Jägerin und Sammlerin - Lana Lux - E-Book
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Jägerin und Sammlerin E-Book

Lana Lux

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Beschreibung

Der neue Roman von der Autorin des vielfach bewunderten Debüts ›Kukolka‹ »Lana Lux erzählt vom Schmerz der Kinder, vom Schmerz der Mütter, vom Schmerz, die Heimat zu verlieren – so leicht, so tief, so aufregend, dass es einen glücklich macht. Ihre Literatur ist das, was Deutschland jetzt so dringend braucht.« Anna Prizkau Alisa ist zwei Jahre alt, als sie mit ihren Eltern die Ukraine verlässt, um nach Deutschland zu ziehen. Aber das Glück lässt auch im neuen Land auf sich warten: Alisas schöne Mutter ist weiter unzufrieden, möchte mehr, als der viel ältere Vater ihr bieten kann. Die Tochter, die sich so sehr um ihre Liebe bemüht, bleibt ihr fremd. 15 Jahre später ist Alisa eine einsame junge Frau, die mit Bulimie und Binge-Eating kämpft. Mia, wie sie ihre Krankheit nennt, ist immer bei ihr und dominiert sie zunehmend … Lana Lux erzählt hellwach und mit großer Intensität von Mutter und Tochter, die – so unterschiedlich sie sind – gefangen sind im Alptraum einer gemeinsamen Geschichte.

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Über Lana Lux

Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin. 2017 erschien ihr vielbeachtetes Debüt »Kukolka«, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, 2020 ihr neuer Roman »Jägerin und Sammlerin«.

Informationen zum Buch

Der neue Roman von der Autorin des vielfach bewunderten Debüts ›Kukolka‹

»Lana Lux erzählt vom Schmerz der Kinder, vom Schmerz der Mütter, vom Schmerz, die Heimat zu verlieren – so leicht, so tief, so aufregend, dass es einen glücklich macht. Ihre Literatur ist das, was Deutschland jetzt so dringend braucht.« Anna Prizkau

Alisa ist zwei Jahre alt, als sie mit ihren Eltern die Ukraine verlässt, um nach Deutschland zu ziehen. Aber das Glück lässt auch im neuen Land auf sich warten: Alisas schöne Mutter ist weiter unzufrieden, möchte mehr, als der viel ältere Vater ihr bieten kann. Die Tochter, die sich so sehr um ihre Liebe bemüht, bleibt ihr fremd. 15 Jahre später ist Alisa eine einsame junge Frau, die mit Bulimie und Binge-Eating kämpft. Mia, wie sie ihre Krankheit nennt, ist immer bei ihr und dominiert sie zunehmend …

Lana Lux erzählt hellwach und mit großer Intensität von Mutter und Tochter, die – so unterschiedlich sie sind – gefangen sind im Alptraum einer gemeinsamen Geschichte.

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Lana Lux

Jägerin und Sammlerin

Roman

Inhaltsübersicht

Über Lana Lux

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Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Teil 2

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Teil 3

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Sommer 2020

Impressum

I

1

Alisa hatte verschlafen. Nicht, dass das etwas Neues war. Sie verschlief fast jeden Morgen. Es war ihr selbst ein Rätsel, wie sie es schaffte, aufzustehen, alle drei Wecker auszuschalten, sich dann zurück ins Bett zu legen und weiterzuschlafen, ohne sich auch nur im Geringsten daran erinnern zu können.

»Mascha? Bist du im Bad?«, schrie sie durch die Wohnung, während sie sich eine schwarze Leggins, ein schmales, kurzes Jerseykleid und einen langen Pullover anzog.

»Ja-a«, schrie ihre Freundin zurück.

»Dauert es lange?«

»Na-hein.«

»Ich muss wirklich dringend.«

»Gleich!«

»Bitte! Ich muss! Ich bin wieder zu spät! Fuck!«

»Ist das was Neues?«

»Denkst du, das ist witzig? Es ist Mittwoch, ich habe Mathe-LK. Sie schmeißt mich raus, wenn ich auch nur noch eine Fehlstunde habe.«

»Dann steh vernünftig auf, Alisa. Du kannst nicht immer allen anderen die Schuld an deiner Situation geben. Ich war heute um sechs wach, war joggen, habe mein Workout gemacht, geduscht und …«

»Mascha, ich will einfach ins Bad, okay? Ich muss pissen. Und ich muss mich schminken.«

»Das ist ein hässliches Wort. Außerdem muss ich mich selber schminken.«

»Dann mach doch bitte auf, wenn du dich eh nur schminkst!«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Ich will meine Ruhe.«

»Du spinnst doch! Du bist hier nicht die Einzige. Außerdem ist es meine Wohnung. Das ist doch mega assi, was du da machst.«

»Ach so, ich bin assi? Fick dich doch …«

»Sag mal, spinnst du?«

Alisa rüttelte an der Badezimmertür. Dann wurde der Schlüssel umgedreht, und bevor Mascha herauskommen konnte, stürzte Alisa herein und setzte sich auf die Toilette.

»Wie lange muss ich denn immer auf das Klo warten? Wenn du duschst?« sagte Mascha und malte bei dem Wort »duschen« Gänsefüßchen in die Luft.

»Was soll das?«

»Du weißt ganz genau, was das soll.«

»Ah, ja?«

»Ja.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Wirklich? Du denkst, ich merke nichts von deinem Kotzen?«

Das Wort Kotzen durchfuhr Alisa wie ein Stromschlag.

»Du hast Wahnvorstellungen, Mascha«, sagte Alisa. »Und jetzt geh endlich raus und lass mich mein Badezimmer benutzen.«

»Mit Vergnügen. Ich muss eh los. Ich habe nämlich vor, pünktlich zu meinem LK zu kommen.« Mit diesen Worten ließ sie die Badezimmertür zufallen, und während Alisa sich die Hände und das Gesicht wusch, hörte sie, wie die Eingangstür ins Schloss fiel.

Alisa rannte in ihr Zimmer, zog sich noch einmal bis auf die Unterwäsche aus, holte ein kleines Notizbuch und ging damit ins Bad. Sie stieg auf die Waage, und für einen Augenblick breitete sich ein selbstzufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Beim Blick in den Spiegel verschwand es jedoch sofort wieder, noch bevor sie das aktuelle Gewicht notiert hatte. Voller Hass und Abscheu starrte sie sich an. Egal, wie viel sie abnahm, das Gefühl blieb. Sie fand sich fett und hässlich, und dann noch diese Fresse, dachte sie, und ihre Oberlippe verzog sich, so wie sie es immer tat, wenn Alisa sich ekelte.

