Schlips und Vorurteil - Julia K. Hilgenberg - E-Book

Schlips und Vorurteil E-Book

Julia K. Hilgenberg

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Beschreibung

Das Fernsehen ist eine Errungenschaft unserer Zeit, um die uns Jane Austen womöglich beneidet hätte. Womöglich hätte sie aber auch nur verständnislos mit den Schultern gezuckt - und ihren größten Roman trotzdem geschrieben. Elizabeth Bennet und William Darcy haben in dieser Geschichte mit ihren gut zweihundert Jahre alten Pendants nicht nur die Namen gemein. Als die aufgeweckte junge Technikerin und der arrogante, überwiegend missgelaunte Moderator im Studio eines Regionalsenders aufeinandertreffen, ist die Spannung zwischen ihnen fast greifbar, und schon bald stehen die Vorurteile und die Missverständnisse denen aus dem frühen 19. Jahrhundert in nichts mehr nach. Können zwei so unterschiedliche Temperamente dennoch Gefühle der Zuneigung füreinander entwickeln - und wenn ja, haben sie auch in der heutigen Zeit eine Chance? Ein modernes "Stolz & Vorurteil" in zwei Bänden, jetzt als Doppelband!

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Für Anne, Laura und Anna

Inhaltsverzeichnis

Band 1 – Bluescreen

Familie vernetzt

Großes Fernsehen für kleine Leute

Der Ton macht die Musik

Kantinenklatsch

Unverhofft kommt oft

Gewitter

Der Känguru-Effekt

Anprobenproblematik

Von Ball zu Fall

Der Fall des Zufalls

Tanzen oder nicht tanzen, das ist hier die Frage!

Ruhelos

Schwarz auf weiß

Fehlstart

Auftakt

Anstoß

Taumel

Schicksal vom Blatt

Schicht im Schnitt

Gesundheit!

Erster Schnee

Vorweihnachtszauber

Zündstoff

Funkenflug

Ausgerutscht

Neues Jahr, neues Glück

Große Pläne

Ein Lächeln zum Gruß

Weiberabend

Lydia goes Hollywood

Schein und Sein

Es war einmal

Was nie passiert

Hitzewallungen

Die Ruhe vor dem Sturm

Kurz vor knapp

Alles was zählt

Theorie auf dem Prüfstand

Klartext

Touché!

Dinner for five

Teppichbodengeflüster

In einem Wort

Zukunftsmusik

Sie haben Post!

Praktisch unmöglich

Zwei Welten

Ohne große Worte

Der letzte Tanz

Epilog

Band 2 – Greenscreen

Hauptstadtsehnsucht

Wie im falschen Film

Ganz großer Käse

Gespräch unter Freunden

Alles nur gespielt?

Schubladendenken

Eifersucht für Anfänger

Wochenend’ und Dauerregen

Eifersucht für Fortgeschrittene

Vitamin B

Autogrammstunde

Eifersucht für Profis

Unzucht unterm Mistelzweig

Stille Nacht

Von Spekulationen und Spekulatius

Kurz(ent)schluss

Ein Winternachtstraum

Ein Glas zu viel

Back to business

Dialoge leicht gemacht

Zur falschen Zeit

Herzschlagzeug

Ein Blick zurück

Allerlei Wünsche

Süße Versuchung

Ein Kuss, ein Brautstrauß & ein Streit

Schlachtfeld der Gefühle

Gedankenkarussell

Hochzeitsnacht

Vergebens und vergessen

Nachwehen

Aufbruchstimmung

Von Freunden und vermeintlich Fremden

Eingeweihtes Chaos

Ein Traum in Grün

Begegnung im Regen

Drama, Baby!

Feierabend

Der Zug der Zeit

Früher war alles besser?

Sommer, Sonne, Schuldgefühle

Unwissen und Gewissen

Kein Weg zurück

Der Fluss des Lebens

Ein moralisches Angebot

Unerwartetes

Blitzhochzeit

Ein allerletzter Irrtum

Die Entscheidung

Abschied

Epilog

Band 1

Bluescreen

Kapitel 1

Familie vernetzt

»Noch zehn!«, schallte es von der Studiodecke.

Lizzy schluckte. Zu spät. Zehn Sekunden waren einfach zu wenig. Sie drehte sich hastig zu Charlotte und fing einen entsetzten Blick auf, dann huschten ihre Augen zum hell erleuchteten Moderationspult.

Darcy sortierte in unverschämter Gelassenheit und in ebenso wenig verschämter Lautstärke seine Zettel.

»Noch fünf …«

Bis auf das penetrante Geraschel war es mittlerweile totenstill im Studio.

»Vier …«

Darcy schob den perfekt geordneten Papierstapel vor sich auf das Pult und nahm eine straffere Haltung an.

»Drei …«

Die Lautsprecherstimme verstummte. Lizzy zählte in Gedanken die Zwei – und in diesem Moment blickte Darcy auf.

Ein Hagel aus imaginären Giftpfeilen schoss direkt auf Lizzy zu, durchbohrte sie förmlich und jagte ihr einen Sturm der Verachtung um die Ohren, der sie beinahe umzureißen drohte.

Eins.

Noch einen Sekundenbruchteil prasselte das Gedankengewitter aus Darcys stechendem Blick auf sie ein, dann fokussierte er im letzten Augenblick die Kamera.

Null.

Das Rotlicht ging an und Lizzy schloss entsetzt die Augen. Es war ein Albtraum.

Es war von Anfang an ein einziger Albtraum gewesen!

~ knapp zehn Monate zuvor ~

»Nein, Mama, dieses Wochenende kann ich euch nicht besuchen. Apropos, ich muss auch bald los … nein, kein Date. Spätschicht!«

Lizzy Bennet klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und verschränkte die Arme. Ein Date um vier Uhr nachmittags? Die Vorstellungen ihrer Mutter waren wie üblich abenteuerlich.

»Nein, ich werde nicht nachts kochen, sondern in die Kantine gehen … ja, es gibt dort Salat … nein, es gibt immer Salat. Doch, ja, fünf Minuten habe ich noch.«

Sie schloss die Augen und lauschte der Stimme ihrer Mutter.

Offenbar war es für Mrs. Bennet ein ernsthaftes Problem, dass sie zunehmend weniger Einfluss auf das Leben ihrer zweitältesten Tochter nehmen konnte.

Elizabeth war die Erste gewesen, die das elterliche Nest verlassen hatte. Sie war ein aktiver Geist und liebte die Selbstständigkeit – eindeutig ein Erbteil ihres Vaters – und nicht zuletzt deshalb hatte sie sich allen mütterlichen Wünschen zum Trotz direkt in eine technische Berufsausbildung gestürzt. Und mit dem ersten eigenen Geld hatte sie, sehr zum Leidwesen von Mrs. Bennet, nicht etwa ihre Garderobe erweitert, sondern eine kleine Wohnung in der Stadt gemietet.

Nur eine knappe Autostunde trennte die Bennets von ihrer Tochter, und dennoch schien diese Entfernung schon wie das Tor zu einer anderen Welt zu sein – einer Welt, die gerade Mrs. Bennets Vorstellungen wenig bis gar nicht entsprach. In diesen Vorstellungen gab es nämlich vorrangig im Fernsehen eine reichliche Auswahl an potentiellen Ehemännern. Allerdings fußte diese Ansicht auf längst eingemotteten Jugendträumen sowie dem alltäglichen Konsum einer Telenovela, und dass die Realität hinter den Kameras eine ganz andere war, konnte und wollte Mrs. Bennet nicht einsehen. Ihre Tochter würde beim Fernsehen garantiert den Inbegriff eines Traum-Schwiegersohns finden. Wenn sie doch nur nicht so weit weg wäre! Dann könnte man ihr besser unter die Arme greifen …

»Mama, entschuldige, aber ich muss dich leider unterbrechen. Doch, wirklich!«

Dezent in Eile suchte Lizzy ihre Siebensachen zusammen und warf sie in ihre Tasche.

»Natürlich komme ich zu Marys Abschlussfeier!«

Sie wühlte den gerade erst eingesteckten Terminkalender wieder hervor und blätterte hektisch darin herum.

»Die Zeremonie … ja, ich weiß, um 14 Uhr – Mama, ich muss los. Sonst essen die anderen mir noch den Salat weg!«

Ein Grinsen huschte über das junge Gesicht, als es die Empörung am anderen Ende der Leitung vernahm. Lizzy beendete das Gespräch sanft, aber beharrlich, stopfte den Terminkalender zurück in die Tasche und schlüpfte in ihre Schuhe. Es war höchste Zeit!

Doch kaum hatte sie die Wohnungstür geöffnet, klingelte auch schon wieder das Telefon. Lizzy kehrte auf dem Absatz um. Was war denn jetzt noch …?

Als sie die Nummer auf dem Display sah, musste sie lächeln.

»Hey Jane! Was gibt’s? Marys Abschlussfeier, ich weiß … können wir das später besprechen? Ich bin praktisch schon auf dem Weg zur Arbeit – genau, Spätschicht. Ich rufe dich in meiner Pause an, okay? Bis dann!«

Kapitel 2

Großes Fernsehen für kleine Leute

Meryton TV, Regionalsender und seit gut einem Jahr Lizzys Ausbildungsstätte, war bekannt für sein solides wie seriöses Programm. Zwar gähnte die Jugend gern einmal demonstrativ ob der etwas einseitigen Themen, doch der Mix aus Küchentipps, Information und Unterhaltung kam bei der breiten Masse erstaunlich gut an. Ein Grund für die hervorragenden Quoten war sicherlich, dass der überwiegende Teil der Zuschauer eine gewisse Ähnlichkeit mit Lizzys Mutter hatte.

