihr Chef war, würde die Zeit im Studio nicht einfach werden …

»Joa.« Er grinste. »Wie heißt du?«

»E… Lizzy.«

»E-Lizzy? So wie E-Gitarre?«

Sie rollte mit den Augen. »Nur Lizzy.«

»Und das E kommt von …?«

»Elizabeth.«

»Aha! Elizabeth.« Er nippte an seinem Kaffee. »Schöner Name. Aber viel zu lang fürs Fernsehen.«

Lizzy zuckte mit den Schultern. »Kann ja nicht jeder Robert heißen …«

»Das ist richtig.« Er war plötzlich todernst. »Ich zum Beispiel heiße Richard.«

Lizzy sah ihn verblüfft an. Bevor sie etwas sagen konnte, öffnete sich an der Seite der Halle eine Tür und eine junge Frau steckte suchend ihren Kopf heraus.

»Ey, Rick, Autogramme kannst du später geben!«, brüllte sie lauter als nötig, dann verschwand sie wieder und knallte die Tür hinter sich zu.

Richard seufzte theatralisch und fuhr sich durchs Haar. »Tja. Mein Typ wird verlangt.«

»Scheint so«, bemerkte Lizzy skeptisch. Techniker gaben doch keine Autogramme …?

»Tja dann, E…, äh, Lizzy, wir sehen uns am Set. Wenn Robert dich nicht vorher frisst. Aber du wirkst deutlich robuster als deine Vorgängerin. Und jetzt entschuldige mich, ich muss in die Maske.« Er ließ seinen Becher zielgenau in den nahen Papierkorb fliegen und schritt von dannen.

Lizzy kniff die Augen zusammen und starrte ihm nach. Techniker mussten auch nicht in die Maske! Ein wissendes Grinsen stahl sich auf ihre Lippen.

»Immerhin hat die Produktion einen fähigen Schauspieler«, murmelte sie, dann machte sie sich auf den Weg in die Halle.

Kapitel 3Ganz großer Käse

Als Lizzy am späten Abend den Heimweg antrat, war sie ernüchtert. Ihr erster Drehtag war, auch wenn sie nicht über Unterbeschäftigung hatte klagen können, ziemlich unspektakulär gewesen. Und obwohl es natürlich nur der erste Eindruck war, beschlich sie doch bereits der Verdacht, dass ihr die Zeit bei Vorstadtsehnsucht möglicherweise weit weniger zu bieten hatte als erhofft.

Schauspieler Richard Fitzwilliam hatte sich im Laufe des Tages nicht nur als Hauptdarsteller, sondern auch noch als Scherzkeks vom Dienst entpuppt – im Gegensatz zu der geschniegelten und durch und durch schmalzigen Rolle hatte er gerade in den Proben bisweilen Haare auf den Zähnen, die selbst den schon etwas tattrig wirkenden Regisseur an die Grenzen seiner Ernsthaftigkeit brachten. Lizzy war für diese Form der Unterhaltung überaus dankbar gewesen, und als sie das Studio nach zehn kräftezehrenden Stunden endlich verlassen hatte, erschien es ihr nicht mehr ganz so abwegig, dass Leute wie er Autogrammjäger anzogen.

Weitaus abwegiger war und blieb allerdings, dass es eine überdimensionale Pappnase zum Chef-Studiotechniker gebracht hatte. Robert war der personifizierte Mangel an Motivation, der Lizzy wortkarg begrüßt und gleich an einen Kollegen durchgereicht hatte. Der wiederum – studentische Aushilfe, soviel hatte sie noch aus ihm herausbekommen – hatte sich eher für sein Handy als für die Einarbeitung der neuen Kablerin interessiert, und Lizzy war mehr als einmal froh über ihre technische Ausbildung gewesen.

Als sie in den Bus stieg, war sie nachdenklich. Sie konnte es nicht verhindern, seit einigen Stunden hallte ihr wiederholt Charlottes Stimme durch den Kopf.

Das letzte Gespräch der Freundinnen vor Lizzys Abreise nach London war schwierig gewesen. Charlotte hatte wenig Verständnis für Lizzys Motivation gezeigt, und doch hatte das die Verabschiedung nicht leichter gemacht. Im Gegenteil.

Lizzy schätzte Charlotte seit jeher für ihre ehrlichen Worte, und ein paar davon gewannen rückwirkend gerade doch an Eindringlichkeit:

»Lizzy, egal, was du machst – verkauf dich nicht unter Wert! Ich weiß, unsere Vorstellungen von Wert gehen in dieser Hinsicht auseinander, aber selbst wenn du nur Kabelhilfe bist: Solange du dir sicher bist, dass es dir das wert ist, mach es. Aber sobald es dir damit in irgendeiner Form nicht mehr gut geht, lass es bitte sein! Versprich mir das!«

Es war nicht das erste Mal, dass Lizzy diese Bedenken zu hören bekommen hatte. Das erste Mal war es William Darcy höchstselbst gewesen, der ihre gesamte berufliche Richtung als völlig unzureichend erachtet hatte.

Miss Bennet, Sie verkaufen sich unter Wert! Das hatte er gesagt. Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass sie jetzt als Kabelhilfe arbeitete …? Die Vorstellung seiner verständnislosen Miene entlockte Lizzy ein Grinsen. Nein, verstehen würde er es keinesfalls, wahrscheinlich würde er es auf ihr Alter schieben und dann insgeheim drei Kreuze machen, dass er sich nach einer Nacht mit der jungen Unvernunft doch noch eines Besseren besonnen hatte.

Sie überlegte. Sicher, es war zu früh, um ein Urteil über Vorstadtsehnsucht zu fällen. Viel zu früh. Aber nur einmal angenommen, der vergangene Arbeitstag wäre als repräsentativer seiner Art zu betrachten, dann blieben ihr während der Woche wenige Möglichkeiten auf Aktivitäten außerhalb des Studios. Und die Wahrscheinlichkeit, Will Darcy irgendwo zufällig zu treffen, sank somit enorm. Nicht, dass sie in einer Millionenstadt wie London jemals sonderlich hoch gewesen wäre, aber das war ein Umstand, den Lizzy bislang erfolgreich ausgeblendet hatte.

