Hinter den Wolken wartet die Sonne - Sarah Turner - E-Book
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Hinter den Wolken wartet die Sonne E-Book

Sarah Turner

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Beschreibung

Wenn das Leben im Bruchteil einer Sekunde auf dem Kopf steht

Beth Pascoe ist mit ihren 30 Jahren bisher recht sorglos durchs Leben gegangen. Sowohl Jobs als auch Beziehungen wechselt sie häufig. Am liebsten verbringt sie ihre Abende mit ihrem besten und selbstverständlich rein platonischen Freund Jory in ihrer Lieblingskneipe. Bis Beth nach einem schweren Unfall ihrer Schwester zum Vormund für deren Kinder wird. Weder ihre Eltern noch Jory trauen Beth zu, dieser Aufgabe gewachsen zu sein. Nur ihr freundlicher älterer Nachbar Albert, der mit Beth zusammen einen Buchclub gründet, ermutigt sie immer wieder, sich weder von der Trauer noch von der erschreckend neuen Welt aus Elternabenden und Gute-Nacht-Geschichten unterkriegen zu lassen. Denn Albert weiß: Hinter den Wolken wartet immer die Sonne.

»Ein herrlicher Roman über Familie, Trauer, sich ändernde Erwartungen und letzten Endes Liebe« THE SUN

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Inhalt

Cover

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Motto

März

1

2

3

4

April

5

6

7

Mai

8

9

10

11

12

Juni

13

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Juli

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18

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August

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September

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November

30

31

Dezember

32

33

34

Danksagungen

Über das Buch

Wenn das Leben im Bruchteil einer Sekunde auf dem Kopf steht

Beth Pascoe ist mit ihren 30 Jahren bisher recht sorglos durchs Leben gegangen. Sowohl Jobs als auch Beziehungen wechselt sie häufig. Am liebsten verbringt sie ihre Abende mit ihrem besten und selbstverständlich rein platonischen Freund Jory in ihrer Lieblingskneipe. Bis Beth nach einem schweren Unfall ihrer Schwester zum Vormund für deren Kinder wird. Weder ihre Eltern noch Jory trauen Beth zu, dieser Aufgabe gewachsen zu sein. Nur ihr freundlicher älterer Nachbar Albert, der mit Beth zusammen einen Buchclub gründet, ermutigt sie immer wieder, sich weder von der Trauer noch von der erschreckend neuen Welt aus Elternabenden und Gute-Nacht-Geschichten unterkriegen zu lassen. Denn Albert weiß: Hinter den Wolken wartet immer die Sonne.

»Ein herrlicher Roman über Familie, Trauer, sich ändernde Erwartungen und letzten Endes Liebe« THE SUN

Über den Autor

Sarah Turner lebt mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Devon, Großbritannien. Nach ihrem Philosophie-Studium arbeitete sie zunächst im Finanzsektor, später im Bildungsbereich, bevor sie anfing, in ihrem Elternblog über die Schwierigkeiten des Mutterseins zu schreiben. Sie hat seitdem mehrere Sachbücher veröffentlicht, die es alle auf die britischen Bestseller-Listen schafften. HINTER DEN WOLKEN WARTET DIE SONNE ist ihr erster Roman.

Sarah Turner

Roman

Aus dem Englischen von Angela Koonen

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe: Copyright © 2022 by Sarah Turner Titel der englischen Originalausgabe: »Stepping Up« Originalverlag: Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg Covergestaltung: © SOYEAHDESIGN, Gabi Braun unter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock.com:MURRIRA | Penpitcha Pensiri | Mr. Vaga Vaga Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7517-4227-6

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Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de

Für meinen Vater, der immer sagte, ich kann es. Und für James, der mich daran erinnerte, bis ich es tat.

Sei getrost, liebe Seele! Hinter den Wolken ist stets Licht.

Louisa May Alcott,

Little Women

März

1

Das Zündschloss klickt, ich stöhne. Spring an! Gestern kam nach dem Klicken wenigstens ein hoffnungsvolles Stottern. Heute nicht mal das, und ausgerechnet an dem Tag, da ich mein erstes Personalgespräch in der neuen Firma habe. Meiner neuen neuen Firma. Dad meint, ich leide im Job unter der Zehn-Wochen-Lust. Ich habe mich noch nicht getraut, ihm zu sagen, dass ich diesmal schon nach vier Wochen keine Lust mehr habe, denn ich weiß, er würde es Mum sagen, die mir dann wieder den Vortrag über Verlässlichkeit und Leistungsbereitschaft hält. Du musst länger dabeibleiben, Beth. Dich ein bisschen bewähren.

Das Radio schaltet sich mit den Staumeldungen ein – eine Stelle mit zähflüssigem Verkehr auf der A39 zwischen Kilkhampton und Stratton infolge eines liegen gebliebenen Viehtransporters. Ich rolle die Augen. Die Leute in meinem Dorf sagen immer, welches Glück wir haben, in diesem Teil der Welt zu leben, und wie schrecklich es wäre, bei dem Verkehr täglich in eine Großstadt zu pendeln, aber in der Großstadt müsste ich wenigstens nicht wegen einer Viehherde anhalten. Ich weiß, in der U-Bahn riecht es an heißen Tagen nach Achselschweiß und Käsefüßen, aber die Güllesaison in Nord-Cornwall ist für die Nase auch nicht beglückend.

Ich drehe den Zündschlüssel noch mal. Es klickt. Nichts.

In meiner Tasche habe ich eine Flasche Wasser. Ich schraube den Verschluss auf und leere sie mit großen Schlucken. Ärgerlich, dass ich vor dem Schlafengehen wieder zu wenig getrunken habe. Meine Schwester schwört darauf, einen halben Liter Wasser zu trinken, sobald sie von einem Ausgehabend nach Hause kommt (allerdings erkläre ich ihr immer wieder, dass ein Abendessen mit einem anderen Elternpaar, bei dem sie sich über Schlaferziehung und Grundschulanmeldung unterhalten, kein Ausgehabend ist). Sie steht auf Mottos, unsere Emmy, und Tu deinem künftigen Ich einen Gefallen! ist ihr jüngstes. Natürlich ziehe ich sie ständig damit auf, aber insgeheim denke ich, sie hat damit recht. Ich kann mir die künftige Emmy vorstellen, die permanent über die vorausschauende frühere Emmy entzückt ist. Die künftige Beth dagegen fühlt sich von der früheren Beth immerzu im Stich gelassen und hat viel zu bereuen, was sie anfangs für eine gute Idee hielt. So wird es wahrscheinlich mal auf meinem Grabstein stehen: Hier ruht Beth, unsere geliebte Tochter, Schwester, Tante und Freundin. Sie hatte viele scheinbar gute Ideen.

Das fünfte Glas Wein war ein Fehler. Ich überlege, Jory zu schreiben, dass mein Wagen nicht anspringt, und nachzuhören, ob er auch verkatert ist, aber er dürfte inzwischen vor seiner Klasse stehen. Unter der Woche kann man mit ihm keinen Spaß haben, und er geht selten auf meine Bürolangeweile-WhatsApps ein. Als ich mich mal darüber beschwerte, lachte er nur und sagte: »Aber ich arbeite. Wenn du irgendwann erwachsen bist, wirst du das verstehen.«

Ich lehne die Stirn aufs Lenkrad und wäge ab, was ich tun soll. Mum und Dad sind nicht zu Hause. Ich kann sie also nicht bitten, mich hinzubringen oder mir wieder ihr Auto zu leihen, bis ich meins in Reparatur gegeben habe (oder bis Dad es in Reparatur gegeben hat; ich will gar nicht daran denken, wie viel ich ihm noch für die letzte Werkstattrechnung schulde). Sie sind schon ganz früh aus dem Haus gegangen, um ihren Großelternpflichten nachzukommen und auf die Kinder aufzupassen, und das heißt, meine Schwester ist auch nicht da und kann mich nicht retten. Emmy hat ihrem künftigen Ich anscheinend einen Gefallen getan und keinen zehn Jahre alten, rostigen, schlecht gewarteten Vauxhall Astra gekauft. »Du weißt ja, Beth: Wer billig kauft, kauft zweimal.« Worauf ich immer entgegenhalte: »Ich kaufe billig, weil ich pleite bin.«

Doch wie immer hat sie recht. Ich sollte mal in ein zuverlässiges Auto investieren. Andererseits soll ich auch sparen, damit ich ausziehen oder wegziehen oder irgendwas tun kann, damit ich nicht mehr bei meinen Eltern wohnen muss. Was seit dem vergangenen Jahr, als ich dreißig wurde, ziemlich deprimierend ist. Als ich noch in den Zwanzigern war, erschien mir das nicht so schlimm. Doch das war kein stolzer Moment, als ich an meinem dreißigsten Geburtstag morgens in meinem alten Kinderzimmer aufwachte. Ich kaufte mir eine große Topfpflanze und einen senfgelben samtbezogenen Ohrensessel, damit der Raum schicker wirkt, aber als Jory mir beim Umgestalten half, vergaßen wir, die Decke zu streichen, und jetzt kann ich, wenn ich im Bett liege, die alten Klebestellen sehen, wo das Poster mit J von Five früher befestigt war. Zweimal habe ich fast einen Herzanfall bekommen, weil J nachts von der Decke auf mein Gesicht fiel, aber ich klebte ihn wieder an, und er guckte jahrelang mit seinem provokanten Brauenpiercing auf mich runter. Bei einer raschen Google-Suche erfahre ich, dass Jason Paul »J« Brown jetzt zweiundvierzig ist. Selbst Bradley von S Club 7 ist fast vierzig. Ich muss ausziehen.