Ihr Gesicht war ein Schlachtfeld. Sie beugte sich über das Waschbecken, um ihrem Spiegelbild näher zu kommen. Noch näher. Ganz nah, nur wenige Millimeter davon entfernt verharrte sie und untersuchte jeden Quadratzentimeter ihrer Haut. Die meisten Stellen ihres Gesichts waren verkrustet. Viele geschwollen und gerötet, einige eitrig. Vor der Schule soll man nicht drücken, sagte sie sich. Spar es dir für den Abend auf! Doch der Ekel und das Spannungsgefühl waren zu groß. Sie musste diese Dinger loswerden, sich reinigen. Sie konnte es einfach nicht ertragen, und sie würde auch vorsichtig sein, ganz vorsichtig, nur diese eine Stelle. Mit dem Fingernagel ihres Zeigefingers knibbelte sie die flache bräunliche Kruste auf ihrer Stirn ab, bis sie wie ein kleiner Deckel herunterhing. Dann ergriff sie sie vorsichtig zwischen den Nägeln ihres Daumens und Zeigefingers und riss sie ab. An die Art von Schmerz, die dabei entstand, war sie so sehr gewöhnt, dass er ihr fast wohlig vorkam. Blut perlte ihre Stirn herunter. Sie liebte diese Farbe. Dieses dunkle Karmesinrot. Sie drückte von beiden Seiten gegen die Wunde und weißgelber Eiter quoll heraus. Ha, also doch! Sie wusste es. Sie drückte immer fester, völlig versunken in den Kampf um Reinheit. Blut ist rein. Genauso wie Knochen und Muskeln. Eiter und Fett sind unrein.

Am Ende hatte sie doch an mehr als dieser einen Stelle gequetscht. Ihre Stirn blutete und pochte. Sie träufelte ein wenig Sterilium auf ein Wattepad und betupfte die offenen Stellen in ihrem Gesicht. Das Desinfektionsmittel, das für die Hände gedacht war, brannte in den Wunden, während Alisa den nun blutigen Wattepad immer wieder neu damit befeuchtete. Das Brennen des Alkohols in den Wunden war ihr willkommen, da der Schmerz für sie ein Zeichen der Wirksamkeit war. Als Alisa sich rein genug fühlte, klebte sie Klopapierstückchen auf die kleinen und größeren Wunden entlang ihres Haaransatzes, an den Schläfen und auf ihrer Nasenwurzel und wartete darauf, dass die Blutungen abklangen. Wie sollte sie das nun wieder überschminken? Und vor allem, was sollte sie sich einfallen lassen, um ihre Mathelehrerin davon zu überzeugen, sie nicht aus dem Kurs zu werfen? Sie hatte zwar Einsen in den Klausuren, doch ohne Anwesenheit würde sie vielleicht nicht zum Abi zugelassen werden. Jetzt ging es wirklich um etwas. Es war das allerletzte Schuljahr ihres Lebens.

Noch immer nur in Unterwäsche, schlenderte Alisa in die Küche. Gerade in der Küche kamen ihr immer wieder Erinnerungen an früher und die Frage, wann sie eigentlich so groß geworden war.

Sie konnte sich noch sehr genau daran erinnern, wie sie mit ihren Eltern diese Wohnung bezogen hatte, damals, als sie fünf Jahre alt war. Sie konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie die Küchenschränke aufgebaut wurden und wie sie dann, als alles fertig war, enttäuscht feststellen musste, dass alles zu hoch hing. Und sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter sie später, als ihr Vater weg war und sie nur noch zu zweit waren, immer bat, ihr aus den oberen Schränken die Konservendosen herunterzuholen. Da war sie schon größer als ihre Mutter gewesen. Wie alt war sie da? Vielleicht zwölf oder dreizehn.

Aber wie genau war das passiert? Wie konnte der Körper so schnell wachsen und dann so groß werden? Viel zu groß! Wenn sie nur so klein und zierlich wäre wie ihre Mutter oder Mascha.

Schon immer war sie neidisch auf Mascha gewesen, ihre beste Freundin, die sie sich nie ausgesucht, sondern bekommen hatte wie eine Schwester. Sie liebte sie und hasste sie von Anfang an, seit ihrer Kindheit.

Was wollte sie hier überhaupt in der Küche? Sie wusste es nicht mehr, ging stattdessen in ihr Zimmer und zog sich wieder an. Nach einem Blick auf die Uhr fühlte sie sich noch elender als zuvor. Die erste Mathestunde war bereits vorbei, und sie war immer noch hier, war immer noch keinen Millimeter auf dem Weg zur Schule. Eine Schwere überkam sie, und sie konnte nicht anders, als sich noch einmal hinzulegen. Immerhin spürte sie keinen Hunger, sondern nur eine angenehme Leere im Magen. Das war gut. Sie fühlte sich wieder auf dem richtigen Weg. Bald würde sie die fünf Kilo wieder runterhaben, und dann, dann würde alles wieder gut sein … aber jetzt, jetzt musste sie einfach nur schlafen. Das Bedürfnis war so groß, dass es zwecklos gewesen wäre, dagegen anzukämpfen.

Als Alisa aufwachte, hatte es keinen Sinn mehr, sich auf den Weg zu machen. Sie würde zur letzten Stunde kommen, und das wäre ja irgendwie seltsam. Sie würde sich wieder eine Entschuldigung schreiben und sie morgen abgeben. Morgen würde alles anders. Sie setzte sich ins Wohnzimmer, öffnete ihren Laptop und schrieb an zwei Klassenkameradinnen eine identische Nachricht im ICQ-Messenger:

Hi! Habe mich heute wieder nicht so gut gefühlt. Haben wir etwas aufbekommen? Und was wurde überhaupt besprochen?

Danke und Kuss

Nachdem sie alle Hausaufgaben in Erfahrung gebracht hatte, setzte sie sich an ihren Schreibtisch, schrieb jede Aufgabe auf einen Post-it-Zettel und klebte diese untereinander entlang der linken Tischkante. Sie arbeitete sie nacheinander ab und zerknüllte jeweils das dazugehörige Post-it. Nach zwei Stunden war sie mit allem fertig. Bald musste Mascha nach Hause kommen, und sie selbst würde arbeiten gehen müssen. Was war heute noch mal für ein Tag? Mittwoch. Dann musste sie heute kellnern. Dienstags, mittwochs und samstags kellnerte sie in einem Café in Wilmersdorf, montags und donnerstags war sie Telefonistin in einem Callcenter in Schöneberg, freitags gab sie einer jüngeren Schülerin Nachhilfe, und sonntags verkaufte sie Kaffee auf dem Flohmarkt im Mauerpark.