Eine Station vor ihrer neuen Heimathaltestelle stieg sie aus dem Bus. Den Rest der Strecke konnte sie gut zu Fuß laufen, dabei ließ es sich ohnehin wesentlich besser nachdenken als in dieser rollenden Doppeldeckersardinendose. Und einen Abstecher zum Supermarkt konnte sie so auch gleich noch machen.

Es passierte kurz vor dem Kühlregal. Lizzy hatte sich von ihrem Bauchgefühl leiten lassen und wahllos mal diese, mal jene Ware aus den Reihen genommen, bis sie sich für ein Thunfischsandwich Marke Eigenbau entschieden hatte und endlich gezielt die Regale ansteuerte.

Und dann sah sie ihn.

Lizzy ging reflexartig hinter den Gurkengläsern in Deckung. Das durfte nicht wahr sein. Er war hier! In ausgerechnet diesem einen von Londons bestimmt zweieinhalbtausend Supermärkten. Oder spielte ihre Phantasie ihr einen Streich? Sie riskierte einen vorsichtigen Blick, um sich zu vergewissern, und unterdrückte ein nervöses Kichern. Doch, er war es wirklich, zweifellos. Die Haltung, die Haare, das Hemd und natürlich der Schlips – es war wirklich und wahrhaftig Will Darcy. Er stand keine drei Meter von ihr entfernt am Kühlregal und sondierte den Schnittkäse, und sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich hinter den Gewürzgurken zu verstecken? Nein, das war so nicht geplant gewesen.

Sie atmete tief durch und straffte ihre Schultern, dann setzte sie sich in Bewegung. Mit wenigen Schritten hatte sie das Kühlregal erreicht und trat genau neben ihn. Er war so in die Auswahl vertieft, dass er nicht bemerkte, wer da neben ihm aufgetaucht war, und so studierte Lizzy ganz ungeniert die Packung in seiner Hand.

»Junger Gouda? Ernsthaft?«, fragte sie schließlich.

Er fuhr herum.

Für eine Sekunde hatte er das Gefühl, zu träumen – vor ihm stand Elizabeth, und Elizabeth konnte nicht vor ihm stehen, denn Elizabeth war in Meryton und er war in London. Aber da sich die Erscheinung nicht auflöste und sich auch der Supermarkt um ihn herum nicht in eine nebulöse Zwischenwelt seines Unterbewusstseins verwandelte, hatte er es offenbar mit der realen Elizabeth zu tun, und diese Erkenntnis traf ihn gänzlich unvorbereitet.

»Elizabeth. Hallo.«

»Du weißt ja meinen Namen noch. Erstaunlich, nach nur einer Nacht …« Sie grinste schelmisch.

Wie sah man eine Frau an, vor der man davongelaufen war? Eine Frau, die man nach reiflicher Überlegung ersatzlos aus seinem Leben gestrichen hatte? Sie hatte gewusst, dass er keinen gemeinsamen Weg für sie beide sah, sie hatte damit übereingestimmt. Wieso in aller Welt fühlte er sich also gerade so verflixt unwohl?!

»Ich erinnere mich durchaus auch an die Namen von Frauen, mit denen ich keine einzige Nacht verbracht habe.«

Lizzy bedachte ihn mit einem forschenden Blick. War er heute ganz gemäß seines Aufzugs wieder einmal Mister Schlips?

»Löblich«, meinte sie, dann deutete sie auf den Käse. »Der ist gut, aber der passt nicht zu dir.«

»Ach nein?«

»Nein. Zu jung«, befand sie keck.

Er warf die Packung kommentarlos in seinen Korb.

Ihre Augen blitzten. Er konnte nicht genau sagen, ob es Ärger oder Schadenfreude oder gar Wiedersehensfreude war, was dort in ihrem Blick funkelte. Vielleicht auch eine Mischung aus allem. Jedenfalls glich die Unterhaltung schon wieder viel zu sehr den verbalen Minenfeldern, auf denen sie sich das vergangene Jahr über bevorzugt bewegt hatten, und das war, sollte er denn wirklich nicht träumen, kein gutes Omen.

»Was führt dich denn hierher?«

»Mein Magen.« Lizzy hob demonstrativ ihren Einkaufskorb. »Und dich?«

»Ebenfalls. Kaufst du oft hier ein?«

Lizzy verkniff sich ein Grinsen. »Jetzt zum zweiten Mal. Liegt auf dem Weg.«

Er hätte gern gefragt, auf welchem Weg, und er wusste, sie wollte, dass er fragte. Aber es passte nicht in seinen Plan. In seinem Plan waren London und Elizabeth zwei unvereinbare Punkte gewesen. In seinem Plan war Elizabeth gar nicht hier!

Lizzy beobachtete Darcy skeptisch. Er fühlte sich nicht wohl, soviel stand fest. Vielleicht hatte ihn ihre unerwartete Präsenz doch ein wenig überrumpelt. Na, da konnte sie ihm auch nicht helfen, ihr ging es ja im Grunde nicht anders.

»Wie läuft die PMA?«, fragte sie und nahm sich beiläufig einen Käse.

»Bestens, danke.« Darcy griff auch noch einmal zu und bewegte sich ein Stück weiter am Regal entlang.

Lizzy folgte ihm und packte ein paar Dinge ein, ohne richtig hinzusehen. Darcy tat es ihr nach.

»Du arbeitest jetzt in London?«, wollte er wissen.

»Vorerst, ja. Und weil Meryton ja quasi schon in einer anderen Zeitzone liegt, wohne ich auch hier. Also, wenn du mal Lust auf einen Kaffee hast …«

Er blieb stehen.