Mrs. Bennet war als ambitionierte Hausfrau ein Paradebeispiel für die Zielgruppe: Frühstücksbegleitung mit Fitness-Fernsehen, anschließend die Einkäufe für das leibliche Wohl, und auf dem Rückweg ein Schwatz mit der Nachbarin Mrs. Lucas über die neuesten Entwicklungen in der Telenovela Vorstadtsehnsucht. Am Herd dann die Live-Übertragung aus dem Kochstudio, während der Wäsche die Lokalpolitik und das Wetter – wie üblich präsentiert vom prominentesten Junggesellen der Stadt – und dann, endlich, der Höhepunkt des Tages, um Punkt 15:45 Uhr: die aktuelle Folge von Vorstadtsehnsucht.

Das Abendprogramm war nicht weiter relevant, zu dieser Zeit wollten der Herr des Hauses umsorgt und die hungrigen Mäuler der Nachkommenschaft gestopft werden, und Krimis und Monumentalstreifen Marke Hollywood konnte Mrs. Bennet ohnehin nicht viel abgewinnen. Der einzige Wunsch, den der ausgeklügelte Sendeplan bei ihr offen ließ, war der nach einer besseren Berichterstattung bezüglich des Privatlebens der Meryton-Prominenz, sprich: eine ordentliche Klatschsendung. Dass ein solches Format absolut nicht dem Image des Senders entsprach und vor allem das Privatleben an sich im Fernsehen nichts verloren hatte, kam Mrs. Bennet gar nicht erst in den Sinn.

Umso größer war die Aufregung, als sich die Intendanz eines großen öffentlichen Senders eines Tages bei Meryton TV meldete und erklärte, die Produktion des nationalen Quotenbringers Die Abendstunde müsse ausgelagert werden. Ob denn Meryton TV sich dazu in der Lage sähe …?

Natürlich, so der Programmchef völlig aus dem Häuschen, es sei eine Freude, ein so gewaltiges Projekt übernehmen zu dürfen, selbstverständlich sei das machbar, ja, es sei geradezu eine Ehre!

An den folgenden Tagen liefen in den Direktionen die Drähte heiß, es wurde heftig diskutiert, wie man der Abendstunde ihren Sendeplatz am besten freiräumen könnte, und die Chefetagen der Redaktionen machten Sitzungen zur Tagesordnung, bei denen eine ungeschriebene Anzugpflicht herrschte.

Von all diesem Trubel blieb die junge Auszubildende Elizabeth Bennet zunächst völlig unberührt. Ihr Meryton TV war die Technik inmitten von Kabeln, Mikrofonen, Mischpulten und Kameras. Wenn sie einmal einem Wesen aus einer Redaktion begegnete – die Identifikation fiel dank der Kleidungsunterschiede meist sehr leicht – lächelte sie freundlich, bis es vorbeigeschwebt war. Da die Mehrheit der Schlipsträger keine Grußworte zu kennen schien, blieb die Kommunikation meist auf einem mageren, weil rein von Blicken getragenen Niveau. Wenn überhaupt.

Lizzy hatte schnell gelernt, schon ein erwidertes Kopfnicken als Krone des Erfolgs zu verbuchen und sie wunderte sich bald nicht mehr darüber, wenn Redakteurinnen erhobenen Hauptes an ihr vorbeistöckelten, als sei sie nicht existent. Es leuchtete ihr zwar nicht ein, weswegen es zwischen Redaktion und Technik kaum für eine normal menschliche Begrüßung reichte, aber sie hatte sich mit der Zeit daran gewöhnt. Mehr noch, sie hatte gelernt, sich der vorherrschenden Überheblichkeit auf ihre Weise anzupassen: sie ignorierte sie. Wer auch immer Lizzy entgegen kam, wurde stets mit einem freundlichen Lächeln bedacht, und in Fällen besonders ausgeprägter Nicht-Wahrnehmung legte sie noch einen fröhlichen Gruß mit drauf. Sie ließ jede Anwandlung von öffentlich praktizierter Ignoranz einfach an sich abperlen, und so kam sie auch in der bizarren Klassengesellschaft der Fernsehwelt problemlos zurecht.

Und das war ungeheuer wichtig, denn als Nervenbündel hatte man es beim Fernsehen in der Tat recht schwer.

Lizzy blickte ungläubig auf das Display ihres Handys. Vor ihr lagen noch zwei Straßenecken, aber sie hatte wirklich und wahrhaftig noch ganze zwölf Minuten Zeit – trotz Zwischenstop beim Bäcker.

Hochzufrieden steckte sie das Telefon wieder weg und angelte stattdessen die Papiertüte aus ihrer Tasche. Beeilen musste sie sich nun nicht mehr, es sprach also nichts gegen eine kleine Henkersmahlzeit, bevor der alltägliche Sendemarathon startete. Sie biss genüsslich in das Schokocroissant und verdrehte genießerisch die Augen.

Völlig versunken in dem schokoladigen Geschmackserlebnis bog sie um die Ecke und bemerkte gar nicht, dass sie direkt auf jemanden zulief – jemanden, der verdächtig nach Schlipsträger par excellence aussah.

»Nein, ich weiß NICHT, wo der nächste Taxistand ist!«

Die laute Stimme riss Lizzy aus dem Schwebezustand ihres Schoko-Traums jäh auf den Boden der Realität zurück. Sie verschluckte sich beinahe. Himmel, noch gut drei Meter und sie wäre geradewegs in diesen geschniegelten Anzug-Typen marschiert! Und der hätte das vermutlich auch erst im Moment der Kollision bemerkt, denn er war vollauf damit beschäftigt, mit bitterböser Miene in sein Mobiltelefon zu schimpfen und dem armen Tropf am anderen Ende der Leitung klarzumachen, dass er sich in einer ebenso misslichen wie absolut aussichtslosen Lage befand.

»Was weiß ich, der brabbelte irgendwas von Endstation, versteh einer diesen gottverdammten Dialekt, und ich war der einzige Mensch im Bus, also bin ich ausgestiegen!«

Lizzy stand wie angewurzelt auf dem Gehweg und verfolgte das Ein-Mann-Schauspiel.

»Aber hier ist keine Haltestelle! – Nein, kein Fahrplan, auch kein Schild. KEINE HALTESTELLE!«

»Keine Drogen mehr vor der Arbeit«, murmelte Lizzy und packte das Croissant eilig weg. Möglicherweise wäre es klüger, die Straßenseite zu wechseln, als sich an diesem fleischgewordenen Wutanfall vorbeizudrücken. Andererseits brauchte er womöglich Hilfe …?

»Die Kleinstädte sind alle gleich, ja, ja – hör mal, das hier ist keine Kleinstadt, es ist das flache Land! Hier gibt es NICHTS, nicht mal Telefonzellen!«

Der Mann im Anzug raufte sich die dunklen Haare.

»Abholen? Ja, das wäre eine vortreffliche Idee gewesen, als ich noch am Bahnhof stand. Aber jetzt stehe ich irgendwo im Nirgendwo, verstehst du? Hallo …? Hallo!« Er nahm das Telefon vom Ohr und tippte wütend darauf herum.

»Na, besten Dank!«, schimpfte er – und sein Blick fiel auf Lizzy, die immer noch keine vier Meter von ihm entfernt auf dem Gehsteig stand und ihn gebannt beobachtete.

Ob der unerwarteten Zuschauerin zuckte er kaum merklich zusammen. Auch das noch! Er blamierte sich, noch bevor er überhaupt richtig angekommen war. Dorfklatsch konnte schlimmer sein als ein Rudel Paparazzi, das wusste er nur zu gut. Er schnaufte zornig und steckte das tote Handy in sein Jackett.

Die junge Frau blickte ihn direkt an. Als auch sein ärgerlichster Gesichtsausdruck nichts daran änderte, platzte ihm fast der Kragen. Hatte sie nichts Besseres zu tun als ihn anzugaffen wie ein Tier im Zoo?!

»Akku leer«, knurrte er schließlich, bemüht um einen möglichst abweisenden Tonfall.

»Hallo«, sagte sie nur.

Er blinzelte überrascht. Hallo? Oh Gott, nein. Sie wollte ein Gespräch anfangen. Das konnte nur eines bedeuten, nämlich dass sie wusste, wer er war. Und das wiederum bedeutete, dass er die längste Zeit seines friedlichen Lebens in diesem Kaff vorhin im leeren Bus verbracht hatte. Wenn er Schlimmeres verhindern wollte, sofern es sich denn überhaupt noch verhindern ließ, dann musste er sich jetzt ordentlich am Riemen reißen.

»Madame«, setzte er gepresst an – und stockte, als die junge Frau vergnügt gluckste.

»Verzeihung«, sie kicherte, »diese Anrede ist etwas … ungewohnt. Wie dem auch sei, kann ich Ihnen vielleicht helfen? Mir schien, Sie suchten nach dem Weg?«

Sprachlos starrte er sie an. Wollte sie ihn veralbern? Menschen halfen einander heutzutage nicht aus Spaß an der Freude, oder gar aus reiner Freundlichkeit. Schon gar keine Menschen mit schokoladigen Krümeln um den Mund.

»Nein danke, da haben Sie sich geirrt«, antwortete er knapp.

Nun war es an Lizzy, überrascht zu blinzeln. War das sein Ernst?

»Dann, ähm … möchten Sie vielleicht mein Telefon benutzen, wenn Ihr Akku leer ist …?«

»Nein, ich warte auf den Bus. Wiedersehen«, kam es so brüsk zurück, dass Lizzy nur verblüfft den Kopf schüttelte.

»Ja dann – auf Wiedersehen«, erwiderte sie etwas leiser und mit hämischem Unterton, »und viel Glück.«

Damit trabte sie an dem merkwürdigen Mann vorbei, fummelte das Croissant wieder aus den Tiefen ihrer Tasche und bog um die Ecke, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Wer nicht wollte, hatte schon – bis ein Bus kam, konnte der Typ lange warten, denn erstens fuhr in den nächsten beiden Stunden keiner auf dieser Strecke, und zweitens war die Haltestelle erst hier! Wenn der Bewegungsradius des Anzug-Affen genauso beschränkt war wie sein Horizont, dann würde er dieses Schild bis ans Ende seiner unhöflichen Tage nicht finden. Und die waren bei Menschen mit solcher Mentalität sowieso gezählt. Lizzy schob sich den Rest des Croissants in den Mund, knüllte die leere Papiertüte zusammen und warf sie punktgenau in den Mülleimer an dem Haltestellenschild.

