Im Zeichen der Finsternis - Aimee Agresti - E-Book

Im Zeichen der Finsternis E-Book

Aimee Agresti

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Beschreibung

In New Orleans konnte Haven Terra einen Angriff des Bösen gerade noch abwehren – und das nur, weil sie als angehender Engel besondere Kräfte besitzt. Doch der Schock sitzt tief: Denn auf der anschließenden Flucht entführten die Abgesandten der Hölle Havens große Liebe Lance. Durch ihn planen die Dämonen, die Welt endgültig ins Dunkel zu stürzen, denn für ihre Revolution müssen sie in Paris einen Engel opfern: Lance. Gemeinsam mit ihrem Freund Dante eilt Haven nach Frankreich, um Lance zu retten und das Böse aufzuhalten. In der geheimnisvollen Stadt der Lichter kommt es zum alles entscheidenden Kampf ...

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Buch

In New Orleans wollten Haven Terra und ihre Freunde Lance und Dante ihre Highschoolzeit stimmungsvoll ausklingen lassen. Doch der Trip endete in einer Katastrophe für die drei Jugendlichen. Zwar konnten sie durch ihre besonderen Kräfte als angehende Engel einen Angriff des Bösen gerade noch abwehren. Der Schock aber sitzt tief: Denn auf der anschließenden Flucht entführten die Abgesandten der Hölle Havens große Liebe Lance. Haven ist am Boden zerstört, all ihre Gedanken gelten ihrem Freund. Wie geht es ihm? Wo wird er gefangen gehalten? Und welch schreckliches Ziel verfolgen die Verbündeten Satans? Ausgerechnet Lucian, der einst mit dem Teufel selbst im Bunde war, hilft Haven dabei herauszufinden, was die Dämonen tatsächlich mit Lance vorhaben. Um die Welt endgültig ins Dunkel zu stürzen, müssen sie in Paris einen Engel opfern: Lance. Entschlossen stellt sich Haven ihrer bislang schwersten Prüfung und eilt gemeinsam mit Dante und ihren Mitstreitern nach Frankreich, um Lance zu retten und das Böse aufzuhalten. In der geheimnisvollen Stadt der Lichter kommt es zum alles entscheidenden Kampf …

Weitere Informationen zu Aimee Agrestisowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

AIMEE AGRESTI

Im Zeichender Finsternis

Die Erleuchtete

Band 3Roman

Aus dem Amerikanischenvon Sonja Hagemann

1. AuflageDeutsche Erstausgabe August 2015Copyright © 2014 by Aimee AgrestiCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlagkonzeption: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotive: FinePic®, München; Hintergrund + Flügel:Harcourt Verlag (Elizabeth Tardiff, Thalicer Entertainment;Leah Palmer Preiss)Hand-Lettering: © 2012 by Leah Palmer PreissRedaktion: Waltraud HorbasKS · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-16157-6www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Brian, Sawyer und Hardy

Teil Eins

1

Ich kann nicht fassen, dass er das riskiert hat

Lance. Der Klang seines Namens schmerzte, er ließ Zorn in mir aufsteigen, der sofort von einem Gefühl des Scheiterns verdrängt wurde. Meines Scheiterns. Die anderen hatten begonnen, wild durcheinanderzureden, sie stellten Hypothesen auf, schmiedeten Pläne und brüllten gegen den laut heulenden Wind und den in dicken Tropfen auf uns herabprasselnden Regen an. Keiner von uns hatte den Kampf der Nacht unversehrt überstanden: Unsere zerfetzten und durchnässten Klamotten klebten an unseren lädierten, von Blutergüssen übersäten Körpern. Wunden und Schrammen zeichneten unsere Haut, Verbrennungen von unserem Zusammentreffen mit den Gesandten der Unterwelt. Aber wenigstens waren wir hier. Wir hatten es geschafft.

Lance. Auf die anderen achtete ich kaum. Ich konnte es nicht ertragen, ihnen zuzuhören. Aber ich spürte Lucians Blick auf mir. Es goss wie aus Kübeln, und das gleichmäßige Rauschen des Regens blendete alles und alle anderen aus. Mir war ja nicht einmal bewusst, dass ich in der Royal Street von New Orleans immer noch mit zerkratzten Knien auf dem Asphalt kauerte, bis Lucian schließlich nach meiner Hand griff und mich schweigend hochzog. Ich sah ihn nicht an.

Lance. Was sie wohl gerade mit ihm machten? Was würden sie dem Jungen antun, den ich liebte, nur um mich zu quälen?

»Hier, sieh mal!« Dante schob mir sein Handy hin, das geheimnisvolle Mobiltelefon, von dem Lance und ich auch eins hatten, und über das wir hin und wieder rätselhafte Nachrichten erhielten. Ich schaute nicht hin, sondern starrte auf die Glut, die immer noch an der Stelle rot glomm, wo der Fürst Lance gepackt und ihn in einen Feuerring gebannt hatte, um mit ihm zu verschwinden. Ich stellte mir vor, dass sie wohl in der Unterwelt wieder sichtbar geworden waren, und ich malte mir aus, welche Schmerzen und Qualen Lance erwarteten. Ich erschauerte.

»Ich kann nicht fassen, dass er das riskiert hat«, murmelte Lucian mit gepresster Stimme, und auch sein Blick fixierte die Stelle, an der eben noch der Fürst gestanden hatte.

Und das alles war meine Schuld. Ich hatte es nicht verhindert, hatte Lance nicht beschützt. Meinetwegen war er nun fort. In Gedanken ging ich die Szene immer wieder durch, ließ zu, dass sich die Erkenntnis bohrend in mir breitmachte, unternahm nichts gegen den Schmerz. Das war die Strafe für meine Selbstzufriedenheit. Ich hatte nicht zu schätzen gewusst, was vor meiner Nase lag, und viel zu viel als selbstverständlich hingenommen. Wie oft findet man jemanden, der einen versteht, der das Gleiche durchmacht wie man selbst und einen trotz aller Fehler liebt? Diesen Menschen muss man festhalten, so fest wie möglich, wenn man ihn gefunden hat. Schließlich waren Lance und ich nicht wie andere Menschen. Selbst bevor wir wussten, dass wir Engel waren, waren wir nicht wie alle anderen gewesen. Aber wir waren einander sehr ähnlich. Und wir funktionierten zusammen viel besser. Deshalb würde ich ihn zurückholen. Ich würde ihn finden, es musste einfach einen Weg geben.

Mein Herz pumpte Zorn durch meine Adern, der mich aktivierte und den lähmenden Schock durch wütende Entschlossenheit ersetzte. Es war, als sei ein Funke entfacht worden, und ohne Vorwarnung rannte ich los. Ich schüttelte Lucian, der mich zurückhalten wollte, einfach ab und raste in die Villa. Trotz des Gewitters und des Kriegs der Teufel war die Party immer noch in vollem Gange. Irgendwie war es den Feiernden mit den Mardi-Gras-Masken gelungen, unbeirrt weiterzumachen: Seit im Ballsaal im ersten Stock der Sturm durch das kaputte Oberlicht hereinwehte, war der Spaß einfach ins Erdgeschoss verlegt worden. Es schien so, als hätten all diese Menschen die Gewalt um sie herum akzeptiert und beschlossen, das Beste daraus zu machen. Sie wippten im Takt der Musik, nippten an ihren Gläsern, brüllten einander ins Ohr, um sich über den Lärm hinweg zu verständigen, und lächelten wie sorglose Nachteulen, die noch Stunden vor sich hatten, um sich auf angenehme Weise die Zeit zu vertreiben. Solange der Strom nicht ausfiel und genug zu trinken da war, würde sich an ihren Plänen nichts ändern.

Ich drängte mich weitaus rücksichtsloser durch die Menge, als eigentlich nötig war, sodass hier und da ein Glas runterfiel und Damen in High Heels sich irgendwo festhalten mussten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann sauste ich die Treppe zum mir nur allzu vertrauten Wandteppich mit der bourbonischen Lilie hinauf. Lucian hatte seit unserer Ankunft vor ein paar Monaten in New Orleans diesen Ausweg aus dem dunklen Reich, dem er so gerne entfliehen wollte, regelmäßig benutzt. Und vor nicht allzu langer Zeit waren auch Lance und ich durch diesen Gang der Unterwelt entkommen, in jener grauenhaften Nacht, in der wir der Krewe gefolgt waren, den Vertretern des Bösen hier in New Orleans. Wir hatten herausfinden wollen, wie wir sie besiegen konnten. Dabei waren wir zu weit gegangen, wir waren in der Welt der Teufel gelandet, und nur mit viel Glück war uns die Flucht gelungen. Heute Abend dagegen waren wir so nahe dran gewesen, die zweite unserer drei Engelsprüfungen zu bestehen. Beinahe hätten wir die Flügel bekommen, für die wir doch so hart gearbeitet hatten. Von uns Engeln in der Ausbildung hatte eine starke Kerngruppe heute Abend den Kampf gegen die tödlichen Kreaturen gewonnen – mein Sandkastenfreund Dante, seine neue Liebe Max, die liebliche Drew, Südstaatenschönheit Emma und ein sehr ungewöhnliches Pärchen, nämlich die typisch amerikanische Sportskanone Tom und Goth River. Erst in den letzten Sekunden des Kampfes hatten wir einen der unseren verloren.

