Hampels Fluchten - Michael Kumpfmüller - E-Book

Hampels Fluchten E-Book

Michael Kumpfmüller

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Beschreibung

Die Kunst der Verführung – ein Roman über Liebe und Politik und die Betten im geteilten Deutschland. Er ist ein Spieler, ein Filou, ein Frauenheld und genialer Händler, der immer wieder auf die Beine kommt, aber am Ende vor die Hunde geht: Michael Kumpfmüllers Geschichte vom Bettenverkäufer Heinrich Hampel ist ein ebenso kraftvolles wie feinfühliges Buch über Politik und Liebe und die Betten im geteilten Deutschland, die Kumpanei mit der Macht, die Kunst der Verführung und die Weigerung, erwachsen zu werden. Jugend in der Sowjetunion, flieht Anfang der 50er Jahre in den Westen und setzt sich aus Angst vor seinen Gläubigern kurz nach dem Mauerbau in die DDR ab. Er ist ein begnadeter Verkäufer und phantasievoller Liebhaber, anpassungsfähig und aufmerksam, in der Liebe nicht weniger als im Leben. Hinreißende Frauen kreuzen den Weg dieses Helden, der am Ende seiner Suche nach dem Glück lernen muss, dass es irgendwann keinen neuen Anfang mehr gibt. Mit Michael Kumpfmüller meldet sich ein neuer Erzähler zu Wort, der mit dem Lebens- und Liebeskünstler Heinrich Hampel einen Helden geschaffen hat, den wir nicht mehr vergessen werden. Sein Roman vom Verführer und Verführten in den Betten zwischen Ost und West ist die Erzählung eines Lebens, das den Stempel der deutschen Geschichte trägt.

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Michael Kumpfmüller

Hampels Fluchten

Roman

Kurzübersicht

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Inhaltsverzeichnis

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelFörderhinweis
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Für Sabine, Leon und Luis

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1

An einem Dienstag im März ging Heinrich bei Herleshausen-Wartha über die Grenze. Das glaubt einem ja auf Anhieb keiner, daß ein Dreißigjähriger im Frühjahr neunzehnhundertzweiundsechzig mit nichts als einem Rucksack voll Wäsche und einer Flasche Whisky über die Grenze geht und an Frau und Kinder nicht denkt und erklärt, er möchte ein Bürger werden der Deutschen Demokratischen Republik in ihrem dreizehnten Jahr, und warum das so ist, muß in allen Einzelheiten vorläufig niemand erfahren.

Er hatte keinen genauen Plan, als er damals Richtung Grenze fuhr, bis zum Bahnhof in Fulda mit dem neuen Citroën, dann weiter mit dem Zug über Bebra bis kurz vor Herleshausen, an seinen Händen war noch der Geruch der Geliebten. An sie vor allem wird er gedacht haben, als er die letzten zwei, drei Kilometer abseits der Landstraße durch Felder, Wiesen, Waldstücke ging, aber vielleicht hatte er sie da ja schon vergessen und lauschte nur noch seinen Schritten auf dem feuchten, erdigen Boden, erschrak, wenn ein Passant seinen Weg kreuzte, begann ein bißchen zu schwitzen in seinem Anzug mit Weste und Hut und den weißen Schuhen, mit denen er sicher eine seltsame Figur abgab in der ländlichen Gegend, und also grüßte er nicht, wenn er gegrüßt wurde, sah nur immer die paar Meter, die vor ihm lagen, machte endlich eine Pause unter dem Dach einer Bushaltestelle und wußte, hier an der Bushaltestelle am Ortseingang von Herleshausen mußte sich die Sache entscheiden.

Anfangs war nur ein großes Durcheinander in seinem Kopf: die Gerüche der Geliebten (Marga war ihr Name), die Angst vor den Gläubigern, die Erleichterung, daß er ihnen entkommen war, der Gedanke an Rosa, die Betrogene, die zurückblieb mit den beiden Kindern, das alles lärmte und flimmerte durch seinen Kopf. Mindestens eine Stunde saß er damals an dieser Bushaltestelle und dachte an sein Leben, die Frauen, die da waren und noch kommen würden, die Betten, die er mit ihnen geteilt hatte, seinen Anfang und sein Ende als Geschäftsmann, seine Reisen, seine Besäufnisse, die Jahre in der Sowjetunion, die Krankheit des Vaters, den frühen Tod der Mutter und noch einmal die Geliebten in alphabetischer Reihenfolge, die da hießen mit Namen Anna, Bella, Dora, Gerda, Ljusja, Marga, Rosa und Wanda und die er unterschied nach ihren Gesängen, wenn sie bei ihm lagen, ihren Muttermalen an verschiedenen Stellen.

Eine Stunde saß er so und wartete, und als der Sturm in seinem Kopf vorüber war und er sich leer und entschlossen fühlte, stand er auf und ging von der Bushaltestelle über die Straße in einen Gasthof, wo er von einer jungen Kellnerin bedient wurde und zum Abschied ein großes Frühstück bestellte, denn bei Marga am frühen Morgen hatte er nichts gegessen.

Weil die Kellnerin nicht viel zu tun hatte, fragte sie ihn gleich, ob er aus der Gegend sei, und ob er die neuen Grenzanlagen schon gesehen habe, aber er war ja auf der Durchreise, und die neuen Grenzanlagen kannte er nur aus dem Fernsehen. Schrecklich, sagte die Kellnerin, und daß sie persönlich dort drüben nicht leben möchte, lieber würde sie sich aufhängen.

Und wenn er ihr nun sagt, daß er noch in den nächsten Stunden für immer nach drüben geht, weil er sich dort nicht aufhängen muß, aber hier im Westen müßte er’s?

Darüber soll er nun wirklich lieber keine Scherze machen auf Kosten der armen Schweine, die im Osten sind und keine andere Wahl haben, sagte die Kellnerin, und obwohl sie danach immer wieder verstohlen zu ihm herübersah und ein Auge auf ihn hatte und wie er da in seinen weißen Schuhen und dem Anzug am Tisch saß, schien sie ihm seine Bemerkung ernsthaft übelzunehmen. Mein Vater hat vor Jahren in Thüringen ein Haus gebaut, da möchte ich gerne leben, sagte Heinrich, als sie nach einer Weile die Rechnung brachte, und da stutzte sie einen Moment und sah ihn an, als müßte sie sich bei Heinrich entschuldigen, der aber stand auf und ging und war schon fort in Richtung Grenze.

 

Als er am Abend zuvor zum zweiten Mal vor Margas Haustür stand, zögerte er. Er war noch immer ein paar Minuten zu früh und sah das Licht in ihrem Fenster im zweiten Stock, und als er versuchte, sich an sie zu erinnern, fiel ihm ein, wie schmal sie gewesen war und wie vorsichtig. Wahrscheinlich schämte sie sich noch immer für die Geschichte damals bei ihm im Laden, und also bat sie ihn am Telefon um zwei Stunden, und erst nach Ablauf der zwei Stunden durfte er sie besuchen.

Obwohl er ein paar Minuten über die verabredete Zeit hatte warten wollen, war es Punkt acht, als er aus einer Telefonzelle in ihrer Straße noch einmal anrief, und weil ihre Stimme auf einmal ganz freundlich klang, lief oder vielmehr sprang er zu ihr die Treppen hinauf in den zweiten Stock, erkannte sie und gab ihr die Hand wie einer Fremden. Ja, sagte Heinrich und ließ sich von ihr durch eine sparsam möblierte Wohnung führen, im Badezimmer und auf dem Couchtisch und in der Schlafkammer sah er gleich die Spuren eines anderen Mannes, aber der war zum Glück nicht zu Hause oder blieb nur manchmal für eine Nacht und einen Morgen, kannte ihre spitzen, knochigen Stellen, hatte gelernt, sich nicht daran zu stoßen.

Marga war nicht sehr verändert seit dem letzten Mal, dem ersten. Ihre Augen, auf die er sich wieder besann, als sie vor ihm stand, kamen ihm auch diesmal sehr schmal und ungewöhnlich klein vor, und die Haare trug sie jetzt kurz und ein dunkelblaues Kleid bis übers Knie, das durfte ihm womöglich gefallen. Wenn sie in den letzten zwei Stunden nicht allein gewesen ist, dachte Heinrich, so läßt sie es sich jedenfalls nicht anmerken oder hat die Spuren gut verwischt, aber die Pfeife und den Rasierpinsel und den Schlafanzug läßt sie zu meiner Ermahnung offen liegen. Sie hatte etwas zum Abendessen vorbereitet und in der Küche für zwei Personen den Tisch gedeckt, und da saßen sie nun und redeten, vielleicht war’s ja ein Bruder, der aus beruflichen Gründen von Zeit zu Zeit in die Stadt mußte und bei der Schwester ein billiges Quartier fand, also das beschäftigte ihn, und ob sie nun alleine lebte oder mit einem anderen, nur das konnte er sie ja nicht einfach fragen.