Das war es. Das war genau das Szenario, das er unbedingt hatte vermeiden wollen. Ein zufälliges Treffen, auf das ein geplantes Treffen folgen sollte. Es passte nicht, es passte ihm nicht! Er hatte gerade keinen Kopf für Gefühle, geschweige denn für Gedanken über Gefühle. London und Elizabeth waren unvereinbar.

»Ich glaube, das ist keine gute Idee.«

Lizzy zog eine Augenbraue hoch.

»Ich habe viel zu tun …«, setzte er nach, aber sie winkte bereits ab.

»Lass gut sein – es war nur ein Vorschlag.«

»Wie gesagt … ich halte es für keine gute Idee.«

Lizzy versuchte, in den dunklen Augen irgendeine Regung zu erkennen, aber Darcys Blick blieb verschlossen. Er wollte sie also wirklich nicht mehr sehen. Und, das musste sie sich ob des schmerzhaften Pochens in ihrer Brust leider eingestehen, es traf sie unvermutet heftig. Andererseits – der Darcy, der hier stand, war auch nicht der, den sie unbedingt hatte wiedersehen wollen. Und das ärgerte sie mehr, als dass es wehtat.

»Ja … ist vielleicht wirklich ganz großer Käse.« Sie warf einen pointierten Blick in seinen Einkaufskorb und sah ihn dann direkt an. »Du hast ja meine Nummer. Schönen Abend noch!«

Damit lief sie zur Kasse und verschwendete bis zum Verlassen des Supermarktes keinen einzigen Blick mehr an Mister Schlips.

Hinter der hell erleuchteten Glastür stand Will Darcy und sah Elizabeth noch so lange nach, bis er sie in der Dunkelheit nicht mehr erkennen konnte. Vielleicht war es doch nur ein Traum. Vielleicht wachte er ja demnächst auf. Und sollte das in den kommenden Minuten nicht passieren, würde er erstens dringend ein Telefonat führen müssen und hätte zweitens viel zu viel Geld in Käse investiert. Und das wäre dann, mit Elizabeths Worten, wirklich ganz großer Käse.

Kapitel 4Gespräch unter Freunden

»Warum hast du mir nichts gesagt?!«

»Hallo Darce, altes Haus, schön, dass du deinen besten Freund nach Wochen der sozialen Abstinenz auch mal wieder anrufst! Wie geht es dir?«

»Ich gehe davon aus, dass du es wusstest, also wüsste ich jetzt gern, wieso ich davon nichts wusste!«

»Liebster Will, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Charles, du weißt genau, wovon ich spreche.«

»Du meinst die erhöhte Regenwahrscheinlichkeit fürs Wochenende? Okay, ich gebe es zu, ich wusste davon. Aber ich habe es nicht – «

»Was macht Elizabeth Bennet in London?«, unterbrach Darcy scharf.

»Jetzt sag mir nicht, ihr habt euch getroffen …«

»Zufällig, ja.«

»Hahaha! Unfassbar!« Charles lachte so laut, dass Darcy das Telefon ein Stück von seinem Ohr weghalten musste.

»Ihr habt euch getroffen und du hast sie nicht gefragt, was sie in London macht?«, japste Charles.

»Dreh mir nicht die Worte im Mund herum.« Darcy hatte Mühe, ruhig zu bleiben. »Sag mir einfach nur, warum du es mir nicht gesagt hast.«

»Tja, genaugenommen habe ich das auf deinen eigenen Wunsch hin nicht getan.« Charles klang jetzt ernst. »Du hast mich darum gebeten, jegliche Informationen, die besagte Schwester meiner geliebten Verlobten betreffen, von dir fernzuhalten. Erinnerst du dich?«

Ja, er erinnerte sich. Er hatte sich die Pein ersparen wollen, immer wieder an den Eiertanz seiner Gefühle zurückdenken zu müssen, und er hatte seine Entscheidung nicht mehr in Frage stellen wollen.

»Ja, ich weiß. Ich hatte meine Gründe!«

»Eben. Ich meine, es war klar, dass ihr euch früher oder später treffen würdet …«

»Charles, allein im Kern dieser Stadt leben über drei Millionen Menschen, da ist das mehr als unwahrscheinlich.«

»Ach, Darce«, Charles seufzte hörbar auf, »die höhere Mathematik in allen Ehren, aber wenn wir beide eines wissen, dann das: Die Medienwelt ist ein Dorf.«

»Hm«, brummte er nur. Diese Erkenntnis war leider nicht neu und kaum zu leugnen.

»Kopf hoch – selbst wenn ihr euch bei der Arbeit nicht mehr seht, bei unserer Hochzeit seht ihr euch auf jeden Fall.« Charles’ Grinsen war selbst durch den Hörer noch zu spüren.

»Wenn ich es zeitlich schaffe …«

»Will, das ist nicht dein Ernst.«

»Ich habe ziemlich viel zu tun, die PMA bedarf einer grundlegenden Überholung, und ich wollte Georgie auch noch besuchen …«

»Will Darcy, jetzt pass mal gut auf. Du bist mein bester Freund. Und ich werde heiraten. Und auch, wenn du aus diversen Gründen, die ich zwar nicht alle verstehe, aber ausnahmslos alle respektiere, nicht Trauzeuge sein willst, möchte ich trotzdem, dass du dabei bist! Ich möchte, dass du da bist, wenn ich mich mit meinem Schwiegervater duellieren muss, weil ich einer Tochter beim Hochzeitswalzer versehentlich auf die Füße gestiegen bin; ich möchte, dass du da bist, wenn mich meine Schwestern verbal in die Zange nehmen, weil ich so eine … einzigartige Schwiegermutter habe; ich möchte, dass du mir Deckung gibst, wenn ich vor meinen beiden jüngsten Schwägerinnen fliehen muss. Kurz: Ich erwarte von dir, dass du mich nicht im Stich lässt! Bleib meinetwegen das ganze restliche Jahr in Philadelphia oder verbarrikadier dich in der PMA, mir völlig egal – aber an diesem einen verdammten Tag, an meinem Hochzeitstag, wirst du da sein! Hast du mich verstanden?«

»Klar und deutlich.« Darcy schloss die Augen. Derart in Rage erlebte man Charles Bingley nur selten. Es war ihm ernst, sehr ernst, und er konnte es ihm nicht verdenken.