Jetzt erreichte ich den ersten Stock des Herrenhauses und fegte den Wandteppich so heftig beiseite, dass ich ihn beinahe heruntergerissen hätte. Ich war bereit, mich in die Tiefe zu stürzen, hinab zu unbekannten Schrecken und zu Lance. Aber dann hielt ich wie erstarrt inne. Denn da war kein Abgrund mehr, in den ich mich hätte werfen können. Ich tastete die Wand ab, meine Hände erkannten die glatte Oberfläche jedoch nicht wieder. Die Wand schien massiv. Eigentlich hätte mich das nicht wundern sollen: Am Tag der Metamorphose mussten die Dämonen mit ihren neuen Rekruten vor Mitternacht zurückkehren, bevor die Portale zur Unterwelt hinter ihnen versiegelt wurden, wie man mir so oft eingebläut hatte. Aber mein blutendes Herz wollte das nicht akzeptieren. Ich musste es einfach versuchen.

»Haven!«, rief Lucian unten aus dem Eingangsbereich, und seine sonst so seidenweiche Stimme klang angespannt. Wieder flammte das Bild des Fürsten mit Lance in seiner Gewalt in meiner Erinnerung auf und ließ das Blut in meinen Adern brodeln. Verzweiflung drohte mich zu übermannen. Ich wollte ihn zurückholen. Sofort.

Erneut setzte sich mein Körper in Bewegung, bevor mein Verstand hinterherkam, und ich rannte dieselben maskierten Gestalten um wie kurz zuvor. Dann schoss ich so dicht an Lucian und Dante vorbei, dass ich ihre Schultern streifte, und ließ die ganze Gruppe hinter mir zurück, als ich wieder in den Sturm hinausraste. Ich trotzte dem Wetter auf dem Weg zu den einzigen uns noch bekannten Portalen: den Gräbern auf Saint Louis Number One, dem Friedhof, auf dem Lance und ich die dunklen Rituale der Teufel beobachtet und uns sogar in eine der Gruften aus glattem Marmor geschlichen hatten, die nach dort unten führten. Ich hörte, wie sich die ganze Gruppe in Bewegung setzte, mir durchs knöcheltiefe Wasser folgte und dem Unrat auswich, der durch die Luft geschleudert wurde. Meine Freunde kamen hinterher und brüllten dabei, ich sollte stehen bleiben. Ich ignorierte ihre Stimmen einfach.

Als ich die Tore am Eingang entdeckte, wurde ich sogar noch schneller, stieß mich ab und flog über das schmiedeeiserne Hindernis, so wie andere über eine Pfütze hopsten. Irgendetwas hatte sich heute Abend verändert. Die Kraft, die plötzlich in jedem Muskel, jeder einzelnen Zelle meines Körpers steckte, hatte ganz neue Dimensionen erreicht, jede Bewegung fühlte sich an wie eine Stichflamme.

Ich raste zur Gruft hinüber, die Lance errichtet hatte, und dachte daran zurück, wie ich ihm von Weitem dabei zugesehen hatte. Damals hatte er mit seinen breiten Schultern und kräftigen Rückenmuskeln die schweren Marmorplatten so mühelos transportiert, als wären sie aus Karton. Jetzt versanken meine Füße bei jedem Schritt in Matsch und Kies, während die Bilder aus meiner Erinnerung wie Schnappschüsse vor meinem inneren Auge aufblitzten: wie Lance mich in die Villa gejagt hatte, als das Gift der Teufel von mir Besitz ergriffen hatte. Wie er nach dem Schweberitual, das mich wieder von dem Gift befreit hatte, mit starken Armen meinen leblosen Körper hochgehoben hatte. Unser Spaziergang im Botanischen Garten, als wir uns ausgesprochen hatten. Unser Kuss zu Beginn der Parade vor so vielen Stunden, als wir uns einen Moment, einen klitzekleinen Augenblick lang, erlaubt hatten, die allgemeine Aufregung und Begeisterung zu genießen. Und dann kam mir auch noch unser erster Kuss in den Sinn, bei dem mir gar nicht klar gewesen war, dass ich ihn geküsst hatte. Während der Eröffnung des Lexington Hotels hatte es so einige Geheimnisse gegeben, und wir waren einander im Dunkeln näher gekommen und dann gemeinsam in eine Liebesgeschichte gestolpert.

Ich hielt auf den hinteren Bereich des Friedhofs zu und schlug immer wieder Haken, wenn ich hier oder da eine andere mir bekannte Gruft entdeckte. Dann rammte ich die Schulter gegen diejenigen Grabmäler, aus denen einst vor meinen Augen Dämonen gekrochen waren. Aber da regte sich nichts. Endlich erreichte ich die Überreste von Lance’ Gruft. Die Polizei hatte sie eingerissen, nachdem unsere Gruppe sie mit einem anonymen Anruf darüber informiert hatte, dass hier vielleicht Hinweise zu der grauenhaften Mordserie in der Stadt zu finden waren.

Natürlich hatten sie nichts entdeckt, erst recht keinen Eingang zur Unterwelt, und die Struktur war dabei zerstört worden, sodass jetzt nur noch Überreste im Schlamm lagen. Nun ließ der Regen langsam nach. Als ich durch den Schlick watete, sank ich bis zum Schienbein darin ein. Im Matsch entdeckte ich Stücke vom gelben Absperrband der Polizei, die vom Wind zerfetzt worden waren und nun wie Aale in der Tiefsee glänzten. Ich versenkte die Arme im Morast und hob eine Handvoll hoch, die mir durch die Finger rann. Der Schlamm lief mir an den Armen herab. Aber hier gab es nichts mehr, auch dieses Tor zur Unterwelt war uns verschlossen. Plötzlich wurde das Gefühl des Verlustes übermächtig und presste mir die Luft aus den Lungen. Ich konnte nicht mehr atmen, nicht einmal mehr denken.

Mit hängendem Kopf scharten sich die anderen um mich und schauten mich so mitfühlend an, als wären wir hier auf einer Beerdigung. Alle außer Lucian. Der trat nun in mein Sichtfeld und ließ den Blick seiner tiefgrauen Augen reumütig auf mir ruhen. Als er sanft nach meinem Handgelenk griff, riss ich mich mit einer reflexhaften Bewegung los. Ohne ein Wort trat Lucian einen Schritt zurück. Dante kam heran und legte mir den Arm um die Schulter. Inzwischen war der Regen nur noch ein leichtes Nieseln, das Gewitter ließ langsam nach. »Jetzt hör endlich zu«, sagte mein alter Freund in leisem, aber ungewöhnlich strengem Tonfall. »Das reicht jetzt. Wir werden ihn retten, aber nicht so.«

Mit diesen Worten führte er mich zurück zum Haus. Unterwegs umschlossen die anderen uns hufeisenförmig und bildeten so einen stillen Schutzschild zwischen mir und der Welt.

Wir kehrten heim in unsere Zufluchtsstätte in der Royal Street, neben dem Herrenhaus, das jetzt im Dunkeln dalag. In unserem Zuhause waren jedoch die Fenster zerbrochen, der Fußboden durchweicht und unsere Habseligkeiten nicht nur überall verstreut, sondern auch mit Glassplittern übersät. Und dann wurde uns ein weiterer Verlust wieder bewusst: durch Connors leeres Zimmer. Während der zweiten Stufe auf dem Weg zu unseren Flügeln hatte er uns körperlich und mental auf den Kampf gegen die Dämonen vorbereitet. Aber nachdem er seine Aufgabe so exzellent erledigt hatte, hatte er sich zurückziehen und uns in die Welt entlassen müssen. Ohne Lance wurde mir Connors Abwesenheit noch viel schmerzlicher bewusst, ein weiterer Stich in der Brust. Jetzt hätte ich mich gerne von ihm trösten lassen. Ich brauchte jemanden mit einer gewissen Autorität, der mir versicherte, dass alles wieder gut werden würde. Denn mir selbst fehlte gerade der Glaube daran.