Am Ende der Straße konnte sie schon das Meryton-TV-Logo leuchten sehen.

Sie griff noch einmal nach ihrem Handy. Noch sechs Minuten – und eine neue Mitteilung.

Hey Liz, CvD war grad hier, heiße Probe AS schon direkt 16 Uhr, wann bist du da? LG Charlotte

»AS?«, murmelte Lizzy verwirrt. »Was bitte ist AS?«

Sie beschleunigte ihre Schritte und überlegte gerade, ob es noch sinnvoll war, zurückzuschreiben oder anzurufen, da kam auch schon die nächste Nachricht.

Aufzeichnung jetzt gleich, keiner vom Ton da, Hilfe!!! C

Lizzy unterdrückte einen Fluch und rannte los.

Kapitel 3

Der Ton macht die Musik

»Charlotte?«

Lizzy riss die Tür zur Tonregie auf. Doch der Raum war leer. In der Mitte stand allein und verlassen das große Mischpult, ein Meer aus Knöpfen, umgeben von weiteren Geräten mit noch mehr Knöpfen. Ganz rechts an der Wand blinkte die Kommandoanlage. Lizzy machte drei große Schritte um das Pult herum und ließ ihre Tasche auf den Drehstuhl dahinter fallen, dann warf sie einen Blick auf die Monitore – und hielt den Atem an.

Im Studio stand Charlotte, und der Mann neben ihr war kein Geringerer als Merytons Ausstellungsstück höchstpersönlich, Vorzeige-Moderator und Lieblingswetterfrosch Charles Bingley, der die Massen selbst bei Unwettervorhersagen mit seinem sonnigen Gemüt begeisterte. Und der um diese Zeit für gewöhnlich nichts im Regionalstudio zu suchen hatte, sondern bei einem überregionalen öffentlichen Sender für die Nachrichten stramm stand.

Bevor Lizzy sich weiter mit diesem absonderlichen Zustand beschäftigen konnte, knackste die Kommandoanlage.

»Studio Ton, hallo, TON!«, plärrte es ungeduldig aus dem Lautsprecher.

Lizzy verzog gequält das Gesicht und zog den Lautstärkeregler radikal nach unten, dann meldete sie sich mit einem fragenden »Ja?« – und drehte die Lautstärke hastig noch ein Stück weiter zurück.

»Ja, KANN das denn sein? Wo zur Hölle wart ihr denn?!«, zeterte die männliche Stimme, »wir machen hier eine AS-Aufzeichnung und keine Sau ist da!«

Lizzy überlegte kurz, ob sie fragen sollte, was AS bedeutete, aber die Stimme schimpfte bereits weiter.

»Und die Tante im Studio ist dermaßen unfähig, dass sich der Moderator gleich selber verkabeln muss! Ja, wo sind wir denn?!«

Alarmiert blickte Lizzy wieder zum Monitor. Charlotte stand etwas ratlos vor Bingley, sie hielt irgendetwas in der Hand, womit sie offenbar nicht viel anzufangen wusste.

»Also wenn wir in fünf Minuten nicht aufzeichnen können, ist die Sendung im Eimer«, tönte es der Auszubildenden blechern entgegen, »und wer immer das da unten gerade versemmelt, kann danach getrost seinen Hut nehmen! Kapiert?!«

Lizzy schnaubte. Wer immer da oben gerade einen Aussetzer hatte, dessen Leben schien offenbar von dieser merkwürdigen Sendung abzuhängen – und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. AS war die Abendstunde! Überregional! Überwichtig! Das erklärte den unbekannten Sendetermin. Und natürlich die Anwesenheit des hervorragenden Wettermannes.

»HEY«, krachte es aus dem Lautsprecher, »hört ihr Super-Ohren überhaupt zu? Ich will, dass auf der Stelle jemand ins Studio geht und diese Tussi da rausschickt, und wenn nicht gleich was passiert, habt ihr alle …«

Lizzy drehte die Lautstärke auf null. Das Gekeife tat sie sich nicht länger an, und wenn der Kerl zehnmal Regisseur war.

Sie drückte die Sprechtaste und sagte ruhig: »Also, Aufzeichnung in vier Minuten. Die Studentin im Studio übernimmt Kamera zwei.«

Mit diesen Worten und einer ordentlichen Portion Groll im Bauch verließ sie flugs die Tonregie in Richtung Studio.

»Charlotte!«

Lizzy eilte zu der jungen Frau, die sich, puterrot im Gesicht, verzweifelt bemühte, ein Ansteckmikrofon am Kragen des Moderators zu befestigen, ohne ihm dabei zu nahe zu kommen. Als sie Lizzy auf sich zulaufen sah, gab sie schließlich auf, entschuldigte sich verlegen bei Bingley, der nur lächelnd abwinkte, und drückte ihrer Retterin den Anstecker direkt in die Hand.

»Gott sei Dank, du bist da … irgendein Memo ist wohl nicht rausgegangen, hier geht’s drunter und drüber«, murmelte sie und wischte sich gestresst die Haare aus der Stirn.

»Habe ich mitbekommen«, erwiderte Lizzy knapp, »hör zu, wir haben in circa drei Minuten die Aufzeichnung, du übernimmst Kamera zwei.«

»Aber …«

»Nichts aber«, Lizzy schüttelte eindringlich den Kopf, »ich mache den Ton und du rückst unseren Sonnenschein hier ins rechte Licht.«

Charlotte nickte nur, und Lizzy wandte sich an Bingley.

»Guten Tag, entschuldigen Sie bitte das Chaos gerade, Sie bekommen sofort Ihren Anstecker.«

»Oh, das macht doch nichts. Alles halb so wild.« Er lächelte und streckte seine Hand aus. »Charles Bingley.«

»Ich weiß«, sie grinste und schüttelte seine Hand, »Elizabeth Bennet. Und nun muss ich Ihnen leider an den Kragen gehen, Mister Bingley, wir haben in etwa zwei Minuten eine Aufzeichnung und die Leute sollten hören können, was Sie sagen.«

Schnell und geschickt klemmte sie das kleine Mikrofon an seinen Hemdkragen und zog das Kabel unter dem Jackett durch nach hinten, um den daran hängenden Sender am Gürtel zu befestigen.

»Noch eine Minute bis zur Aufzeichnung!«, schallte es von der Studiodecke herab.

Lizzy warf einen Blick zu Charlotte, die etwas nervös, aber konzentriert und mit Headset ausgerüstet an Kamera zwei stand.

»Gut – das wär’s vorerst.«

Bingley nickte freundlich und trat an das Moderationspult vor der blauen Wand, während Lizzy schleunigst das Studio verließ.

Hoffentlich hatte sie sich mit dieser eigenmächtigen Aktion nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt …!

Die Tonregie war immer noch leer, als Lizzy hineinstürmte. Wo der zuständige Toningenieur abgeblieben war, war ihr ein Rätsel, mit der Aufzeichnung musste sie wohl oder übel alleine klarkommen. Für den Moment konnte sie nur hoffen, dass der Kollege wenigstens zur Sendung auftauchte.

Auf dem Studiomonitor war Bingley zu sehen, inzwischen hinter seinem Pult und vor einem wilden Mix aus Wettermotiven: Sonne, Wolken, Blitze, Schneeflocken, sogar ein Regenbogen zog sich über den Hintergrund. Lizzy kam unvermittelt der Gedanke, dass dieses Bild möglicherweise ein Ergebnis der allgemein vorherrschenden Hektik war … oder aber ein eindrucksvoller Ausdruck der Persönlichkeit des Moderators. Wie auch immer, für derartige Details war gerade keine Zeit.

Die blinkende Kommandoanlage ignorierend sprang Lizzy förmlich auf das Mischpult zu und zog den Regler auf, unter dem Mod 1 stand, und sofort erfüllte Charles Bingleys Stimme den Raum. Lizzy schloss für einen Moment die Augen und lauschte konzentriert. Die Stimme klang voll, hatte nicht zu viel Bass und auch keine unangenehmen Zischlaute. Sehr gut. Sie öffnete die Augen wieder und reagierte endlich auf das wilde Blinken an der Wand.

»… wird das nix, ohne anständige Rückmeldung passiert hier gar nichts!«, schepperte es ihr entgegen. »Wenn ihr schlaft, gibt’s halt keinen Ton, bitte, dann bestellen wir eben einen Synchronisations-Termin, und der Chef …«

»Ton läuft«, unterbrach Lizzy.

»… wird euch ordentlich die Leviten – was?«

»Leitung eins«, erwiderte sie gelassen.

Es folgte einen Augenblick lang Stille.

»Na endlich«, murmelte jemand.

Lizzy wartete ab, doch der Kommandolautsprecher schwieg. Stattdessen meldete sich Charles Bingley zu Wort.

»Und, wie sieht es aus?«, fragte er gut gelaunt, »kann es losgehen?«

»Aufzeichnung läuft«, vermeldete eine Frauenstimme.

»Noch zehn«, kam es säuerlich vom Regisseur.

Lizzy grinste in sich hinein, schob ihre Tasche vom Stuhl und ließ sich selbst darauf fallen, dann legte sie die Hand an den Regler und atmete einmal tief durch.

»Noch fünf … vier … drei …«

Es wurde still.

Auf dem Monitor sah sie, wie Bingley einen letzten Blick auf seine Moderationskarte warf, dann wandte er sich strahlend in die Kamera.