Ich bin am Ende, sagte Heinrich, aber es gefällt mir, daß ich am Ende bin, und Marga nickte nur so mit dem Kopf dazu, sah seine schmutzigen Schuhe und den zerknitterten Anzug, wollte das alles nicht hören, für gute Ratschläge war's ja wahrscheinlich längst zu spät. Und Rosa? sagte Marga, und Heinrich sagte, daß er über Rosa jetzt nicht sprechen will, aber bleiben würde er gerne, und morgen früh geht er in den Osten und fängt ein neues Leben an. Gleich nach dem Abendessen muß er sie gefragt haben, ob sie etwas dagegen hat, wenn er seine letzte Nacht im Westen bei ihr verbringt, und am Ende ist es so gekommen, wie es immer gekommen ist, nur fragen oder bitten mußte er früher nie. Marga wird es auf ihre Art genossen haben, daß er sie hat bitten müssen, und so hat sie nur wieder mit dem Kopf genickt, hat das Geschirr vom Abendessen weggespült, ist eine halbe Stunde im Badezimmer verschwunden, hat den Schlafanzug, die Pfeife, den Rasierpinsel und ein paar andere Kleinigkeiten ihres Geliebten oder auch Bruders weggeräumt und sich zu Heinrich an den ovalen Couchtisch gesetzt und gesagt, daß er nur nicht glauben soll, sie erinnert sich nicht, und daß sie sich je dafür geschämt hat, das soll er sich bitte aus dem Kopf schlagen. Soviel dazu.

Sie ließ ihn noch ein bißchen warten, bevor es soweit war, und dann war da gar nicht viel, das heißt, er hing sehr an ihr, aber in dieser Nacht brachte er einfach nichts zustande als Liebhaber, und als Marga ihn hat trösten wollen, hat er gesagt: In Ordnung, und daß es hoffentlich auch für sie in Ordnung ist, so anhänglich war der auf einmal und so selbstlos in der Kunst der Liebe, und wie eine Frau noch bei einem Versager auf ihre Kosten kommt, na ja, das wußte er.

Irgendwann in dieser Nacht muß Marga ihm gesagt haben, daß sie es begreift, warum er in den Osten geht, und daß es ihr doch ein Rätsel ist, sogar als Kommunistin. Da staunte Heinrich, daß Marga sich eine Kommunistin nannte und ein paar Leute kannte, mit denen sie über Perspektiven des Kommunismus in Westdeutschland redete, und dann trafen die sich immer abwechselnd in irgendeiner Wohnung und diskutierten bis spät in die Nacht über die Möglichkeit einer Parteigründung, und manchmal, wenn sie alle sehr müde waren und kein Bus mehr fuhr, blieben ein paar Genossen zum Übernachten und vergaßen ihre Schlafanzüge.

Schreibst du mir deine Adresse, wenn du drüben bist, fragte sie, als alles gesagt war, und er versprach es, weil er wußte, daß alles gesagt war, und ob sie mir auf meine Briefe antworten wird, kann ich nicht wissen. Dann schliefen sie noch eine Weile im Bett der westdeutschen Genossin, das eher schmal war für zwei Leute, aber schön warm und weich und gemütlich, und am nächsten Morgen küßte er sie zum Abschied auf den Mund und ging zum Bahnhof und löste eine Fahrkarte bis Herleshausen.

Die westdeutschen Grenzbeamten schüttelten nur den Kopf, als Heinrich kurz nach eins bei ihnen auftauchte und seinen Reisepaß vorzeigte und sagte, er möchte in den Osten und hat nur einen Rucksack dabei, und weil er sich insgeheim fürchtete, man könnte ihn schon suchen auf Betreiben der bankrotten Firma und an Ort und Stelle verhaften lassen als einen Betrüger, der mit einer Viertelmillion Schulden in den Osten geht, machte er alles ganz langsam und bedächtig für die Beamten, sagte ein paar Sätze über das Haus des Vaters und seine ostdeutsche Herkunft, legte die Wäsche, die Strümpfe, Hemden, Hosen sorgfältig auf einen Stapel, öffnete die Schachtel mit den Briefen und Fotos, machte einen Scherz über die angebrochene Flasche Whisky, die er getrunken hätte, wenn Marga nicht zu Hause gewesen wäre, machte einen zweiten Scherz über seine unpassenden Schuhe, die weißen, übertrieb es nicht mit seinen Scherzen und wartete auf das Urteil der Beamten. Bis auf den Sportteil der Süddeutschen Zeitung vom Montag, hieß es, dürfe er alles behalten, nur damit es keinen unnötigen Ärger gibt, und außerdem hat er ja in Zukunft den Sportteil des Neuen Deutschland. Ob er sich auch alles gut überlegt hat mit der Rückkehr in seine mitteldeutsche Heimat, der Herr Hampel? Ja, das habe er. Sicher? Aber sicher, ja. Und daher gab es für die Beamten nichts weiter zu sagen, der Herr Hampel sei ein freier Bürger in einem freien Land, und nur ein paar Schritte weiter beginnt das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik, auf Wiedersehen.

So erleichtert war Heinrich über den gelungenen Auftakt, daß er am liebsten die angebrochene Flasche Whisky aus dem Rucksack geholt hätte, aber dann fand er, daß man sich auch ohne Whisky guter Laune zeigen können muß, am Ende wurde er von denen da drüben ja beobachtet, und da hätten sie womöglich gleich gedacht, daß es ihm gar nicht ernst ist mit dem neuen Leben im neuen, besseren Deutschland, und ob er glaubt, bei der DDR handelt es sich um einen Staat, für den man sich noch auf den letzten Metern Mut antrinken muß, also bitte. Damit nur niemand einen falschen Eindruck von ihm bekam, ging Heinrich besonders entschlossen und sogar pfeifend in Richtung Kontrollpunkt, sah links und rechts die hohen Metallgitterzäune, die hier die Grenze waren, und über die trat im Frühjahr 1962 so leicht kein Gläubiger oder Gerichtsvollzieher und vielleicht noch nicht mal eine Ehefrau.

Erst auf den allerletzten Metern fiel ihm ein, daß er gar nicht wußte, was er denen da drüben sagen sollte über seine Gründe. Ob die sich freuten über einen wie ihn und folglich gar nicht groß fragten, welche guten oder schlechten Gründe einer hatte, so lange er nicht nach drüben in den Westen wollte, und von dort floh er ja und wollte bestimmt nicht wieder zurück. Wie ein Willkommener wollte Heinrich behandelt sein im Arbeiter-und-Bauern-Staat, alles hinter sich lassen dürfen, selbst neu anfangen im Land des Neuanfangs, noch einmal ein unbeschriebenes Blatt sein mit seinen dreißig Jahren, und wer immer Lust dazu hatte, durfte etwas drauf schreiben.

Noch als die Grenzsoldaten ihn nach seinen Papieren fragten, konnte sich Heinrich die Begrüßung nicht anders vorstellen denn als eine freundliche, herzliche. Er war ganz arglos. Nur daß sie ihm gleich die Flasche Wegnahmen, überraschte ihn, und bei der zweiten Durchsuchung auch die Schachtel mit den Briefen und den Fotos seiner Geliebten, und dabei hätte er den Angehörigen der Grenztruppen nur zu bereitwillig alles von denen erzählt: ihre speziellen Eigenschaften, ihre Kenntnisse, das erste und das letzte Mal, die Wiederholungen, die nicht ausgeblieben waren, die Zerwürfnisse; wer nach ihnen gekommen war und wer nach diesen, warum sie alle kein bißchen wie Rosa waren (alle waren wie Rosa), aber bei jeder einzelnen gab es mindestens eine winzige vertraute Kleinigkeit.

Er war ziemlich verwundert über den Anfang und daß sie ihn einfach stehenließen in Gesellschaft eines jungen Soldaten, der kein einziges Wort herausbrachte, und im Inneren des Grenzgebäudes sah man die anderen bei irgendwelchen Telefonaten und wie sie nacheinander seinen Paß studierten, geboren am 25.8.1931 in Jena, besondere Kennzeichen: keine.

Nach ungefähr einer halben Stunde stellten sie ihm die ersten Fragen. Ob er polizeilich gesucht werde im Westen, wollten sie wissen (nein), ob er Verwandte in der DDR hat (leider nicht), was er weiß vom Aufbau des Sozialismus und den Fortschritten dabei (da konnte er nicht viel sagen). Er kenne in Fulda eine Kommunistin, sagte Heinrich, und fließend Russisch spreche er seit seinem fünfzehnten Jahr, das immerhin interessierte die. Er möge doch bitte dem Genossen Leutnant in einen kleinen Aufenthaltsraum folgen, dort solle sich Heinrich ein wenig ausruhen und ein Glas Tee trinken, und so führten sie ihn gleich in den ersten Minuten in die Kunst des Wartens ein, die schwierige, noch hatte er wenig Übung darin.