Wir versammelten uns im Wohnzimmer und probierten alle Schalter durch, aber der Strom war ausgefallen. Viel Licht brauchten wir auch nicht, um zu erkennen, dass die einst so verwegene Dekoration – die schicken Möbel und all die Elemente in den Mardi-Gras-Farben Gold, Lila und Smaragdgrün – nach diesen wenigen Stunden der Gewalt verblasst und abgerissen wirkte. Die enorme Maske, die einst eine ganze Wand eingenommen und alle Blicke im Raum auf sich gezogen hatte, war vom Haken gerissen worden und lag mit dem Gesicht nach unten verbogen und verbeult am Boden, so als hätte sie ein Riese nach einer wilden Party einfach abgestreift und weggeworfen. Als wir Ende Januar hier angekommen waren, hatten wir gewusst, dass der Tag der Metamorphose irgendwann anstehen würde, uns war aber nicht klar gewesen, was danach kommen würde. Wie mit unserer Umgebung hatte man mit uns gespielt, war auf uns losgegangen und hätte uns beinahe zerstört.

Schweigend machten wir uns nun daran, die Möbel wieder richtig hinzustellen, fegten Glassplitter weg und brachten ein kleines bisschen Ordnung in unser Zuhause und unser Leben. Draußen war inzwischen eine so vollendete Stille eingekehrt, dass ich die fehlenden Fensterscheiben für einen Moment völlig vergaß. Lucian setzte sich neben mich auf die feuchte Samtcouch und starrte mich an, als würde er gerne etwas sagen, rutschte dann aber nur unruhig hin und her. Ich konnte die Qual in seinem Gesicht sehen, den leeren Ausdruck in seinen Augen. So matt und mutlos hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich fragte mich, ob das an seiner Verwandlung lag. Es war verdammt knapp gewesen, aber es war ihm um Mitternacht gelungen, der Unterwelt zu entkommen. Nun gehörte er nicht mehr zu ihnen, war kein Dämon mehr, aber auch keiner von uns. Er war sterblich. Dante kniete sich vor mir auf den klammen Teppich und hielt mir wieder sein Handy hin. Ich zwang mich, ihm endlich zuzuhören, auch wenn ich in Gedanken weit weg war.

»Hier, lies das«, befahl er.

Wenn ihr bis nach Mitternacht durchhaltet, verzweifelt nicht, weil ihr einige von euch verloren habt. Sucht einen alten Widersacher auf, er hat Antworten für euch. Doch eine Warnung noch: Ihr müsst den kompletten Kreis durchlaufen.

Allons-y.

»Das hab ich vorhin gekriegt … bevor das alles passiert ist. Hast du nichts bekommen?«

Ich wusste nicht einmal mehr, wo mein Handy überhaupt steckte. Das hatte ich zu Beginn des Abends in meinen Stiefel geschoben, und dort hatte es sich so eng an das Leder geschmiegt, dass ich es ganz vergessen hatte. Als ich nun die Hand in den Stiefel schob, zog ich das Telefon aus meiner schmutzigen, zerfetzten Socke. Es war völlig schlammverschmiert, genau wie meine Arme und Beine, und ich entdeckte einen Sprung im Display. Trotzdem reagierte es problemlos, als ich auf den Knopf drückte. Lucian sah mir über die Schulter, als ich die Botschaft las und sie dann Dante hinhielt. Er überflog sie und nickte. Meine Nachricht war mit seiner identisch, mal abgesehen davon, dass bei mir »Schwarm« statt »Widersacher« stand. Und ich war nicht die Einzige, die das bemerkte.

»Schon klar, hier bin ich«, sagte Lucian mit leiser Stimme, und sein Blick wanderte entschuldigend durch den Raum. »Ich bin da, um euch zu helfen, so gut ich kann. Selbst wenn es mich das Leben kostet.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie ernst er das Angebot meinte. Leider war er als Aussteiger ein bevorzugtes Ziel der Unterwelt, und seine neue Sterblichkeit bedeutete auch, dass man ihn leicht zur Strecke bringen konnte.

»Ich habe da eine Idee«, sagte Drew, die uns von der anderen Seite des Raumes aus beobachtet hatte. Sie bedeutete den anderen, vorhandene elektronische Geräte hervorzuholen, und als sie im Kreis gleichzeitig eingeschaltet wurden, tauchten sie den Raum in schwaches Licht, wie ein kleines Lagerfeuer.

»Darf ich das noch einmal sehen?«, fragte Dante und lehnte sich zu mir vor. Max erschien an seiner Seite und verteilte Wasserflaschen. Er sorgte auf seine Weise für uns. Die anderen vier Engel ließen sich jetzt im Raum verteilt nieder, sprachen leise miteinander und rollten sich dann am Boden zusammen, als wäre jegliches Adrenalin schlagartig aus ihren Adern verschwunden.

»Vielleicht finden wir ja irgendwann endlich heraus, wer zur Hölle uns die schickt«, sagte ich erschöpft zu Dante. Dann warf ich das Handy aufs Sofa. Das war nur eines von vielen Rätseln, die wir noch nicht gelöst hatten.

»Na, zumindest hoffentlich niemand aus der Hölle«, witzelte Dante, um mich ein wenig aufzumuntern. Er stand auf und reckte sich.

»Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen«, wandte Lucian ein. »Das wäre nicht ihr Stil.«

»Nein, die schreiben ihre Nachrichten lieber mit Blut«, erwiderte Dante flapsig. In diesem Fall war das nicht einmal übertrieben: Es hatte tatsächlich mal jemand blutige Engelsflügel vor unsere Eingangstür gemalt.

Lucian stimmte zu: »Ja, die mögen es gern dramatisch.«

»Wovon redet ihr eigentlich?« River war aufgestanden. Sie klang jetzt ziemlich knurrig, weil sie es nicht leiden konnte, im Dunkeln gelassen zu werden. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, sah Tom zu ihr hinüber und blickte dann wieder zur Decke hoch.

»Ja, wovon redet ihr da?«, fragte Emma leise und verwirrt. Ihre Wimperntusche war ganz verschmiert, was vermutlich genauso viel mit dem Regen wie mit den Tränen dieser Nacht zu tun hatte. Ihr Freund Jimmy war als einer der Ersten von uns Engeln in der Ausbildung zur dunklen Seite übergelaufen. Wir hatten heute Nacht gegen ihn gekämpft, und Lance hatte ihn besiegt.

Dante und ich wechselten einen Blick und kamen stillschweigend überein, die anderen nach all der Zeit endlich einzuweihen. Mit einer Kopfbewegung forderte Dante mich auf, die Sache zu erklären, vermutlich deshalb, weil ich diese Nachrichten schon länger bekam als er. »Wir erhalten seit einiger Zeit diese Warnungen. Zunächst waren es handgeschriebene Nachrichten, seit unserer Ankunft hier kommen sie jedoch auf elektronischem Wege. Lance hat diese Handys gefunden, die wohl jemand für uns zurückgelassen hatte.« Ich griff nach meinem und warf es River zu. Sie fing es mit einer Hand auf.

»Und wer hat die für euch zurückgelassen?«, fragte Emma. Sie strich die rotbraunen Locken zurück und drehte sie zu einem Dutt zusammen, offensichtlich in dem hilflosen Versuch, wenigstens etwas Ordnung in all dem Chaos zu schaffen.

»Das wissen wir nicht«, musste Dante zugeben. Jetzt erschien Max mit einem Teller zerbröselter Kekse, die er in der Küche entdeckt hatte.

»Und warum erfahren wir erst jetzt davon?«, fragte River, während sie durch die SMS scrollte. »Da sind ja ganz schön heftige Sachen dabei.«

»Wem sagst du das?«, sagte ich leise.

»Zeig mal.« Tom griff nach Rivers Hand und zog sie zu sich runter.

»Ab jetzt keine Heimlichkeiten mehr, okay?«, bat Drew, die bislang geschwiegen hatte, mit sanfter Stimme und schob sich das feuchte Haar hinters Ohr. »Wir dürfen einfach keine Geheimnisse voreinander haben.« Und damit hatte sie wirklich recht.

»Versprochen«, nickte ich daher.

Und nun erzählten wir, wie wir auf die harte Tour gelernt hatten, den Hinweisen lieber Folge zu leisten. Und dass sie uns Hoffnung machten, weil ganz offenbar jemand über uns wachte. Wir lasen ein paar der neueren Nachrichten vor, und als alle Fragen beantwortet waren, reichte River mein Handy an Tom weiter, während Dante seines wegpackte.