»Gut. Dann schnapp dir deinen Kalender, der Termin steht fest. Nicht, dass es wieder heißt, ich hätte dir nichts gesagt …«

Sie sprachen noch eine Weile über den geplanten Ablauf der Feier, und am Ende des Telefonats versicherte Will Darcy seinem besten Freund auf wiederholte Nachfrage, dass ihn Elizabeths Anwesenheit nicht von seinem Besuch abhalten würde. Nein, auch nicht, wenn sie sich in der Zwischenzeit noch einmal treffen sollten. Auch dann nicht, wenn dieses Treffen im ultimativen Streit enden sollte. Und nein, natürlich auch nicht, wenn Elizabeth versehentlich einen Scheinwerfer über seinem Kopf zerplatzen lassen sollte – ja, er würde zur Hochzeit erscheinen. Definitiv. In jedem Fall. Kostete es, was es wollte.

Charles quittierte die letzte und bereits deutlich entnervt vorgetragene dieser Beteuerungen mit einem leisen Lachen.

»Danke, Will, für den Moment bin ich beruhigt. Aber ich hätte das alles später auch gern schriftlich …«

»Scher dich zum Teufel, Charles«, erwiderte Darcy matt.

»Das mache ich, und zwar jetzt gleich, ist ja schließlich spät genug. Und Will … ich habe dir auch deswegen nichts gesagt, weil Elizabeth es nicht wollte. Vielleicht solltest du das in deine Überlegungen miteinbeziehen.«

»In welche Überlegungen genau?«

»In die, die dich den Rest der Nacht beschäftigen werden.«

»Charles, beschränk dich mit deinen Vorhersagen bitte auf das Wetter.«

»Gedankentornado voraus – in einem mächtigen Tiefdruckgebiet, folgt direkt auf das Gesprächsgewitter …«

»Hör auf zu grinsen!«

»Das kannst du doch gar nicht sehen …?«

»Ich kann es deutlich hören. Gute Nacht, Charles.«

Charles lachte. »Gute Nacht, mein Freund. Nimm es nicht zu schwer.«

»Das tue ich nicht.«

»Und falls doch … du hast ja ihre Nummer noch, oder?«

Die Antwort war ein Schnauben.

Kapitel 5Alles nur gespielt

Ein heller Lichtstreifen fiel auf das rote Kunstledersofa. Die Gardinen waren zugezogen, das Zimmer lag verlassen und friedlich im warmen Licht.

Mit einem Mal wurde die Tür aufgestoßen, ein Mann und eine Frau taumelten herein, gefangen in einem wilden Kuss, und ohne voneinander abzulassen sanken sie auf das Sofa. Die langen Haare der Frau wallten in einem schrecklich unpassenden Orangerot über das hellrote Polster. Sie lag auf dem Rücken und zerwühlte mit ihren kunstvoll manikürten Fingern den ordentlichen Scheitel des Mannes, er drückte sich noch näher an sie und strich ihr mit einer Hand über die rote Mähne – während seine andere Hand unter das Sofa wanderte und den Boden abtastete. Für einen Moment unterbrachen sie den Kuss.

»Oh William«, hauchte sie sehnsüchtig, »ich hätte das niemals zu hoffen gewagt …«

»Ich auch nicht.« Er zog seine Hand unter dem Sofa hervor und hielt ein Croissant in die Höhe. »Es ist tatsächlich noch da!«

Sie brauchte eine Sekunde, um sich von ihrer Verblüffung zu erholen, dann verdrehte sie die Augen. Das heftige Kichern mehrerer Stimmen wurde im Hintergrund laut.

»Was genau meinst du mit noch …?«, fragte sie und klang dabei plötzlich alles andere als sehnsüchtig.

»Ich habe diese übriggebliebene Armseligkeit von industriellem Aufback-Gebäck gestern zu Versuchszwecken hier unter dem formschönen Möbel deponiert. Und siehe da: Das Gebrösel hat sich nicht vom Fleck bewegt!«

Lautes Lachen erschallte aus dem Hintergrund, gefolgt von einem deutlichen »Danke, aus!« über Lautsprecher. Die Rothaarige schüttelte nur hilflos den Kopf, während ihr Spielpartner vom Sofa kletterte.

»Rick, du hast echt ’nen Knall«, stellte sie fest.

In der Wand des Zimmers öffnete sich eine bis dahin unsichtbare Tür und der Regisseur kam herausgehastet.

»Wir machen fünf Minuten Pause«, verkündete er, »Rick, auf ein Wort …«

Richard, der bei dem Wort Pause gerade noch Anstalten gemacht hatte, in das Croissant zu beißen, zog eine Schnute und strich sich beleidigt die Haare glatt.

Lizzy schob mit einem breiten Grinsen das Pumpstativ mit der Kamera zurück auf die Startposition, während ihr Kameramann von der Nikotinsucht getrieben mit seinen Kollegen das Studio verließ.

Das war mal wieder typisch. Die Szene war bis dahin perfekt gewesen, aber Richard war alles, was perfekt war, ganz offenkundig zu langweilig, und so hatte er ein weiteres Mal gekonnt einen One-Take verhindert. Und damit Lizzy um die Erfahrung gebracht, einen solchen endlich live zu erleben, denn bisher kannte sie das Phänomen, dass eine komplette Spielszene beim ersten Versuch im Kasten war, nur aus Erzählungen.

Sie ordnete die Kabel und beobachtete die beiden Männer in der erleuchteten Kulisse. Der Regisseur redete händeringend auf Richard ein, der mäßig interessiert zuhörte und dabei nachdenklich das Croissant beäugte. Lizzy hätte sich nicht gewundert, wenn er tatsächlich hineingebissen hätte. Selbst nach einem Tag unter dem Sofa – es gab in puncto Essen inzwischen nur noch wenige Dinge, die sie Schauspieler Richard Fitzwilliam per se nicht zutraute.