 

Kurz vor Fulda war er noch in einen heftigen Schneeregen geraten, und während es draußen stürmte und niemand weiter sah als ein paar Meter, versuchte er sich zu erinnern, aus welcher Stadt sie ihm damals die Postkarte geschrieben hatte, und ob das wirklich Fulda gewesen war oder eine Stadt mit ähnlichem Namen, wie kam er bloß auf Fulda. Stammte sie etwa von dort oder war sie damals gerade hingezogen oder auf der Durchreise? Sie schien ja überhaupt viel auf Reisen zu sein als Bettenliebhaberin, und eines Tages stand sie da ausgerechnet in seinem Laden mit ihren Fragen und blieb und war nur eine von vielen, hinterließ als eine von vielen keine genaue Spur. Nur an ihre Stimme erinnerte er sich, denn die war rauh und dunkel und verheißungsvoll (so nannte er’s), und wie eine Musik war ihre Stimme und ließ sich mit Worten leider nicht beschreiben.

Auf dem Foto, das sie ihm Jahre später schickte, sah sie ja eher unscheinbar aus: ein schmales blasses Gesicht, das nur wenig preisgab, die Nase etwas zu lang, also, auf der Straße hätte er sie glatt übersehen. Sommer 1968 stand hinten auf dem Foto, es lebe die Deutsche Kommunistische Partei, Du erinnerst Dich, Deine M.

Da entließen sie ihn gerade zum ersten Mal aus dem Gefängnis, als sie ihm das schickte ohne dazugehörigen Brief, und obwohl sie ihn in späteren Jahren ein paarmal besuchte anläßlich irgendwelcher Parteigeschichten im Lande – als er völlig am Ende war, vergaß auch sie ihn sehr schnell, die zarte Kommunistin, die aus dem Westen war und einen dieser Münder hatte, bei denen man immer denkt, sie bitten oder flehen um irgend etwas, aber ganz leise und unaufdringlich, und diesen Mund mit den schmalen aufgeworfenen Lippen hatte er Vorjahren einmal geküßt. Er wird nicht wirklich gerechnet haben mit ihren Ausflüchten, ihren Bedingungen, damals im März 1962, denn das hatte er bislang nicht kennengelernt, daß eine Frau oder auch Geliebte ihn am Telefon kurzerhand abfertigte und wissen ließ, im Augenblick sei sein Besuch sehr ungelegen, aber ein bißchen später wolle sie ihn gerne empfangen.

Das war in einer Telefonzelle am Bahnhof, als sie ihm das mitteilte, und weil er nicht recht wußte, was er mit sich anfangen sollte in den zwei Stunden, trieb er sich noch eine Weile in der Eingangshalle herum, trank im Stehen eine Tasse Kaffee, holte endlich sein Gepäck aus dem Wagen und ging zu ihrer Wohnung lange vor der vereinbarten Zeit, an den erleuchteten Fenstern im zweiten Stock des schmucklosen Neubaus erkannte er, sie war zu Hause.

Dann wartete er und erwog ihre Gründe: daß sie einen anderen hatte (ja, wahrscheinlich) und noch nicht fertig war mit dem anderen oder ihn gerade hinauskomplimentierte, daß sie sich schön machte für Heinrich (lächerlich), daß sie eine wichtige Arbeit zu erledigen hatte (war sie nicht Lehrerin?) oder einfach nur in der Wohnung saß und mit dem Gedanken spielte, den Abend irgendwo anders zu verbringen, und wenn sie zurückkam, stand dieser Heinrich bestimmt nicht mehr dort unten auf der Straße und wartete, daß sie sich zeigte und ihn nach oben in die Wohnung rief, das alles hielt er für möglich.

Fast zwei Stunden wartete Heinrich und hielt fast alles für möglich, verwarf es, hielt es wieder für möglich, so verging ihm die Zeit. Gegen sieben erwog er kurz, in ein nahe gelegenes Hotel zu gehen und auf Marga zu verzichten, dann wieder schloß er mit sich und Marga seltsame Abkommen und fand sich selbst lächerlich, weil er in seinen Abkommen alles davon abhängig machte, mit welchen Worten, welchen Gesten sie ihn empfing, und ob sie noch einmal etwas wissen wollte von ihm als Freund oder auch Liebhaber, und wenn ja, was. Weil er fror, wenn er zu lange einfach in der Gegend herumstand und zu ihrem Fenster hinaufsah und auf einen Schatten wartete oder zwei, ging er ein paarmal über den alten Friedhof gegenüber, auf dem schon seit Jahren niemand mehr beerdigt worden war, und entzifferte auf den verwitterten Steinen die Namen der fremden Toten, und weil es von der Straße nur wenig Licht gab, war’s ein ziemlich mühseliges Geschäft, eine Tote mit dem Namen Marga war nicht dabei.

 

Nach ungefähr einer Stunde brachte ein Grenzsoldat einen langen Fragebogen, den sollte er ausfüllen und die Namen und Geburtsdaten seiner Verwandten eintragen bis ins letzte Glied, dazu ihre Berufe, und ob sie Mitglied waren in Parteien, Gewerkschaften und Vereinen, nur wie sollte er das alles wissen. Nach gut einer halben Stunde war er fertig mit den sechs Seiten (halb drei), dann wurde der Fragebogen abgeholt (drei Uhr nachmittags), dann wieder Warten und Geduldigsein, für jede unbeantwortete Frage ließen sie ihn offenbar ein paar Minuten sitzen. Gegen halb vier erschien ein älterer Zivilist in einem einfachen grauen Anzug und kariertem Hemd, der entschuldigte sich. Leider sei Heinrich auch heute wieder nicht der einzige, der in unsere Deutsche Demokratische Republik will, er möge sich doch bitte noch gedulden, in einer halben Stunde gehe es weiter, da dürfe er noch einmal sagen, wer er sei und woher er komme und wieviel Westgeld er mit sich führe, Umtausch zum Kurs von 1:1 bis zum Abend, also, direkt unfreundlich waren die ja nicht.

Die beiden Soldaten, die sein Gepäck durchsuchten, mußten aus der Gegend sein, denn obwohl sie nicht sehr gesprächig waren, redeten sie immerhin so viel, daß er sie erkannte an ihrem thüringischen Dialekt und sich einen Moment lang heimisch fühlte, so schnell ging das. Ihr müßt aus der Gegend von Jena sein oder ganz aus der Nähe, sagte er und redete auf einmal selbst, wie er seit Jahren nicht mehr geredet hatte, und da freuten die sich einen Augenblick, nahmen gleich wieder Haltung an und fuhren fort mit der Erforschung seines Gepäcks, durchsuchten, als sie das Gepäck durchsucht hatten, seine Kleider, fanden in der Westentasche ein paar Pfennige Westgeld, an die er nicht gedacht hatte, und ließen ihn sehr wohl merken, wie sehr sie solche Kleinigkeiten mißbilligten, aber weil Heinrich ihre Sprache redete, wollten sie keine große Sache draus machen, warten Sie bitte draußen, wir melden uns dann, da war’s bald vier.

Der nächste, den Heinrich zu sehen bekam, war ein älterer Offizier aus dem Sächsischen, es gäbe da noch ein paar Fragen zu seinen Angaben. Was denn werden soll aus seiner Frau und den Kindern, die er zurückläßt, und ob es Pläne gibt, daß sie später nachkommen. Das könne er sich eigentlich nicht vorstellen, leider, darüber haben wir nicht gesprochen, sagte Heinrich, aber wie es mit ihm persönlich weitergehe, würde er gerne erfahren, und daß er am liebsten noch heute nach Jena will, denn dort sei er aufgewachsen, dort stehe das Haus des Vaters, dort kenne man ihn.

So einfach dürfen Sie sich das aber nicht vorstellen, sagte der Offizier und hatte so eine Art dabei, daß Heinrich zu begreifen begann, wie falsch seine Vorstellungen von den Leuten an der Grenze waren und warum seine Flucht oder auch Rückkehr Fragen für die aufwarf, und jede Frage, die man ihm stellte, war Teil einer Prüfung, die darüber entschied, ob sie ihn nun nahmen oder wieder zurückschickten in den Westen. Schließlich kann die Deutsche Demokratische Republik nicht jeden ruinierten Kaufmann, oder was sonst noch für Leute zu uns wollen, ohne jede Prüfung ins Land lassen, sagte der Offizier, und daß der deutsche Arbeiter-und-Bauern-Staat kein Abladeplatz für asoziale Elemente ist, so ungefähr drückte der sich aus. Also, wie geht Ihre Geschichte, aber bitte kurz und knapp, schließlich sind Sie nicht der erste, der hier mit irgendwelchen Geschichten ankommt und der Meinung ist, wir kennen die Geschichten nicht, dabei kennen wir sie in- und auswendig. Wir haben alles schon hier gehabt, sagte der Offizier. Allerlei Stellenlose haben wir hier gehabt und noch viel mehr Deserteure, aber auch so manchen Abenteurer, allein gelassene Frauen und betrogene Ehemänner, die obdachlose Familie aus dem Ruhrgebiet, den bankrotten Kartonagefabrikanten aus Hamburg, den Taschendieb aus Kiel: alles schon dagewesen. Sie müssen mir nicht erklären, wie das im allgemeinen so zugeht im kapitalistischen Westen und was so alles passiert, bevor einer seine Koffer packt und alle Hoffnung auf die DDR setzt; von all jenen, die einmal voller Illusionen gegangen sind und jetzt enttäuscht und ernüchtert wiederkommen, wollen wir gar nicht reden.