»Guten Abend und herzlich willkommen zum Wochen-Wetter! Heute aus einem Ort, an dem die Sonne nicht schöner scheinen könnte: meine Heimatstadt Meryton.«

Lizzy verfolgte aufmerksam die Aussteuerungsanzeige. Bingley war zweifelsohne ein Profi, und das war ihr Glück. Er wirkte fröhlich und spontan, sprach dabei aber so kontrolliert, dass sie die Lautstärke praktisch nicht nachregeln musste. Auch Charlotte machte ihre Sache sehr gut, das Bild war scharf und richtig kadriert, und als Bingley zur Verabschiedung spontan hinter seinem Pult hervortrat, behielt sie die Nerven und zog mit.

Etwa fünf Minuten später war der Spuk auch schon wieder vorbei.

Alles war glatt gelaufen, die Aufzeichnung musste nicht wiederholt werden, der Regisseur gab grimmig bekannt, dass in zwei Stunden die Sendung beginnen würde und sie alle gefälligst in einer Stunde wieder an ihren Plätzen zu sein hätten – bis dahin sollten sie sich mal Gedanken machen, wieso zum Henker es eigentlich so schwierig für sie war, ordentlich zu arbeiten. Ob das denn jetzt alle, wirklich alle mitbekommen hätten?

Lizzy bestätigte knapp und ließ sich zurücksinken. Erst jetzt merkte sie, wie ihre Hände zitterten.

Das war eine der vielen kleinen Feuerproben gewesen, die sie während ihrer Zeit beim Fernsehen immer wieder erlebte. Die Aufregung wurde zunächst von der Konzentration betäubt und man spürte sie erst, wenn alles vorbei war …

Lizzy seufzte erleichtert und erhob sich wieder von ihrem Stuhl. Eine Stunde Pause lag vor ihr. Charles Bingley wollte sicherlich nicht den ganzen Abend verkabelt herumlaufen, also sollte sie zusehen, dass sie ihn noch im Studio erwischte!

Kapitel 4

Kantinenklatsch

»… und ich dachte wirklich, jetzt hat mein letztes Stündlein geschlagen«, endete Charlotte.

Lizzy nickte verständnisvoll. »Ja, es ist ein Glück, dass Charles Bingley nicht das Temperament des Regisseurs hat.«

Der Wettermoderator trug zwar einen Schlips, war jedoch exakt das Gegenteil von Lizzys Schlipsträger-Definition.

Als sie vorhin wieder ins Studio geeilt war, um ihn von seinem Mikrofon zu befreien, war er ihr bereits entgegengekommen, hatte ihr die Tür aufgehalten und erklärt, dass er das Mikrofon gerade schon Miss Lucas gegeben hätte – ob sie denn noch irgendetwas von ihm bräuchten, bevor er in die Pause ginge …? Lizzy hatte dankend verneint und war, etwas überrumpelt von diesem Ausmaß an Höflichkeit, Charlotte beim Aufräumen zur Hand gegangen. Die bestätigte ihren Eindruck sofort. Charles Bingley schien in der Tat eine Ausnahmeerscheinung zu sein. Er war stets freundlich und zuvorkommend, und das zu jedermann, völlig egal, ob sein Gegenüber nun Produzent oder Praktikant war, er behandelte sie alle als das, was sie waren: als Menschen.

Davon hätte sich der Hektiker von Regisseur ruhig mal eine Scheibe abschneiden können.

»Weißt du eigentlich, wer das war?«

Charlotte verneinte. »Vorgestellt hat er sich nicht, kam nur kurz ins Studio gefegt und hat etwas von Aufzeichnung gebellt, dann ist er wieder verschwunden. Aber … oh«, sie blickte an Lizzy vorbei, »wenn man vom Teufel spricht.«

Postwendend drehte sich Lizzy um.

Ein großer, schlaksiger Mann lief zwischen den Tischen hindurch, der leicht gekrümmte Rücken und die zusammengezogenen Schultern standen in direktem Gegensatz zu seinem hochnäsigen Gesichtsausdruck. Lizzy musterte die Gestalt einmal von oben bis unten. Das also war der Regisseur der Abendstunde. Nun, Geld schien er ja zu haben, aber …

»… wie kann man sich mit so teuren Klamotten nur so billig anziehen?«, sprach Lizzy ihre Gedanken laut aus.

»Ich schätze, die Marken sind mehr Pflicht als Vergnügen. In seiner Position kann er natürlich nicht einfach in Jeans kommen, und wenn doch, dann eben nur in Prada-Jeans …«

»Aber doch bitte nicht in sündhaft teurer Tuchhose und Poloshirt mit … Krawatte.« Lizzy kicherte und erhaschte noch einen Blick auf das moosgrüne Machwerk um den Hals des Regisseurs, bevor dieser um die Ecke in einen Nebenraum bog. »Vielleicht sollte er besser einen Stilberater engagieren.«

Charlotte zog amüsiert eine Augenbraue hoch. »Seit wann interessiert sich Elizabeth Bennet für Mode?«

»Seit ich vergeblich versuche, mir Mary im Abendkleid vorzustellen«, erwiderte Lizzy, »denn übermorgen muss sich auch meine liebe kleine Bücherwurm-Schwester herausputzen wie ein Paradiesvogel. Und das wird ihr wahrscheinlich gar nicht gefallen. Gefällt mir ja schon nicht …«

»Oh, ja, übermorgen ist ja ihre Abschlussfeier.«

»Allerdings. Und ich hoffe doch sehr, dass du auch zum Ball kommst? Marys Jahrgang wird mir vermutlich schnell zu langweilig, und dann verbringe ich den Rest des Abends möglicherweise schlafend.«

»Natürlich komme ich! Irgendjemand muss doch Jane die Verehrer vom Hals halten, während du selig vor dich hindämmerst.« Charlotte zwinkerte.

»Guter Punkt. Ach – ich hatte Jane ja versprochen, sie zurückzurufen«, erinnerte sich Lizzy und wühlte ihr Handy aus der Tasche.

»Tu das«, Charlotte erhob sich, »ich hole mir noch einen Kaffee. Soll ich dir irgendetwas mitbringen?«

Lizzy schüttelte dankend den Kopf, das Telefon bereits am Ohr. Sie blickte ihrer Freundin nach, die zügigen Schrittes zwischen den Tischen verschwand.

Was wäre sie nur ohne Charlotte? Sie kannten sich seit Lizzys Kindergartenzeit, und obwohl Charlotte ganze fünf Jahre älter war, hatten sie sich immer bestens verstanden. Charlotte war gleichermaßen freundlich und klug, und Lizzy war ein ausgesprochen aufmerksames und gelehriges Kind gewesen. Sie hatte sich schnell die Verhaltensweisen der Älteren abgeschaut und in den kommenden Jahren immer öfter deren Gesellschaft bevorzugt – nicht zuletzt auch dank ihrer älteren Schwester Jane, die den anfangs doch enormen Altersunterschied zu Charlotte problemlos überbrückt hatte. Inzwischen hatte Lizzy aber alle beide sogar um einen Schritt überholt, indem sie aus ihrem Elternhaus ausgezogen war. Wenn auch vor dem Hintergrund, dass sie von der Schule aus direkt ins Berufsleben übergegangen war – in Sachen Selbstständigkeit hatte sie im Moment die Nase vorn. Aber, das wusste Lizzy, Jane würde es ihr alsbald nachtun. Sie befand sich inmitten ihres Studiums, und hätte sie das Geld schon gehabt, hätte sie sicherlich mit Lizzy gemeinsam das Nest verlassen.

»Jane, hallo, ich bin’s. Wegen des Balls … oh, in rot? Na, das war ja klar. Und was sagt Mama dazu?«

Am anderen Ende des Raumes tauchte Charlotte wieder auf, ein Tablett in der Hand.

»Das klingt ja phantastisch … gut. Sag ihr bitte, ich werde nicht mehr einkaufen gehen, ich passe nämlich noch in mein Kleid.« Lizzy kicherte.

Charlotte stellte das Tablett auf den Tisch und setzte sich.

»Dann soll sie sich gefälligst an den Kantinenchef von Meryton TV wenden«, Lizzy lachte ins Telefon, »sag ihr einen lieben Gruß!«

»Von mir auch«, warf Charlotte ein.

»Von Charlotte auch«, gab Lizzy weiter, »ja, mache ich. Mach’s gut!« Sie steckte das Handy wieder weg. »Schöne Grüße von Jane.«

»Danke.« Charlotte nahm eine Tafel Schokolade vom Tablett und legte sie neben Lizzys Tasse. »Was war das mit dem Kantinenchef? Brauchen sie etwa noch ein Catering für den Ball?«

»Um Himmels willen, nein!«, wehrte Lizzy entsetzt ab. »Ich meinte nur, wenn es meiner Mutter nicht passt, dass ich noch in mein altes Kleid passe, sollte sie sich an besagten Herrn wenden …«

Charlotte lachte. »Und ihm vielleicht ein paar Rezepte zukommen lassen?«

»Damit würde der Laden hier garantiert um einiges besser verdienen. Apropos«, Lizzy deutete auf die Schokolade, »womit habe ich das denn verdient?«

»Für die selbstlose Rettung meines Praxissemesters. Und, ganz nebenbei natürlich nur, deiner Ausbildung.«

»Danke, danke. Immer nur her damit«, alberte Lizzy, während sie die Schokoladenverpackung aufriss und sich ein Stück in den Mund steckte, bevor sie die Tafel zu Charlotte schob, »ha’ ’ch dir eignglich chon vommeim Chlipssräga-chyngrom erchählt?«

»Wie bitte?«

»Chlipch… Momenk …«, Lizzy schluckte, »Schlipsträger-Syndrom.«

»Wie bitte?«, wiederholte Charlotte, diesmal weniger belustigt als irritiert.

»Also nicht. Wann auch …«, begann Lizzy, rückte ihren Stuhl zurecht und berichtete Charlotte in aller Ausführlichkeit von der merkwürdigen Begegnung auf ihrem Weg zur Arbeit.

Eine Tafel Schokolade später schüttelte Charlotte nur ungläubig den Kopf.