In der gestrigen Mittagspause hatte er, ohne mit der Wimper zu zucken, drei Portionen Nachtisch verputzt und dann nach der Textprobe für die nächste Szene mit unschuldigem Augenaufschlag nach Keksen gefragt. Wo er das alles hinfutterte, blieb ein Rätsel, über das hauptsächlich die Damen aus Maske und Kostüm ausschweifend diskutierten, vorzugsweise in raumfüllender Lautstärke am Mittagstisch, damit auch die Techniker in den Genuss ihrer Spekulationen kamen. Robert hatte Lizzy an ihrem ersten Tag noch an den »Weibertisch« verwiesen, mit der unverkennbar hämischen Vermutung, dort würde sie sich sicher wohl fühlen, und sie hatte sich umgehend – in weiser Voraussicht und vielleicht bedingt durch diverse Erfahrungen mit den Damenrunden ihrer Mutter – zu den Kollegen vom Ton gesetzt. Eine Entscheidung, die sie bislang nicht bereute.

Lizzy grinste in sich hinein, als Richard nach dem Abgang des Regisseurs das Croissant in der Schublade einer Kommode verschwinden ließ. Tja, es würde wohl auch morgen keinen One-Take in dieser Kulisse geben …

Die Kameraleute kamen zurück ins Studio, eine Maskenbildnerin schwirrte herbei und puderte den beiden Darstellern hektisch die Nasen nach, und Lizzy griff wieder nach den Kabeln.

Wenig später wälzte sich Richard erneut mit der Rothaarigen auf dem Sofa und versicherte ihr dabei wortreich und mit treudoofem Blick ganz gemäß der Anweisungen seine Sehnsucht. Der Regisseur war hochzufrieden und kündigte eine Umbaupause an, die Kameraleute gingen nochmal zum Rauchen, während die Techniker Kameras und Tonwagen in einen anderen Teil des Studios schoben, und Richard Fitzwilliam tätschelte zum Abschied sachte die Kommode.

*

»Du brauchst also Urlaub?«

»Ja, meine Schwester heiratet«, erklärte Lizzy der hochkonzentrierten Produktionsassistenz, die gerade damit beschäftigt war, ihren Einkauf auf dem Schreibtisch zu sortieren.

»Und was habe ich damit zu tun?«, fragte Louisa gelangweilt und stapelte Dosen, die verdächtig nach Feuchtigkeitscreme aussahen.

»Du könntest den Urlaub genehmigen?«, schlug Lizzy vor.

»Tja, sorry, Schätzchen, an dem Wochenende bin ich auch nicht da, also auch nicht zuständig für irgendwen oder irgendwas.«

»So ein Pech.«

»Allerdings.« Louisa schüttelte ihren Joghurtdrink. »Mein Bruder ehelicht die Frau seiner Träume. Ich bezweifle ja, dass sie eine echte Traumfrau ist, aber mein lieber Bruder hat schon immer gemacht, was er wollte. Angeblich ist sie immerhin ganz hübsch …« Sie rollte vielsagend mit den Augen.

»Du kennst sie noch gar nicht?« Lizzy grinste spöttisch. Bei Vorstadtsehnsucht saßen die Schauspieler sogar im Produktionsbüro: Louisas Desinteresse war eine fast perfekte Maske, dabei platzte sie innerlich vor Neugier!

»Nein, ich kenne sie noch nicht.« Lousia knallte den Joghurtdrink auf den Tisch und rammte mit Schwung einen langen Fingernagel in die Verschlussfolie. »Und ich habe auch keine Lust, nur ihretwegen nochmal in dieses Kuhkaff zu fahren, dem ich nach meiner trostlosen Jugend so glorreich entflohen bin!«

Lizzy beobachtete amüsiert, wie Lousia einen Schluck nahm und das Gesicht verzog.

»Oh Gott, das schmeckt ja … gesund.«

Lizzy kicherte. »Ist es wahrscheinlich nicht einmal. Also, wen soll ich denn nun mit meinem Urlaubsantrag belangen?«

»Schätzchen, wenn du den Wisch so formulierst, kannst du ihn auch direkt an die Geschäftsleitung schicken.« Sie nahm noch einen Schluck und schüttelte sich herzhaft. »Aber probier’s vorher mal bei Robert, der …«

»Robert hat mich hierher geschickt«, erinnerte Lizzy sie mit einer Engelsgeduld.

»Ach, ja …«, Louisa nahm einen letzten Schluck und pfefferte den restlichen Drink samt und sonders in den Papierkorb, »… dann gib’s mir eben, ich bring’s dann zusammen mit meinem Antrag rüber zu Eddie.«

Lizzy überlegte kurz, ob sie fragen sollte, wer Eddie war und welcher Abteilung er angehörte, doch in diesem Moment rumpelte es auf dem Gang und Sekunden später stand atemlos eine junge Frau in der Tür.

»Hi Lulu, ich wollte dir meinen neuen Nagellack und den aktuellen … oh, hi!« Sie strahlte Lizzy an, das giftige Grün ihrer großen Augen ließ auf Kontaktlinsen schließen und passte perfekt zu den grünen Nägeln. »Ich bin Lucy! Aus der Maske. Und du bist …?«

»Lizzy. Kabelhilfe.« Sie schüttelte vorsichtig die grün bekrallte Hand.

»Und auf dem Weg ins Studio«, ergänzte Louisa, und der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie mit Grün-Augen-Lucy einiges zu besprechen hatte, was nicht für fremde Ohren bestimmt war.

*

»Aus, aus, aus!«

Der Regisseur stürzte der Verzweiflung nahe in die Kulisse, während das Team kollektiv einem Lachanfall erlag.