Der fröhliche Radiomoderator sagt zwischen den Songs die Uhrzeit an und macht mir klar, dass ich sehr spät dran bin. Mir bleibt eigentlich nur noch, zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Damit würde ich guten Willen beweisen, meinen Boss vielleicht sogar beeindrucken. Beths Auto sprang nicht an, und trotzdem ist sie gekommen. Weiter so, Beth! Das Problem ist, ich sitze hier schon seit einer halben Stunde, und inzwischen kommt mir eine andere Idee. Ich könnte einfach zu Hause bleiben. Ein bisschen flunkern. Statt die Autopanne anzugeben, könnte ich mich krankmelden. Das ist keine ideale Lösung, aber wenn ich den wirklichen Grund nenne, würde mein Boss mich kurzerhand abholen, und das will ich nicht mit diesem Kater. Es ist schlimm genug, dass ich Malcolm den ganzen Tag gegenübersitze und seine Finanzgeschäfte mache.

Das entscheidet die Sache. Da ich vor knapp zwei Wochen schon mal gelogen und wegen angeblicher »Frauenbeschwerden« einen Tag blaugemacht habe, kann ich die Ausrede nicht schon wieder benutzen, obwohl meine Periode eigentlich fällig ist. Daraus muss sich doch ein Motto machen lassen. Tu dir für deine künftige Periode einen Gefallen. Werde ich Emmy heute Abend erzählen.

Ich schicke meine Entschuldigungsmail an Malcolm und gehe wieder ins Haus. Ein herrlicher Tag mit Nichtstun liegt vor mir. Ich frage mich, ob wir Pizzen im Tiefkühler haben. Mum kauft sie, wenn sie im Angebot sind (der reguläre Preis ist offenbar Wucher). Ich sollte mein Handy abschalten für den Fall, dass das Büro anruft, aber erst mal lösche ich die Instagram-Stories von mir und Jory im Pub von gestern Abend. Ich glaube zwar nicht, dass mir die Kollegen auf Social Media folgen – habe mich in der kurzen Zeit noch mit keinem angefreundet –, aber mein Profil kann jeder sehen, und es wäre peinlich, wenn sie von meiner Migräne erfahren und dann über den Clip stolpern, in dem ich anzüglich mit einem Queue tanze. Als ich es mir ansehe, finde ich es extrem beschämend. Wieso drehe ich immer dermaßen auf, wenn ich getrunken habe? In dem Moment muss ich geglaubt haben, dass es attraktiv aussieht, und obendrein habe ich wohl den nicht ganz so betrunkenen Jory aufgefordert, mich dabei zu filmen. Sein Lachen am Ende des Clips bringt mich zum Lächeln, dann lösche ich ihn und hoffe, dass von den 237 Views, die er verbucht hat, keiner von Hexworthy Finance war.

Sowie ich das Handy abgeschaltet habe, fällt mir ein, dass ich Emmy schreiben wollte, um ihr und Doug viel Glück für das Finanzierungsgespräch zu wünschen. Scheiße. Deshalb müssen Mum und Dad auf Ted aufpassen und dafür sorgen, dass Polly rechtzeitig zum Bus geht (obwohl sie mit vierzehn alt genug ist, um das allein hinzukriegen). Ich sollte an ihrem Vorhaben wirklich mehr Interesse zeigen. Nachdem sie in ihrem Haus fünfzehn Jahre zur Miete gewohnt haben, wollen sie es jetzt kaufen. Tatsächlich interessiert es mich auch, denn das ist ein großer Moment für sie, und ich habe von Mum diese Woche schon viel darüber gehört. Sie haben hart gearbeitet und haben sich gut gemacht. Findest du nicht, dass sich deine Schwester gut gemacht hat, Beth?

Im Haus ist es still. Ich mache mir eine Tasse Tee und gehe damit ins Wohnzimmer, greife mir unterwegs den Laptop vom Esstisch. Das Festnetztelefon klingelt, aber ich ignoriere es und mache es mir auf dem Sofa mit untergeschlagenen Beinen und Dads karierter Wolldecke bequem. »Kornischer Tartan«, betont er mir gegenüber oft und ist jedes Mal wieder verblüfft, weil ich nicht sofort ein herzlicheres Verhältnis zu der Decke entwickle. Er ist sehr stolz auf sein kornisches Erbe.

Aus reiner Gewohnheit schaue ich mir ein paar Stellenanzeigen an, was immer eine heikle Übung ist, weil ich weder entscheiden kann, was ich arbeiten möchte, noch, wo ich wohnen möchte (nur, dass ich meine jetzige Arbeit nicht machen und nicht in St. Newth leben will, wo das Highlight des Jahres der Maitanz ist). Als im Radio This Morning anfängt, bin ich mit den Stellenangeboten durch und scrolle wieder durch Facebook, was sich immer ein bisschen nach 2006 anfühlt. Die Generation meiner Nichte, die jetzt in der Mittelstufe ist, wird nie verstehen, dass wir stundenlang hingebungsvoll ganze Fotoalben von Ausgehabenden auf den Laptop geladen haben, manchmal mehrere Alben von demselben Abend (wieso?), noch wie hastig wir uns auf den unschmeichelhaften Schnappschüssen enttaggen wollten.

Überrascht sehe ich, dass Jory mir eine Nachricht per Messenger geschickt hat. Ich öffne sie und bin enttäuscht, weil es kein Kater-GIF oder Alki-Spruch ist, stattdessen schreibt er in einem ziemlich autoritären Ton: Beth, wo bist du? Schalte bitte dein Handy ein.

Ausgerechnet er. Mit ist nicht ganz wohl dabei, aber ich beschließe, das Risiko eines Anrufs von Malcolm einzugehen. Sowie das Display aufleuchtet, summt und pingt es wie befürchtet. Oh Gott. Malcolm muss mir auf die Mailbox gesprochen haben. Ich checke die Nachrichten. Eine Voicemail mit unbekannter Nummer (vermutlich das Büro). Voicemail von Dad. Voicemail von Jory. Jory? Das macht er sonst nie. Wieso ruft er mich aus der Schule an?

Ich will sie gerade abhören, als mehrere Textnachrichten eingehen. Dad hat mich in der letzten halben Stunde siebenmal angerufen. Er hat auch zweimal geschrieben, einmal, um zu fragen, wo ich bin, und einmal mit der Bitte, ihn sofort anzurufen. Kein Wie geht es dir? und kein Küsschen. Vielleicht hat er aus irgendeinem Grund in meinem Büro angerufen und erfahren, dass ich Migräne habe. Nett von ihm, dass er sich nach mir erkundigen will, aber sieben Anrufe deswegen erscheinen mir übertrieben. Und auch nicht angenehm für jemanden, der tatsächlich Migräne hat. Ich tippe auf Anrufen und gehe in den Flur, wo der Empfang besser ist. Nach dem zweiten Klingeln nimmt er ab.

»Bist du das, Beth?« Seine Stimme klingt schwächer als sonst. Jetzt tut es mir leid, dass er sich meinetwegen Sorgen macht.

»Ja, Dad. Hast du bei mir im Büro angerufen? Entschuldige, ich hab mich wegen Kopfschmerzen …«

Er unterbricht mich und sagt dreimal hintereinander meinen Namen. Sein Tonfall hat etwas an sich, das mir die Nackenhaare aufrichtet.

Mein Herz schlägt schneller. »Dad, was ist los? Wo ist Mum?«

Er zögert. Meine Angst wächst, als er langsam antwortet. »Deine Mutter ist bei mir. Hast du jemanden bei dir? Du sitzt nicht gerade am Steuer?«

»Nein, ich bin zu Hause. Gott, Dad, was ist denn?« Ich zittere.