»Na sowas … der Mann scheint ja eine gewisse Ähnlichkeit mit unserem neuen Regisseur zu haben.«

»Was seine Manieren angeht, ist die Ähnlichkeit in der Tat frappierend«, bestätigte Lizzy, »aber ansonsten …«

Sie verstummte abrupt, als Charlotte warnend einen Finger an die Lippen hielt. Ihr Blick war hinter Lizzy in den Raum gerichtet.

»Herrje, ist der etwa schon wieder da?«, fragte Lizzy leise.

»Allerdings. Hat vermutlich fertig gespeist.«

»Dann wäre es wohl an der Zeit, sich vorzustellen.«

Sie fischte das leere Schokoladenpapier vom Tisch und wollte aufstehen, aber Charlotte hielt sie zurück.

»Das ist seine Aufgabe. Er wird das Team heute Abend schon noch begrüßen, und wenn er es nicht tut, wirst du dich ärgern, deine Pause für ihn verschwendet zu haben.«

»Da ist was dran …«

»Na siehst du.«

»Ja, und ich sehe noch etwas: Mister Schlips und Mister Regie können sich zwar in personifizierter Unhöflichkeit kaum übertreffen, aber es gibt einen bedeutenden optischen Unterschied.«

»Mister Schlips trägt einen Schlips?«, schlug Charlotte vor.

»Nein – na ja, das versucht Mister Regie ja irgendwie auch. Nein, es ist mehr das Erscheinungsbild in seiner Gesamtheit.«

»Ist Mister Schlips also klein und dick?«

»Nein«, Lizzy grinste, »er ist …«

Sie hielt einen Moment lang nachdenklich inne und das Grinsen wich schließlich einem hintergründigen Lächeln.

»Er ist der ungekrönte Mister Universe.«

Kapitel 5

Unverhofft kommt oft

Dicke, schwere Regentropfen fielen vom Himmel, als Lizzy zum zweiten Mal an diesem Tag auf das Gelände von Meryton TV hastete.

Irgendetwas war heute anders als sonst. Obwohl … nein. Es war alles anders als sonst. Eine neue Sendung, Charlotte an der Kamera, und auch der unerwartet frühe Feierabend.

Der überaus dankbare Kollege vom Ton hatte Lizzy nach ihrem mutigen Einsatz bei der Aufzeichnung von der Anwesenheitspflicht während der Sendung entbunden und sie direkt nach Hause geschickt, und Lizzy, das wenig erfreuliche Bild von Mister Regie vor Augen, hatte sich ohne Widerworte gefügt. Unglücklich war sie darüber nicht gerade, denn wenn die Abendstunde nun tatsächlich einen festen Sendeplatz bei Meryton TV inne hatte, würde sie um die Bekanntschaft des neuen Regisseurs sowieso nicht herumkommen. Und nach allem, was sie bisher über ihn wusste, war es wirklich kein Drama, wenn dieses Ereignis noch einen Tag länger auf sich warten ließ.

Das Letzte, was sie beim Einsammeln ihrer Tasche noch mitbekommen hatte, war eine in aggressiver Lautstärke über die Kommandoanlage vorgetragene Beschwerde gewesen, weshalb zum Geier denn der Moderator immer noch nicht anwesend wäre. Mitleidig hatte sie ihrem Kollegen viel Vergnügen gewünscht und sich dann schleunigst verabschiedet. Den Bus hatte sie zwar noch erwischt, war aber schon nach einer Station wieder ausgestiegen, um ihrer Vergesslichkeit Tribut zu zollen: Unter dem Mischpult lag noch, wie konnte es auch anders sein, ihr Regenschirm. Ausgerechnet.

Ein Tropfen klatschte Lizzy direkt auf die Nase. Das unstete Prasseln klang beunruhigend nach dem Vorspiel eines mächtigen Gewitterschauers …

Lizzy eilte voran. Sie hatte nur noch eine Straßenecke vor sich. Vor etwa zwei Stunden hatte sie an dieser Stelle noch genüsslich ein Croissant verdrückt. Und Mister Schlips beobachtet. Mister Universe, korrigierte sie sich selbst in Gedanken und musste unwillkürlich grinsen.

Ihr Handy holte sie prompt zurück ins Hier und Jetzt.

»Hallo Charlotte … ja, genau, mein Schirm. Oh, danke, das ist lieb von dir. – Brrrr!«, kommentierte sie den auf einmal sehr viel stärker werdenden Regen, »jetzt wird’s nass!«

Sie sprintete los, lief um die Ecke – und prallte um ein Haar mit einem Mann zusammen, der vor der Tafel mit den Busfahrzeiten stand.

»Huch – Entschuldigung«, sie wich knapp aus und hastete weiter, »ja, ich bin fast da. Bis gleich!«

Das Regenprasseln schwoll unaufhörlich an, und Lizzy flog förmlich auf das leuchtende Logo zu. Unter dem Vordach konnte sie bereits die Silhouette von Charlotte erkennen, die soeben einen Schirm – Lizzys Schirm – aufspannte und ihr entgegenkam.

Atemlos tauchte Lizzy unter das schützende Dach.

»Puh! Danke dir, das war wirklich knapp. Immerhin werde ich jetzt mit trockener Unterwäsche nach Hause kommen. Und das verdanke ich nur dir.«

Charlotte lachte. »Was man nicht im Kopf hat …«

»Hast du in den Beinen«, stellte Lizzy trocken fest und begleitete ihre Freundin zurück unter das Vordach.

»Na dann – ich wünsche dir eine schöne Sendung mit dem einzig wahren Mister Regie«, verabschiedete sie sich frech.

»Danke. Und ich wünsche dir …«, Charlotte pausierte und lauschte demonstrativ auf das Rauschen des Regens, »… einen wunderschönen Heimweg«, konterte sie lächelnd.

Lizzy zog eine Augenbraue hoch, dann streckte sie ebenso unschuldig lächelnd die Arme aus und trat auf Charlotte zu. »Abschiedsumarmung?«

Lachend duckte sich Charlotte unter den regennassen Ärmeln weg. »Nichts da, ich muss jetzt arbeiten!«

»Allerdings. Mit Mister Regie. Abschiedskuss?«

»Such dir jemand anderen zum Kuscheln! Deinen Mister Universe. Der macht nass bestimmt mehr her als ich …«

Kichernd wie zwei Schulmädchen alberten sie noch eine Weile herum, bis Charlotte sich auf den Weg zurück ins Studio machte.

Mit einem Seufzer trat Lizzy hinaus in den dunklen Wasserfall. Sie überlegte kurz, ob sie den Schirm nicht einfach schließen sollte – ihre Kleidung war ohnehin nass, und im Grunde liebte sie Wolkenbrüche über alles. Nachdem es bis zu ihrer Wohnung aber doch relativ weit war, entschied sie sich dagegen. Wenigstens vorerst.

Sie spazierte ohne Eile an der Straße entlang und atmete die frische Luft tief ein. Es roch nach nasser Erde. Nach Sommer. Sie hörte das Wasser, sie fühlte den hauchfeinen Schleier winziger Tröpfchen auf dem Gesicht und ließ sich einfach treiben.

Lizzy nahm kaum wahr, wie sich ihre Füße bewegten – ebenso wenig wie sie die Gestalt wahrnahm, auf die sie direkt zulief. Im wahrsten Sinne des Wortes abgeschirmt vom Rest der Welt schwebte sie ihres Weges. Erst im letzten Moment realisierte sie einen Schatten und stoppte ihren Sinnestaumel, gerade noch rechtzeitig, um einen Blick auf den hochgeschlagenen Kragen ihres Gegenübers zu werfen, bevor sie mit ihm zusammenstieß.

Erschrocken machte Lizzy einen Schritt zurück und beförderte den Schirm aus ihrem Sichtfeld.

»Verzeihung«, drang es mürrisch und leicht zerstreut an ihr Ohr.

»Sie!«, entfuhr es Lizzy überrascht.

Unter den tropfnassen dunklen Strähnen sah ihr das verkniffene Gesicht von Mister Universe entgegen.

Kapitel 6

Gewitter

Einen Moment lang glaubte sich Lizzy im falschen Film. Ihr Gegenüber war augenscheinlich zur Salzsäule erstarrt.

Fasziniert bemerkte sie, wie er trotz der kleinen Sturzbäche, die ihm aus den Haaren über die Stirn liefen, nicht einmal blinzelte – sein Blick nagelte sie regelrecht fest, er fixierte sie mit einer Intensität, bei der einem bange werden konnte.

Aber Elizabeth Bennet zählte nicht zu den Leuten, die sich schnell einschüchtern ließen. Schon gar nicht von schweigenden Schlipsträgern während eines Wolkenbruchs.

»Warten Sie immer noch auf den Bus?«, fragte sie keck.

Mister Schlips schwieg sich aus. Nur seine Augen wurden etwas schmaler.

»Oder auf irgendetwas anderes?«, hakte Lizzy nach.

Sein Blick ruhte unbeirrt auf ihr.

Lizzy erwiderte ihn herausfordernd, doch ohne nennenswerten Erfolg: Der Mann rührte sich keinen Millimeter, in seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen. Er schien seinen Regenschirm nicht vergessen, sondern eher verschluckt zu haben … davon abgesehen, so viel musste sie sich eingestehen, wäre er wohl wirklich ein guter Kandidat für die Wahl zum Mister Universe gewesen. Seine Züge waren klar und markant, die Nase gerade und der Körperbau war, soweit es der nasse Anzug vermuten ließ, auch nicht schlecht. Und ein Lächeln hätte den frostigen Blick, mit dem er sie gerade so unverblümt musterte, vielleicht zu einem unwiderstehlichen Attribut machen können.

Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass die Regentropfen zwischen ihnen nicht direkt gefroren. Die Atmosphäre war jedenfalls eisig.

Schließlich gab sie auf und zuckte mit den Schultern. »Tja, wenn ich Ihnen nicht weiter …«

»Was wollen Sie?«, unterbrach er sie plötzlich barsch.