In welcher Branche Heinrich tätig gewesen sei?

In der Bettenbranche.

Ja, das wäre ihnen nun allerdings noch nicht vorgekommen, daß einer aus der Bettenbranche ist, aber das Genick gebrochen haben ihm bestimmt die Banken.

Ja, die Banken, sagte Heinrich und war sehr erleichtert, daß der längst über alles Bescheid wußte und auf weitere Einzelheiten nicht bestand, die eine oder andere unangenehme Einzelheit hätte es ja gegeben.

Es wurde dann auch nur noch kurz über Heinrichs russische Vergangenheit gesprochen und am Rande über seine Kontakte zu den westdeutschen Kommunisten, so einer wie Heinrich, meinte der Offizier aus Sachsen, werde sich ohne Zweifel zurechtfinden im ersten deutschen Arbeiter- und-Bauern-Staat, und gleich nachher bringen wir Sie erst mal nach Eisenach in unser schönes Aufnahmeheim, die Schachtel mit den Briefen und den Fotos bekomme er dann spätestens bei der Abfahrt.

 

Im Nachhinein war es auch für Heinrich schwer zu sagen, wann und wo ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen war, in den Osten zu gehen, und wie das alles war, als er seinen Bruder verlachte, und Rosa stand verzweifelt dazwischen und hörte den älteren Bruder sagen: Dann geh doch nach drüben in den Osten, denn eine andere Wahl bleibt dir nicht.

Natürlich hatte Theodor nicht im Ernst daran geglaubt, Heinrich könnte in den Osten gehen, und Heinrich hatte in diesem Augenblick auch nicht daran gedacht, er wollte nur weg, und Rosa hatte nicht die geringste Ahnung, sie ahnte ja noch nicht einmal den bevorstehenden Ruin. Nur daß er jetzt zu allem fähig war, spürte sie und wollte ihn noch aufhalten und verhindern, daß er vor ihren Augen in den blauen Citroen stieg und davonfuhr für wer weiß wie lange: vergeblich. Wohin fährst du denn, um Gottes willen, rief sie ihm hinterher, und als er noch einmal einen Blick in den Rückspiegel warf, sah er, wie Theodor voller Verachtung auf den Boden spuckte und den Arm um Rosa legte, und nun mußte die eben sehen, wie sie zurechtkam ohne ihren Heinrich, den Treulosen, leicht würde es ja wohl nicht werden.

Auf den ersten dreißig Kilometern bis zum Autobahnanschluß Frankfurt-Hoechst war Heinrich zu keinem klaren Gedanken fähig, doch dann allmählich beruhigte er sich, fuhr in nördlicher Richtung an Homburg und Bad Nauheim vorbei und ab Gießen in östlicher Richtung weiter Richtung Bad Hersfeld, und irgendwo auf der Strecke muß ihm der Gedanke gekommen sein: der Osten. Damit rechnen sie alle bestimmt am allerwenigsten, daß einer wie ich über die Grenze geht und weg ist und nicht wiederkommt, aus und vorbei.

Müde von den nächtlichen Gesprächen mit Rosa, machte er noch eine Pause in einem Rasthaus kurz vor Bad Hersfeld, dachte darüber nach, was für ein Gedanke das war, den er da soeben zum ersten Mal gedacht hatte, also, sein Bruder Theodor würde es nicht fassen. Es gefiel ihm, daß sein Bruder es nicht fassen würde, und es gefiel ihm, daß auch seine Freunde, Bekannten und Geschäftspartner es nicht fassen würden, und also ging er zurück zu seinem Wagen, las nach ein paar Kilometern ein Hinweisschild mit dem Namen Fulda, stutzte kurz und erinnerte sich mit einemmal an irgend so eine Geschichte im letzten Winter, war auch ganz erleichtert, daß ihm der dazugehörige Name sofort einfiel (Marga hieß sie), und also konnte er die doch einmal besuchen in ihrem Fulda und ein paar Erinnerungen mit ihr aus- tauschen, ein wenig Bedenkzeit konnte gewiß nicht schaden.

Noch auf dem Weg zum Bahnhof erinnerte er sich daran, daß es in jenem Winter einen unangenehmen Zwischenfall mit dieser Marga gegeben hatte, das heißt, nachdem sie schon weg war und er gerade nach Hause wollte, hatte es einen unangenehmen Zwischenfall gegeben, denn da stand auf einmal Rosa im Laden, und natürlich sah sie gleich das Bett, in dem er noch vor einer halben Stunde Marga umarmt hatte. Ihre Umarmungen und ihre ganze Art hatten ihm nicht übel gefallen, wenn er sich recht erinnerte, und also hatte ihm Rosa eine dieser Szenen gemacht, die in den letzten Jahren immer häufiger Vorkommen waren und bei denen Rosa mit immer weniger Worten ausdrückte, wie sehr sie Heinrich für all die Nachmittage mit irgendwelchen dahergelaufenen Frauen verachtete.

Nun treibst du es also auch schon hier im Laden, hatte Rosa gesagt, und Heinrich hatte wie immer gar nichts gesagt, und dabei war Marga wirklich nur ganz zufällig in seinen Laden hineingeschneit, und was immer danach aus ihr geworden war: keine Ahnung. Nur die eine nichtssagende Postkarte hatte sie ihm eines Tages aus ihrem Fulda geschrieben, und obwohl sie ihm damals wirklich völlig nichtssagend erschienen war, brachte sie ihn noch Monate später auf die abwegigsten Gedanken, und daß er ja nur einfach zu ihr fahren mußte, damit noch einmal alles so wäre, wie es damals an diesem Nachmittag im Laden gewesen war, und sei’s nur für die Nacht, bevor er in den Osten ging oder sich entschloß, eben wegen der einen Nacht bei Marga seine Entscheidung zu widerrufen.

Ich finde dich zum Kotzen, hatte Rosa damals zu ihm gesagt, und so, wie sie es gesagt hatte, war er ziemlich sicher gewesen, daß sie wirklich nur das ungemachte Bett gesehen hatte und zu spät gekommen war, das hoffte er. Sie besuchte ihn nie wieder im Laden (so wie ihn auch Marga nie wieder im Laden besucht hatte), aber nachträglich fühlte er sich von ihr beobachtet. Sie hatte noch immer nicht aufgegeben mit ihm, damals, im Januar 1962 oder vor sieben Wochen: Sieben Wochen war das alles erst her, mein Gott, Heinrich kam’s vor wie eine Ewigkeit.

 

Über seine Tage im Lager Eisenach redete er später nur das Allernötigste, oder wenn die Fragen besonders hartnäckig ausfielen oder eine Frau ihm gefiel, dann immerhin erzählte er, daß es schon dunkel war bei seiner Ankunft und daß er in eine der noch ziemlich neuen Holzbaracken gebracht wurde, fürs Abendessen war’s leider schon zu spät. Ein paar hundert Leute dürften damals im Lager gewesen sein, eine Baracke für jeweils acht Personen, und drei Wolldecken mit Bettwäsche zum Schlafen gab es und ein Eßgeschirr und eine Tasche, das war der Anfang.

Er machte sich keine große Gedanken über den Anfang, oder er war einfach zu müde dazu, oder er dachte, daß er seine Entscheidung ja noch immer rückgängig machen konnte, zum Beispiel, wenn ihm die Leute in der Baracke nicht gefielen, die mit der Sprache nicht herausrückten oder sich schlafend stellten und wollten, daß er schön leise ist und das Maul hält um die Zeit, was läßt man auch so spät noch jemand ins Lager.

Alles in allem begriff er wohl erst in Bautzen, daß seine Entscheidung unwiderruflich war und daß er sich täuschte, wenn er alles für ein Provisorium hielt, und wenn es uns nicht paßt, fangen wir eben etwas Neues an oder machen da weiter, wo wir früher einmal aufgehört haben, so einfach stellte er sich das nämlich vor. Im nachhinein sagte er: Ich bin da hineingeschlittert, einfach so hineingeschlittert, und später war mir manches recht und manches weniger, aber wirklich entschieden habe ich mich nie. Wie hieß es doch immer bei ihm? Mal sehen, was noch alles draus wird, und es wird bestimmt etwas draus, und genau so und nicht anders verschlug es ihn in den Osten. Mal sehen, was wird, wenn ich Richtung Herleshausen fahre, mal sehen, was wird, wenn Marga mich empfängt, mal sehen, was wird, wenn ich am nächsten Morgen in Richtung Grenze gehe, und wenn die Tage im Lager erst vorbei sind und eine neue Bleibe ich habe und eine neue Stelle, so schlimm wird das alles nicht werden (wurde es nicht), und besser als im Westen wird es allemal.