Er redet gedämpft mit Mum, die aufgeregt klingt. Im Hintergrund läuft Peppa Pig. Also sind sie bei Emmy, aber da redet außer den beiden noch jemand. Ein Mann. Es ist nicht Doug, mein Schwager.

»Bleib, wo du bist, Liebes. Ich komme rüber, sobald ich kann.« Dad weint.

Jetzt weine ich auch, ohne zu wissen, warum. »Nein, leg nicht auf. Sag es mir jetzt, Dad. Bitte.«

Er hat nicht siebenmal angerufen, weil ich mich krank gemeldet habe. Sondern wegen etwas anderem. Etwas, das er mir lieber persönlich sagen will, das ihn zum Weinen bringt. Es muss etwas wirklich Schlimmes sein.

Und dann sagt er es.

»Es tut mir furchtbar leid, Liebes. Deine Schwester und Doug, es hat einen Unfall gegeben.«

2

Ich erinnere mich nicht daran, wie Jory hereingekommen ist oder dass er mir vom Fußboden aufgeholfen hat, doch das muss er getan haben, denn ich sitze vorne in seinem Lieferwagen. Er hat die Hände an meine Wangen gelegt und spricht mit mir, aber ich höre nichts. Seine Lippen bewegen sich langsam, auf dieselbe übertriebene Art wie früher, wenn wir als Kinder im Schwimmbecken unter Wasser zu reden versuchten. Nach dem Auftauchen lachten wir und wiederholten, was wir glaubten, das der andere gesagt hatte. Wir waren über zwanzig Jahre befreundet, und ich hatte ihn noch nie so besorgt gesehen.

»Beth?« Ich höre wieder etwas, und mit einem Schreck fällt mir ein, warum ich zusammengekrümmt im Flur gehockt habe. Ich beginne am ganzen Leib zu zittern.

»Doug ist tot.« Ich spreche es aus, sehe Jory aber flehend an, damit er das korrigiert oder wenigstens abschwächt, doch das tut er nicht. »Emmy wird auch sterben?« Ich wünsche mir verzweifelt, dass das ein Irrtum ist, eine Verwechslung. Ich weiß, unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Ich fange an zu schachern. Mit Gott oder wer immer mich da hört. Mach, dass das nicht wahr ist, und ich werde alles tun, was du willst. Gib mir meinen Schwager zurück, lass meine Schwester nicht sterben, mach den Unfall ungeschehen, und ich werde mich nie wieder über mein Leben beschweren. Mir klappern die Zähne.

»Das wissen wir nicht. Emmy ist zäh.« Jory lässt meine Wangen los und zieht sich das Jackett aus, um es mir umzuhängen. Das hat er auch damals getan, als mein erster Freund mit mir Schluss gemacht hat, nachdem ich betrunken mit ihm gestritten hatte. Jory kam und fand mich ebenfalls zitternd vor. Wir setzten uns vor dem Nachtklub auf den Bordstein, jeder mit einem Burger vom Imbisswagen, und er versprach mir, dass alles gut wird. Ich möchte, dass er das jetzt auch verspricht, doch das wird er nicht tun. Er startet den Motor. »Wir müssen jetzt wirklich zum Krankenhaus fahren. Ich wollte nur sichergehen, dass du keine Panikattacke bekommst.«

»Bitte, fahr einfach. Ich will nur zur ihr. Wie lange …«

»Knapp anderthalb Stunden«, sagt er und gibt mir einen Stoffbeutel. »Da ist eine Flasche Wasser und eine Plastiktüte für den Fall, dass dir schlecht wird. Du hast gesagt, das könnte passieren. Ich habe auch deine Brille eingepackt. Ich dachte, deine Kontaktlinsen werden heute vielleicht irgendwann wehtun. Ich wusste nicht, was ich noch einpacken sollte, du hast nur geweint …« Er sieht aus, als hätte er auch geweint. Ich habe ihn nur ein einziges Mal weinen sehen, als ich damals in der neunten Klasse bei ihm zu Hause war und Bramble, sein Springer Spaniel, gestorben war.

Ich halte den Beutel auf dem Schoß und schlucke an dem schmerzenden Kloß in meinem Hals. »Ich darf sie nicht verlieren, Jor. Polly und Ted brauchen sie. Ich brauche sie.«

Er dreht den Kopf zu mir, sagt aber nichts.

Ich kaue an den Nägeln. Doug ist tot. Den Gedanken höre ich in einem fort. Vor zwei Tagen habe ich ihn noch gesehen. Ich bin unangemeldet bei ihnen aufgekreuzt, nachdem ich gehört hatte, dass es zum Abendessen Lasagne gibt. Bei meiner Schwester schmeckt sie am besten. Sie lässt die oberste Schicht ein bisschen knusprig werden, wie ich es gernhabe. Ich machte mich den ganzen Abend über Dougs Dad Jeans und Emmys Gartenschuhe lustig. Jetzt steht jemand von der Polizei in ihrer Küche und sagt Dinge, die wir nicht hören wollen. Wie kann Doug einfach nicht mehr da sein?

Jory schaltet das Radio ein und hastig wieder aus, weil in den Nachrichten ein tödlicher Unfall auf der M5 erwähnt wird. Wir schweigen für den Rest der Fahrt, und mein Kloß im Hals schmerzt weiter.

Das Krankenhaus ist ein Labyrinth aus Gängen und Wartebereichen. Wir rennen zwar nicht, gehen aber so schnell wie irgend möglich. Einmal komme ich in den Laufschritt, und Jory bremst mich, weil ich beinahe mit einem Patienten zusammenstoße, der in seinem Bett aus dem Aufzug geschoben wird.

»Stockwerk zwei, Station K.« Jory wiederholt die Angaben, die man uns an der Pforte genannt hat. »Wir sind gleich da.«

Mum und Dad sind eine halbe Stunde hinter uns. Sie mussten Polly von der Schule abholen und ihr sagen, was passiert ist, bevor sie zusammen losfuhren. Ted weiß nicht, dass sein Dad tot ist, kommt aber mit, um seine Mum zu besuchen. Wir wissen noch nichts über Emmys Zustand, außer dass er ernst ist, und es wäre eine lange Rückfahrt, wenn sich herausstellt, dass er hier gebraucht wird. Ich kann im Moment nicht an die Kinder denken, denn das zerreißt mir das Herz. Es verblüfft mich, wie stark sich der Schmerz körperlich bemerkbar macht, als steckte ich mit der Brust im Schraubstock.

Wir klingeln an der Intensivstation, und ein Krankenpfleger kommt heraus und fragt, zu welchem Patienten wir gehören. Ich spähe an ihm vorbei in die Station. Sie sieht ganz anders aus als die, die ich von anderen Krankenbesuchen kenne. Da sitzen keine Patienten in ihrem Bett, mit Weintrauben und Weingummis in Reichweite, und gucken fern. Stattdessen sehe ich geschlossene Glaskabinen und höre nur Pieptöne von Geräten.

»Emmy. Emily Lander. Ich bin ihre Schwester Beth«, sage ich.

Er grüßt nickend, dann sieht er Jory an.

»Das ist Jory, mein Freund.« Das klingt in meinen Ohren unzureichend. »Er gehört zur Familie«, füge ich hinzu.

Wir werden hereingebeten und an den Kabinen vorbei zu einem langen Flur geleitet, in dem eine Reihe Stühle vor einem Büro steht. Der Pfleger weist Jory auf die nächste Kaffeestation hin. Ich will keinen Kaffee. Ich setze mich hin, stehe aber sofort wieder auf und gehe hin und her. Es dauert nicht lange, bis eine Ärztin zu uns kommt.

»Beth? Ich bin Dr. Hargreaves. Soviel ich weiß, sind Ihre Eltern auch auf dem Weg hierher.«

Ich nicke. »Darf ich zu meiner Schwester?«

Sie bedeutet mir, mich zu setzen, und ich tue es widerwillig, schließe die Fäuste und drücke mir die Fingernägel in die Handflächen. Ist etwas passiert, seit ich mit Dad telefoniert habe?

»Ihrer Schwester geht es wirklich sehr schlecht.« Sie spricht leise und gemessen. Wirklich sehr schlecht. Wirklich sehr schlecht heißt, sie ist am Leben. Ich fühle mich erst einmal erleichtert, obwohl die Ärztin besorgt aussieht. So hat Mum es immer ausgedrückt, wenn wir stark erkältet waren oder eine Halsentzündung hatten. Aber es klingt definitiv schlimmer, wenn das eine Klinikärztin über meine Schwester sagt.