»Ich wünschte, Connor wäre hier«, seufzte Emma und zog die Knie an die Brust.

»Der ist verschwunden, komm lieber drüber weg«, blaffte River sie an. »Also, du …« Sie starrte Lucian an. Er trug immer noch den Smoking, der nach der Party im Lexington und den Ereignissen heute Abend ziemlich mitgenommen aussah. Als er angesprochen wurde, lehnte Lucian sich vor und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. »Du bist also der Schwarm?«

Ich wandte schüchtern den Blick ab, als der Exdämon zu mir rübersah und dann nickte.

»Skandalös! Haven, du steckst ja wirklich voller Überraschungen. Gefällt mir irgendwie.«

Drew schüttelte den Kopf, während Emma das Kinn vorreckte, Lucian musterte, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen, und mir dann verschwörerisch zunickte.

»Jetzt warte mal«, warf Tom ein und starrte das Telefon aus zusammengekniffenen Augen angestrengt an. »Was ist denn dieses Allonsi?« Bei seiner gruseligen Aussprache brauchte ich einen Moment, um den Themenwechsel überhaupt zu erfassen.

»Ich hatte Spanisch in der Schule«, erklärte Dante achselzuckend und ließ sich auf der Lehne von Max’ Sessel nieder. »Hav?«

»Oh. Allons-y«, wiederholte ich. »Das ist Französisch für ›Dann mal los!‹.«

»Warum auf Französisch?«, fragte Emma.

»Pourquoi?«, murmelte Drew.

Auch ich ließ mir das immer wieder durch den Kopf gehen und suchte in den hintersten Winkeln meines Verstandes nach einem Hinweis. Die Antwort war da irgendwo zu finden, aber inzwischen drehten sich die Rädchen in meinem Kopf immer langsamer. Alles, was mein Körper und Verstand noch wahrnehmen konnten, war endloses Nichts. Ich konnte nur noch an Lance denken. Nach all der körperlichen und emotionalen Anstrengung umfing mich die Hoffnungslosigkeit wie ein Leichentuch, das man über einen Toten zog. Ich wollte mich einfach nur in einer Ecke zusammenrollen und schlafen, und zwar für immer. Leider wusste ich, dass ich diesem Wunsch nicht nachgeben durfte. Ich musste stärker sein, so stark wie noch nie zuvor, um Lance zu finden.

Die Antwort lauerte irgendwo in meinem Kopf, im Hintergrund einer anderen Erinnerung. Genau, die Nacht auf dem Friedhof, das Verwandlungsritual der Teufel. Kein Wunder, dass ich das lieber verdrängt hatte, an diese Momente mit Lance dachte ich nur ungern zurück. Falls ich ihn jemals wiedersehen sollte – nein, hier verbesserte ich mich – bei unserem nächsten Wiedersehen würde ich ihm sagen, wie albern es doch von uns gewesen war, dass wir vergessen hatten, wie viel wir einander bedeuteten, und uns voneinander entfernt hatten, statt in der Zeit unserer schwersten Herausforderungen Stärke im anderen zu suchen.

»Père Lachaise«, hörte ich mich selbst sagen. Ich war wie in Trance. »Père Lachaise«, wiederholte ich mit mehr Bestimmtheit. »Ein Friedhof. In Paris.« Ich wandte mich an Lucian: »Weißt du irgendwas darüber?«

»Ich hab schon mal davon gehört, also, im Studium«, sagte er und blickte nachdenklich an die Decke. Dann schloss er die Augen. »Aber ich bin mir nicht sicher, was …«

»Diesen Friedhof hat die Krewe in der Nacht des Rituals erwähnt. Während Jimmys Verwandlung«, sagte ich leise. Ich wollte Emma nicht wehtun. »Als sie an uns vorbeikamen, haben sie irgendetwas von einem Treffen erzählt.«

Das war wohl der Anstoß, den Lucian gebraucht hatte. Er schlug sich die Hand vor den Mund und sprang auf. Der Ausdruck in seinen Augen ließ keinen Zweifel daran, dass für ihn plötzlich alles einen Sinn ergab, aber nun wirklich kein Anlass zur Freude war. »Dann findet es wohl dort statt«, flüsterte er, als wäre diese Erkenntnis zu überwältigend, um sie laut auszusprechen. Keiner sagte etwas, wir ließen ihm Zeit, die richtigen Worte zu finden. »Das ist es also. Da geht sie los, die Revolution.« Er starrte mich an. »Und vermutlich haben sie Lance als Opfergabe auserwählt.« Mein Herz setzte einen Schlag aus, und ich hatte einen Kloß im Hals. Noch konnte ich nicht verarbeiten, was er da sagte. Den anderen ging es wohl genauso, wie mir die offenen Münder und finsteren Blicke verrieten.

»Aber … was …« Ich bekam nicht einmal einen vollständigen Satz hin, da gab es einfach zu viele unbeantwortete Fragen. In hastigem abgehacktem Ton wandte sich Lucian nun an die Gruppe: »Sie fangen immer gern mit einem Opfer an. Dem eines Engels. Weil eine Revolution nur alle paar hundert Jahre ansteht. Für das Ritual einen zu fangen ist aber nicht so einfach.«

»Sie hatten doch Sabine. Brody. Jimmy. Warum haben sie die nicht genommen?« Ich hörte die Panik in meiner Stimme, als ich die Namen unserer Mitanwärter auf die Engelschaft ausrief, die man auf die dunkle Seite gezogen hatte. Ich wünschte mir so sehr, Lucian läge falsch, dass ich ein Zittern in meiner Stimme kaum unterdrücken konnte.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Die haben sich alle umgarnen lassen, sie haben keinen Widerstand geleistet. Oder zumindest nicht genug. Für so eine Opferung brauchen sie einen echten Gefangenen. Jemanden, der mit Zähnen und Klauen gekämpft hat. Das Ganze ist ein feierlicher Anlass«, erklärte er mit bedauernder Miene. »Aus ihrer Sicht hilft es ihrer Sache, wenn sie einen echten Feind als Opfer gefangen nehmen können.«

»Und was passiert bei dieser Opferung?«, stieß ich angewidert hervor.

»Dabei öffnen sich zum ersten Mal nach dem Tag der Metamorphose wieder die Portale der Unterwelt«, erwiderte Lucian langsam, während er den Blick über die Gruppe wandern ließ. »Das ist der Anfang vom Ende. Die Revolution wird sich über Wochen hinziehen, albtraumhafte Wochen, in denen die Dämonen danach streben, die Kontrolle zu übernehmen und Körper, Seelen und Engel zu erobern. Dafür werden sie alle Kräfte zusammenziehen. Und dann werden sie versuchen, auf grausame, barbarische Weise neue Teufel zu erschaffen.«

»Dramatisch wie immer«, bemerkte Dante trocken.

»Mit dem Opferritual wollen sie die Massen aufputschen. Und Lance muss dafür sein Leben lassen. Er wird sterben!« Jetzt wurde es mir erst wirklich bewusst.

»Das Ganze ist also so eine Art Einstimmungsparty«, murmelte Dante.

»Fuck«, knurrte River und reckte den Zeigefinger in die Luft. So wütend hatte ich sie noch nie gesehen. »Scheiße nochmal.«

»River!«, mahnte Drew mit strenger Stimme. Aber ich freute mich über ihre Unverblümtheit, solche Worte hatte ich jetzt gebraucht. Wenigstens schienen die anderen genauso entsetzt zu sein wie ich.

»Nein, sie hat ja recht«, bemerkte Emma.

Jetzt redeten alle durcheinander, wir hatten so viele Fragen: Was sollen wir machen? Wie können wir sie aufhalten?

»Also, wenn im Moment keins der Portale offen ist …«, begann Dante.

»Genau«, antwortete Lucian.

»Das ist es«, verkündete ich mit fester Stimme. »Wir werden auf dieser Party mal vorbeischauen. Wer ist dabei?«, fragte ich in die Runde. Die anderen sahen einander an und schauten dann zu mir herüber. Ich brauchte sie alle. Ein Nein gab es nicht.

2

Stille Wacht

Als ich den Blick durch den Raum wandern ließ und einem nach dem anderen in die Augen sah, nickte mir jeder Einzelne feierlich zu.