Lizzy starrte ihn eine Sekunde lang wortlos an. Er blinzelte immer noch nicht, doch in seinen dunklen Augen glomm ein Schimmer der Verachtung.

»Eigentlich«, begann sie gefährlich leise, »wollte ich Ihnen helfen. Denn ich lasse niemanden gern im Regen stehen. Aber jetzt«, sie funkelte ihn zornig an, »jetzt will ich einfach nur noch vorbei.«

Damit zog sie ihren Schirm zurück zu sich, und aus Mister Universe wurde wieder ein gesichtsloser Schlipsträger. Und nachdem dieser sich nach wie vor in einer Art Schockstarre zu befinden schien, sprang Lizzy kurz entschlossen vom Bordstein hinab auf die Straße – direkt in eine Pfütze.

Der Schwall aus Dreckwasser und vielleicht auch Lizzys helles Auflachen brachte schließlich Leben in den stummen Anzugträger. Mit einem erschrockenen Schritt zur Seite drehte er sich um, doch Lizzy verschwand längst durch die Regenschleier hüpfend in der Dunkelheit.

Er blickte ihr einen Moment lang irritiert nach. Es fiel ihm schwer zu sagen, was unangenehmer war, die hysterischen Sternchen der Highsociety oder so ein rotzfreches Landei. In puncto Authentizität aber hatte die Dorfgöre ganz klar die Nase vorn. Und wenn sie nicht gerade schokoladenverschmiert oder patschnass gewesen wäre, hätte sie vielleicht sogar ganz passabel ausgesehen …

Er schüttelte ärgerlich den Kopf. Unfug. Alle Schönheit dieser Welt konnte Respektlosigkeit nicht wettmachen!

*

Singend und mit einem Geschirrtuch bewaffnet tanzte Lizzy durch ihre Wohnung. Mit einer schwungvollen Drehung beförderte sie den letzten Teller in den Schrank und warf das Handtuch zielgenau über die Heizung.

Draußen tobte immer noch das Gewitter, mit dem sie auf dem Heimweg bereits Bekanntschaft gemacht hatte – und das ihr eine unerklärliche Energie bescherte. Seit dem Hüpfer in die Pfütze war sie von einer andauernden Unruhe erfüllt, die Dinge wie Stillsitzen und konzentriertes Arbeiten unmöglich machte. Also ließ Lizzy bürokratische Pflichten, den Fernseher und sogar die heiß geliebten Bücher links liegen, während sie sich Stunde um Stunde in die Nacht tanzte.

Das Licht hatte sie ausgeschaltet, einzig die Straßenlaternen und das Display der Stereoanlage tauchten den Raum in einen bläulichen Schimmer. Der Wind blies die Regentropfen gegen die Fensterscheiben und ab und an zeichnete ein Blitz eine Momentaufnahme von Lizzys Bewegungen an die Wände.

Völlig gefangen in Rhythmus und Klängen bemerkte sie weder die SMS von Charlotte noch las sie die E-Mail von Jane, und auch als gegen Mitternacht die nächste SMS von Charlotte kam, wiegte sich Lizzy noch immer selbstvergessen zwischen Couch und Fenster hin und her.

Sie dachte nicht an den bevorstehenden Abschlussball ihrer Schwester, nicht an das unfertige Berichtsheft, nicht einmal an die nervenaufreibende Aufzeichnung des vergangenen Tages. Sie schwebte in einer anderen Sphäre …

Sie war eins mit dem Rauschen des Regens, sie hob ab und flog, flog durch die schwarzblauen Wolken hindurch, umzuckt von den Blitzen … blitzende Lichter, die Wolkenfetzen waren der Nebel auf ihrer Tanzfläche, das Klopfen ihres Herzens der Takt ihrer Füße, schnell, fordernd, intensiv. Der Wind trug sie mit sich, immer höher, der dunkelblaue Nebel um sie herum wurde dichter und dichter … und wieder ein Blitz. Gleißend hell, viel heller als alle vorigen. Die blaue Nebelwolke um sie herum zerbarst in tausend kleine Tropfen, in denen sich der gezackte Blitz noch für Sekundenbruchteile spiegelte, bevor es wieder dunkel wurde. Der nächste Blitz kam sofort, und auf der grauen Wolkenwand vor ihr zeichnete sich deutlich ein schwarzer Schatten ab – der sich langsam aus der Wolke löste und auf Lizzy zuschwebte. Es blitzte wieder, der Schatten hatte jetzt die Gestalt eines Menschen und sie konnte die Schärpe über seiner Brust erkennen … auf nachtschwarzem Samt stand aus silbrig glitzernden Wassertropfen Mister Universe.

Und dann brach die Wolkenwand auf, und der Mond schien direkt auf ihn hinab – und Lizzy blickte geradewegs in zwei zornig blitzende dunkle Augen.

»Schokolade«, fauchte er, ohne seinen Unterkiefer dabei zu bewegen, und zog eine riesige Tafel aus dem Jackett.

Das Knacken der brechenden Rippchen hallte donnernd am Himmelszelt wieder, und bevor Lizzy es verhindern konnte, begann Mister Universe, sie mit Schokoladenstücken zu bewerfen, er schleuderte sie ihr förmlich entgegen, ein Hagel aus bittersüßen Splittern flog wie in Zeitlupe direkt auf sie zu! Sie duckte sich weg und hielt schützend den Arm vor ihre Augen.

Es donnerte … nein … er lachte. Er lachte, laut und dröhnend, und Lizzy konnte nicht anders als aufzusehen. Noch ein ungeheuer heller Blitz zuckte in diesem Moment quer über den Nachthimmel, und Lizzy sah das lachende Gesicht – das hübscheste männliche Gesicht, das sie jemals gesehen hatte – und sie sah die neue Aufschrift auf der Schärpe: Mister Schlips.

Ein krachender Donner holte Lizzy mit einem gewaltigen Schlag in die Realität zurück. Sie fuhr hoch – und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Sie lag auf der Couch, die Stereoanlage lief … Lizzy tastete nach ihrem Handy. Es war halb vier Uhr morgens. Sie war eingeschlafen. Einfach weggenickt. Beim Tanzen, irgendwie.

Noch etwas konfus las sie die Mitteilungen von Charlotte. In der ersten ging es um irgendeinen Moderator, und in der zweiten … sie schüttelte gequält den Kopf. Da standen Wörter, die sie kannte, und die eine wichtige Information enthielten, das wusste sie, aber sie war noch nicht in der Lage, diese zu erfassen. Sie stand auf und lief auf wackligen Beinen ins Badezimmer, um sich eine Ladung Wasser ins Gesicht zu kippen, und langsam tröpfelte ihr der Sinn von Charlottes Nachricht ins Bewusstsein.

Plötzlich hellwach griff sie nochmal zum Handy. Hatte ihr die Schlaftrunkenheit einen Streich gespielt? Da stand doch nicht wirklich …?!

Hey Lizzy, morgen Portrait-Dreh von Charles Bingley für die Abendstunde, 9:00 Uhr Treffen! Du bist für den Ton eingeteilt. Ich ruf dich morgen früh nochmal an, falls du schon schläfst. Träum süß! ;-) LG Charlotte

Kapitel 7

Der Känguru-Effekt

Vier Uhr sieben.

Verärgert warf Lizzy das Handy wieder zurück auf den Nachttisch. Hatte sie noch vor einer Dreiviertelstunde die Augen kaum aufbekommen, war es nun umgekehrt – sie starrte ruhelos in die Dunkelheit.

Draußen hatte es aufgehört zu regnen, nur ganz in der Ferne war noch vereinzeltes Donnergrollen zu hören. Davon abgesehen war es still.

Zu still, fand Lizzy. Es war die Ruhe vor dem Erwachen, der Moment, bevor das Leben wieder zu einem neuen Tag ansetzte.

Die letzte kurze Zeitspanne vor dem Vogelgezwitscher.

Lizzy stöhnte und warf sich auf die andere Seite. Es war doch immer wieder das Gleiche. Kaum sollte man schlafen, ging es nicht.

Es hatte den gleichen Effekt, wenn man jemandem sagte, er sollte keinesfalls an ein blaues Känguru denken – unmöglich, denn genau in diesem Moment setzte demjenigen das Gehirn besagtes Känguru direkt vor das innere Auge.

Möglicherweise war das auch der Effekt, weshalb verbotene Dinge einen ganz besonderen Reiz ausübten.

Und ganz sicher war es der Effekt, der es der selbstbewussten Lizzy schon immer schwer gemacht hatte, ein Ärgernis einfach zu vergessen, ganz besonders, wenn es ein personifiziertes Ärgernis war. Die gute Kinderstube lehrte sie zwar, in unnachgiebigen Fällen sei Ignoranz die beste Methode, aber die damit einhergehende Passivität hatte Lizzys Versuche der Befolgung wieder und wieder scheitern lassen.

Das war dann wohl auch die einzige Erklärung, weswegen Mister Schlips sie in ihrem Unterbewusstsein heimgesucht hatte, obwohl sie eigentlich in einer ganz anderen Welt unterwegs gewesen war: Sein Verhalten beschäftigte sie automatisch, weil es in seiner ganzen Unfreundlichkeit gegen sie gerichtet worden war, und zwar für sie absolut unverständlicherweise. Und vor allem ohne jedwede Möglichkeit zu einem angemessenen Konter …

Na besten Dank. Jetzt ließ sie sich auch noch von so einem Miesepeter den Schlaf klauen. Erst beendete er ihr Nickerchen auf der Couch und jetzt hielt er sie wach.

Wenn sie diesen Kerl jemals wiedersehen sollte, konnte er etwas erleben …

»Rache ist süß«, murmelte sie in die Dunkelheit.

Ja, Rache war süß. Aber Schokolade war besser. Lizzy rollte sich wieder auf den Rücken und schloss die Augen.

Ein Vogel schlug an.