Lizzy wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Der Tonangler neben ihr krallte sich an der Angel fest, als hinge sein Leben davon ab, und der Kameramann beanspruchte seine Raucherlunge aufs Höchste mit unkontrollierten Lachsalven.

Richard Fitzwilliam führte im Bademantel einen Stepptanz auf, der sich sehen lassen konnte – und zwar zum Klingelton (unleugbar der herzzerreißende Titelsong von Vorstadtsehnsucht, wenngleich in einer ziemlich schrägen Riverdance-Version) eines bislang nicht georteten Handys. Lizzy hatte den Verdacht, dass niemand anderes als der Tänzer höchstselbst wusste, wo sich das Gerät versteckte, und der Regisseur schien diese Vermutung zu teilen, denn er wies Richard unmissverständlich an, das Gedudel sofort auszuschalten. Und obwohl Richard schwor, dass er das Telefon nicht selbst zwischen die Handtücher geschoben hatte, herrschte keinerlei Zweifel daran, dass es auf seinen Befehl dort hingelangt war.

Als er sich drei Takes später endlich ordnungsgemäß des Bademantels entledigt hatte, war das Handy vergessen und der Drehtag beendet.

Lizzy montierte ohne Eile die Kameras ab. Sie genoss es, wie sich nach dem ersten Trubel der Aufbruchsstimmung Ruhe über das Studio legte. Jeder wollte schnellstmöglich nach Hause, und ihre Kollegen vom Kamerateam zählten zu den Siegern dieses allabendlichen Rennens, dicht gefolgt von der Tontechnik.

Diesmal waren die beiden Requisiteurinnen die letzten, die Lizzy einen schönen Feierabend wünschten, und dann wurde es still.

Lizzy hielt für einen Moment inne und atmete tief ein. Sie begann allmählich, diese Halle zu mögen. Auch wenn sie jeden Tag zehn Stunden hier verbrachte und in diesen zehn Stunden wahrlich nicht nur komödiantische Einlagen passierten … das Treiben am Set hatte seine ganz eigene Atmosphäre, und die gefiel ihr sehr.

Sie hatte gerade die letzte Kamera vom Stativ gehoben, da öffnete sich die Studiotür. Richard kam herein – und blieb abrupt stehen, als er Lizzy sah.

»Hoppla. Noch so fleißig?«, fragte er, und Lizzy interpretierte seinen Tonfall eindeutig als ertappt.

»Wie man sieht …«, sie packte sich die Kamera lässig auf die Schulter. »Und selbst?«

»Ich, ach … ich … hab hier irgendwo … irgendwas liegenlassen …« Er grinste schief.

Lizzy verzog keine Miene. »Ein Telefon vielleicht?«

»Möglicherweise.«

»Das liegt dann möglicherweise im Badezimmer zwischen den Handtüchern.«

»Richtig«, er machte eine ausladende Geste, als fiele es ihm just in diesem Moment wieder ein, »genau da war es! Ein Hoch auf die überaus aufmerksame Praktikantin!«

Lizzy zog betont gelangweilt eine Augenbraue hoch.

»Ein Hoch auf den überaus begabten Schauspieler, der den Ort des Vergessens mit einer unvergesslichen Einlage zum Aufmerksamkeitsmittelpunkt gemacht hat«, konterte sie.

Für einen Augenblick erlag Richard seiner Irritation über diesen Wortschwall.

»Okay …« Er grinste. »Das Kompliment hat wohl nicht gezogen.«

»Das sollte ein Kompliment sein?«, fragte Lizzy, nun ihrerseits irritiert.

»Na ja, von wegen höchst aufmerksame Praktikantin und so weiter …«

»Pfff, also bitte«, Lizzy schnaubte und setzte die Kamera ab, »erstens zieht die Hervorhebung meiner Aufmerksamkeit nur in Fällen tatsächlich besonderer Aufmerksamkeit, und ein ’oh, du hast bemerkt, wie ich mit meinem Hüftschwung die Szene ruiniert habe’ gehört definitiv nicht dazu. Und zweitens …«

»Du hast meinen Hüftschwung bemerkt?«, unterbrach Richard keck.

Lizzy rollte mit den Augen. »Niemand in diesem Studio hat ihn nicht bemerkt.«

»Hm. Schade. Und zweitens?«

»Zweitens …«, Lizzy machte eine Kunstpause, »… zweitens zählt ein Kompliment meiner überaus starken Aufmerksamkeit nur, wenn es von einer überaus aufmerksamen Person kommt.«

»Und das bin ich nicht?« Er tat entsetzt.

»Nein«, Lizzy musste gegen ihren Willen schmunzeln, »aber mir soll’s recht sein, das zweifelhafte Kompliment ging ja an die Praktikantin und damit nicht an mich.«

Richard lachte anerkennend. »Eins zu null für die wortgewandte Kabelhilfe.«

»Wortgewandt und aufmerksam«, erwiderte Lizzy frech und hievte sich die Kamera wieder auf die Schulter, »sie weiß nämlich auch, dass du morgen im Wohnzimmer eine bröselige Entdeckung in der Kommode machen wirst.«

»Das ist in der Tat beeindruckend.«

»Möglicherweise.« Sie zwinkerte. »Schönen Feierabend, Mister Hauptrolle!« Damit verfrachtete sie die Kamera in das Technikregal und verließ das Studio.

Richard sah ihr schelmisch grinsend nach.

»Zwei zu null.«

Kapitel 6Schubladendenken

Ein eisiger Wind pfiff über das Studiogelände und am Dachfirst von Halle 6 glitzerte der Raureif.

Trotz der unkomfortablen Temperaturen stand Lizzy auch an diesem Morgen vor Drehbeginn draußen vor dem Studio. Sie tippte gedankenverloren auf ihrem Handy herum.

Letzte Nacht hatte sie von Kittys Abschlussball geträumt, von ihrem Spaziergang mit Will Darcy … und natürlich hatte sie nach dem Aufwachen sofort an die Begegnung im Supermarkt gedacht. Eigentlich war es ein typischer Moment gewesen, ganz ähnlich einer ihrer ersten Begegnungen; damals hatte sie ihn nach einem Tanz gefragt, und diesmal eben nach einem Kaffee.