»Gut«, sagte ich zu ihnen, und dann zu Lucian: »Was müssen wir wissen?«

»Es wird hart werden«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Dieses Opferritual findet während eines Treffens der Stärksten und Mächtigsten statt. Das heißt, dass auch der Fürst zugegen sein wird, seine engsten Vertrauten und diejenigen, die nach den Kämpfen am Tag der Metamorphose wieder auf ihre Posten zurückgekehrt sind.«

»Du meinst doch nicht etwa …« Dante erstarrte.

»Doch. Theoretisch könnt ihr dort allen Teufeln, die ihr bekämpft und in die Unterwelt verbannt habt, wieder begegnen. Das kommt ganz darauf an, wie stark sie sind. Am schwächsten sind die neuen Dämonen, aber einige der … wichtigeren Persönlichkeiten hatten bis dahin vermutlich Zeit, ihre Kräfte zu erneuern.« An diesem Punkt legte Max Dante die Hand aufs Knie. Sicher hatte er längst von Etan gehört, der ja trotz seiner bösen Absichten Dantes erste Liebe gewesen war. Beinahe hätte er in Chicago Dantes Seele für die dunkle Seite gewonnen. Darüber wollte ich am liebsten nicht einmal nachdenken. Und dann erschien vor meinem inneren Auge auf einmal ein anderes Gesicht.

»Aurelia«, flüsterte ich. Die Frau, die ich bewundert hatte, um deren Anerkennung ich mich während meines Praktikums im Lexington zunächst bemüht hatte. Die Dämonin, die so geschickt versucht hatte, mich mit ihren Versprechen, ihrer Macht und Eleganz zu umgarnen. Und natürlich mit Hilfe ihres Assistenten, Lucian.

Dieser nickte jetzt langsam. »Ja, davon würde ich ausgehen. Wie gesagt, ich hatte schon lange keinen Zugang mehr zu wichtigen Informationen. Seit du Aurelia verbannt hast, habe ich sie nur ein einziges Mal gesehen. Das war ganz am Anfang, als sie noch extrem geschwächt war. Sie ist trotzdem in meine Zelle gekommen, um mich zu quälen und …« Er schüttelte den Kopf, als hätte er schon zu viel gesagt.

»Und was?«, fragte ich und wappnete mich für seine Antwort.

»Hat sie irgendwas gesagt? Über Haven?«, drängte Dante.

»Sie hat mir geschworen, dass sie zurückkehren wird«, verriet er schließlich. Aber ich hatte keinen Zweifel daran, dass er uns da noch etwas verschwieg.

»Um mich umzubringen. Sie will sich an mir rächen«, versetzte ich mit ausdrucksloser Stimme.

»Sie will, dass du leidest«, bestätigte Lucian. Ich wusste, was dahintersteckte. Sie konnte akzeptieren, dass ich gegen sie kämpfte, denn so war es auf dieser Welt nun einmal zwischen Engeln und Teufeln. Aber etwas anderes hatte sie viel tiefer getroffen, und das war etwas Persönliches. Ich hatte nicht nur ihre glamouröse Welt abgelehnt, sondern einen der Ihren von der dunklen Seite weggelockt, ihren Lustknaben, ihr Schoßhündchen Lucian. Statt meine Seele zu stehlen, hatte der auf einmal das Bedürfnis verspürt, in meine Welt zurückzukehren, Buße zu tun und der Unterwelt zu entfliehen. Außerdem hatte ich Aurelia vorgehalten, wie sehr sie von Lucians Aufmerksamkeit abhängig war. Sie gehörte nicht gerade zu den Frauen, die sich gerne sagen ließen, dass sie irgendetwas brauchten. Ich hatte ihre Autorität und Macht untergraben. Ja, das war eindeutig etwas Persönliches. Als ich jetzt so darüber nachdachte, über all die verschlungenen Pfade, die uns hierhergeführt hatten und über die Möglichkeit, dieser furchteinflößenden Gestalt aus meiner Vergangenheit wieder zu begegnen, bahnte sich plötzlich eine weitere Erkenntnis ihren Weg durch den Nebel meiner Erschöpfung.

»Es war ihre Idee«, sagte ich, und in diesem Moment ging bei einem der Handys im Kreis das Licht aus. »Nicht mich mitzunehmen, sondern Lance. Sie wusste ganz genau, wie sehr mich das treffen würde. Dem Fürsten war das vielleicht gar nicht klar, aber ihr bestimmt.« So etwas würde nur eine Frau einer anderen antun, ein Mann würde vermutlich nicht einmal begreifen, welche Macht in solch einem Akt lag. Aurelia hingegen hatte immer mit den Gefühlen anderer zu spielen gewusst, hatte sie mitten ins Herz getroffen, statt ihnen an die Kehle zu gehen.

»Ich weiß es nicht, aber mehr habe ich leider nicht. Ich habe versagt und dich im Stich gelassen – euch alle.« Lucian sah sich im Raum um. »Es tut mir so leid. Ich habe so viel Schmerz verursacht.« Derart niedergeschlagen und schwach hatte ich ihn noch nie gesehen. Beschämt ließ er den Kopf hängen. Trotz allem, was wir zusammen durchgemacht hatten, kannte ich diese Seite an ihm nicht. Lange Sekunden verstrichen, in denen niemand etwas sagte. Jetzt begannen draußen Sirenen zu heulen. Nach dem Gewitter erwachte die Stadt wieder zum Leben, Hilfe war unterwegs, es musste aufgeräumt und wieder aufgebaut werden.

»Warte mal«, sagte Dante jetzt plötzlich. »Draußen hast du gesagt, du hättest nicht gedacht, dass er das riskieren würde. Was meintest du denn damit?«

Ich hatte das auch gehört, war aber viel zu mitgenommen gewesen, um groß darauf zu achten.

Jetzt erhellte sich Lucians Miene, und Hoffnung flackerte in seinen Augen auf. »Das hatte ich ja ganz vergessen. Vielleicht …« Er schien laut zu denken, fixierte nun irgendetwas auf der anderen Seite des Zimmers, stand auf und schlenderte auf die Fenster zu. In der Ecke des Raumes blieb er stehen, kniete sich hin und hob etwas auf: die Wanduhr aus Chrom. Sie sah aus wie eine überdimensionale Armbanduhr und hing normalerweise neben dem Flachbildfernseher, aber vermutlich hatte sie der Wind heruntergefegt. Jetzt zierte ein Riss in Form eines Blitzes das Glas. »Ich hätte fast vergessen, wie knapp die ganze Sache war«, sagte er. Schweigend lehnten wir uns vor und warteten.

Er betrachtete die Uhr in seinen Händen und legte sie dann so vorsichtig auf das kleine Tischchen, als handele es sich um ein wertvolles Kleinod. »Zeitlich war es sehr knapp.« Er ließ den Blick durch den Raum wandern, sah uns in die neugierigen Gesichter und erklärte: »Wisst ihr, das ging alles so schnell. Du warst ja um Mitternacht da, du hast alles gesehen«, sagte er zu mir. Ich nickte nur. »Es war sogar mehr als knapp. Eigentlich kam er zu spät«, führte er aus und lehnte sich gegen das Fensterbrett. »Diese Minuten können tödlich sein. Es war kurz nach Mitternacht, und der Fürst war immer noch hier draußen. Er hat Lance erst nach Mitternacht mitgenommen. Das weiß ich, weil ich da gerade über die Türschwelle getreten war – und ich konnte die Villa schließlich erst um Mitternacht verlassen, nachdem ich mich wieder in einen Sterblichen verwandelt hatte. Du weißt ja«, er deutete wieder auf mich, »dass ich dort wie von einer unsichtbaren Wand gefangen war, die jede Tür, jedes Fenster versiegelt hat. Alle von … uns …«, ich konnte gut verstehen, dass er nur ungern das Wort »Dämon« oder »Teufel« benutzen wollte, »alle von uns mussten um Mitternacht wieder dort unten sein, wenn sie nicht riskieren wollten, sich in Sterbliche zu verwandeln und ausgeschlossen zu werden. Als der Mächtigste unter uns wäre der Fürst wohl nicht sofort wieder sterblich geworden, und man hätte ihn wahrscheinlich nicht verbannt.« Lucian sprach immer schneller, zog jetzt die Smokingjacke aus, faltete sie zusammen und legte sie neben die Uhr.