Sie setzt sich neben mich. Hinter ihrem Ohr klemmt ein Stift. Ich muss mich sehr konzentrieren, um mitzukriegen, was sie sagt.

»Emmy hat bei dem Unfall ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Als die Rettungskräfte am Unfallort eintrafen, war sie nicht ansprechbar und ihre Atmung verlangsamt.« Ich schluchze auf, mein Gehirn zeigt mir Unfallbilder. Jory drückt meine Schulter.

»Spricht sie? Weiß sie, wo sie ist? Oder was passiert ist?« Weiß sie, dass ihr Mann umgekommen ist?

Sie schüttelt den Kopf. »Ihre Schwester ist nicht bei Bewusstsein und muss beatmet werden. Das heißt, sie liegt im Koma. Ein Schädel-Hirn-Trauma ist eine komplizierte Angelegenheit.«

»Wird sie sterben?« Ich sehe der Ärztin in die Augen, will es wissen und zugleich nicht wissen. Ich frage mich, ob sie weiß, wie wichtig es ist, dass sie Emmy wieder gesund macht. Vermutlich ja. Sie hatte sicher schon Hunderte Familien hier sitzen, auf dieser trostlosen Station, wo es allen Patienten wirklich sehr schlecht geht und die Besucher darauf hoffen, dass der geliebte Mensch gerettet wird. Aber diese anderen sind nicht meine Schwester.

»Es ist zu früh, als dass ich die Frage mit einiger Gewissheit beantworten könnte. Emmys Zustand bezeichnen wir als kritisch, aber stabil. Das heißt, er ist lebensbedrohlich, aber ihre Vitalzeichen liegen im Moment im Normalbereich.« Dr. Hargreaves legt eine Hand auf meinen Arm. »Ich werde für Ihre Schwester alles tun, was möglich ist. Wollen wir jetzt zu ihr gehen?«

Jory bietet mir seine Hand an, und ich halte mich daran fest. Ich trage noch sein Jackett, mit dem er jetzt eigentlich vor seiner Klasse stehen und Geschichte unterrichten sollte. Es ist, als hätte es mich in ein Paralleluniversum verschlagen und ich wollte nichts so sehr wie in das andere zurückkehren, in dem Jory in der Schule zu viel zu tun hat, um auf meine SMS zu antworten, und in dem ich unter Dads karierter Wolldecke einen Tag blaumache und überlege, was ich mir gegen den Kater zu Mittag kochen soll. Wie wunderbar das andere Leben war. Wie dumm ich war, das für selbstverständlich zu nehmen.

Wir gehen zurück zu den Glaskabinen. Lander, Emily steht auf einer Weißtafel neben der Tür. Zögernd treten wir ein, und ich wische mir die Augen, um einigermaßen klar zu sehen. Und als ich das kann, fasse ich mir unwillkürlich an den Mund. Ihr Kopf steckt vom Kinn an in einem Verband. Auf dem Scheitel sind ihre blonden Haare dunkel und verklebt, vermutlich von angetrocknetem Blut. Sie hat einen Schlauch im Mund und mehrere an den Armen. Ich strecke eine Hand nach ihr aus, sehe aber die Ärztin an, ob ich Emmy anfassen darf. Da Dr. Hargreaves nickt, sinke ich auf den Stuhl neben dem Bett und nehme Emmys Hand behutsam in meine. Ich denke an Doug, ihre erste und einzige Liebe, der Polly und Ted ein genialer Vater war und jetzt allein irgendwo liegt – ich weiß nicht mal, wo. Ich lege den Kopf auf den Rand ihres Kissens.

»Ich bin bei dir, Em. Jory ist auch hier.«

Jory verlagert sein Gewicht aufs andere Bein und räuspert sich. »Äh, hey, Emmy. Was machst du denn für Sachen, hm?«

Sie rührt sich nicht. Die Überwachungsgeräte neben dem Bett piepen. »Kann sie mich hören?«, frage ich.

Dr. Hargreaves breitet die Hände aus. »Das wissen wir nicht. Wir sind uns nicht sicher, wie tief die Bewusstseinsstörung geht, aber möglicherweise kann sie Sie hören, ja, und sie reagiert viel wahrscheinlicher auf eine vertraute Stimme als auf jemanden von uns.«

Ich nicke, unsicher, was ich sagen soll. Vom anderen Ende des Flurs sind Stimmen zu hören. Jory streckt den Kopf zur Tür raus. »Deine Eltern sind da. Und die Kinder auch.«

»Okay«, sage ich. Obwohl gar nichts okay ist. Ich wünschte, die Kinder müssten ihre Mutter so nicht sehen.

Die Ärztin geht mit uns in einen Raum mit bequemen Stühlen, wo meine Eltern schon sitzen. Auf den Stühlen liegen Kissen, und auf einem niedrigen Tisch in der Mitte steht eine Vase mit Strohblumen. Das ist ein Raum, in dem das gewohnte Leben vernichtet wird. Kissen und Blumen gibt es nicht, wo man gute Nachrichten empfängt.

Wir sind viele in dem kleinen Raum. Der Mann, den ich beim Telefonieren im Hintergrund gehört habe, ist der uns zugewiesene Opferschutzbeamte. Er spricht gerade mit Dad. Er nickt mir zu, während er sich verabschiedet und meinen Eltern sagt, dass er wiederkommt, wenn er mehr über den Unfallhergang weiß. Mein Vater breitet die Arme aus, und ich lasse mich hineinfallen. Seine Schultern beben, und ich halte ihn fest an mich gedrückt. Sein Wollpullover riecht nach ihm. Einunddreißig Jahre lang war er es, der mich drückte, gewöhnlich wenn ich etwas vermasselt hatte. Er konnte mich immer gut damit aufmuntern, dass am nächsten Morgen alles besser aussieht.

Er lässt mich los und räuspert sich. »Warst du schon bei ihr? Hat sie etwas gesagt?« Ich erzähle, dass wir gerade erst wenige Minuten bei ihr waren, sie aber nicht reagierte. Er nickt und nickt noch einige Male, bis es ein wenig zwanghaft erscheint.

Mum kommt mit Ted auf dem Arm zu mir und gibt mir einen Kuss auf den Kopf, dann winkt sie Jory, er soll nicht in der Tür stehen, sondern hereinkommen. Er wirkt bedrückt, und sie streicht ihm über die Wange. Sie hat ihn von Anfang an gemocht. »Danke, dass du Beth hergebracht hast.«

Er sieht ihr in die Augen. »Moira, es tut mir furchtbar leid, was passiert ist.«

Sie lächelt traurig. »Ich bin froh, dass du hier bist.«

Polly steht blass und verstört in einer Ecke am Fenster. Sie trägt noch den Pferdeschwanz vom Sportunterricht. Sie weiß über ihren Dad Bescheid, das sehe ich ihr an. Nach einem Blick auf Ted sehe ich meine Mutter an. Sie versteht meine stumme Frage und schüttelt den Kopf. Er weiß es noch nicht.

Dr. Hargreaves bittet uns alle, Platz zu nehmen, was nur Polly verweigert, und wiederholt, was sie mir und Jory schon mitgeteilt hat. Ich nehme es jetzt klarer auf. Wir sind alle erpicht darauf, zu Emmy zu gehen, aber die Ärztin erklärt, es sei eine strikte Regel, dass immer nur zwei Besucher gleichzeitig zu einem Patienten dürfen, und deshalb einigen wir uns darauf, dass Mum und Dad zusammen hineingehen und dann jeweils einer von uns mit Polly und Ted.

Mum spricht leise mit Polly. »Bist du damit einverstanden, Schatz? Wenn dein Grandad und ich zuerst zu deiner Mum gehen, dann du mit einem von uns?«

Polly sieht niemanden an und zuckt nur die Achseln.

Ted blickt auf, nachdem er es geschafft hat, Postman Pats Lieferauto unter dem niedrigen Tisch einzuklemmen. »Meine Mummy und Daddy sind hier.«

Alle erstarren, außer Jory, der in die Hocke geht, um das Auto hervorzuziehen. »Hey, Kumpel, willst du ein paar Rettungswagen sehen? Draußen stehen ganz viele. Wie wär’s?« Er schaut meine Eltern an. »Nur, wenn ihr das gutheißt. Ich kann mit ihm vor die Tür gehen, damit ihr eine Weile unter euch seid.«

Sie nicken. Ted dreht eine Hand über dem Kopf hin und her und ahmt eine Sirene nach, während Jory ihn aus dem Raum lenkt. Mum und Dad gehen mit der Ärztin und lassen mich mit Polly allein.