Vier Uhr einundzwanzig.

Kapitel 8

Anprobenproblematik

»Lizzy? Lizzy, kannst du mir bitte mal helfen?«

Dem Ruf folgend lief Lizzy die Treppe hinauf ins Dachgeschoss ihres Elternhauses. Jane stand im Badezimmer vor dem Spiegel und kämpfte mit ihrem Reißverschluss. Lizzy blieb einen Augenblick im Türrahmen stehen und beobachtete ihre ältere Schwester.

Jane war in einen fliederfarbenen Wust aus Tüll und Seide gehüllt, den man eher in einem Kostümverleih als in der Abteilung für Abendmode suchen würde und den Lizzy nur schwerlich überhaupt als Kleid bezeichnet hätte.

»Ach herrje …«, Lizzy verbiss sich ein Grinsen, »das ist es also …«

»Mama meint es ja gut, aber … ich denke nicht, dass ich in diesem Kleid wirklich auf den Ball gehen kann.« Jane sah unglücklich in den Spiegel.

Lizzy stellte sich daneben und blickte dem Spiegelbild ihrer Schwester direkt ins Gesicht.

»Na ja, wie soll ich sagen, es ist ziemlich … pompös. Was hat sie denn an deinem alten Kleid auszusetzen?«

»Ach, es entspricht angeblich nicht meiner Persönlichkeit, es macht mich zu blass, und überhaupt ist es völlig aus der Mode, und natürlich«, Jane deutete ein Augenrollen an, »ist es absolut ungeeignet, um einen Mann kennenzulernen.«

»Die alte Leier – als ob noch ein Mann auf dein Kleid achten würde, wenn er erst einmal dein Lächeln gesehen hat!«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich in diesem Kleid überhaupt lächeln werde.«

»Oh doch, das wirst du. Spätestens, wenn der Kellner sich nicht von diesem, äh …«, Lizzy griff nach einem großen Tüll-Bommel mit Glitzerpartikeln und suchte nach einer passenden Bezeichnung, »diesem … Accessoire losreißen kann und Mama den Sekt über den Rock gießt.«

»Oh weh …«

»Obwohl, möglicherweise hat Mama das alles genau geplant. Jeder halbwegs vernünftige Mensch im Raum wird dir dieses Machwerk sofort vom Leib reißen wollen, und wenn du den Reißverschluss gar nicht erst zumachst, kann dein Verehrer gleich …«

»Lizzy!« Jane bedachte ihre Schwester mit einem strafenden Blick.

»Jane – dieses Ding wirst du nicht anziehen.«

»Nein. Aber … ich enttäusche Mama so ungern«, murmelte Jane.

»Ich weiß.« Lizzy wurde ernst. »Aber Mama muss lernen, dass du erwachsen bist.«

Doch dass es manchmal gar nicht so besonders toll war, erwachsen zu sein, dessen war sich Lizzy wohl bewusster als ihre Schwester ahnte. Sie fühlte sich müde, denn die letzten Tage hingen ihr noch nach.

Der spontane Portrait-Dreh über den Wetterfrosch Charles Bingley (die Ausstrahlung hatte einen Begeisterungssturm ihrer Mutter zur Folge gehabt, der Lizzy noch immer in den Ohren klang) hatte für sie einen Zehn-Stunden-Tag unter freiem Himmel bedeutet. Der Abend war erfüllt gewesen von der gewissenhaften Reinigung des Equipments – Lizzy war sich nicht ganz sicher, ob der durchnässte und moosig verfilzte Windkorb oder die schlammverkrustete Tonangel den Ausschlag für diesen Akt der Strafarbeit gegeben hatte, jedenfalls war ihr der Unmut ihres Chefs nicht entgangen. Und als wäre dem der ungebrochene Frohsinn seiner Auszubildenden während der Putzaktion ein Dorn im Auge gewesen, hatte er sie daraufhin gleich noch zur Inventur eingeteilt. Die Woche war gelaufen.

Und nun galt es, die letzte große Hürde vor dem wohlverdienten Wochenende zu meistern: Marys Abschlussball. Dass vor diesem Ereignis allerdings noch diverse kleinere Hürden warteten, war Jane und Lizzy ganz klar.

Eine Weile standen die Schwestern schweigend nebeneinander. Dann erschallte helles Lachen im Treppenhaus, gefolgt von hysterischem Quietschen, das sich schnell in die Zankeslaute zweier erbitterter junger Konkurrentinnen wandelte.

Während im unteren Stockwerk ein Teenager-Theater erster Klasse ausbrach, erschien Mary im Türrahmen – mit einem wahren Gewittergesicht.

Nach dem Grund für die Grimasse brauchten weder Jane noch Lizzy zu fragen, denn er war klar ersichtlich.

»Kann mir bitte eine von euch aus diesem Korsett helfen?«

*

»Kinder, ihr geht mir auf die Nerven! Wenn ihr es nicht schafft, euch wie Damen zu benehmen, dann bleibt ihr heute Abend zu Hause!«, schimpfte Mrs. Bennet, doch ihre Stimme verhallte wie üblich ungehört im lautstarken Streit ihrer beiden jüngsten Töchter.

»Ich sage es nicht noch einmal!«

Damit zog sie die Tür hinter sich zu und drehte sich zu Lizzy um, die gerade die Treppe herunter kam.

»Mama – schick das bitte zurück«, sagte sie und drückte ihrer Mutter den fliederfarbenen Tüll-Haufen in die Arme.

»Oh, jetzt reicht es mir aber! Ich weiß wirklich nicht, warum ihr euch so anstellt! Als ich in eurem Alter war, hatte ich nie …«

»Der Reißverschluss ist kaputt«, erwiderte Lizzy schlicht.

Diese Information genügte, um Mrs. Bennet vorerst verstummen zu lassen. Umso durchdringender klangen die Stimmen ihrer beiden Jüngsten nun wieder aus dem Zimmer. Mrs. Bennet schüttelte unwirsch den Kopf.

»Lizzy, wenn du einmal Kinder hast, hoffe ich für dich, dass es nur Jungen sein werden«, meinte sie, dann rief sie nach Jane und machte sie sich mit dem Kleid beladen auf den Weg nach oben.

Lizzy überlegte kurz, dann öffnete sie die Tür zum Zimmer ihrer Schwestern.

Das Bild, das sich ihr bot, war bezeichnend: Lydia, die Jüngste, posierte in einem leuchtend türkisfarbenen Fummel mitten im Zimmer, während die ein Jahr ältere Kitty mit wütendem Gesicht in Unterwäsche auf ihrem Bett saß und gegen die Anprobe protestierte.

»Ich habe es zuerst gehabt!«

»Ja, aber du wolltest es nicht, und jetzt habe ich es!«

»Aber vorher wolltest du es nicht!«

»Wenn du es wolltest, hättest du es behalten müssen!« Lydia drehte sich beschwingt im Kreis.

»Das ist unfair! Du wolltest es nicht!«

»Na und? Du wolltest es doch gerade auch nicht!«

»Du wolltest das Rote!«

»Aber das Türkise steht mir besser.«

»Aber Mama hat extra das Rote für dich bestellt, das Türkise war für mich!« Kittys Tonfall wurde weinerlich.

»Aber du hast gesagt, dass es dir nicht richtig passt, weil du zu wenig Busen hast, und mir passt es perfekt!«, erwiderte Lydia frech und drehte triumphierend noch eine Pirouette.

»Oh, das ist so unfair!«, heulte Kitty los. »Bloß weil du noch deinen Babyspeck hast …!«

Jetzt war es an Lydia, wütend zu werden.

»Babyspeck?«, fauchte sie in Richtung Bett. »Ja, klar, deswegen findet mich Denny ja auch so heiß, weil ich so viel Babyspeck im Ausschnitt habe …«

»Denny findet dich nicht heiß!«

»Tut er doch!«

»Tut er nicht!«

»Doch!«

»Nein!«

»Doch!«

»Nein! Gib mir endlich mein Kleid zurück!«

»Das ist nicht dein Kleid!«

»Gib es mir, oder ich sag es Mama!«

»Mama hat gesagt, wir sollen das unter uns ausmachen, und du wolltest es nicht, und jetzt habe ich es, also hast du Pech gehabt!«, knurrte Lydia.

Kitty starrte sie aus verheulten Augen einige Sekunden lang böse an, dann sagte sie: »Na gut. Der Klügere gibt nach.« Sie griff nach dem roten Kleid, das so lange missachtet auf dem Boden gelegen hatte, und begann, es anzuziehen.

»Pfff, ja, genau«, kommentierte Lydia herablassend, »von wegen klüger. Ich hab in allen Fächern bessere Noten als du, also wer ist hier klüger …«

»Mir doch egal. Ich bin älter.« Kitty strich den rot glänzenden Stoff glatt.

»Aber nicht klüger.«

»Doch.«

»Nein.«

»Doch, das kannst du noch gar nicht beurteilen.«

»Kann ich wohl.«

»Nein, erst wenn du siebzehn bist.«

»Du bist echt so kindisch …!« Lydia ärgerte sich maßlos über die Wendung des Gesprächs.

Kitty lachte gekünstelt auf. »Ja, sicher, das musst du gerade sagen …!«

»Tja, immerhin interessiert sich Denny für mich«, holte Lydia zum Gegenschlag aus, »und das, obwohl er in deiner Klasse ist …«

»Denny interessiert sich überhaupt nicht für dich!«, sprang Kitty prompt darauf an.

»Ach nein?«

»Nein, kein Stück!«

»Oh doch.«

»So, und woher weißt du das bitte so genau …?«

»Von seinem besten Freund.«

»Ach, und woher will der wissen, was Denny wirklich fühlt?«

»Na, vielleicht weil sie miteinander reden …?«

»Tja, Denny redet aber noch mit anderen Leuten. Mit mir nämlich.«

»Pfff, tut er nicht.«

»Doch, natürlich!«

»Wer’s glaubt …«

Lizzy zog die Tür wieder zu. Im selben Moment hörte sie die aufgebrachte Stimme ihrer Mutter, gefolgt von einem Wutschrei von Mary. Auf dem Treppenabsatz erschien Jane und winkte hilfesuchend.