Alisa begab sich ins Bad und verbrachte dort eine ganze Stunde damit, ihrem Gesicht eine möglichst einheitliche Farbe zu geben. Dazu benutzte sie zwei verschiedene Fluids, drei verschiedene flüssige Make-ups, zwei verschiede Concealer und einen transparenten, fixierenden, wasserfesten Puder, den sie in einem Laden für Bühnen-Make-up gekauft hatte. Das Ergebnis war tatsächlich verblüffend, denn die Haut sah um mindestens achtzig Prozent reiner aus.

Gerade als sie sich die Sneakers zuband, um loszugehen, kam Mascha nach Hause.

»Hi«, sagte sie leise.

»Hi«, antwortete Alisa, während sie nach ihrem Rucksack griff.

»Wann kommst du nach Hause?«, fragte Mascha und ihre Stimme klang wie verschluckt.

»Spät.«

»Scheiße.«

»Wieso?«

»Weil ich dich brauche. Weil es mir nicht gut geht. Weil … Du weißt schon, warum.«

»Ich muss meine Schicht arbeiten. Die geht bis um acht, danach noch putzen. Ich beeile mich. Aber ich verspreche nichts«, sagte Alisa. Mit einem Mal schien es ihr selbst irgendwie besser zu gehen. So war das schon immer: Sobald es jemandem in ihrer Umgebung nicht gut ging, musste sie helfen, musste für die Person da sein, musste die große und starke Schulter zum Anlehnen und Ausweinen sein.

Sie legte die Arme um Maschas Körper und das Kinn auf ihrem Kopf ab. Mascha hatte zehn Kilo mehr als noch vor einem Jahr in der Klinik. Ihrem dritten Klinikaufenthalt. Alisa wusste, dass Mascha immer noch stark im Untergewicht war, dass sie nicht gesund war, und doch wünschte sie sich nichts sehnlicher, als so zierlich, so schwerelos und so stark zu sein wie ihre Freundin. Dieser Wille! Wo hatte Mascha nur diesen Willen her?

Sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn und rannte die Treppe hinunter. Jetzt musste sie wieder an den Morgen denken, als Mascha das Wort duschen mit Gänsefüßchen eingerahmt hatte.

Sie schämte sich. Für ihre Zügellosigkeit, für das Erbrechen, für ihren Körper, für ihr gesamtes Dasein.

Sie betrat das Café genau fünfzehn Minuten vor Schichtbeginn, so wie es sich gehörte. Seltsamerweise kam sie nie zu spät zur Arbeit. Warum schaffte sie es in der Schule nicht?

Sie zog sich das weiße, im Grunde gar nicht mehr so weiße Hemd an, band die lange schwarze Schürze sowie den Ledergürtel mit dem großen Portemonnaie fest um ihre Hüfte und verwandelte sich aus einer übermüdeten Abiturientin in eine freundliche Kellnerin mit begrenztem Vokabular.

Wissen Sie schon? Was darf es bei Ihnen sein? Aber natürlich, lassen Sie sich Zeit, geben Sie mir einfach ein Zeichen. Kaffee, Cappuccino, Latte macchiato, doppelter Espresso, viel Schaum, kein Schaum. Nein, die Milch hat keine Zusätze. Nein, leider nur das, was auf der Karte steht. Café au Lait, große Tasse, kein Keks, doppelt Zucker, nein, leider keine Pflanzenmilch, ja, koffeinfrei ist möglich, jedoch nur als Kaffee Haag, das ist ein löslicher … Natürlich, das habe ich leider noch nicht selbst probiert, natürlich, verschiedene Tees, auch frische, verschiedene Kuchen, auch Torten, ja sehr frisch, selbstverständlich, dort in der Vitrine, einfach einen kurzen Blick hineinwerfen, ich kann auch empfehlen, ich kann mitkommen, ich kann bringen. Mögen sie Mürbeteig? Nein, dafür bin ich doch da. Macht wirklich gar nichts. Nein, ich bin noch Schülerin, nein, nur am Abend. Ich mache Abi. Ja, gute Noten. Nein, nicht zu anstrengend. Danke, das werde ich weitergeben, ja, ich bringe Ihnen einen neuen. Oh, da muss ich vorher kurz nachfragen. Ja, ich packe es Ihnen ein. Entschuldigen Sie, hier fehlen noch drei Euro. Entschuldigen Sie, wären Sie so freundlich, das Magazin hierzulassen? Andere Gäste werden es sicherlich auch lesen wollen, danke, ich glaube, Sie haben versehentlich unsere Tasse eingesteckt. Ist das Ihr Schirm? Ist das Ihre Jacke? Ist das Ihr Baby? Bitte sehr, vielen Dank.

Nach fünf Stunden bekam sie dreißig Euro. Sie steckte sie zusammen mit den zwanzig Euro Trinkgeld ins Portemonnaie, zog sich um und verließ das Café.

Völlig leer und verwirrt stand sie auf der Straße. Satzfetzen der Kunden hingen aus ihren Ohren und klebten an ihren Haaren. Ihre Atmung war flach, die leicht hochgezogenen Augenbrauen und das eingefrorene Lächeln verkrampften ihre Gesichtsmuskulatur.

Es war bereits dunkel. Die Rücklichter der Autos spiegelten sich in dem nassen Kopfsteinpflaster der Straße. Fünf Stunden lang hatte Alisa keine eigenen Bedürfnisse wahrgenommen. Sie trank während der Arbeit nichts und ging auch nicht auf die Toilette, sie aß nichts, und vor allem war sie niemals unfreundlich.

Sie stieg auf ihr Fahrrad und fuhr nach Hause, ohne den Schmerz in den Schultern, im Kopf, in den Füßen und Beinen zu beachten. Der einzige Gedanke, der in Alisas Kopf Platz hatte, war der ans Essen. Heute morgen hatte Alisa sich vorgenommen nichts zu essen, und das hatte sie bis jetzt auch geschafft. Es war halb zehn, und sie hatte wirklich nichts gegessen. Das könnte seit langem ein echt perfekter Tag werden. Natürlich hatte sie einen unerträglichen Hunger. Und irgendwie wäre es okay, etwas kleines Gesundes, etwas Erlaubtes zu essen, so wie früher, als das noch ging. Aber jetzt war das einfach nicht mehr möglich. Seit wann war das eigentlich schon so? Wann hatte es angefangen, so schlimm zu sein?