Ich spiele an einem Kissen herum, während ich überlege, was ich zu meiner Nichte sagen, wie ich das Schweigen angemessen beenden könnte. Unser Verhältnis besteht hauptsächlich darin, uns gegenseitig aufzuziehen und gemeinsam ihre Eltern aufzuziehen. Bisher war meine Schwester immer dabei, wenn wir uns sahen. Ich bin keine Tante, die mit ihrer Nichte zum Shoppen oder in den Park geht oder sie auf einen heißen Kakao einlädt, und ich wurde nur wenige Male damit betraut, auf sie und Ted aufzupassen. Emmy betrachtete mich nicht mehr als geeigneten Babysitter, nachdem sie und Doug einmal früher von einem Dinnerabend heimkamen und mich in einer kompromittierenden Haltung mit meinem damaligen Freund antrafen. Sie waren wütend. Mehr als wütend: Sie waren enttäuscht. Leute sind häufig von mir enttäuscht, finde ich.

Ich gehe zu ihr ans Fenster und setze zu einer Bemerkung an, aber statt etwas zu sagen, reibe ich ihr über den Rücken. So stehen wir ein Weilchen da. Schließlich bricht sie das Schweigen. »Ich kann das nicht aushalten, Tante Beth.« Sie klingt schwach und hilflos.

»Ich weiß.« Ich überlege, womit ich sie trösten, sie ein bisschen aufmuntern könnte, aber sie hat gerade erfahren, dass ihr Vater ums Leben gekommen ist und ihre Mutter im Koma liegt. Da kann man nichts sagen, durch das es ihr besser gehen würden.

Ihre Augen sind groß. »Dad wäre heute besser zur Arbeit gefahren. Sie fahren sonst nie in der Woche irgendwohin, und jetzt haben sie es ein Mal getan, und dann passiert so etwas.«

»So darfst du nicht denken«, sage ich. »Ich wünsche mir nichts so sehr, wie dass sie nicht zu der Zeit auf dieser Straße unterwegs gewesen wären – doch das waren sie, und wir können nichts daran ändern.«

Polly schüttelt den Kopf. »Ich hätte sie davon abbringen müssen. Sie wird auch sterben, oder?«

»Nein.« Das sage ich sehr bestimmt, trotz meiner eigenen Befürchtung.

»Sieht sie schlimm aus?«

Ich bin versucht, es herunterzuspielen, obwohl ich bei ihrem Anblick geschockt war, aber Polly wird sie gleich selbst sehen, und da ist es vielleicht besser, sie auf die Tatsachen vorzubereiten. Ich drücke mich vorsichtig aus. »Nein, nicht besonders. Man erschrickt ein bisschen wegen des Kopfverbands und der Schläuche und Geräte. Ignorier das alles, und sieh in ihr Gesicht. Deine Mum braucht dich, Pol. Die Ärztin meint, sie kann uns vielleicht sogar hören.«

»Weiß sie es? Das von Dad?« Sie fängt an zu weinen, und es bricht mir von neuem das Herz.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Haben sie gesagt, wohin sie fahren wollten? Die Polizei, meine ich. Wissen die, warum sie auf der M5 waren?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber wir wissen es, oder? Sie waren wegen des Kredits bei der Bank, und deine Grandma vermutet, dass sie anschließend zu Ikea wollten und deshalb auf der Autobahn waren. Nach ihrem Termin lag das nicht allzu weit weg. Grandma fühlt sich schlecht, weil sie ihnen geraten hat, sich hinterher einen schönen Tag zu machen. Aber deshalb ist das nicht ihre Schuld. Genauso wenig wie deine. Du konntest nicht ahnen, dass das passiert.«

Polly quält sich weiter mit Gedanken über den Unfall, das sehe ich ihr an. Ich habe unterwegs zur Klinik dasselbe getan.

»Möchtest du etwas Heißes trinken? Ich gehe uns einen Tee holen.« Sie schüttelt den Kopf. »Ganz sicher? Ich muss sowieso zur Toilette. Willst du mitkommen?« Ich will sie nicht allein lassen. Sie schüttelt wieder den Kopf, und ich verspreche, mich zu beeilen und sofort zurückzukommen.

Sowie ich die Intensivstation verlasse, laufen mir die Tränen übers Gesicht. Große, dicke Tränen. Diesmal wische ich sie nicht weg. Diesmal lasse ich sie laufen, und meine Schultern beben so stark, dass mich die Leute anstarren.

Im Toilettenraum erschrecke ich über mein Spiegelbild. Meine Wangen sind nass. Ich ziehe ein Papierhandtuch aus dem Spender und wische sie ab. Aus meinem Knoten haben sich ein paar krause Strähnen gelöst, die ich mir hinter die Ohren streiche. Immer wieder überkommt mich schieres Entsetzen und im nächsten Moment eine lähmende Angst vor der nächsten schlechten Nachricht. Was wird noch passieren? Ich bin wie versteinert und zugleich in Panik, weil ich über die Situation null Kontrolle habe. In Krisen will ich instinktiv abhauen. In einer Kampf-oder-Flucht-Situation reiße ich zuverlässig aus. Doch hier gibt es gar kein Entkommen, hier kann ich mich nicht dünnemachen, bis es sicher ist, zurückzukehren. Es würde nichts nützen, mich zu verkriechen. Ich gebe mir einen Ruck und gehe zurück zur Intensivstation, zu meiner Familie, zurück in den Alptraum.

3

»Du hast das McChicken-Sandwich zweimal bestellt. Möchtest du zwei?«

Mum schaut stirnrunzelnd auf das Display. »Nein, ich will nur eins. Und ich wollte auch keine großen Pommes Frites. Das hat das Ding von selbst in den Warenkorb gepackt!« Sie ist frustriert, wie immer, wenn sie mit moderner Technik zu tun bekommt. Ich schiebe einen Arm über den Touchscreen und dränge sie sanft beiseite.

»Lass mich das machen. Nimmt Dad das Übliche? Was möchte Polly?« Ich schaue zu unserem Tisch. Dad sitzt mit hängenden Schultern da, starrt andere Gäste an, ohne etwas zu sehen. Ted guckt Zeichentrickvideos auf Jorys Handy und hält dabei Mr Trunky, den Stoffelefanten im Arm. Jory fängt meinen Blick auf und lächelt. Es ist ein verhaltenes, trauriges Lächeln. Ich lächle traurig zurück. Polly hat sich ganz ans Ende der Sitzbank geschoben und den Kopf über ihr Handy gebeugt. Sie will nichts, sagt Mum.

Ich bestelle ihr trotzdem einen Hamburger und greife nach dem Beleg mit unserer Bestellnummer, nehme Strohhalme und Servietten, pumpe Ketchup in zwei weiße Schälchen. Ich weiß kaum, was Ted an einem normalen Tag isst oder trinkt, aber Pommes Frites ohne Ketchup findet er bestimmt nicht gut. Ich schicke Mum mit den weißen Schälchen zum Tisch und warte neben der Kasse, bis ich das Tablett mit unserem Essen bekomme. Der fettig-würzige Geruch dreht mir fast den Magen um. Es kommt mir völlig absurd vor, jetzt in einem McDonald’s zu stehen. Wären nur wir Erwachsenen oder wir und Polly zusammen, wäre uns dieser Boxenstopp bestimmt nicht in den Sinn gekommen. Aber wenn man einen kleinen Jungen in der Familie hat, muss der Alltag weitergehen, müssen die Bäuche gefüllt werden.

Es ist Freitagabend und folglich brechend voll. Ich konnte mich gerade so zusammenreißen, als ich Mum aus der Verwirrung am Touchscreen erlöste, aber jetzt da ich untätig herumstehe, fühle ich mich von den Menschenscharen bedrängt. Ich will hier nicht sein, umgeben von Leuten, die laut lachend an mir vorbeidrängen und sorglos ihre Milkshakes schlürfen. Ihre Fröhlichkeit kränkt mich, und ich will sie anschreien: Was fällt euch ein, zu lachen? Wisst ihr nicht, was heute passiert ist? Natürlich wissen sie es nicht, und selbst wenn, würden sie sagen: Tut mir leid, wie schrecklich! und ein paar Augenblicke danach weiter lachen und Milkshakes schlürfen. Das ist nicht ihre Tragödie, nicht wahr? Nicht ihr Problem.

Schweigend stochern wir in unserem Essen und gehen ab und zu auf Ted ein, der seine winzigen Ketchup-Portionen schon verputzt hat. Er bittet seine Grandma, ihm mehr zu holen. Mum holt ihm noch drei, und er sieht sie verwundert an, bevor er sich darüber hermacht. Ich frage mich, ob ihm klar ist, dass er von uns heute alles kriegen kann.