»Aber er«, fuhr er aufgeregt und hoffnungsfroh fort, während er die Ärmel hochkrempelte, »hat wohl mit jeder Minute etwas mehr von seiner Macht verloren. Ihm muss klar geworden sein, dass ihm keine Zeit bleiben würde, gegen dich zu kämpfen und dich zu überwältigen.« Er deutete auf mich. »Aber einen Gefangenen konnte er wohl noch mitnehmen, und noch dazu so einen bedeutenden. Das hat er riskiert, auch wenn er dafür selbst etwas aufgeben musste.« Fassungslos schüttelte Lucian den Kopf. »Er ist aufs Ganze gegangen, obwohl er keine Ahnung hatte, wie sehr ihn das beeinträchtigen könnte. So etwas gab es noch nie.«

»So wichtig ist es ihm – ihnen allen also, mich zu zerstören«, sagte ich. Damit gab ich mich zwar als Spielverderberin, weil ich die positive Seite – den Machtverlust des Fürsten – einfach ignorierte, aber ich musste mich irgendwie darauf einstellen, welch loderndem Zorn ich mich bald stellen musste.

Lucian schwieg kurz und schien vergeblich nach einer Antwort zu suchen, dann sah er fürs Erste über meine Bemerkung hinweg: »Entscheidend ist doch, dass er geschwächt wurde. Wir können nicht wissen, wie schwer es ihn getroffen hat, aber wenn man ihn besiegen kann, dann jetzt.«

»Was diese Revolution angeht«, meldete sich jetzt Dante zu Wort. »Gehe ich richtig in der Annahme, dass da jeder mitmacht? Ziehen dort alle in die Schlacht, selbst der Fürst?«

Lucian nickte. »Ja, soweit ich das verstanden habe. Ich habe natürlich noch keine Revolution mitgemacht, ich bin schließlich ziemlich neu. Aber nach allem, was ich gehört habe, sieht es genau so aus.«

»Also, wann?«, fragte ich und schüttelte den Kopf, um ihn wieder frei zu kriegen. »Wann steht diese Revolution an? Wie lange müssen wir warten, bis es losgeht? Also, mit der Opferung? Bis wir Lance befreien können?«

Lucian seufzte. »Bald, denke ich zumindest. Sie haben so lange darauf gewartet und waren schon vor dem Tag der Metamorphose ganz aufgeregt.« Er dachte einen Moment nach und kalkulierte im Kopf, bevor er erklärte: »Wenn ich raten müsste, würde ich auf die Sonnenwende tippen, dann sind die Portale nämlich immer offen. Und im Moment würde es mich sehr wundern, wenn sie sie schon vorher wieder öffnen.«

»Warum denn?« Max kratzte sich an der Narbe auf seinem Schädel. Ich hatte auch eine, direkt über dem Herzen, Dante hatte eine am Arm und Lance unter dem Auge. Wir waren alle gezeichnet, und diese Striemen passten zu denen auf unseren Schulterblättern, drei Streifen auf jeder Seite, wo hoffentlich irgendwann unsere Flügel befestigt werden würden. Sonst verbarg Max das Mal gerne mit einer Kopfbedeckung, aber dieser wilden Nacht war wohl auch sein typischer Filzhut zum Opfer gefallen. »Ich meine, wie können wir denn sicher sein? Und was …« Ich nahm an, dass er insgeheim in Dantes Namen fragte und sich darauf einstellte, seinem Freund zu helfen, wenn sich dieser erneut Etan stellen musste.

»Ja, was hat es mit diesen Portalen überhaupt auf sich?« Dante führte gerne Max’ Sätze zu Ende. Er war darin ziemlich gut.

»Man muss sich das so vorstellen wie die Gezeiten. Es gibt eine Regelmäßigkeit, die aber von äußeren Faktoren beeinflusst wird. Allerdings kontrolliert nicht der Mond diese Phasen, sondern die Luft in der Unterwelt. Das hat etwas mit dem Anstieg der Hitze und des Giftes zu tun, und auch mit dem allgemeinen Niveau der Grausamkeit.«

»Wisst ihr, wer das mit den Gezeiten und so voll drauf hatte? Lance«, seufzte Dante. Das stimmte, Lance hatte sich mit Begeisterung auf solche Herausforderungen gestürzt. Er liebte Naturwissenschaften, Mathe, die Beziehungen der Dinge zueinander in der Natur. Er fand es faszinierend, wie alles aufgebaut war. Lance war unser Architekt. Und vor dem Tag der Metamorphose hatte mir mein Handy in einer Nachricht erklärt, dass Architekt, Alchemist und Seelenerleuchterin zusammenbleiben müssen. Lance, Dante und ich. Nun zwang ich mich zurück in die Gegenwart, zurück zu den Lebenden. Ich konnte mir vorstellen, wie langsam die Zeit bis zur Sommersonnenwende verstreichen würde, es kam mir jetzt schon wie eine Ewigkeit vor. Aber ich würde mich voll und ganz auf den Tag konzentrieren, an dem wir meinen Freund befreien konnten. Und um Lance zurückzubekommen, musste ich wie er denken.

»Die Sache ist also beschlossen«, sagte ich und sah noch einmal einem nach dem anderen meinen Kameraden ins Auge, bis ich schließlich bei Lucian landete. »Wir fliegen nach Paris. Im Juni. Seid ihr dabei?«

Drew nickte als Erste. »Natürlich, Haven.«

»Na, und ob«, sagte River, die einen Moment den Kopf von Toms Schulter hob. Dann gab sie ihm einen Klaps auf den Arm.

»Au. Ja, schon verstanden. Ich bin dabei«, sagte ihr Freund.

»Paris«, murmelte Emma verträumt. »Es könnte wirklich schlimmer sein.«

»Ihr wisst ja, was über Paris im Frühling gesagt wird«, sagte Dante.

»Was denn?«, fragte Max.

»Na ja … so genau weiß ich das eigentlich auch nicht«, gab Dante jetzt zu. »Aber irgendeinen Spruch gibt es doch über Paris im Frühling. Obwohl wir da ja nicht gerade Urlaub machen werden.«

»Nein, leider nicht«, sagte Emma jetzt ein wenig düsterer.

»Was sollen wir denn bis dahin mit uns anfangen? Es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Ist es zwar nicht, aber irgendwie dann doch wieder«, überlegte Drew, ernsthaft und feinsinnig wie immer.

»Wir tun, was wir getan hätten, wenn Lance hier wäre«, erklärte ich. »Wir halten den Ball flach und bereiten uns vor, arbeiten einen Plan aus.« Obwohl ich hier von dieser Gruppe Engel und Lucian umgeben war, hatte ich mich noch nie so allein gefühlt. Ich war es gewöhnt, solche Sachen gemeinsam mit Lance in Angriff zu nehmen. Wenn ich auf mich allein gestellt war, fehlten mir so viele Antworten. Hier schienen alle von mir zu erwarten, dass ich den Durchblick hatte, Ordnung und Strukturen schaffte und uns voranbrachte. Ich musste hart an mir arbeiten, um meine Gefühle zu unterdrücken, sie würden mich nur behindern und runterziehen. Und ich musste mich auch auf diese Gruppe verlassen können. »Wir müssen so einiges vorbereiten; ich werde einen Organisator brauchen.« Mit diesem Wort hatte sich Connor einmal auf den geheimnisvollen Mann bezogen, der uns bei einigen komplexeren Trainingseinheiten geholfen hatte – das Schwimmtraining zwischen Krokodilen draußen im Sumpf, der Sprung von der Anzeigetafel im Superdome –, nur um danach wieder in den Schatten zu verschwinden.

»Das kann ich übernehmen«, meldete sich Drew.

»Danke, Drew. Wir brauchen eine Unterkunft und Kreditkarten, um vermutlich unfassbar teure Flüge zu buchen und solche Sachen. Da tauschen wir uns noch aus«, sagte ich. Sie nickte, griff nach ihrem Handy, stellte die Beleuchtung des Displays aus und machte sich ein paar Notizen. »In der Zwischenzeit müssen wir uns erst einmal überlegen, wie wir erklären, was hier passiert ist. Das Gewitter hilft uns da natürlich weiter. So wie das Feuer damals im Lex.« Den mit so vielen Emotionen beladenen Namen sprach ich mit leiser Ehrfurcht aus. Lucian sah mich mit geschürzten Lippen an, als ich sein ehemaliges Zuhause erwähnte. Jetzt erlosch das Licht eines weiteren Handys, und der Raum wurde noch dunkler.

»Ach ja, wo wir gerade dabei sind.« Dante sprang auf die Füße und drückte mehrmals den Lichtschalter, bevor er es aufgab. »Warum konnte eigentlich keiner diesen Regen und Sturm vorhersehen? Wofür gibt es denn diese ganzen ausgefeilten Geräte? Mal im Ernst!« Damit ging er in die Küche hinüber, um noch etwas zu essen aufzustöbern.