Ich glaube, das ist keine gute Idee.

Tja, vielleicht war es eine blöde Idee gewesen, ihn zu fragen. Vielleicht war es generell eine blöde Idee, zu jemandem wie Will Darcy außerberuflichen Kontakt zu suchen. Ganz sicher aber war es eine selten blöde Idee, jemandem wie ihm nachzulaufen, und genau das hatte sie getan. Was genau sie sich davon erwartet hatte, konnte Lizzy selbst nicht sagen, und so unerfreulich das Treffen am Kühlregal auch gewesen sein mochte, es war nichts gegen ihren Ärger über die seitdem herrschende Funkstille. Lizzy war inzwischen zu dem Schluss gelangt, dass sie selbst diese Funkstille unterbrechen musste, denn von Will würde nichts kommen – wenn sie den Kontakt wollte, musste sie ihn auch herstellen. Doch die Unsicherheit, was genau Gegenstand dieses Kontakts sein sollte, ließ sie zögern.

Ich glaube, das ist keine gute Idee.

In gewisser Hinsicht glaubte sie das auch. Will und sie hatten im vergangenen Sommer einstimmig beschlossen, dass sie in zwei unterschiedlichen Welten lebten. Und trotzdem … für eine Nacht hatten sie diesen Beschluss über Bord geworfen. Er hatte sie mitgenommen, ins Märchenschloss, in seine damalige Welt – und hatte sie dort zurückgelassen, war in seine jetzige Welt aufgebrochen, nach London. Und sie? Sie war nicht verletzt gewesen, nicht einmal sonderlich überrascht. Sie hatte eine ungeheure Entschlossenheit entwickelt, auch in seiner Welt bestehen zu können … und jetzt war sie hier. Hier, in London, in seiner Welt. Räumlich zumindest. Über den Rest hatte sie sich – das war ihr seit dem Gespräch im Supermarkt klar – absolut keine Gedanken gemacht.

Ein lautes Niesen ließ Lizzy zusammenfahren. Sie drehte sich um.

Ein gutes Stück entfernt stand, wie üblich um diese Uhrzeit noch mit Freestyle-Frisur und einem Kaffee in der Hand, Richard Fitzwilliam.

Er winkte – und nieste gleich darauf noch einmal derart markerschütternd, dass Lizzy sich wunderte, wieso er noch nicht sämtlichen Kaffee verschüttet hatte.

»Gesundheit!«

Richard grinste gequält und angelte ein Taschentuch aus den Tiefen seiner Jeans.

Lizzy beobachtete, wie er sich geräuschvoll schnäuzte und schließlich in ihre Richtung schlenderte. Müde sah er aus, der Mister Hauptrolle.

Was es wohl für die Produktion bedeutete, wenn einer der Darsteller krankheitsbedingt für längere Zeit ausfiel? Bei einem täglichen Pensum von zehn Stunden war das vermutlich schon eine mittlere Katastrophe …

»Morgen, Miss Kabelhilfe. Wohl geruht?«

»Mäßig. Und du?«

»Ach, ich habe Wichtigeres zu tun als zu schlafen …« Er gähnte ausgiebig. »Heute gibt’s übrigens keine Bröselei in der Schublade.«

»Nein? Wintervorrat also?«

Richard sah sich demonstrativ um und zog seine Jacke enger um sich. »Es ist Winter.«

»Es ist November«, widersprach Lizzy.

»Tiefster Winter also!«

»Und wieso dann keine Bröselei?«

Er grinste sie schweigend an und nippte statt einer Antwort an seinem Kaffee.

Lizzy zuckte mit den Schultern. »Gib dir keine Mühe – was immer du vorhast, ich werde es herausfinden.«

Richards Grinsen wurde breiter. »Das wollte ich hören.«

»Das freut mich.«

»Und mich erst!«

»Und weißt du, was mich noch viel mehr freuen würde?«, fragte Lizzy.

»Du willst endlich ein Autogramm von mir?«, quietschte Richard.

»Das würde mich ungemein freuen, wenn ich du wäre, ja. Bin ich aber nicht«, erwiderte sie ungerührt.

Er schob schmollend die Unterlippe vor.

»Noch ein Tipp?«, fragte Lizzy.

»Eine Gehaltserhöhung?«, schlug Richard vor.

Lizzy lachte leise. »Das sind nicht meine Maßstäbe, Mister Hauptrolle.«

»Na dann erklär dich mal, Miss Kabelhilfe. Was würde dich denn noch mehr freuen?«

»Es würde mich noch viel mehr freuen, wenn die nächste Bröselei mit Schokolade gefüllt wäre.«

Richard sah sie verständnislos an. »Was?«

»Schokolade. Du weißt schon, dieses süße Zeug aus Kakaobutter.«

»Schrecklich ungesund …«

»Schrecklich unwiderstehlich«, seufzte Lizzy theatralisch.

»Frauen«, kam es trocken von Richard.

»Schokolade!«, beharrte Lizzy, und in diesem Moment wurde die Unterhaltung von der Produktionsassistenz unterbrochen, die mit laut klappernden Absätzen um die Ecke kam – und deren Tasche just den Geist aufgab, als sie ihnen ihren gewohnt überschwänglichen Morgengruß entbieten wollte.

Louisas Habseligkeiten verteilten sich begleitet von einem deftigen Fluch großflächig über den Boden und Richard erinnerte sich bei dem Anblick der zahlreichen Kosmetika daran, dass er ja eigentlich längst in der Maske sein sollte. Lizzy warf ihm einen strafenden Blick zu – sie wusste ganz genau, dass er sich nur davor drückte, beim Aufsammeln mithelfen zu müssen –, den er mit einem frechen Grinsen erwiderte.

»Frauen!«, wiederholte er laut, bevor er in die Halle verschwand, und diesmal klang es ausgesprochen schadenfroh.