So oder so ähnlich wird er gedacht haben am ersten Abend in Eisenach, als die anderen schliefen und niemand etwas wissen wollte von ihm, da war er sehr optimistisch, und am nächsten Morgen gab’s ein großes Frühstück, und auch die fünf jungen Kerle in seiner Baracke waren gar nicht so übel, die waren aus der Gegend von Göttingen und laut und abenteuerlustig (der Zukunft zugewandt) und wollten so bald wie möglich aus dem Lager, die Gegend erkunden, nur Heinrich mußte bleiben, für den galt eine vierundzwanzigstündige Quarantäne.

Es herrschte eine seltsame Stimmung im Lager. Überraschend still war es, aber die Baracken voll mit einem Gemisch aller möglichen Menschen, die so leicht nicht redeten über sich und ihre Vergangenheit und warum genau sie gekommen waren und mit welchen Hoffnungen, das alles behielten sie aus Mißtrauen oder Klugheit oder auf Anweisung lieber für sich. Nur mit Tom redete Heinrich viel und von Anfang an, der war gerade zwanzig und nahm das Leben noch wie etwas sehr Leichtes, Unbedeutendes, und wenn es Schwierigkeiten gab (er hatte mehrfach größere Summen unterschlagen, war seit Monaten auf der Flucht), flog er davon und ließ sich nieder, wo immer es ihm gefiel.

Er lernte ihn beim Mittagessen kennen, und kurz nach dem Mittagessen stellte sich ihm ein Mann von der Staatssicherheit vor und war sehr freundlich und zuvorkommend, sogar eine Zigarette hatte er für Heinrich, und die Fragen waren nur ein paar wenige und ganz leicht zu beantworten: Ob er Verwandte, Geschwister bei der Bundeswehr habe oder dem Bundesgrenzschutz oder der Polizei? Irgendwelche Kenntnisse militärischer Anlagen? Das verneinte er. Ob er sich schon eingewöhnt habe im Lager, danke der Nachfrage, da war er auch schon entlassen. Das Mittagessen folgte, ein erstes Gespräch mit Tom, dann nachmittags im Fernsehraum Aussprache mit dem Kulturleiter. Ein einfach gekleideter Herr in den Fünfzigern hielt eine kurze Ansprache, in der von westlichen Abhöranlagen die Rede war und einer Nummer für jeden Bewohner des Lagers, daran würde man sich aber gewöhnen, fand Heinrich, so wie man sich an das frühe Abendessen gewöhnen würde, der Tee, die Wurst, der Käse, die Butter, das Brot schmeckten ja nicht viel anders, als er’s kannte von zu Hause.

Gehst du zum Abendvortrag, hatte Tom nach dem Abendessen gefragt und die Augen dazu verdreht, daß Heinrich gleich wußte, es ist nichts Besonderes, aber hingehen kannst du trotzdem, es gibt ja keine Alternative. Auch aus den anderen Baracken waren die meisten gekommen, es sprach ein Oberleutnant der Volkspolizei über Spionage, Sabotage, Militaristen und Kapitalisten, aber Heinrich hörte gar nicht richtig hin, und was er hörte, klang nach einer neuen fremden Sprache (der Bonner Imperialismus), bei der ihm anfangs nur das eine oder andere Wort vertraut war und ungefähr denselben Sinn hatte, wie er ihn kannte aus dem Westen.

Nach dem Vortrag war dann nicht mehr viel. Auf dem Weg zur Baracke redete er noch ein paar Sätze mit Tom, ging wie alle früh zu Bett und konnte nicht schlafen, versuchte an Marga zu denken und wie er nicht gewollt hatte, daß sie ihn tröstete mit ihren Händen, und nun tat er’s selbst und bewegte sich leise unter der dünnen Bettdecke, hatte nur Bilder von Rosa. Einen Augenblick lang wunderte er sich über sich, denn das war seit Jahren nicht mehr vorgekommen, daß er ohne Bedenken freundlich zu sich war und an niemand anders denken konnte als an Rosa, die Treue, und danach war er tatsächlich müde und zufrieden und fiel in einen sorglosen Schlaf.

 

Rosa hatte ihn nicht wirklich ernst genommen, damals, Anfang März, als alles auf Messers Schneide stand, so wenig Ahnung hatte die und wollte an die bevorstehende Niederlage nicht glauben. Na gut, du weißt für heute keinen Ausweg, hatte sie gesagt, fahren wir zu Theodor, besprechen wir alles, er ist dein Bruder, und ihr liebt euch nicht, aber in der Not ist Blut dicker als Wasser, und am nächsten Morgen fährst du in aller Ruhe nach Frankfurt und verhandelst wegen eines Kredits mit Offermann (den hatte er erfanden), so wird es gehen.

Meinst du wirklich?

Ja, das meine ich. (Rosas große Stunde.) Haben wir nicht schon ganz andere Sachen mit Anstand hinter uns gebracht?

Ja, das haben wir. (Ihm fiel nur die Sache mit Susanna ein.)

Der Tochter sagten sie, wir fahren ein paar Tage nach Wiesbaden, aber wenn wir zurückkommen, darfst du nicht verraten, wo wir gewesen sind, setzten sie nach hinten in den neuen Citroën und brauchten von Haustür zu Haustür keine vier Stunden.

Was um Gottes willen ist denn in euch gefahren, fragte Theodor, weil er Besuche ohne Voranmeldung nicht leiden konnte, und seine Frau Ilse, die den jüngeren Bruder nicht leiden konnte, fragte, warum um Gottes willen sie nur immer ohne Voranmeldung kommen mußten, seit Jahren dasselbe Lied. Es ist wegen der Firma, sagte Heinrich, und daß das erste Jahr immer das schwierigste ist, er begann sehr vorsichtig. Darauf Theodor mißtrauisch: Ein Jahr hast du die Firma schon?

Im Februar war’s ein Jahr genau.

Die Zeit vergeht.

Und dann ließ Theodor ihn zappeln. Die Zeit vergeht. War das alles, was er zu sagen hatte: Die Zeit vergeht? So konnte natürlich nur reden, wem das Wasser noch nie bis zum Hals gestanden hatte und wer das Seine für die Seinigen immer rechtzeitig ins Trockene brachte und das Risiko scheute wie der Teufel das Weihwasser (hätte Rosa gesagt) und ein wohlhabender Mann wurde nur durch eigener Hände Arbeit, Fleiß und Genügsamkeit. Heinrich spürte, wie der ältere Bruder sich noch immer fürchtete vor diesen Begegnungen und Konfrontationen, aber er spürte auch, daß sich das Blatt zu wenden begann, den bevorstehenden Triumph des Langsamen, Rechtschaffenen über den Skrupellosen, Ungeduldigen, der er immer gewesen war, und nun auf einmal wurde er mit irgendwelchen Floskeln abgespeist, und das alles nur, damit er nicht gleich wieder mit der Tür ins Haus fiel und das leidige Geldthema anschnitt, ich bitte dich, erst wenn die Kinder im Bett sind, bis dahin reiß dich zusammen, mir zuliebe.

Mein Anwalt sagt, es gibt verschiedene Paragraphen, und im besten Fall gehe ich für ein paar Jahre ins Gefängnis, und im schlimmsten bleibe ich ein Leben lang ein armer Schlucker und arbeite nur noch für meine Gläubiger.

Ich bin nicht zuständig für deine Fehler.

Mein Bruder bist du.

Nicht dein Hüter.

Und das war alles, was sie beredeten an diesem Abend, und als die beiden Frauen ein Essen aus der Küche brachten, war’s, als sei’s ein gewöhnlicher Besuch unter Verwandten, und weder Theodor noch Heinrich sprachen die Sache noch einmal an. Nur Rosa sprach die Sache auf ihre Weise noch einmal an, das war lange nach Mitternacht, und Theodor fand es ziemlich unpassend, daß sie ihm um diese Zeit noch einmal mit Heinrichs Geschichten kam, und inwiefern er nun ein Pechvogel war oder ein Versager, und wie das eine in das andere übergeht, und ob es Versager von Geburt an gibt, oder ob sie erst dazu gemacht werden, das waren so die Fragen, die sie damals beschäftigten, und Heinrich stand in der Nähe der Tür und konnte nicht anders, als die beiden belauschen.