Polly hat ihren Burger nicht mal ausgewickelt und auch ihr Getränk kaum angerührt. Mum und Dad wirken in sich gekehrt und erschöpft, Polly dagegen nervös und gereizt. Ich weiß nicht, ob das eine normale Reaktion bei solch einem Schock und der Trauer ist. Vielleicht. Vielleicht ist sie die Einzige, die angemessen reagiert. Wir anderen haben auch keinen Appetit, essen aber widerwillig, damit es für Ted in möglichst normalen Bahnen läuft, zumal er noch nicht weiß, dass sein Vater tot ist, und glaubt, dass seine Mum nur ausgiebig schläft. Er war der Einzige von uns, der nicht entsetzt guckte, als er den Kopfverband und die Schläuche sah. »Mummy hat Aua!«, sagte er zu der Ärztin. »Und sie ist müde.«

»Was werden wir tun?«, frage ich leise. »Heute Abend, meine ich.« Ich weiß auch nicht, was wir auf längere Sicht tun werden, aber ein McDonald’s ist vermutlich kein geeigneter Ort, um das zu besprechen.

»Ich meine, Polly und Ted sollten bei uns übernachten«, sagte Mum.

»Nein.« Pollys energischer Ton verblüfft uns.

»Nein?«, fragt Mum.

»Ich will nicht bei euch übernachten, Nan. Ich will nach Hause.«

Ich fummle an der Papierhülle von meinem Strohhalm herum. »Ich kann bei ihnen bleiben. Ich schlafe auf dem Sofa.« Eigentlich habe ich im Krankenhaus bleiben wollen, aber Dr. Hargreaves nahm meinen Vater beiseite und empfahl ihm dringend, nach Hause zu fahren. Sie weiß, dass wir über eine Stunde weit weg wohnen, und hat deshalb versprochen, uns anzurufen, wenn sich Emmys Befinden verändert. Dad nickt zu meinem Vorschlag. Mum ist nicht angetan. Das sehe ich an ihren Mundwinkeln. »Mum?«

Sie wackelt mit dem Kopf, zum Zeichen, dass sie zwischen Ja und Nein schwankt. »Für eine Nacht wird das wohl mal gehen«, sagt sie. »Ich würde selbst bleiben, aber ich werde auf dem Sofa kein Auge zutun, nicht mit meinen kaputten Gelenken, und es käme mir falsch vor, in … nun ja …« Ihrem Bett zu schlafen. Die Worte hängen zwischen uns, und wir richten den Blick auf Ted, der gerade die letzte Pomme frite in den Mund steckt und sich die Finger ableckt.

Mum spult einige Instruktionen für mich ab, so als würde ich die Kinder auf eine Expedition mitnehmen, anstatt sie zu Hause ins Bett zu bringen. Sie glaubt nicht, dass ich das reibungslos hinbekomme. Der Fairness halber muss ich sagen, dass ich sie noch nie über Nacht betreut habe, und auch wenn ich so tue, als ob ich die Gewohnheiten der Kinder kenne, hat sie mich schon verwirrt, weil sie eine Windel erwähnt, während ich dachte, Ted ginge schon aufs Töpfchen.

»Ich dachte, er braucht keine Windeln mehr.«

»Tagsüber nicht, Liebes, aber nachts durchaus.«

»Oh, in Ordnung, gut. Ich werde schon zurechtkommen.«

»Wir sind gleich morgen früh wieder bei euch und helfen«, sagt Mum. Nehmen die Dinge in die Hand, heißt das. Ich werde bestimmt froh sein.

Als wir hinaus und über den Parkplatz gehen, fragt Ted, ob er bei Jory mitfahren darf, und als Mum Nein sagt, wirft er sich auf den Boden und schreit. Überraschend laut für eine so kleine Person.

»Er ist übermüdet«, sagt Mum. Sie hebt ihn auf, während er strampelt und fuchtelt, sodass sie seinen Ärmchen ausweichen muss. »Kann er bei dir mitfahren, Jory?«

Jory nickt und geht mit Dad den Kindersitz holen. Ich rufe Polly zu, dass ich über Nacht bei ihnen bleibe. Sie sieht mich groß an, sagt aber nichts.

Bei Emmys Haus angekommen, schließen Mum und Dad die Tür auf und gehen mit Polly hinein. Ted ist eingeschlafen, und nachdem wir den kniffligen Verschluss des Sicherheitsgurts endlich gelöst haben, hebe ich den Jungen aus dem Sitz. Ich weiß nicht mehr, wann ich ihn zuletzt auf dem Arm hatte, jedenfalls ist er viel schwerer als erwartet.

Jory wendet seinen Wagen und hält noch mal neben uns an, um das Fenster herunterzulassen. »Meinst du wirklich, ich soll nicht bleiben? Ich finde, du solltest jetzt nicht allein sein.«

»Ich werde schon klarkommen, ehrlich. Außerdem würden wir unsere goldene Regel brechen, die wir nach dem Winter 2015 aufgestellt haben, nicht wahr?«

Er lacht. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass das außergewöhnliche Umstände sind, aber ja, das wäre ein Verstoß. Ich melde mich später noch mal bei dir.«

Als ich Ted zur Haustür trage, bewegt sich etwas am Wohnzimmerfenster im Nachbarhaus, und kurz sehe ich Albert, bevor er hinter dem Vorhang verschwindet. Emmy spricht viel über ihn. Er ist über achtzig, weißt du, aber sein Verstand ist messerscharf. Neulich ertappte ich mich noch bei dem Wunsch, sie möge überhaupt nichts von ihm erzählen, denn vor zwei Monaten habe ich einmal zu viel getrunken und in seinen Pflanztopf gebrochen. Daran will ich nicht gern erinnert werden. Emmy und Doug waren beschämt. Ich hätte mich am nächsten Tag bei Albert entschuldigen sollen, nachdem Doug die Bescherung beseitigt hatte, aber das habe ich nicht getan, weil es mir dreckig ging, und danach war es zu spät, fand ich. Ich bin mir sicher, dass Albert mich nicht mehr leiden kann, denn er starrt mich immer an, wenn ich besonders darauf bedacht bin, Blickkontakt zu vermeiden. Während ich warte, dass Mum die Tür aufschließt, wird mir bewusst, dass ich in meinem Leben solche Dinge wie das Unbehagen wegen Albert bisher für ein Problem gehalten habe.

Mum betritt das Haus und nimmt mir Ted sofort ab, um ihn ins Bett zu bringen. Windel, Schlafanzug und Zahnbürste in der Hand geht sie mit ihm ins Bad. Der Opferschutzbeamte ist da und spricht mit Dad im Wohnzimmer. Wir haben schon erfahren, dass der Lkw-Fahrer im Krankenhaus liegt und sich von einem Schlaganfall erholt, der höchstwahrscheinlich den Unfall verursachte. Ich will von der Ermittlung jetzt nichts wissen, darum setze ich mich auf die Treppe und starre auf die Familienfotos an der Wand.

Emmy hat ewig gebraucht, um sich zwischen verschiedenen Fotos zu entscheiden und dann die Rahmen anzuordnen. Sie wollte eine Galerie nachmachen, die sie auf Instagram gesehen hatte. Ich habe sie damit aufgezogen, wie immer, wenn sie sich begeistert mit etwas beschäftigt, das sie sich von einer Influencerin abgeguckt hat. Aber die Fotowand sieht großartig aus. Sie hat Rahmen in strahlenden Farben ausgesucht, und ich fühle mich immer zu dem orangefarbenen mit dem Schwarzweißfoto hingezogen, in dem sie alle vier am Strand zu sehen sind. Mir ist das Foto neu, und ich stehe auf, um es näher zu betrachten. Mir kommen sofort die Tränen. Ted sitzt auf Emmys Hüfte, und Polly steht vor ihrem Dad, er hat die Arme locker um ihre Schultern gelegt. Kurz vor der Aufnahme muss Ted etwas zum Lachen gebracht haben, denn er hat den Kopf in den Nacken geworfen und gackert ausgelassen, und die anderen drei blicken ihn an. Keiner schaut zum Fotografen – Polly kicherte hinter vorgehaltener Hand, Doug sagt gerade etwas, und Emmys lockige Haare fliegen im Wind und verdecken einen Teil ihres Gesichts. Wenn ich auf das Foto blicke, kann ich hören, wie sie lachen und Emmy mit gespieltem Ärger sagt: »Mummy will nur ein schönes Familienfoto. Ist das denn zu viel verlangt?«

»Das habe ich aufgenommen.« Dad ist aus dem Wohnzimmer gekommen und steht neben mir.

Ich lehne den Kopf auf seine Schulter. »Widemouth?« Ich versuche, im Hintergrund die Dünen zu erkennen.