»Ich fürchte«, begann Lucian nun mit entschuldigender Stimme, »dafür sind wir verantwortlich.« Er hatte jetzt schon länger nichts mehr gesagt, nur auf dem Fensterbrett gesessen und in die Dunkelheit hinausgeschaut. Ohne das Leuchten der Laternen oder die späten Nachtschwärmer kam mir die Straße so leer vor. Emma, die es sich mit dem Rücken zu ihm auf einem der Sessel bequem gemacht hatte, setzte sich beim Klang seiner Stimme auf, so als hätte sie ganz vergessen, dass er da war. Feuchte, schwüle Luft wurde hereingeweht und schien im Raum hängen zu bleiben. Jetzt waren alle Augen auf Lucian gerichtet.

»Das ist wieder wie mit den Gezeiten, oder?«, fragte Max. Dante kehrte mit einer vor sich hinschmelzenden Packung Eis und zwei Löffeln zurück und ließ sich neben Max nieder.

»Ja, gewissermaßen. Wenn mehrere von uns an derselben Stelle zusammenkommen, dann bringt das die natürliche Ordnung der Dinge durcheinander.«

Ich ließ mir das durch den Kopf gehen und stieß dann hervor: »In Chicago war es während meiner Zeit dort auch viel wärmer als sonst.«

»Genau«, sagte er bedauernd.

»Gut, okay, aber was für eine Story erzählen wir denn jetzt?«, fragte Dante und hielt sein Handy bereit, um ebenfalls mitzuschreiben.

»Gut, dann schieben wir also alles auf das Unwetter, oder? Heute Nacht sind doch viele Menschen … verloren gegangen.« Ich wusste nicht recht, wie ich es ausdrücken sollte. »Schließlich war die Krewe hier aktiv.« Das war der Euphemismus, für den ich mich entschieden hatte. Eine Umschreibung dafür, dass sie trotz all unserer Anstrengungen weiter gemordet hatten. »Aber wahrscheinlich hat der Sturm ihre Spuren verwischt.« Während ich sprach, griff Emma nach ihrem Handy, und das Dämmerlicht im Raum wurde noch weiter gedimmt, sodass wir langsam wie eine sepiafarbene Fotografie wirkten. Emma tippte frenetisch. »Ich denke, dass viele Häuser und Bauten zerstört sind, und nach einem derartigen Orkan werden sicher auch viele Menschen vermisst.«

»Habt ihr gesehen, wie die Umzugswagen durch die Luft geflogen sind? Wie konnten die überhaupt vom Zentrum aus hier landen? Das verstehe ich einfach nicht.« Drew schüttelte den Kopf.

»Genau«, nickte ich.

»Einige Stadtviertel wurden quasi dem Erdboden gleichgemacht. Den Garden District hat es ziemlich schlimm erwischt«, fasste Emma zusammen, die durch eine Nachrichtenseite scrollte. »Ich habe hier Bilder.«

»Zeig mal.« Tom streckte die Hand aus, doch River fing das Handy ab, um selbst einen Blick darauf zu werfen.

»Es wird also Vermisste geben«, wiederholte ich, »und Lance gehört dazu, okay?«

»Und was ist mit den Zuschauern, die beobachtet haben, wie ihr von den Umzugswagen gesprungen seid und irgendwelche Typen verfolgt habt?«, fragte River mit schiefem Grinsen.

»A könnte das alles zur Show gehört haben, und B weiß doch niemand, dass wir tatsächlich jemanden verfolgt haben.«

»Bist du denn nicht diejenige, die in der Villa nebenan durchs Oberlicht geknallt ist?«, fragte Dante augenzwinkernd.

»Wow!«, entfuhr es Drew.

»Wenn die Kleine erst einmal in Schwung kommt, ist sie nicht zu bremsen!«, verkündete Dante wie ein stolzer Vater. Mich überkam angesichts seines blinden Vertrauens eine seltsame Rührung.

»Alter, aber wir reden hier von einem Oberlicht.« Tom schüttelte den Kopf.

»Jetzt hört mal, der Ballsaal war längst geräumt, als Sabine schließlich …« Ich verstummte, weil ich diese grauenhafte Szene nur ungern noch einmal heraufbeschwören wollte. Die anderen hatten schon verstanden, ich hatte gegen Sabine gekämpft, gewonnen und sie damit in die Unterwelt verbannt. Schön war das nicht gewesen, aber soweit ich wusste, war es ohne Zuschauer vonstattengegangen. »Falls irgendjemand fragen sollte: Wir beide sind aufs Dach geklettert, um von da oben die Parade zu sehen, und dann ist das Gewitter so schnell aufgezogen, dass wir keine Zeit mehr hatten, uns in Sicherheit zu bringen. An viel mehr kann ich mich nach meinem Sturz nicht erinnern, das scheint doch auch logisch, oder?« Ich zeigte Anführungsstriche in der Luft, um zu unterstreichen, was ich meinte. »Und eigentlich ist es auch nicht so wichtig. Aber bei Lance müssen wir unsere Versionen wirklich aufeinander abstimmen. Also: Wir sind vom Umzugswagen gesprungen, um die Menge anzuheizen und noch mehr Perlenketten zu verteilen, und danach haben wir ihn nicht wiedergesehen, verstanden? Mehr braucht niemand zu wissen. Wir überlegen dann noch, wer sich um Lance’ Eltern kümmert. Aber wir finden schon einen Weg, ihn zurückzuholen.« Der Ausdruck auf den Gesichtern meiner Mitengel machte mir klar, dass ich inzwischen ganz und gar nicht mehr ruhig war. Ich war vom Sofa aufgesprungen und redete mich langsam in Rage.

Einen Moment wandte ich den Blick ab und holte tief Luft. Mir gefiel die ganze Sache überhaupt nicht. Dass wir uns hier eine Geschichte über Lance’ Verschwinden ausdenken mussten – weil der menschliche Verstand die schreckliche Wirklichkeit nicht einmal erfassen konnte. Ich war mir nicht sicher, wie ich diese Nacht, diese Woche und dann die nächsten Monate durchstehen würde. Ich spürte, wie schwer mir das Herz in der Brust wurde, geradezu bleiern. Mein ganzer Körper lehnte ab, was da gerade passiert war, es schnürte ihm die Luft ab. Mir wurde schwindlig, und jetzt verspürte ich einen stechenden Schmerz in der Brust, als sich meine Lungen gegen den Brustkorb pressten. Während alle anderen mich furchtsam ansahen, stand Lucian auf, kam einen Schritt auf mich zu und streckte die Hand aus, so als wollte er mich von der anderen Seite des Raumes aus trösten.

»Alles klar bei dir?«, fragte er mit so sanfter Stimme, als wären wir ganz allein. Ich konnte es mir nicht leisten, dass jemand an mir oder an Lance’ erfolgreicher Rettung zweifelte. Von diesem Moment an musste ich für alle hier stark sein.

»Alles klar, alles in Ordnung.« Noch klang das mitgenommen und wenig glaubwürdig, aber ich würde daran arbeiten. Lucian sah mich eindringlich an, und ich wusste trotz des Dämmerlichts, dass er nach einem Weg suchte, mir zu helfen, dass er sich mir und unserem Kampf verschrieben hatte. Als ihm klar wurde, dass ich nicht mehr dazu sagen würde, nickte er nur und trat einen Schritt zurück.

»Es ist schon spät, wir sollten uns jetzt besser ausruhen«, wandte er sich an die Gruppe. »Wie viel mehr können wir heute schon noch ausrichten?«

Es waren zwar alle einverstanden, trotzdem rührte sich minutenlang niemand. Wir blieben einfach nur sitzen und rutschten hin und her, versuchten, es uns auf den knarzenden Möbeln so gemütlich wie möglich zu machen. Irgendwann setzte sich Lucian wieder zu mir auf die Couch. Nach langem Schweigen gähnte Emma und erklärte: »Irgendwie will ich ja schlafen, aber dann auch wieder nicht, und ich habe auch Angst davor, in meinem Zimmer allein zu sein.« Sie klang wie ein Kind, das tatsächlich Monstern ins Auge geschaut hatte und deshalb jedes Recht hatte, sich vor der Dunkelheit zu fürchten. Bislang hatte sich keiner von uns in den Schlafräumen umgesehen. Vermutlich erwarteten uns dort nur noch mehr zersplittertes Glas, feuchte Fußböden und kaputte Gegenstände. Damit hatte ich es nun wirklich nicht eilig.