Später fand er, daß Rosa sehr sanft und entschlossen war, er hätte nur gern gewußt, wovon das alles immer abhing bei ihr, und warum sie sich manchmal von einer Sekunde auf die andere alles anders überlegte, und dann beugte sie sich wie jetzt zu ihm herüber und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr, und wie er begriff, was sie ihm da ins Ohr flüsterte, freute er sich. Es waren wirklich nur ein paar tausend Male gesagte Worte. Aber er freute sich.

 

Nach dem Frühstück am Donnerstag sagte Tom: Nun hast du die vierundzwanzig Stunden hinter dir, aber aus dem Lager lassen sie dich noch lange nicht, denn bevor sie dich aus dem Lager lassen, müssen sie dich erst mal untersuchen, anschließend dürfen wir zum Mittagessen, und was sie sich für danach ausdenken, fängt nicht selten mit einer Zigarette an und endet bei wer weiß welchen Verwicklungen oder auch Verpflichtungen. Das nur als Ratschlag, lieber Heinrich, du bist noch neu hier, und die Zigarette gestern war nur der Auftakt, spätestens ab dem dritten Tag kommst du ihnen so leicht nicht davon.

Der junge Arzt, der ihn untersuchte oder vielmehr befragte, brauchte keine zwei Minuten, bis er über Heinrich Bescheid wußte, denn der war jung und kräftig, schaute einem gerade in die Augen und schien für jede Arbeit brauchbar. Ob er sich schon freue auf die Zeit nach dem Lager, wollte der Arzt wissen, dann folgten schon die Fragen: Ansteckende Krankheiten, an denen wir leiden oder früher einmal gelitten haben? Umgang mit Personen männlichen oder weiblichen Geschlechts, die an ansteckenden Krankheiten leiden oder gelitten haben? Na, vielen Dank auch. Nicht einmal den Oberkörper mußte Heinrich frei machen oder in die Hose sich schauen lassen zum Zwecke der Überprüfung seiner Angaben, gar nichts. Kerngesund sei Heinrich und voll arbeitsfähig, das stehe fest, zum Beispiel in der Landwirtschaft suchen wir ja noch Leute, die sich fürs Arbeiten nicht zu schade sind und anpacken, wenn einmal Not am Mann ist, da mag einer Bettenverkäufer gewesen sein wie Heinrich oder sonst was, wer bereit ist zur Mitarbeit am Aufbau des Sozialismus, bei uns ist er willkommen. (Also doch.)

Der freundliche Offizier von der Staatssicherheit hatte wie schon am Vortag eine Zigarette für Heinrich, aber diesmal lehnte Heinrich die Zigarette ab, und so stutzte der freundliche Offizier von der Staatssicherheit und machte sich im Kopf Notizen, vielleicht war Heinrich ja jemand, der für das eine oder andere zu gebrauchen war, mit Whiskytrinkern hatte er eigentlich nur gute Erfahrungen.

Und so kam Heinrichs Whisky wieder ins Spiel, den hatten sie ihm aufbewahrt, der schmeckte nach früher, den boten sie ihm an. Nicht wahr, das hätten Sie nicht gedacht, daß Sie Ihren Whisky Wiedersehen und dann auf diese Weise, sagte der Offizier, und Heinrich sagte, nein, das hätte er nicht gedacht, und also stießen sie an und tranken einen Schluck, denn davon hatte Tom nichts gesagt, daß man mit der Staatssicherheit keinen Whisky trinken darf, fürs erste war ja auch alles harmlos. Heinrich mußte von den Jahren sechsundvierzig bis einundfünfzig in der Sowjetunion erzählen, und Herr Harms von der Staatssicherheit (sagen Sie doch Herr Harms zu mir) erzählte, wie er als junger Kommunist durchs zertrümmerte Thüringen fuhr und für die Sache des Fortschritts warb, das war im Herbst 1946, ein halbes Jahr nach Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland, daß er an den Sozialismus auf deutschem Boden zu glauben begann, und zwischen dem dritten und vierten Glas Whisky erzählte er’s: alles harmlos.

Nach über einer Stunde war noch immer kein einziges Wort über Heinrichs Zukunft gefallen, oder Heinrich hörte einfach nicht richtig zu, wenn von seiner Zukunft die Rede war, und weil sich Herr Harms in Heinrichs Anwesenheit wohl zu fühlen schien, begann auch Heinrich sich wohl zu fühlen, schließlich war es ja seine Flasche, aus der sie tranken, und wenn sie bei dieser Geschwindigkeit blieben, würde sie nicht lange reichen.

Hatte nun Herr Harms ihm einen Gefallen getan oder umgekehrt oder sie beide sich den Gefallen gegenseitig?

Heinrich fand, er dürfe auf keinen Fall ins Hintertreffen geraten beim Austausch dieser kleinen Gefälligkeiten, und deshalb tat er dem Mann von der Staatssicherheit den Gefallen und nannte die DDR ein Land der Hoffnung, und wenn er darf, schreibt er’s noch heute seiner Frau Rosa, dann kann sie sich bald mit eigenen Augen davon überzeugen.

Das wäre doch etwas, sagte Herr Harms.

Ja, das wäre etwas, sagte Heinrich, aber soll ich’s mir auch wünschen? Eigentlich brachte er Rosa ja nur Herrn Harms zuliebe ins Spiel, dachte er und überlegte, ob einer wie Harms auch Familie hatte, und dann ging so einer am Abend nach Hause und berichtete der Frau von seinen neuesten Eroberungen auf dem Felde des ideologischen Kampfes, und einer, mit dem ich kämpfe, heißt Heinrich und gefällt mir, wer weiß warum.

Wenn Sie wollen, sagte Harms zum Abschied am frühen Abend, sprechen wir die Tage noch einmal, bis dahin können Sie sich die Sache ja in aller Ruhe überlegen, und Ihrer Familie sollten Sie schreiben und ein paar erste Eindrücke gewinnen vom Leben außerhalb des Lagers, wir haben Zeit.

Später hatte Heinrich einige Mühe, den Nachmittag mit Harms in allen Einzelheiten zu rekonstruieren (nur weil Tom es wissen wollte), und warum der Mann von der Staatssicherheit so großen Wert darauf legte, daß er Rosa nicht vergaß, und was für eine Sache das überhaupt war, die er sich in Ruhe überlegen sollte. Es fiel ihm aber längst nicht alles ein, was ihm hätte einfallen sollen, wenn es nach Tom gegangen wäre, hoffentlich hast du auch nichts unterschrieben. Hatte er nicht.

 

An seinem letzten Abend mit Rosa hatte Heinrich erst am späten Nachmittag zu trinken begonnen, und so war er milde zu ihr und ihrem Vorschlag mit Wiesbaden und widersprach ihr nicht, und dabei war doch Theodor der letzte, von dem in seiner Lage Hilfe zu erwarten war, aber wenigstens aus der Stadt wollte Heinrich und erfand für Rosa diesen Offermann in Frankfurt, bei seinen Touren durch Bars und Kneipen hatte er solche Leute schon kennengelernt.

Na, siehst du, sagte Rosa und war auch ihrerseits ganz milde und freundlich und ohne Vorwurf. Fast schien es Heinrich, als sei es ihr gerade recht, daß er geschäftlich in Schwierigkeiten war und fürs erste nicht weiter wußte (sie waren am Ende), denn so kam er wenigstens nicht auf dumme Gedanken und war noch einmal der, der er vor vier, fünf Jahren gewesen war: ein bißchen unzuverlässig, aber ehrgeizig und treu noch als Treuloser, und genau so hatte sie sich den Mann ihres Lebens immer gewünscht. Sie war nicht unzufrieden gewesen mit ihrem Heinrich anfangs, und die paar Frauen, die vor ihr waren (am Ende wußte sie ja nicht alles), na gut, da hatten sie ihm immerhin das eine oder andere beigebracht.

Er und sie hatten ein bißchen zugenommen in den letzten Jahren, die aufwendigen Mahlzeiten, die sie an den Abenden für ihn kochte, und das eine oder andere Glas Whisky zuviel hatten ihre Spuren hinterlassen, aber es gefiel ihr der Heinrich von neunzehnhundertzweiundsechzig, und noch erkannte sie ihn auch wieder in dem Heinrich von neunzehnhundertzweiundfünfzig, diesen Angeber, der mit seinem Bruder um sie gewettet hatte, und daß er sie schon ansprechen würde bei Gelegenheit und ihr sagen, er möchte mit ihr ins Freibad drüben auf den Fischerwiesen, dann kann er sie gleich in allen Einzelheiten studieren.

Das war im Juni neunzehnhundertzweiundfünfzig, daß er um sie gewettet hatte und sie ansprach auf der Straße am frühen Nachmittag, und Rosa hörte sich alles an und konnte nicht anders, als ihm gehorchen. Na, meinetwegen, sagte sie, und Marie, die Freundin, blieb zurück und staunte, wie Rosa sich ohne Zögern auf sein geliehenes Fahrrad setzte (er hatte ja nichts) und sich bei ihm festhielt und in das Freibad auf der anderen Seite des Flusses bringen ließ, der neue Badeanzug zum Glück gefiel ihm, und was es sonst noch für Badeanzüge und dazugehörige Mädchen in diesem Sommer gab, hatte ihn gar nicht zu interessieren.