Wenn sie jetzt essen würde, würde sie garantiert nicht mehr aufhören können, das wusste sie ganz genau. Sie würde völlig die Kontrolle verlieren und immer mehr und mehr in sich hineinstopfen, bis ihr Magen, an seine physischen Grenzen gedehnt, auf die Lunge drücken würde und sie keine Luft mehr bekäme. Dann würde sie mit dem Fressen aufhören, sie würde ins Bad wanken wie eine Hochschwangere in den Kreissaal, voller Angst vor dem Schmerz und in der Hoffnung, dass es schnell vorbei wäre. Es würde jedoch ewig dauern, bis alles raus wäre, und ein Teil der Nahrung wäre unwiderruflich in den Tiefen des Körpers versunken. Und genau diesen Teil würde ihr hinterhältiger, gieriger Riesenkörper augenblicklich in Fett verwandeln. Wabbeliges, weißgelbes Fett. Nein, das alles wollte Alisa bestimmt nicht. Nie. Heute jedoch besonders nicht. Heute würde sie nicht wieder über der Kloschüssel hängen, während Mascha sich innerlich über ihre fehlende Willenskraft lustig machen könnte. Nein. Heute hatte sie das Sagen, sagte sie sich immer und immer wieder, während sie gegen das wachsende Heißhungergefühl anzukämpfen versuchte.

Alisa fuhr einen kleinen Umweg und schloss ihr Fahrrad vor dem Edeka an, vor dem ein paar alkoholisierte Gestalten standen. Ein anderes junges Mädchen hätte vielleicht Angst gehabt, doch Alisa hatte keine. Sie war nicht die Art von Mädchen, die ständig angemacht wurden. Sie hatte kaum Belästigung durch Männer erfahren, im Gegensatz zu Mascha und vielen anderen Freundinnen. Sie war groß, mit athletischen Schultern und auffallend gerader Haltung. Ihr Gesicht hatte markante und auch im entspannten Zustand eher strenge Züge.

Alisa musste nicht lange überlegen, was sie kaufen wollte. Für diese allabendlichen Fressanfälle kaufte sie immer das Gleiche. Eine Tüte Chips, eine Tafel Schokolade, eine Packung Eis und eine Flasche Cola Zero.

Sie verließ den Laden mit ihrer Beute. In ihren Augen flackerte etwas Wahnsinniges, wie in den Augen eines Menschen, der zu einer furchtbaren Tat bereit ist, vielleicht zu einem Mord. Die Tat, zu der Alisa jetzt bereit war, war Essen. Nur wo? Sie wollte auf gar keinen Fall von Mascha gesehen werden. Sie wollte von niemandem gesehen werden.

Eine Stunde später stieg Alisa kurzatmig und mit schmerzendem Magen die Treppe in den obersten Stock hoch, drehte den Schlüssel um, ließ ihren Rucksack zu Boden gleiten und streifte die Sneakers von den Füßen. Die Wohnung war dunkel und still. Alisa schaltete das Licht im Bad an und schloss die Tür hinter sich. Sie klappte den Klodeckel hoch, wusch sich die Hände, ließ das Wasser laufen und fasste mit der gesamten rechten Hand tief in ihren Rachen. Selbst beim Erbrechen schien ihr Körper nur grobe Behandlung zu verstehen. Andere würden mit einem Finger im Hals schon würgen. Wieder andere konnten es angeblich einfach so. Einfach so? Alisa konnte es kaum glauben. Stimmte es überhaupt, was die Leute in den Foren schrieben?

Für sie selbst war das Erbrechen eine sehr schmerzvolle und erniedrigende Prozedur. Von allein passierte bei ihr nichts. Außer fetter werden. Für alles andere im Leben musste sie kämpfen.

Sie spülte, verteilte WC-Reiniger unter den Rand der Kloschüssel, wischte mit Klopapier sorgfältig alle Spritzer von den Fliesen, warf es in die Schüssel, zündete ein fest zusammengerolltes Stückchen Klopapier an, pustete es aus, ließ den Rauch zur Decke tanzen, schmiss es ebenfalls hinein, zog ab und schrubbte noch einmal alles mit der Klobürste sauber.

Jetzt kam sie zu sich. Warum hatte sie das gemacht? Warum? Es war fast ein perfekter Tag gewesen. Fast! Er hatte mit dreihundert Gramm weniger angefangen, sie hatte es geschafft, sich den ganzen Tag vom Essen fernzuhalten und noch nicht einmal Hunger zu haben. Und dann …

Scham, Ekel und Hass spürte Alisa sehr deutlich. Jegliche andere Gefühle waren ein diffuses Etwas, das sie nicht zu entwirren vermochte.

Sie roch nach Essen und Schweiß und Erbrochenem. Sie wollte duschen, aber das hatte sie nicht verdient. Sie zog lediglich ihre Kleidung aus und stattdessen ein weites Männer-T-Shirt an, über das sie einmal auf einer Klassenfahrt erzählt hatte, es sei von ihrem Freund, ohne dass es jemals einen Freund in ihrem Leben gegeben hatte. Außer David, der nur ein Freund war, der sich nicht daran störte, dass sie Außenseiterin war. Sie ging ins Bett, legte sich auf den Rücken und betastete ihre Beckenschaufeln, die sich auch im Stehen deutlich abzeichneten. Dann wanderten ihre Hände hoch zu den Rippen und schließlich zu den Schlüsselbeinen. Die waren zu ertasten, aber kaum sichtbar. Wenn sie wirklich so schlank wäre, wie alle sagten, würde man auch die Schlüsselbeine sehen. Alles Lügner. Sie hatten Mitleid oder waren neidisch auf sie und wollten, dass sie wieder fett wäre. Aber sie würde es allen beweisen. Ab morgen würde sie wirklich erst einmal eine Woche fasten. Das hatte damals auch gut geklappt, und sie konnte es wieder tun.

Alisa schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Die rot leuchtende Anzeige ihres Radioweckers zeigte 00:30. Um sechs Uhr würde er klingeln. Dann um sechs Uhr fünfzehn der kleine Blaue und um sechs Uhr dreißig der Handywecker. Morgen würde alles besser werden. Morgen würde sie pünktlich in der Schule sein, pünktlich im Callcenter sein und vor allem, ganz wichtig, sie würde nichts essen. Nur trinken. Viel trinken, das war wichtig. Wasser war ein Freund. Wasser war gut für den Stoffwechsel. Außerdem konnte warmes Wasser den Hunger stillen, während eiskaltes Wasser sogar zusätzlich Kalorien verbrannte. Sie musste viel mehr trinken. Sie hatte in einem Forum gelesen, dass es Mädchen gab, die bis zu fünf Liter am Tag tranken. Sie selbst schaffte an guten Tagen gerade mal zwei. Sie musste besser werden. Sich einfach mehr anstrengen. Willenskraft beweisen.