»Ja«, sagt er traurig. »Das war letztes Jahr am Muttertag. Wir sind am Morgen spazieren gegangen und zum Sonntagsbraten hierhergefahren, weißt du noch?«

Ich erinnere mich an den Braten. Zum Strand bin ich nicht mitgefahren, weil ich am Abend mit Jory im Pub war. Deshalb bin im Bett geblieben und habe mir Hills-Wiederholung angesehen. Mir fällt die Textnachricht ein, die mein Schwager mir zwischendurch schickte, und ich lache, und Dad schaut mich verwirrt an. Ich deute auf das Foto. »Ich war nicht dabei, aber Doug hat mir ein Foto vom Strand geschickt, auf dem er einen Sternsprung macht, und darunter stand: So sieht es aus, wenn man keinen Kater hat. Als Antwort habe ich ihm das Mittelfinger-Emoji geschickt.«

Dad schnalzt missbilligend, lächelt dann aber. Polly kommt wütend aus dem Wohnzimmer gestürmt. »Wie könnt ihr dastehen und lachen?«

Dad und ich sehen uns mit offenem Mund an. Das war eine glückliche Erinnerung an Doug, und wir haben sie miteinander geteilt, um inmitten dieser Katastrophe einen schönen Moment zu haben. Ich fühle mich sofort schuldig, weil ich nicht trauriger aussehe. Mum zischt uns vom Treppenabsatz an, wir sollen leise sein, weil Ted gerade eingeschlafen ist.

»Polly, Liebes …« Dad ringt um eine Antwort. Er möchte sie ins Wohnzimmer mitnehmen, aber sie bleibt stur am Fuß der Treppe stehen.

Ich weiß auch nicht, was ich sagen soll. Um es zu erklären, zeige ich auf das Foto und hoffe, dass sie es mit uns zusammen ansieht. »Ich habe nur von der lustigen WhatsApp erzählt, die dein Dad mir an dem Tag geschickt hat. Er hat mich aufgezogen, weil …«

»Nein.«

Ich stocke. Polly schüttelt heftig den Kopf. Mit ihrem ungestümen Blick und den verspannten Schultern ist sie weit entfernt von dem sorglosen Mädchen auf dem Strandfoto. Sie strahlt so viel Zorn aus, dass es für uns alle reichen würde. Wir trauern zwar alle, aber mir wird gerade klar, dass es vor allem Pollys und Teds Leben ist, das auf den Kopf gestellt wird.

»Es tut mir leid, dass ich gelacht habe, Pol. Wir wollten dich nicht kränken. Können wir etwas für dich tun? Möchtest du reden?« Ich sehe Dad hilfesuchend an.

»Er war sehr stolz auf dich, Liebes«, sagt er zu ihr. Ich strecke die Hand nach ihr aus, vielleicht lässt sie sich in den Arm nehmen oder drückt wenigstens meine Hand, doch sie schüttelt weiter den Kopf. Was ihr Grandad gesagt hat, scheint sie noch mehr aufzuwühlen. »Nein, war er nicht.« Sie drängt sich an uns vorbei und rennt die Treppe hoch. Ich will ihr nachgehen, aber Dad rät mir, sie in Ruhe zu lassen. Wir zucken beide zusammen, als ihre Zimmertür knallt. Der Opferschutzbeamte kommt in den Flur und reicht mir eine Tasse Tee. Er sieht Dad entschuldigend an.

»Für Sie habe ich keinen gemacht, Jim, weil Moira sagt, dass Sie gleich nach Hause fahren.«

Dad sagt, er brauche keinen und sie würden gleich aufbrechen. Ich will das nicht. Der Gedanke jagt mir einen Schreck ein, und ich überlege, ob wir vielleicht doch lieber alle zusammen rüberfahren. Ich kann die Stellung nicht halten. Das konnte ich noch nie.

»Trauer zeigt sich nicht immer so, wie wir es erwarten«, sagt der Beamte und deutet mit dem Kopf die Treppe hoch.

»Sie ist furchtbar wütend. Ich weiß gar nicht, was ich zu ihr sagen soll.« Ich trinke von meinem Tee. »Wenn wir es Ted morgen sagen, das mit seinem Dad, wird er … das überhaupt verstehen?«

Dad legt eine Hand auf meine Schulter und drückt sie kurz. »Wir sind alle erschöpft, Beth. Es war ein sehr langer Tag. Mir wäre lieber, wir befassen uns morgen damit.«

»Okay«, sage ich, obwohl es mich jetzt schon beschäftigt.

Als er und Mum sich auf den Weg machen, will ich sie am liebsten festhalten und greife an ihre Mantelärmel. Ich weiß nicht, wie ich mit Polly umgehen soll, will ich sagen, oder was ich tun soll, wenn Ted mitten in der Nacht aufwacht, aber ich sage kein Wort. Als ich loslasse, schießt Mum Dad einen Blick zu, den ich nicht deuten kann.

»Ich kann an deiner Stelle hierbleiben, Liebes. Möchtest du mit Dad nach Hause fahren?«

»Nein, das klappt schon. Ihr kommt sowieso morgen früh wieder her.« Der Beamte verabschiedet sich ebenfalls und lässt uns allein.

Als ich die Haustür schließe, höre ich von oben gedämpftes Weinen. Ich folge dem Geräusch und finde Polly im Schlafzimmer ihrer Eltern mit dem Rücken an das Bett gelehnt und einem von Dougs Pullovern auf dem Schoß. Ich setze mich zu ihr auf den Boden.

»Ist er wirklich tot?« Sie dreht den Kopf zu mir und sieht mich aufmerksam an.

Ich nicke. »Es tut mir schrecklich leid, Pol.« Ich lege einen Arm um ihre Schultern, und sie drückt sich den Pullover ans Gesicht und sinkt weinend gegen mich.

Eine Weile bleiben wir so sitzen, bis sie sich ausgeweint hat. Als sie aufsteht, um ins Bett zu gehen, biete ich ihr an, bei ihr im Zimmer zu schlafen. »Das ist nicht nötig«, sagt sie. »Wir sehen uns morgen früh.« Bevor ich nach unten gehe, schaue ich bei Ted rein. Er schnarcht leise. Seine Traktorsteppdecke hat er bis ans Fußende getreten. Es schnürt mir die Brust zusammen, wenn ich daran denke, dass wir es ihm sagen müssen, und das Grauen überkommt mich wieder. Als ich die Decke über ihn breite und ihn warm einpacke, konzentriere ich mich auf seine friedlichen Atemzüge.

»Schlaf schön fest, Kumpel«, flüstere ich. »Es tut mir schrecklich leid für dich.«

4

Am Ende war es viel schlimmer als befürchtet. Was wir Ted sagten, verwirrte ihn nur, und je mehr es ihn verwirrte, desto deutlicher mussten wir werden. Schließlich erwies sich Mum in dem Moment als die Stärkste von uns. Sie kniete sich vor ihn, nahm seine Hände und sagte, dass sein Daddy nicht bei der Arbeit und auch nicht im Krankenhaus sei. »Er wird nicht mehr nach Hause kommen, mein Liebling, aber er wollte dich und deine Schwester nicht verlassen. Er hatte euch sehr lieb.« Ted saß einen Moment lang sehr still und fragte dann nach seiner Mutter, was das nächste schwierige Gespräch eröffnete. »Kommt sie gleich wieder?«, fragte er mehrmals. »Wenn sie nicht mehr müde ist?« Es kostete mich alle Kraft, die Tränen zurückzuhalten.

Wir sind zum Krankenhaus gefahren und haben Ted diesmal bei Emmys Freundin Kate gelassen. Mum meint, es sei besser für ihn, mit Kates Tochter zu spielen, die in seinem Alter ist, als stundenlang im Auto zu sitzen. Ich wollte zu bedenken geben, dass es ihm auch gut täte, seine Mum zu sehen, oder ihr gut täte, seine Stimme zu hören, aber meine Mutter hatte die Verabredung schon getroffen. Sie kam kurz nach sieben, ein wenig überagil, weil sie die ganze Nacht kaum geschlafen hatte, und gab uns allen Anweisungen. Ich sollte als Erstes Kleidung zum Wechseln für Ted aus der Kommode holen, aber als wir aufbrachen, fiel mir auf, dass er etwas anderes trug als die Kleidungsstücke, die ich herausgesucht hatte. Warum delegiert sie überhaupt, dachte ich, wenn sie jede erledigte Aufgabe noch mal macht? Aber so war sie schon immer.