Ergeben machte sich Lizzy wieder auf den Weg ins Dach. Während sie die Stufen hinaufstieg, nahm sie sich fest vor, den Versandhauskatalog ihrer Mutter beizeiten abzubestellen. Einen Versuch war es sicherlich wert!

Kapitel 9

Von Ball zu Fall

»Und, wie war es?«

»Toll«, Mary rollte mit den Augen, »ich verstehe wirklich nicht, wieso man sich in dieser Gesellschaft immer so aufbrezeln muss …«

»Mary, Liebes, es geht hier immerhin um deinen Schulabschluss.«

»Mama, dieser Abschluss ist nichts wert! Die ganzen Hühner haben ihn auch«, Marys Gesichtsausdruck bewegte sich irgendwo zwischen qualvoll und genervt, »und ich bin auch noch mit denen auf dem blöden Foto …«

Im Hintergrund zog eine Gruppe gackernder Mädchen in Abendgarderobe vorbei, jedes ein Glas Sekt in der Hand. Lizzy grinste.

»Hast du wenigstens brav gelächelt?«, fragte sie.

»Nein.«

»Nein?« Mrs. Bennet riss entsetzt die Augen auf.

»Ja.«

»Wie?!«

»Schönheit macht die Menschen auch nicht klüger. Sie blendet nur unnötig und vereitelt den Blick auf den Wesenskern«, erklärte Mary mit ernster Miene ihrer irritierten Mutter.

Bevor diese ihre Aufregung verlautbaren konnte, ergriff Jane das Wort.

»Komm, Mary, lass uns zu Charlotte gehen, sie sitzt schon mit Papa am Tisch.«

»Guter Plan«, befand Lizzy und wandte sich an ihre Mutter, »und wir zwei holen uns jetzt erst einmal einen Sekt.«

Ergeben schluckte Mrs. Bennet die angedachte Predigt hinunter und ließ sich von ihrer zweitältesten Tochter mitziehen.

Ein Stockwerk tiefer, im Keller unter dem Ballsaal, war eine prächtige Bar eingerichtet worden, und der Andrang dort war selbst unmittelbar vor dem großen Festessen enorm. So blieb Mutter und Tochter zunächst nichts anderes übrig, als im Gedränge vor der Theke bestmöglich ihre Frau zu stehen.

Während Lizzy schon nach wenigen Minuten des Wartens ihre ungewohnt hohen Schuhe zu verfluchen begann, entdeckte Mrs. Bennet etwas, das sie spontan veranlasste, ihre Tochter heftig am Arm zu packen.

»Au – Mama, was …«

»Lizzy, ist das nicht – das ist doch – ist das etwa Charles Bingley?!«

»Was?« Lizzy blickte sich verwirrt um. »Wo denn?«

»Na da, am Ende der Theke, neben der … oh Gott, Lizzy, er schaut hierher, zu uns – er hat dich bestimmt erkannt – nein, ach, jetzt schaut er wieder weg … Kind, wenn du nur auch in der Arbeit mal etwas Vernünftiges anziehen würdest, dann hätte er dich jetzt sicher auch erkannt …!«

»Wo denn nun?« Lizzys Augen schweiften noch immer suchend über die Köpfe hinweg.

»Da vorn, direkt bei – oh, er sieht her. Lizzy, er sieht her!«

Mrs. Bennet strahlte unentwegt in eine andere Ecke des Raumes und stieß ihrer Tochter fordernd den Ellenbogen in die Seite.

»Lizzy! Wink doch mal!«

»Wo denn, Mama, ich …«

»Die Damen, was darf es sein?«, unterbrach sie der Barkeeper freundlich, aber bestimmt.

Lizzy sah kurz auf, von ihrer Mutter kam bis auf den wiederkehrenden Ellenbogen keinerlei Reaktion, also orderte sie zwei Gläser Sekt, für sich eines mit Orangensaft, und widmete sich dann wieder der Suche nach dem vermeintlichen Mister Bingley. Der Blickrichtung ihrer Mutter zufolge musste er sich irgendwo in der Nähe der auffälligen rotblonden Turmfrisur befinden, die sich am anderen Ende der Bar einen exklusiv aussehenden Cocktail genehmigte und der Menge ihren hübschen Rücken präsentierte …

»Ach, kann sich die Dame da nicht langsam mal woanders platzieren«, beschwerte sich Mrs. Bennet just und reckte den Hals, »sie verdeckt Bingley ja völlig …!«

Lizzy lehnte sich ein Stückchen zur Seite, aber bis auf den Ärmel eines weißen Hemds konnte sie hinter dem schimmernden Prachtschopf nichts erspähen, was als Merytons Wettermann identifizierbar gewesen wäre.

»So die Damen, Ihr Sekt«, forderte der Barkeeper ihre Aufmerksamkeit und reichte Lizzy zwei Gläser.

Sie nahm sie dankend entgegen. »Hier, Mama, dein Sekt. Komm, lass uns wieder nach oben zu den anderen gehen, ich muss mich setzen, solange ich von meinen Füßen noch etwas spüre …«

Ihre Mutter griff nach dem Glas, ohne ihre Tochter anzusehen. »Bingley scheint sich mit dieser Frau zu unterhalten«, analysierte sie und kniff konzentriert die Augen zusammen, »offenbar gehören sie zusammen …«

Lizzy seufzte innerlich auf. »Mama, wenn es tatsächlich Charles Bingley ist, dann kommt er sicher auch gleich zum Essen in den großen Saal, und wenn er wirklich mit der Dame zusammen hier ist, dann werden wir ihn auch sehr schnell wiederfinden. Und dann gehen wir gleich nach dem Essen zu ihm an den Tisch und ich stelle euch vor. In Ordnung?«

»Na gut«, willigte Mrs. Bennet etwas widerstrebend ein, »aber wenn die Frau nun doch nicht zu ihm gehört …?«

»Dann sehen wir ihn spätestens beim Tanzen. Er ist nämlich ein begeisterter Tänzer und wird sich eine Gelegenheit wie diese auf keinen Fall entgehen lassen«, beschwichtigte Lizzy lächelnd.

Sie erinnerte sich bestens an den Portrait-Dreh – Merytons Wetterfrosch hatte sich privat als leidenschaftliche Tanzmaus entpuppt. Die lebhafte Demonstration würde sie so schnell nicht vergessen …!

»So, und jetzt komm mit, ich habe Hunger, und die anderen warten sicher auch schon«, drängte Lizzy, fasste ihre Mutter am Arm und dirigierte sie sanft in Richtung Treppenaufgang. Dort warf sie noch einmal einen kurzen Blick in Richtung Turmfrisur.

Die Rotblonde drehte sich gerade nach dem Barkeeper um, und so erschien hinter dem Haarschopf für einen Moment der dem Hemdsärmel zugehörige Oberkörper samt Kopf – und Lizzy blinzelte ungläubig. Das war definitiv nicht Charles Bingley. Der Mann sah eher aus wie … konnte das wirklich sein?

Sie blinzelte noch einmal, doch da lehnte sich der Rotschopf auch schon wieder zurück und verdeckte die Sicht auf den Träger des weißen Hemdes. Einen schicken Schlips hatte er angehabt, mit glitzernder Krawattennadel. So gesehen war er zwar ein Mister Schlips, aber sicherlich nicht der Mister Schlips. Nicht Mister Universe. Nicht hier!

Lizzy schüttelte unwirsch den Kopf. Sie sah Gespenster. Das war garantiert eine Auswirkung ihres leeren Magens, und der Sekt auf selbigen tat seinen Teil dazu. Eilig stieg sie die Stufen zum Ballsaal hinauf. Höchste Zeit für ein Festessen!

*

»Ah, meine Lieben, da seid ihr ja endlich.« Mr. Bennet erhob sich, um seiner Frau den Stuhl anzubieten. »Dann übergebe ich dir hiermit den Vorsitz über diesen Verein.«

Hintergründig lächelnd platzierte er seine ob dieser Maßnahme etwas irritierte Gattin am Kopfende, dann setzte er selbst sich neben Jane und bedeutete Lizzy, auf dem freien Stuhl an seiner Seite Platz zu nehmen.

»Komm zu mir, Elizabeth, und erzähle mir ein wenig von der Arbeit. Deine jüngeren Schwestern sind heute offenbar nicht in Plauderstimmung.«

»Na sowas«, grinste Lizzy und setzte sich.

Gegenüber bemühten sich Lydia und Kitty nach Kräften so zu tun, als hätten sie nichts gehört, ebenso wie sie sich gegenseitig mit aller Macht ignorierten.

Lydia saß kerzengerade und mit hochnäsiger Miene da und spähte über die von plaudernden Grüppchen bevölkerte Tanzfläche, während Kitty direkt daneben vollauf damit beschäftigt tat, ihren hellblauen Nagellack zu begutachten. Ein Fehler, wie sich schnell herausstellte, denn sofort bekrittelte Mrs. Bennet die nicht ganz exakte Übereinstimmung des Farbtons mit dem türkis schimmernden Kleid.

Lydia blickte zwar weiterhin in die entgegengesetzte Richtung, verzog den Mund aber trotzdem zu einem hämischen Lächeln – das prompt wieder verschwand, als Mrs. Bennet laut bemerkte, dass ihre jüngste Tochter zu dem feuerroten Kleid keinen kirschroten Lippenstift hätte auflegen sollen.

Schließlich erreichte der mütterlich besorgte Blick Mary – die sich angeregt mit Charlotte über irgendeine unverständliche technische Finesse unterhielt – aber da sie weder Nagellack noch Lippenstift noch sonstige unpassende Accessoires vorzuweisen hatte, wanderte er direkt weiter zu den beiden Vorzeigestücken der Familie.