Der Wecker zeigte 01:45. Sie schlief nicht. Vor ihren geschlossenen Augen sah sie immer wieder Szenen aus dem Café. Die letzte Uhrzeit, die Alisa in dieser Nacht auf ihrem Wecker sah, war 02:30. Dann fiel sie in einen unruhigen Schlaf mit wirren Träumen, bei denen sich Worte und Sätze aus dem Café auf völlig surreale Weise mit Bildern von Tellern, Tassen, Servietten, Löffeln, Kaffee und so weiter vermischten.

»Junge Dame, haben Sie mich vergessen?«, schrie eine Tasse und spuckte sie mit heißem Kaffee an. »Ist das hausgemacht?«, fragte ein älterer Herr, während er den Aschenbecher auslöffelte. »Bringen Sie mir doch eine Serviette!«, schrie eine Frauenstimme. Alisa blickte auf das Tablett in ihren Händen und sah eine Frau in einem Milchcafé schwimmen. Dann musste sie auf die Toilette. Aber die Tür war abgeschlossen. Sie musste so dringend, dass sie sich nicht anders zu helfen wusste, als sich eine Kanne zu nehmen, hinter den Vorhang der Vorratskammer zu gehen und hineinzupinkeln. Doch genau in dem Moment wurde der Vorhang zur Seite gezogen. Sie war völlig entblößt und gedemütigt vor der gesamten Belegschaft und all den Gästen, die angewidert das Gesicht verzogen und sich die Nase zuhielten.

2

Als Alisa um sieben Uhr dreißig von Mascha geweckt wurde, hatte sie den Traum vergessen. Nur das Gefühl der Demütigung und der Scham waren übriggeblieben, verstärkt durch die Tatsache, dass sie schon wieder verschlafen hatte.

»Du bist so dermaßen arrogant«, sagte Mascha, die perfekt angezogen und frisiert vor ihr stand.

»Arrogant?«, fragte Alisa.

»Nur weil du gute Noten schreibst, denkst du, du musst dich an keine Regeln halten, nicht pünktlich sein oder einfach gar nicht erscheinen. Läuft ja bei dir.«

»Mascha, ich habe verschlafen. Denkst du, ich will diesen Stress?«

»Welchen Stress? Du schläfst dich jeden Tag aus, gehst nur jeden zweiten Tag zu Schule, hast total viel Kohle, deine eigene Wohnung und die coolste Mutter ever.«

»Ich arbeite für die Kohle.«

»Was soll das jetzt heißen? Was willst du andeuten? Du weißt, dass ich nicht arbeiten darf. Du weißt es ganz genau!«

»Das hat doch damit nichts …«

»Du bist einfach nur gemein. Schon seit Tagen. Nein, Wochen. Nein, ich weiß nicht, seit wann …«

»Mascha, du rastest gerade wieder aus. Du musst dich beruhigen«, sagte Alisa, während sie einen weiten langen Pullover anzog.

»Sag du mir nicht, was ich zu tun habe. Diese ganze Situation ist unerträglich!«

»Was willst du von mir? Zieh doch aus, wenn’s dir nicht passt«, sagte Alisa. Nun war sie im Bad, drückte Zahnpasta aus der Tube und sah ihr entzündetes Gesicht, ihre geschwollenen Lider und die zu allen Seiten abstehenden Haare an.

So ein Scheiß. Sie konnte sich noch nicht einmal wiegen, konnte sich nicht waschen, hatte keine Zeit für einen Kaffee und würde schon wieder zu spät sein.

»Du schmeißt mich raus?«, schrie Mascha, und Tränen schossen ihr in die Augen.

»Niemand schmeißt dich raus. Du verdrehst immer alles. Hör doch einfach auf damit!«

»Du kümmerst dich nicht um mich. Du weißt, dass ich nur dich habe. Du weißt es ganz genau, und du kümmerst dich nicht.«

»Tut mir leid.«

Mascha saß zusammengekauert auf dem Badezimmerteppich, umklammerte ihre Knie und weinte laut.

»Ich habe nichts mehr. Nichts.«

»Doch!«

»Nein! Und du weißt es. Tanzen war alles für mich, und es ist vorbei. Und meine Eltern sind scheiße, und die Schule packe ich nicht, und ich bin auch noch fett.«

Mit den Fäusten schlug sie gegen ihre Schenkel und in den Bauch.

»Hör auf!«, sagte Alisa. Sie spuckte die Zahnpasta aus und setzte sich runter zu ihrer Freundin.

»Hör auf! Ich bin doch da. Und vielleicht hast du recht, vielleicht sollte ich mich mehr um dich kümmern. Aber fett bist du wirklich nicht. Du bist sogar sehr, sehr, sehr dünn. Immer noch zu dünn. Das weißt du. Du kennst deinen BMI. Solange der unter achtzehn ist, bist du im Untergewicht.«

»Ich will auch niemals darüber sein. Niemals. Ich will mir nicht mal vorstellen, wie ich da aussehen würde …«

»Ich bin darüber«, sagte Alisa leise.

»Tut mir leid. Bei dir ist es anders. Bei dir …«

»Ich bin eh fett, da ist es egal.«

»Nein. Du bist nur … Du bist halt groß. Du bist anders. Du bist groß und stark und … du bist halt wie so ein cooler Typ.«

»Ich bin ein Typ?«

»Nein. Mann, du weißt, was ich meine, du bist nicht so eine Tussi. Du bist halt …«

»Okay, wir hören am besten auf.«

»Du könntest ja auch Model sein, bei deiner Größe und deinen Beinen.«

»Ja, aber nicht mit dem Oberkörper und den Schultern und Armen und Brüsten und und und.«

»Wer will schon Model sein? Du bist eh zu klug dafür«, sagte Mascha.