Polly hat noch kaum ein Wort gesprochen und ist müde und nervös. Anscheinend bin ich die Einzige, die geschlafen hat, vermutlich weil ich verkatert gewesen bin. Mein Kater war den Tag über in Vergessenheit geraten und holte mich in dem Moment ein, als ich mich auf dem Sofa austreckte und das Licht ausmachte. Ich bin mit steifem Nacken aufgewacht und wusste erst wieder, wo ich war und warum, als Ted von oben nach seinen Eltern rief.

Dr. Hargreaves hat uns wieder alle in den Besprechungsraum gebeten. Sie ist heute nervös, hat viel zu tun und nimmt sich trotzdem Zeit, sorgfältig zu erklären, was sich bei Emmy tut. Es gibt nichts Gutes mitzuteilen, sagt sie, aber es gibt auch keinen unmittelbaren Grund zur Besorgnis (abgesehen von der, die uns bereits beschäftigt). Von uns weiß keiner so recht, wie er dieses Update verarbeiten soll. Ich denke immer wieder, es könnte schlimmer sein, was grotesk ist, weil es in Wirklichkeit kaum schlimmer sein könnte. Allerdings ist Emmy am Leben, obwohl die Chancen gegen sie standen. Sie könnte jetzt tot sein, ist sie aber nicht. Wir klammern uns daran und sind zugleich tief enttäuscht, weil sie noch nicht zu sich gekommen ist und spricht.

»Haben Sie noch Fragen?« Dr. Hargreaves sieht uns der Reihe nach an.

»Ihr Zustand wird sich nicht mehr verbessern, oder?« Wir drehen uns alle zu Polly um, überrascht, ihre Stimme zu hören, nachdem sie so lange geschwiegen hat, und dann wieder zur Ärztin, die sich ihre Antwort gut zu überlegen scheint. Mit vierzehn ist Polly noch nicht erwachsen, aber alt genug, um nicht mehr wie ein Kind behandelt zu werden.

»Um ehrlich zu sein, wir wissen es nicht. Wir haben in den letzten vierundzwanzig Stunden viele Hirnscans und andere Untersuchungen gemacht, und es werden weitere folgen. Der Zustand deiner Mutter wird nach der Glasgow-Koma-Skala bewertet, durch die man erkennt, wie schwer eine Bewusstseinsstörung ist. Anhand derer stellen wir permanent fest, ob sich etwas verbessert oder ob es sich leider in die andere Richtung entwickelt und eine Verschlechterung stattfindet. Hirnverletzungen sind unwägbar, und deshalb liegt ein langer Weg ohne Gewissheiten vor uns. Ich kann dir nicht versprechen, dass deine Mum sich erholen oder sogar gesund wird, denn vielleicht kommt es nicht dazu. Aber ich hoffe es.«

Ich nicke und fasse Mut, weil sie hofft. Natürlich hoffen wir alle, aber sie weiß immerhin, wovon sie spricht, im Gegensatz zu uns. Die Hoffnung eines Arztes hat sicher mehr zu sagen als unsere, oder?

Da wir nur zu zweit zu Emmy hineindürfen, gehen zuerst Mum und Polly zu ihr und nach einer Stunde Dad und ich. Keiner von uns hat Lust stillzusitzen, und als wir höflich gebeten werden, den Besprechungsraum für eine andere Familie freizumachen, der schlechte Nachrichten bevorstehen, beschließen wir, spazieren zu gehen.

Dad redet viel und schnell. Er hat dunkle Schatten unter den Augen und graue Bartstoppeln am Hals und am Kinn. Er lässt sonst nie eine Rasur aus, und ich habe ihn seit unseren Campingferien nicht mehr so ungepflegt gesehen. Jene Wochen in den Schulferien waren die glücklichsten meines Lebens, und trotzdem machte ich letzten Sommer Ausflüchte, als Emmy und Doug mich überreden wollten, für eine Woche nach Polzeath mitzukommen. Ich hätte mich ihnen anschließen sollen. Ich nahm es für selbstverständlich, dass noch viel Zeit für gemeinsame Reisen sein würde.

Wir fahren mit dem Aufzug zur Eingangshalle und gehen nach draußen an die frische Luft. Wir finden eine freie Bank, die feucht aussieht, und setzen uns trotzdem. Dad redet über Testamente und Erbscheine.

»Musst du dir jetzt schon darüber Gedanken machen?« Ich spüre die Kälte der Bank durch meine Jeans und ziehe mir den Mantel unter den Po.

Dad seufzt. »Leider muss ich mich ziemlich bald darum kümmern. Deine Schwester und Doug haben mich zum Testamentsvollstrecker ernannt. Und da es Emmy so schlecht geht, ist es meine Aufgabe, Dougs Angelegenheiten zu regeln. Er hatte dafür niemand anderen, nicht wahr?«

»Nein«, sage ich. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Doug hat seinen Vater nicht gekannt und hatte eine schwierige Beziehung zu seiner Mutter, mit der er kaum Kontakt hatte, seit sie nach Irland gezogen ist. Ich erinnere mich an ein unbehagliches Familientreffen vor vielen Jahren, bei dem sie und Mum sich darüber stritten, wer die kleine Polly auf dem Arm halten darf, und soweit ich weiß, hat sie Ted gar nicht kennengelernt. Mum und Dad waren praktisch Dougs Familie. Und ich wohl auch. Es ist, als hätte ich eine nervige kleine Schwester, hat er oft zu mir gesagt.

»Ich kann noch immer nicht glauben, dass er tot ist.« Meine Jeans hat am Knie ein Loch, und ich fummle an den Fransen herum.

Dad schüttelt den Kopf. »Ich auch nicht. Ich muss immer wieder an den Tag denken, als sie mir die Kopien ihrer Testamente gegeben haben. Ich hab sie abgeheftet und in dem alten Sekretär deiner Mutter in eine Schublade gelegt. Hoffen wir, dass ich sie nie brauchen werde, habe ich damals zu Emmy gesagt. Wir haben gelacht, weil uns das so unwahrscheinlich vorkam. Das war nur für den Fall der Fälle. Eine doppelte Absicherung, meinte sie. Sie kann besser schlafen, wenn das schriftlich vorliegt. Ich hätte nie gedacht …« Seine Stimme verebbt. Wir sind ein Weilchen still. Ich lege den Kopf auf seine Schulter und er eine Hand auf meinen Arm. »Sie haben dich ausgesucht, Liebes. In ihrem Testament. Dass du im Fall ihres gemeinsamen Todes Pollys und Teds Vormund wirst. Das weißt du, nicht wahr?«

Ich nicke. Ich wusste von den Testamenten, trotzdem ist es ein Schock, daran erinnert zu werden. Im Fall ihres gemeinsamen Todes, so haben sie es ausgedrückt. Emmy ist nicht tot.

»Deine Mutter ist deswegen schon aufgeregt.«

»Wie meinst du das? Wir sind alle aufgeregt.« Ich weiß genau, was er meint. Mum hält mich nicht für eine geeignete Betreuerin. Sie war nicht glücklich darüber, als Emmy das damals beim Abendessen aufbrachte. Nachdem sie eine Weile eingeschnappt geschwiegen hatte, sprach sie ihre Bedenken so beiläufig aus, wie sie Pudding serviert. »Und ihr seid sicher, dass Beth sich dann um eure Kinder kümmern soll? Was hältst du davon, Beth, Liebes? Du kannst nicht gerade gut für dich selbst sorgen, das musst du zugeben, nicht wahr? Wie sollst du dann für Kinder sorgen?« Ich zuckte die Achseln und aß meinen Käsekuchen, brachte nicht die Energie auf, mich mit ihrer Missbilligung zu befassen, da der Fall in meinen Augen sowieso nicht eintreten würde. Danach sprach sie auch noch meine häufigen Stellenwechsel an, meine desaströsen Männerbeziehungen und die sechs Strafpunkte in meinem Führerschein für zu schnelles Fahren, alles noch vor dem Kaffee, und schloss mit der Bemerkung: »Ich finde nur, ihr könntet jemanden ausgesucht haben, der verantwortungsvoller ist, Em, erwachsener.« Darauf erwiderte Emmy, dass ich schon älter sei, als sie bei Pollys Geburt war.

»Deine Mum macht sich Sorgen, wie du zurechtkommen wirst. Sie denkt, es ist zu viel für dich.« Dad tritt behutsam auf. »Du weißt, ich denke, dass du alles kannst, was du dir vornimmst. Aber Zuverlässigkeit ist nicht deine starke Seite. Das ist nun mal so.«

»Ich mache mir selbst auch Gedanken, wie ich klarkommen werde«, gestehe ich. »Aber vielleicht hatten Emmy und Doug größeres Zutrauen in mich.«

»Ja. Mag sein.«