Tatsächlich gab es an diesem Drehtag nur wenige Albernheiten. Lizzy ging davon aus, dass es unter anderem daran lag, dass Freitag war – heute wollten einfach alle früher nach Hause, und je schneller die Szenen abgedreht waren, desto besser. Außerdem, das war angesichts seines Verbrauchs an Taschentüchern kaum zu übersehen, war Richard gesundheitlich merklich angeschlagen. Er spielte wie üblich gut und auf den Punkt, aber seine Gestik wirkte weniger energiegeladen, und Lizzy vermutete, dass er für seine Leistung wesentlich mehr Konzentration brauchte als sonst und dadurch kaum mehr Spielraum für Blödsinn hatte.

Die letzte Szene des Tages fand in der Wohnzimmerkulisse statt. Lizzy war gespannt, was Richard wohl statt des Croissants in der Schublade platziert haben mochte – und wurde herbe enttäuscht, denn der Hauptdarsteller kam eine ganze Zeit lang nicht einmal in die Nähe der Kommode. Erst gegen Ende eines für Vorstadtsehnsucht vergleichsweise ernsten Monologs über die Unmöglichkeit einer Liebesbeziehung stand Richard in Reichweite, doch er fuhr nur mit der Hand einmal kurz über das Furnier. Kein Öffnen der Schublade, keine unerwartet unpassenden Gegenstände. Nichts.

»Danke, aus! Unfassbar! Richard Fitzwilliam in einem One-Take!«

Es gab Pfiffe und Applaus, und Lizzy war verblüfft. Von allen Anwesenden im Studio hatte sie wohl am allerwenigsten mit einem One-Take gerechnet – gerade in dieser Kulisse! Vor allem passte das so gar nicht zu ihrem Gespräch von heute morgen.

Während sie die Kabel von den Kameras abzog, behielt sie Richard mit einem gewissen Argwohn im Auge. Und das zu Recht, denn kaum waren die Damen von der Requisite hinter der Wohnzimmerwand verschwunden, holte er blitzschnell etwas aus seinem Ärmel hervor und versenkte es in der Schublade, bevor Lizzy erkennen konnte, was es war. Er drehte sich um und fing ihren Blick auf, und Lizzy hob herausfordernd die Augenbrauen. Statt ertappt zu spielen grinste er nur und wies noch einmal demonstrativ auf die Kommode.

Auf dem Weg hinaus machte er dann einen kleinen Abstecher in die Techniker-Ecke.

»Na, Adlerauge?«

»Ohne dich enttäuschen zu wollen, aber das war schon beinahe riskant auffällig.«

»Das ist mein Beruf …« Er musste niesen.

»Wie genau wird das in deinem Beruf eigentlich bei Krankheit gehandhabt?«, fragte Lizzy nach.

Richard lachte heiser. »Krankheit gibt’s in meinem Beruf nicht. Schönes Wochenende, Miss Kabelhilfe.«

»Na dann … gute Besserung, Mister Hauptrolle«, wünschte Lizzy, und Richard verschwand niesend aus dem Studio.

Sie sah ihm kurz nach, dann verstaute sie in aller Seelenruhe die Kameras und wartete auf den endgültigen Abflug der Requisiteurinnen. Es kostete sie einiges an Geduld, denn diesmal hatten die Damen noch viel zu besprechen, hauptsächlich, soviel konnte Lizzy den Wortfetzen entnehmen, wie aufdringlich sich doch die junge Maskenbildnerin gebärdete, wie gut der tapfere Rick auch nahe einer Lungenentzündung noch aussah und wie unverschämt die Tonangler beim Mittagessen baggerten …

Lizzy beschloss irgendwann, dass es keinen Sinn mehr hatte, noch länger zu warten, da das Gespräch ohnehin noch andauern würde, also näherte sie sich langsam der Kommode.

Sie war noch nie direkt in der Kulisse gewesen. So aus der Nähe betrachtet wirkten die Möbel billig, überall waren Kratzer und Klebespuren zu sehen, die Teppiche und die Tapete sahen alt und abgenutzt aus. Einen unbedarften Betrachter hätte es wohl gewundert, dass dieser Ort auf dem Bildschirm wie ein teuer ausgestattetes Wohnzimmer erschien, doch Lizzy kannte diesen Effekt. Versenden nannte man das im Fachjargon, wenn kleine Mängel an Kulisse und Kostüm auf dem Endbild nicht mehr zu erkennen waren.

»Alles nur schöner Schein …«, murmelte Lizzy und klopfte mit dem Finger vorsichtig auf die Kommode. Eindeutig Sperrholz.

Sie lauschte einen Moment dem Geplapper auf der anderen Seite der Wand – die Requisiteurinnen schienen es sich dort dauerhaft gemütlich gemacht zu haben – und zog schließlich die oberste Schublade auf. Darin lag ein zusammengefaltetes Stück Papier. Lizzy nahm es heraus und entschied sich nach kurzem Zögern, es gleich anzusehen.

Erwischt! Schubladendenken ist ganz und gar nicht gesund fürs Gemüt. Im Gegensatz zu Schokolade, so sagte man mir.

Tja, Pech, Schokolade war aus. Vielleicht beim nächsten Mal?

Lizzy überlegte nicht lange. Sie flitzte zurück zum Technikregal, schnappte sich einen Kugelschreiber und kritzelte:

Ein geheimer Briefkasten in einer toten Schublade – der perfekte Umschlagort für Kakaobuttergemisch mit Suchtgefahr. Beim nächsten Mal will ich die Ware sehen!

Sie faltete den Zettel wieder zusammen und steckte ihn zurück in die Kommode, dann machte sie sich auf den Weg nach draußen. Als die Studiotür hinter ihr ins Schloss fiel und das Geschnatter der Requisiteurinnen verschluckte, musste Lizzy kichern. Was die beiden Damen wohl zu sagen hätten, würden sie diesen Schriftverkehr finden …?