»Ja«, sagte Alisa traurig. Dabei wollte sie wirklich kein Model sein. Sie wollte nur wie eins aussehen. Stattdessen war sie »klug«. Was auch immer klug war, denn klug fühlte sie sich selbst überhaupt nicht. Ja, sie schrieb gute Noten, aber sie wusste selbst häufig nicht, wie das passierte. Nach jeder Klausur hatte sie das sichere Gefühl, es vermasselt zu haben, doch am Ende war es meistens nicht schlechter als eine Zwei. Außer in Englisch und Französisch. Da hatte sie ab und zu sogar Dreien geschrieben. So klug konnte sie also nicht sein. Früher in der Grundschule hatte sie die seltsame Angst gehabt, all ihre Noten wären ein Fehler, der den Lehrern irgendwann auffallen würde, und dann würden sie für die zurückliegenden Jahre umbenotet.

»Wollen wir blaumachen?«, schlug Alisa vor.

»Nein, das kann ich nicht.«

»Wir sind eh zu spät.«

»Besser zu spät kommen als gar nicht.«

»Ja, du hast recht.«

»Was ist das denn für ein Gespräch?«

»Was?«

»Du musst mich jetzt zumindest versuchen zu überzeugen.«

»Okay, womit kann ich dich überzeugen?«

»Auf jeden Fall nicht mit dieser Frage!«

Beide lachten. Mascha riss ein Stück Klopapier ab und putzte sich die Nase. Dann fragte sie:

»Wollen wir Fernsehen gucken und Beauty-Salon spielen, wie früher?«

»Ja, das können wir machen«, sagte Alisa.

Als kleine Mädchen hatten sie ständig Beauty-Salon gespielt, und schon damals hatte es Alisa keine besondere Freude gemacht. Immer musste sie die Kosmetikerin sein und immer war Mascha eine nervige Kundin, die ständig neue Wünsche hatte und niemals wieder gehen wollte. Später wurde aus den gespielten Beauty-Anwendungen echte.

Als Tanya, Alisas Mutter, eine Ausbildung zur Kosmetikerin gemacht hatte, musste Alisa mit ihr zusammen lernen, sie abfragen und ihr als Versuchsobjekt zur Verfügung stehen. Mascha war damals im Internat oder in der Klinik, das wusste Alisa nicht mehr so genau, aber wann immer sie nach Hause kam, wollte sie Beauty-Salon spielen. Nun waren echte Wässerchen und Cremes und Seren im Einsatz, und Nägel wurden auch nicht bloß mit einem Lack angepinselt, sondern erst einmal mit einer einstündigen Maniküre inklusive Handmassage gepflegt.

Auch jetzt wurde Alisa mit den Anwendungen so lange nicht fertig, bis sie aufhören mussten. Manchmal beschwerte sich Alisa darüber und Mascha versprach, dass sie beim nächsten Mal mit Alisa anfangen würden. Beim nächsten Mal ganz sicher und sehr ausführlich. Doch das nächste Mal würde immer noch ein letztes Mal werden, was Alisa zwar mit einem Stöhnen kommentierte, was ihr aber eigentlich recht war. Sie wollte keine Anwendungen. Sie konnte auch keine bekommen. Sie hätte niemanden ihre ekligen Hände und ihre ekligen Füße anfassen lassen können. Noch schlimmer als diese widerlichen Extremitäten fand sie jedoch ihr Gesicht, ihr Dekolletee, ihren Rücken. Denn dort wucherten die Unreinheiten. Alisa wusste, dass sie zumindest teilweise dafür selbst verantwortlich war, denn sie kannte sich bestens mit der Haut aus. Sie hätte die Vorgänge in Horn-, Körnerzellen-, Stachelzellen und Basalschicht auch im Schlaf aufsagen können.

Sie wusste, dass zu viel Antiseptikum den Säureschutzmantel angreift. Sie wusste, dass grobe Quetschungen den Eiter nach innen aufplatzen lassen. Doch sie konnte nicht anders, als allabendlich vor dem Spiegel zu stehen und zu drücken, zu kratzen und manchmal mit einem spitzen Skalpell aus dem Bastelladen zu schneiden.

An diesem Tag schwänzten sie beide die Schule, spielten Beauty-Salon und rauchten Schischa. Am frühen Nachmittag hatte Alisa recht starke Bauchschmerzen. Da ihr Bauch fast täglich schmerzte, war sie gut darin, es zu ignorieren oder sich sogar darüber zu freuen, denn es war ein Zeichen, dass der Körper arbeitete und seine Vorräte in Form von ekligem Fett aufbrauchte. Kurz bevor sie zum Callcenter hätte aufbrechen müssen, war der Schmerz jedoch so stark, dass sie ihn nur noch sehr schlecht aushalten konnte. Auf Maschas Rat hin nahm sie eine Aspirin, woraufhin der Schmerz so schlimm wurde, dass Mascha den Krankenwagen rief.

Alisa hatte eine akute Gastritis, mit der sie für vier Tage im Krankenhaus bleiben sollte. Das Beste an der Sache war, dass sie in diesen vier Tagen und den darauffolgenden drei Wochen, in denen sie sich von Tee und Zwieback ernährte, keinen Hunger, sondern eine angenehme Übelkeit verspürte und infolgedessen ganze sechs Kilo abnahm.

Ihre Mutter kam sie jeden Tag besuchen. Sie brachte Zeitschriften mit, neueste Anti-Pickel-Mittel und Probleme aus ihrer Beziehung. Ihr Mann Isaac, mit dem sie seit fünf Jahren zusammen war, wollte seit genau diesen fünf Jahren ein Baby. Und seit genau fünf Jahren sollte Alisa ihre Mutter zu diesem Thema beraten und ihr helfen, einen immer wieder neuen plausiblen Grund zu erfinden, warum es jetzt gerade nicht ging, ohne Isaac die Wahrheit zu sagen – Tanya wollte keine weiteren Kinder.

Eigentlich gefiel es Alisa, dass ihre Mutter keine weiteren Kinder haben wollte. Sie deutete es als eine Art Liebesbeweis. Ja, ihre Mutter schimpfte zwar viel über sie und war selten mit irgendetwas, das sie tat, zufrieden, aber ein anderes Kind als sie wollte sie am Ende doch nicht.

Alisa genoss ihre Gastritis sehr, generell krank zu sein. Nie hatte sie die Liebe und Fürsorge ihrer Mutter so deutlich gespürt wie bei Krankheiten. Natürlich nicht bei Erkältungen und Grippen. Dafür gab es eher Ärger, denn diese Erkrankungen waren »selbstgemacht«. Zu dünne Jacke, die Haare nicht richtig getrocknet, die Mütze vergessen, den Schal nicht fest genug geknotet, auf etwas Kaltem gesessen, etwas Kaltes getrunken, diese dämlichen Bussis rechts und links verteilt, die Liste der Verbrechen ließ sich beliebig fortsetzen. Aber bei einer echten, nicht selbstverschuldeten Krankheit war die Mutter in Sorge, und Sorge war wohl der eindeutigste Liebesbeweis, den eine Tochter bekommen konnte.