Gleich in den nächsten Wochen hatte sie Anlaß, ihn ein bißchen zu tadeln und zu schelten für die eine oder andere Frechheit, die er sich herausnahm, aber meistens wußte er, wann und wo die Grenze bei ihr war, und wo er sie einmal überschritt (seine warmen, trockenen Hände unter ihrem Badeanzug), war’s zu ihrem Nachteil nicht. Am Ende beneideten sie alle um diesen Heinrich mit seinem weißen Seidenschal und den flotten Sprüchen und Einladungen vom geliehenen Fahrrad herunter, ja, sogar die schöne Marie beneidete sie, denn am Ende war es immer Rosa, die sich im Schwimmbad ein dünnes Handtuch mit ihm teilte und sich von ihm küssen ließ und dampfte unter seinen Küssen, das hoffte sie und strafte ihre Neiderinnen durch gelegentliche Andeutungen oder das eine oder andere Detail seiner vorsichtig-dreisten Erkundungen. Dann schwiegen die immer oder gaben sich hochnäsig und erfahren ohne Erfahrung, denn mit Anfang Zwanzig war es bei den meisten ja nicht weit her mit diesen sogenannten Erfahrungen, und also genoß es Rosa einen ganzen Sommer lang, wenn ihre Freundinnen heimlich ein Auge auf ihren Heinrich hatten und nicht loskamen von dem, sie fand, das schmückte sie.

Noch Jahre später sagte sie zu Marie, der Freundin, die ihr geblieben war nach einem Sommer im Freibad: Ich muß verrückt gewesen sein, daß ich mich mit ihm verlobt habe nach nicht einmal vier Monaten, aber ich beglückwünsche mich zu meiner Verrücktheit und daß er mich genommen hat, und dabei hatte ich doch nichts als ein paar schöne Augen und einen Körper mit Kurven und Rundungen für zwei. Du mußt verrückt sein, daß du dir das bieten läßt, hatte Marie gesagt, aber Rosa hatte nur abgewunken, nun fang mir bloß nicht damit an, was kümmern mich seine Affären, wenn er doch immer wieder auf mich zurückkommt und mich nimmt und behält, als wär’s das erste Mal und für immer, das Leben ist, wie es ist, und einen Besseren finde ich nicht, oder hast du etwa einen Besseren? Na also.

Sie dachte gern an diese Zeit, die erste, und dann waren ja auch noch seine beruflichen Erfolge und das viele Geld, das mit den Erfolgen ins Haus kam seit nunmehr sieben Jahren, das waren die fetten, und auf sieben magere, wenn sie denn folgten, wollte sie sich gerne einstellen.

Ich möchte nicht darüber reden, hatte Heinrich an ihrem letzten gemeinsamen Abend in Regensburg gesagt, denn ihm steckte noch immer der Onkel in den Knochen mit seinen Drohungen und Beschimpfungen, nur was kümmert’s uns, wenn der Onkel sein Geld nicht wiedersieht im Falle eines Falles (das war nun wieder typisch Rosa), er hat doch genug, und daß es wirklich schiefgehen kann, wenn der beste Bettenverkäufer südlich des Mains eine eigene Firma aufmacht, das glaube ich persönlich nie und nimmer. (Ach, wenn du wüßtest.)

Wir könnten eine kleinere Wohnung nehmen, wenn es hilft für den Übergang, hatte Rosa gesagt, und daß die erste Zeit immer die schwierigste ist, ich könnte beim Essen sparen, oder den neuen Fernseher könnten wir verkaufen, aber das alles wollte Heinrich auf keinen Fall. Pack mir lieber ein paar Sachen für Frankfurt, hatte er gesagt und saß bis lange nach Mitternacht im Fernsehzimmer und betrank sich, wußte keinen Rat.

 

Mit dem Brief an Rosa tat er sich schwer. Er hätte gerne Harms um Rat gefragt, der hatte bestimmt Erfahrung mit solchen Briefen, aber beim Abendvortrag ließ sich Harms leider nicht blicken, und bis zum nächsten Morgen wollte Heinrich nicht warten. Noch als er zu schreiben begann, hatte er keinen Plan. Sie sollte denken, er bemüht sich um sie, aber daß sie ihm folgt, erwartet er nicht im Ernst, und so schrieb er: Eisenach, den 16.3.1962. Meine Lieben! Ich konnte nicht anders! Ich weiß nicht, wie ich es überstanden hätte, aber hier sehe ich eine Möglichkeit für die Zukunft. Meinen Wagen habe ich in Fulda am Bahnhof stehenlassen. Ich denke immer an Euch. Bitte schreibe mir an folgende Adresse: H. H., Aufnahmeheim Eisenach, DDR. Gruß an die Kinder. Brief folgt.

Danach ließ er sich noch kurz von den Jungs aus Göttingen erzählen, und was für erste Eindrücke sie hatten, denn natürlich war er doch sehr gespannt, wie das alles aussah außerhalb des Lagers, und ob das alles nun wirklich schon ganz anders geworden war, als er es kannte aus dem Westen, keine Ahnung. Die Jungs aus Göttingen schienen sich auch gar keine große Gedanken darüber zu machen, für sie war’s nur wichtig, daß eine Stadt vorhanden war (grau und dämmrig), und in der gingen sie bei strömendem Regen spazieren und fanden kein Café, in dem sie sich hätten wärmen können. Waren zehn Jahre eine lange Zeit für ein Land oder eine kurze? Und wieder: Was wußte er überhaupt von diesem Land und seinen Bewohnern, seiner Politik seit damals, als die Familie im Verlaufe weniger Monate in den Westen ging, die Brüder im Sommer 1951 bei Sonneberg über die grüne Grenze, und schließlich im Herbst über den Ostteil der Stadt Berlin nach langem Zögern der Vater, die Mutter mit den beiden jüngeren Schwestern, so gingen sie zwischen den Grenzen alle paar Jahre hin und her.

Die Stadt Eisenach immerhin kannte er flüchtig von einem Ausflug mit einem Mädchen im Sommer einundfünfzig, die war die Tochter des zweiten Kreissekretärs der SED in Jena und hatte aus Heinrich vorübergehend einen Schriftführer bei der Freien Deutschen Jugend gemacht, denn mit der FDJ hatte sie es und wollte einen wie Heinrich nicht eher berühren, als bis er einen Beweis erbrachte für seinen richtigen Standpunkt im Klassenkampf.

Daran mußte Heinrich denken, als er am nächsten Morgen für drei Stunden das Lager verließ, die beiden Wachsoldaten waren nicht eben freundlich, aber das brauchte ihn ja nicht weiter kümmern: Er war draußen.

Damals, im Sommer einundfünfzig, hatte er für die Stadt gar keinen rechten Blick gehabt und immer nur nach kleinen verschwiegenen Orten Ausschau gehalten, an denen unter Umständen der eine oder andere Fortschritt bei diesem fortschrittlichen Mädchen möglich war, aber die begeisterte Tochter (Dora hieß sie mit Namen) hatte immer nur ihre FDJ im Kopf gehabt und wie genau die Losungen an den Häuserfassaden lauteten (Helft mit beim Aufbau des Sozialismus) und welches Gefühl das für sie war, auf einem Platz zu stehen, der nach dem größten Bewunderer und Freund des deutschen Volkes, Josef Wissarionowitsch Stalin, benannt war: herrlich, einfach herrlich.

Nach all den Jahren befürchtete Heinrich, er würde sich nicht zurechtfinden in der Stadt von damals, aber dann ging er los und fand das meiste wie ehedem: den Markt, das Schloß, die beiden großen Kirchen, das Bach- und das Lutherhaus, den alten Park: alles da. Und wieviel lebendiger und frischer sah alles aus, von den Zerstörungen der letzten Kriegstage kaum eine Spur. Nur nach dem Freund und Bewunderer des deutschen Volkes, Josef Wissarionowitsch Stalin, waren kein Platz und keine Straße mehr benannt, und viele neue Autos sah man jetzt überall in der Stadt, die kannte er bislang nur als Witz aus westdeutschen Blättern.

Über zwei Stunden ging er so und schaute und verglich, was er mit eigenen Augen sehen konnte und worüber es im Westen immer geheißen hatte, so und nicht anders geht es jenseits der Grenze zu, und daß das so ist, können wir so schnell nicht ändern, nur gutheißen können wir es auf keinen Fall. Heinrich dagegen fand, er habe nicht wirklich etwas zu befürchten, wenn das Land so war, wie es sich zeigte auf den ersten oder zweiten Blick, zum Beispiel nach Hunger sahen die Leute hier nicht aus, und sie redeten seine Sprache und waren freundlich und müde von einer Arbeit, die er nicht kannte.