»Ich komme mit«, bot Drew Emma an. »Da draußen ist es viel zu still«, erklärte sie mit einem Nicken in Richtung Fenster. »Das finde ich total gruselig.« Sie hatte recht, es hatte etwas Unheimliches an sich, dass man jetzt nicht mehr ständig den Lärm des üblichen Treibens auf der Straße hörte. Aus dem Herrenhaus nebenan war leises Murmeln zu hören. Vermutlich hatten die Partygäste beschlossen, dort bis zum nächsten Morgen auszuharren. Sie gehörten ebenfalls zu unserem Programm für freiwillige Helfer aus der Highschool, ihre Unterkünfte lagen jedoch weiter entfernt als unsere, und sie wären normalerweise mit einem Shuttlebus oder der Straßenbahn nach Hause gefahren. Jetzt aber schienen nur noch Krankenwagen sowie Polizei und Feuerwehr unterwegs zu sein, wie die Sirenen alle paar Minuten verrieten.

»Danke, Drew«, sagte Emma benommen und wünschte uns noch gute Nacht. Drew erleuchtete im Flur mit ihrem Handydisplay den Weg.

Jetzt ließ River ihr Feuerzeug aufflackern und versetzte Tom einen Hieb gegen die Schulter. Der schreckte hoch: »Was denn? Hey. Hm?«

»Na los«, versetzte River im Befehlston. »Wir reden dann morgen weiter, Leute«, sagte sie zu uns, als sie im dunklen Flur verschwand. Dante und Max schienen sich mit Blicken und Gesten wortlos darüber zu verständigen, ob sie sich jetzt auch verziehen sollten, und ich wurde langsam nervös. Es waren aber nicht mehr Schmetterlinge im Bauch als zuvor, sondern eher eine gewisse Unruhe. Zum ersten Mal, seit ich Lucian begegnet war, wollte ich nun wirklich nicht mit ihm alleine bleiben. Während der letzten Monate hatten wir uns quasi reflexartig aufeinandergestürzt, wenn sich die Kombination aus Zweisamkeit und gedämpftem Licht ergab, und keiner von uns hatte die Energie aufgebracht, gegen diese magnetische Anziehungskraft anzukämpfen. Ich hatte einiges davon auf meine Schwierigkeiten mit Lance geschoben, und die Tatsache, dass ich ihn als Einzige von den Fesseln der Unterwelt befreien konnte, hatte Lucian vielleicht bewusst oder unbewusst beeinflusst. So etwas konnte den Reiz eines jungen Mädchens durchaus verstärken. Aber jetzt kam es mir so vor, als hätte sich die Kraft des Magneten umgekehrt und würde mich von ihm fernhalten.

»Bleibt ihr beiden hier?«, fragte Max in den dunklen Raum.

»Du kannst ruhig bei mir schlafen, Hav«, schlug Dante vor. »Wenn dein Zimmer total zerstört sein sollte und so.«

Er war einfach der Beste und wollte mich nicht allein lassen. Ich brauchte jetzt Hilfe, und er bot sie mir an. Mein Verstand wusste jedoch, dass ich sie nicht annehmen konnte. Ich spürte, wie mich Lucian beobachtete. Im Laufe der nächsten Tage würden der Exdämon und ich bestimmt einmal allein sein, und dann gab es mit Sicherheit einiges zu bereden. Aber ich war mir einfach nicht sicher, ob ich das in diesem Moment wollte, wenn ich doch körperlich und emotional so ausgelaugt war. So einem Gespräch konnte ich mich jetzt nicht stellen. Leichter Wind setzte die Vorhänge in Bewegung, ein Stück Mond schaute hinter den Wolken hervor und erhellte den Raum. Ich konnte einen Blick auf Lucians hoffnungsvoll glänzende Augen erhaschen, bevor wir wieder in beinahe völliger Dunkelheit versanken.

»Nein, alles klar«, sagte ich, obwohl meine Stimme zitterte. Ich würde nicht davonlaufen; ich würde die Sache jetzt in Angriff nehmen.

»Wenn du sicher bist«, antwortete Dante nicht besonders überzeugt. Er streckte die Hand aus und zog Max hoch. »Nacht, Leute.«

Mit schüchternem Murmeln wünschten Lucian und ich ihnen gute Nacht. Ich zog die Knie an und wartete, bis ich keine Schritte mehr hörte. Und noch etwas länger. Irgendwann beschloss ich dann, dass ich wirklich keine Lust hatte, jetzt zu reden. Lucian holte tief Luft und stieß sie wieder aus, so als wollte er etwas sagen. Stattdessen verstrichen stille Minuten, mit leisen Sirenen in der Ferne, der sanften Brise und den gelblichen Strahlen des Mondes. Ich rührte mich nicht und wagte kaum zu atmen. Am liebsten wollte ich jetzt einfach die Zeit vorspulen bis Juni, bis Paris. All die Stunden und Tage dazwischen interessierten mich nicht. Die würden mir zur Qual werden.

Lucian sprach als Erster.

»Du tust eigentlich nur so, als würdest du schlafen, oder?«, fragte er leise. Jetzt, wo nur noch wir beide hier waren, klang seine Stimme lockerer.

»Nein«, log ich, war aber sofort von mir selbst enttäuscht. »Na ja, vielleicht.«

»Du hast wirklich jedes Recht dazu, mich für Lance’ Entführung verantwortlich zu machen«, sagte er wehmütig.

»Das tue ich gar nicht.« Und das war keine Lüge. »Ich mache mir selbst Vorwürfe.« Ich umklammerte die Knie vor der Brust und starrte ins Nichts. Dann begann ich, an meinen Nägeln herumzuzupfen. Irgendwie musste ich meine nervöse Energie loswerden. Jetzt erstarb das Licht des letzten Handydisplays, und der Mond versteckte sich wieder, sodass wir in völliger Dunkelheit dasaßen. Mir war es recht, dass ich mich darin verstecken konnte. »Es war mein Fehler«, sagte ich ausdruckslos. »Und der Gedanke macht mich ganz krank, deshalb verdränge ich ihn lieber. Ich muss jetzt mit ganzer Kraft an einer Lösung arbeiten, sonst werde ich mich nur selbst hassen. Es ist zwar noch Monate hin, aber …« Ich spürte, wie Lucian auf dem Sofa näher an mich heranrückte.

»Wieso machst du dir denn Vorwürfe?«, unterbrach er mich nun sanft.

»Hier geht es um mich, sie haben ihn an meiner Stelle mitgenommen. Um mir wehzutun«, sagte ich, und meine Frustration lag in jeder einzelnen Silbe. »Das haben wir doch alles längst klargestellt.« Ich wollte das jetzt nicht noch einmal durchkauen.

»Aber du hast mir geholfen«, seufzte Lucian. Er verstummte kurz und fuhr dann in verletztem Tonfall fort: »Und jetzt kannst du mir nicht einmal mehr in die Augen sehen.«

»Es ist dunkel, ich könnte dich doch sowieso nicht sehen.«

»Aber du willst mich auch nicht ansehen.« Darin steckte vielleicht ein Fünkchen Wahrheit, aber das würde ich ihm nicht verraten. Als ich zu ihm rüberschaute, spielte ich im Kopf immer wieder den Moment durch, in dem sich der Fürst in sich selbst verwandelt hatte, nachdem er zuvor Lance in Lucians Gestalt getäuscht hatte. Ich spürte, wie die Wunden dieser Nacht beinahe augenblicklich zu Narben verheilten und mich veränderten. Langsam wurde mir bewusst, dass man unser Trio – Dante, Lance und mich – zerschlagen hatte und dass ich diese Gruppe Engel anführen würde. Ich musste auf eine ganz neue Art und Weise Verantwortung übernehmen. Um nicht nur die Dunkelheit, sondern auch den tiefen emotionalen Abgrund zwischen uns zu überwinden, griff Lucian nach meiner Hand und verschränkte unsere Finger. Das fühlte sich zwar nicht richtig an, ich wollte die Hand aber auch nicht wegziehen, deshalb lag sie einfach nur schlaff da. »Ich weiß, dass du ihn liebst«, sagte Lucian. »Und dass du Angst um ihn hast. Ich verspreche dir, dass wir ihn zurückholen werden. Wenn du mir nicht glaubst, dann glaub wenigstens an dich selbst. Daran, wie stark du bist und wie viel du im Kampf gegen sie schon erreicht hast. Okay?« Ich rollte mit den Augen, und das wusste er wahrscheinlich. »Das sage ich dir nicht zum ersten Mal, wir haben ja schon darüber gesprochen.« Hier zitierte er mich, um seine Worte noch zu unterstreichen. Ich zuckte mit den Achseln und stieß ein abgehacktes Lachen aus.

ENDE DER LESEPROBE