Nach drei Wochen war Alisa wiederhergestellt. Eigentlich schon nach zwei, aber sie hatte beim Arzt ein wenig simuliert und bekam eine weitere Woche Entspannung geschenkt. Das Beste an all dem war, dass sie völlig ohne Anstrengung und sogar ohne Sport Gewicht verloren hatte.

Nach so viel Ruhe und Frieden hatte sie Angst, wieder in ihren Alltag, in dem kein einziger Tag der Woche unverplant war, einzusteigen. Noch größer war ihre Angst vor dem Essen. Drei Wochen lang hatte sie der Kloschüssel nur ihren Hintern gezeigt und sie wollte, dass es so blieb. Doch so konnte es nicht bleiben. Schon nach wenigen Tagen war Alisa beim Status quo, den allabendlichen Fressorgien mit anschließendem Erbrechen, angelangt. Dann hungerte sie den gesamten Tag, um sich wieder in den Griff zu bekommen und weil sie sich schämte, vor anderen zu essen.

Dann war es kurz vor Weihnachten. Sie lernte für die Klausuren vor den Halbjahreszeugnissen, als sie an einem Abend eine E-Mail von ihrer Mutter bekam.

Privet Alisa,

wie geht’s meinem großen Mädchen? Lernst du fleißig?

Ich habe eine kleine Bitte an dich. Ich muss dem Amt vier Bewerbungen vorlegen, die ich geschrieben habe. Könntest du das bitte für mich machen? Muss nicht gut sein. Du müsstest auf deinem Rechner noch die Vorlage haben, die du mal für mich gemacht hast. Wenn du sie benutzt und ein wenig abwandelst, wird es schon okay sein. Du kannst so was ja sehr schnell und mich macht es nur unnötig fertig. Du weißt schon, mit meiner Angst, Fehler zu machen, und überhaupt. Finde meine Situation gerade eh deprimierend. Die ganze Sache mit Isaac und der Arbeitslosigkeit raubt mir bald den Verstand.

Die Bewerbungen müssen bis Freitag bei denen ankommen, okay? Zwei Tage sind ja genug. Ich kann es auch gar nicht von hier aus machen, weil das Amt nicht wissen darf, dass ich mich nicht in Berlin aufhalte.

Ach so, und leider, leider, leider kann ich am Wochenende doch nicht kommen. Isaac ist auf ein Jubiläum eingeladen und ich werde ihn begleiten müssen. Hoffe, du bist mir nicht böse. Wir holen das nach.

Küsse

Mama

PS:Wir haben für die Veranstaltung ein traumhaftes und wahnsinnig teures Kleid gekauft. Wenn es dir passen sollte, darfst du es zum Abiball anziehen.

Gleich nachdem Alisa die E-Mail gelesen hatte, rief sie ihre Mutter an.

»Es tut mir furchtbar leid, aber ich schaffe es einfach nicht. Ich muss lernen und zwei Referate vorbereiten. Und beide Tage kellnern …«, sagte sie.

»Denkst du, ich bitte dich gerne darum? Denkst du, mir macht es Spaß, in diesem Land für immer eine Fremde zu bleiben, immer Fehler zu machen, als wäre ich eine ungebildete Bäuerin?«

»Mama, es tut mir leid, aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht.«

»Ich hätte nie gedacht, dass ich eine Tochter großziehe, die nicht bereit ist, mir auch nur den kleinsten Gefallen zu tun. Ist dir eigentlich klar, wie undankbar du bist, Alisa?«

»Mama, ich bin sehr dankbar, für alles, aber versteh doch, dass ich gerade Stress habe …«

»Gut, danke für deine kostbare Zeit, die du für dieses Gespräch geopfert hast.«

»Mama, sei doch nicht so, versteh do…«

»In meiner Familie hat man sich geholfen, wo man konnte. Aber du kommst nach deinem Vater, da wird einfach gemacht, was einem selbst am besten passt.«

»Willst du mir sagen, dass ich nichts für dich tue? Wer hat denn diese Vorlage erstellt? Wer hat die meisten deiner Bewerbungen Korrektur gelesen? Wer hat immer bei allen Ämtern angerufen? Wer hat dir beim Lernen für die Kosmetikprüfung geholfen?«

»Oh, du hast dir jede kleinste Kleinigkeit notiert? Willst du mir vielleicht noch vorhalten, dass du auch mal den Müll runtergebracht hast?«

»Ich habe mehr als den Müll runtergebracht, damals, als Papa weg war und es dir schlecht ging.«

»Schön, dann hast du wohl alle deine guten Taten bereits verbraucht. Tausend Dank!«

Dann war die Leitung tot. Die Mutter hatte aufgelegt. Alisa saß erst zitternd, dann heulend an ihrem Schreibtisch, bis sie schließlich ihre Stiefel und Jacke anzog und zum Laden ging. Sie kaufte das Doppelte von dem, was sie sonst für eine Fressattacke brauchte.

Die Gedanken rückten in den Hintergrund, zumindest solange der Kiefer genug zu kauen hatte und der Magen das Volumen fassen konnte. Dann erbrach Alisa alles, bereits in dem Wissen, sie würde sich gleich die zweite Portion einverleiben. Doch auch nach dem zweiten Fressanfall mit der anschließenden Reinigung ging es ihr nicht besser. Sie brauchte mehr, immer mehr. Sie musste noch einmal in den Laden. Das war so furchtbar peinlich, die Kassiererin würde sich fragen, was bei der Fetten eigentlich nicht stimmte. Sie würde wissen, dass sie kotzte. Welcher Idiot würde es denn nicht wissen, wenn er ein Mädchen zwei Tüten Chips, zwei Tafeln Schokolade und eine Flasche Cola Zero kaufen sieht? Was sollte man mit diesen Lebensmitteln sonst machen, als sie in sich hineinzustopfen und wieder herauszuwürgen?

Sie durfte auf keinen Fall vergessen, all die dummen Verpackungen zu entsorgen, bevor Mascha aus dem Fitnessstudio kam. Das wäre sonst die schlimmste Demütigung überhaupt. Die dünne Mascha trainiert drei Stunden im Studio, während die fette Alisa sich in derselben Zeit zehntausend Kalorien in den Magen stopft.