Vielleicht, so dachte er, ist es nur, weil ich mich erinnere an dieses Mädchen, oder ich sehe längst nicht alles, oder man müßte eine Zeitung lesen (dünn sahen die Zeitungen aus), zum Beispiel über den Beschluß der Volkskammer vom 24. Januar (Gesetz über die Einführung der Wehrpflicht) erfuhr man auf so einem Spaziergang natürlich wenig, aber die Frauen gefielen ihm (die große Schwarzhaarige am Kiosk), und eine junge Wurstverkäuferin wünschte ihm doch tatsächlich einen schönen Tag.

Und wie finden Sie nun unser Land, wollte Harms wissen, als Heinrich auch diesmal den Whisky nicht ausgeschlagen hatte und von den Zigaretten erst die dritte, aber Heinrich konnte von seinen Eindrücken so schnell nicht reden, und was es mit seiner Dora genau auf sich gehabt hatte, an die nämlich mußte er denken. Na, sehen Sie, das wird doch alles, sagte Harms, der sich Heinrichs Vormittag auf seine Weise zusammenfaßte, und schon wurde er dienstlich und fing mit seinen berühmten Fragen an, aber eine Dora tauchte in all den Fragen nicht auf.

 

Obwohl in den Tagen davor immer wieder Gläubiger gekommen waren und ohne jede Rücksicht auf anwesende Kunden häßliche Szenen gemacht hatten, betrat Heinrich auch am letzten Tag pünktlich um acht die Geschäftsräume zwischen Tändler- und Wahlengasse, begann auf einem der ausgestellten Betten die Zeitung zu lesen und wartete auf Kundschaft. Fast hatte er sich schon gewöhnt daran, daß kein Onkel und kein Lehmann und kein Fräulein Swoboda mehr da waren und hinten im Büro oder im Lager den halben Tag verplauderten, während er vorne Kunden beriet, aber es war auch nicht viel los an diesem Vormittag, und sogar seine Gläubiger schienen Besseres zu tun zu haben, oder sie hatten alle Hoffnung längst fahren lassen und setzten mit ihren Rechtsanwälten lange komplizierte Schriftsätze auf, in denen sie der Firma Betten Hampel KG in Regensburg unwiderruflich letzte Fristen setzten, und wenn dann immer noch kein Geld floß, landete die Sache eben beim Staatsanwalt.

Jetzt rächte es sich, daß er Rosa immer von allen geschäftlichen Angelegenheiten ferngehalten hatte und daß sie statt dessen lieber brav zu Hause geblieben war und die Kinder versorgte und an den Abenden irgendwelche Geschäftsfreunde mit Ehefrauen oder noch viel häufiger allerlei Bekannte aus Bars und Kneipen und irgendwelchen dubiosen Clubs und privaten Saunas bewirtete, und dann tranken sie bis spät in die Nacht aus teuren Gläsern den feinen teuren Whisky und den noch feineren teuren Kognak, und erst kurz vor Mitternacht mahnte Rosa zum Aufbruch und verschwand und sagte: Es ist wegen des Kleinen, entschuldigt, aber er schreit jetzt beinahe jede Nacht.

Die ersten Kunden hatte er gegen elf, doch obwohl er sich Mühe gab mit dem jungen Paar aus einem Dorf nahe der Grenze (wir heiraten Ende April) und ihnen geduldig Vor- und Nachteile der neuen Modelle aus Frankreich erklärte, konnten sich die beiden zu keinem Kauf entschließen und turnten und alberten und kicherten fast eine Stunde lang in den verschiedensten Betten herum, bis endlich auch Heinrich die Geduld verlor und den beiden vorschlug, sie möchten doch noch einmal alles in Ruhe überschlafen, schließlich seien er und seine Betten auch morgen und übermorgen noch da, und da gingen die endlich und ließen ihn mit seiner Zeitung allein.

Um dich und deinen Laden mache ich mir keine Sorgen, hatte ihn der Vater zum Jahreswechsel telefonisch beglückwünscht, denn aufs Verkaufen und Loben und Preisen verstehst du dich nun einmal wie kein zweiter, und weil es den Leuten an Geld nicht mangelt, kaufen sie außer Kühlschränken und Fernsehapparaten oder dem neuen Käfer auch neue Betten und Kassen und Matratzen und Überzüge und Laken, gründen mit Anfang Zwanzig neue Familien oder lassen sich lieber noch etwas Zeit damit, in ihren Betten neue Familien zu gründen, so offen konnte der Vater neuerdings mit Heinrich reden. Du würdest sogar mir ein neues Bett verkaufen können mit deinen Sprüchen, hatte der Vater gesagt und sich über die teuren Zigarren zum Namenstag gefreut oder die sechzig Rosen zum Sechzigsten, aber vermutlich war das ja ein Irrtum, daß Heinrich immer geglaubt hatte, der Vater freue sich über die viel zu teuren Geschenke und den Erfolg des zweiten Sohnes im fernen Regensburg, denn was war das schließlich schon groß: ein Bettenverkäufer im verschlafenen Regensburg und zwei Kinder und eine Wohnung mit sieben Zimmern im dritten Stock, aber immer flüssig und großzügig, wenn die kleinlichen Brüder wieder mal knapp bei Kasse waren und so taten, als sei’s eine Gnade, daß sie von seinem Geld das neue Auto zahlten oder die neue Schrankwand im Schlafzimmer.

Das war gegen eins, als ihm die Sache mit dem geliehenen Geld wieder einfiel und er sich noch einmal ärgerte über Paul und Theodor und das Geschäft für geschlossen erklärte und im Büro zwei kurze förmliche Briefe schrieb, in denen er um Rückzahlung ihrer Schulden zum Fünfzehnten des Monats bat und seine verzweifelte Lage noch nicht mal erwähnte.

Hunger hatte er, als er fertig war.

In seinem Stammlokal über die Straße gab’s Eisbein mit Sauerkraut und Kartoffelbrei, das ließ er sich einpacken und nahm es mit nach hinten an den Schreibtisch und aß und dachte an die Brüder und Bella und ob die wohl noch einmal vorbeikam, er hoffte nicht.

Er dachte: Die Brüder sollen ruhig denken, es ist eine Laune von mir, daß ich das Geld von ihnen zurück will zu diesem äußerst ungünstigen Zeitpunkt, und Bella soll ruhig denken, ich bin schon fort und für immer.

Dann saß er still in seinem Büro und tat überhaupt nichts, der Rest Whisky, den er im Schreibtisch fand, reichte gerade für zwei Gläser.

Von einem Abschied wußte er nichts.

Er machte das Licht aus um vier, als käme er wieder, ließ die beiden Rolläden herunter und schlich aus dem Laden wie ein Dieb.

In der vierten Nacht im Lager erwachte Heinrich von einem Traum, in dem er noch einmal bei Marga war, und plötzlich stand da seine Rosa unten an der Tür und stieg die Treppen hoch und sah Marga, wie sie sich in aller Eile einen Morgenmantel überzog und Heinrichs Rasierpinsel und seinen Schlafanzug und seinen Whisky im Schrank versteckte, aber Rosa hatte gar keinen Blick dafür, und daß auch Heinrich nackt und verschlafen war und verlegen eine Begrüßung stotterte und einen Morgenmantel für sich nicht fand. Ich habe nur eine halbe Stunde, hatte Rosa gesagt, dann muß ich wieder ins Lager, ich sage euch, es ist entsetzlich und schmutzig und erbärmlich, aber wir alle haben große Hoffnungen, und in den Baracken der Männer auf den Laken für jede Nacht ein Fleck. Habt ihr etwas zu trinken für mich? Ich weiß, ich hätte euch nicht wecken dürfen, aber ein schönes Paar seid ihr, so nackt und bloß und den Schlaf noch in den Augen, und im Bett die Spuren der letzten Umarmung, ich beneide euch. Na ja, du kommst ein bißchen ungelegen, hatte Heinrich gesagt, aber Rosa hatte sich nicht abweisen lassen, und so hatten sie im Wohnzimmer zu dritt eine Flasche Wein getrunken, und Heinrich hatte gesagt, ich bin jetzt bei den Kommunisten, sorge dich nicht, neu anfangen kann man schließlich immer.

An die Verhältnisse im Lager hatte er sich bald gewöhnt. Nach dem Frühstück ging er nun meistens für ein paar Stunden in die Stadt, in der er mit Dora gewesen war, oder er redete mit Tom über die neuen und alten Zeiten und welchen Abendvortrag es diesmal geben würde (es sprach die junge Vorsitzende der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse), aber spätestens Ende der ersten Woche begann sich alles zu wiederholen: die abendlichen Betrachtungen über den imperialistischen Westen und die friedliebende DDR