Am Ende ging alles gut. Bevor Mascha zurückkam, hatte sie das Bad geschrubbt, den Müll rausgebracht, Wäsche gewaschen, einen Teller voller Rohkost geschnippelt und einen Dip zubereitet, indem sie Magerquark (0,1% Fett) mit ein wenig Sprudelwasser verrührt hatte, was ihn cremiger machte ohne auch nur eine Kalorie mehr. Ein paar gefriergetrocknete Kräuter dazu und voilà, ein perfektes Dinner für sie und Mascha stand auf dem Tisch. Das Gute am Zusammenleben mit Mascha war, dass sie am Abend gesund essen konnte. Jede andere Freundin oder Feindin hätte gesagt, dass man was Richtiges essen sollte. Dieses Richtige hätte Fett und Kalorien bedeutet, im schlimmsten Fall wüsste sie noch nicht einmal wie viele. Ja, natürlich hatte sie ihre Fressattacken, die waren was anderes. Aber wenn Alisa aß, dann nur gesund. Sie aß nur die erlaubten Lebensmittel, kaufte sie in guter Qualität, zelebrierte die Zubereitung und genoss das Esserlebnis. Mit Mascha konnte sie das früher am besten. Jeden Bissen kauten sie so langsam und machten dabei so viele zustimmende Geräusche, dass man denken konnte, es handelte sich um eine Performance. Ja, zusammen konnten sie früher richtig genießen. Aber im Moment übertrieb Mascha, selbst für Alisas Geschmack. Sie aß nochmal extra gesund. So gesund, wie Alisa es nie schaffen würde. Seit Alisa die sechs Kilo abgenommen hatte, fühlte sich Mascha um so fetter. Nun wollte sie, sehr wohl wissend, dass sie bei jedem minimalen Gewichtsverlust zurück in die Klinik müsste, doch ein klein wenig abspecken, um sich selbst und Alisa zu beweisen, dass sie einfach unschlagbar war, wenn es ums Abnehmen ging. Jedenfalls aß Mascha zurzeit nur das Gesündeste vom Gesunden, und zwar Gurken. Gurken waren deshalb so unglaublich gesund, weil sie fast nur aus Wasser bestanden. Hundert Gramm Gurke enthält nur zwölf Kalorien.

Mascha aß von dem Dinnerteller also nur die Gurken und überließ das »Schlemmen« Alisa. Möhren zum Beispiel oder Paprika. Gerade rote Paprika sollte man nicht unterschätzen, was den Schaden angeht, den sie anrichten kann. Sie kommt auf ganze siebenunddreißig Kalorien pro hundert Gramm und enthält ganze 6,4 Gramm Zucker. Ja, Zucker! In einem sogenannten Gemüse. Das war einfach nur krank.

Alisa aß also alles außer den Gurken, denn sie wollte sie Mascha nicht wegfressen.

Sie erzählte Mascha nichts von der E-Mail und dem Telefonat mit ihrer Mutter. Mascha wäre eh nicht auf ihrer Seite. Sie war schon immer der größte Fan ihrer Mutter gewesen. Alisa freute sich und war stolz, dass ihre Mutter bei jedem Menschen der sie kennenlernte, Begeisterung hervorrief, aber manchmal war sie davon auch leicht genervt. Denn ihre Mutter hatte eine Seite, die nur sie selbst zu spüren bekam. Nie hätte sich jemand anderes vorstellen können, wie cholerisch sie sein konnte und wie wüst sie Alisa oft anschrie.

Alisa beschloss, einfach eine Nachtschicht einzulegen, drei bis vier Stellen im Internet herauszusuchen, die Bewerbungen zu schreiben, zweifach auszudrucken, in vier Briefumschläge zu stecken, zu frankieren und morgen früh an die potentiellen Arbeitgeber und das Amt zu schicken. Das Referat würde sie dann morgen Nacht machen. Mit viel Kaffee und Zigaretten würde sie den Tag schon überstehen.

3

»Was hast du nur für einen unerträglichen Charakter«, sagte Tanya, als sie am nächsten Tag telefonierten und Alisa ihr berichtete, die Angelegenheit mit den Bewerbungen für ihre Mutter erledigt zu haben.

»Du bist wie eine Kuh, die Milch gibt und dann den Eimer umkippt.« Das war ein russisches Sprichwort, welches Alisas Mutter oft benutzte, ohne sich jemals wirklich Gedanken über die Analogie zu machen.

»Manchmal will ich dich auch schon um nichts bitten, weil du es einem so schwer machst. Man fühlt sich, als würde man das Unmöglichste verlangen. Auch wenn dich die Sache am Ende nur eine Stunde kostet.«

Es hatte mehr als eine Stunde gekostet, doch Alisa wagte nicht den nächsten Streit zu provozieren.

»Wenn ich nicht so einsam und bedürftig wäre, würde ich dich nie bitten. Mich so zu erniedrigen, macht mir gewiss keinen Spaß.«

Dann beruhigte sie sich und erzählte Alisa von Isaacs Schwester und deren Kindern, die schon wieder eine Psychotherapie in Anspruch nehmen würden. Sie sagte, dass sie froh sei, dass Alisa das mit dem Kotzen wieder eingestellt hatte. Ja, sie sei wirklich froh, dass sie nun groß und vernünftig sei, und zwar ganz ohne die Notwendigkeit einer Therapie. Die bringe ja nichts. Beide machten ein paar Witze über Alisas alten Therapeuten.

Dann fragte Alisa nach dem Kleid, das ihre Mutter zu dem Jubiläum tragen wollte, und diese erzählte in aller Ausführlichkeit vom Schnitt, dem Stoff und der Ausstrahlung des Kleidungsstücks.

»Was für ein Kleid hast du denn zum Abiball getragen?«, fragte Alisa.

»Wir hatten keinen Ball, nur eine Abschlussfeier. Da hatte ich was Selbstgenähtes an«, sagte ihre Mutter.

»Hast du es genäht?«

»Nein, meine Mutter. Deine Babuschka Mina.«

»Ich wünschte, ich hätte sie kennengelernt«, sagte Alisa.

»Ja, das wäre nett gewesen«, sagte ihre Mutter und wechselte das Thema, bevor Alisa weitere Fragen stellen konnte. Das machte ihre Mutter immer so. Sie mochte es nicht, über früher ausgefragt zu werden.

»Das erzähle ich dir irgendwann, wenn der Moment kommt.«, pflegte sie zu sagen, oder: »Was zählt, ist morgen und nicht gestern.«

4

Es war Frühling geworden. Bald sollten die Abschlussfahrten der Leistungskurse stattfinden, doch Mascha würde nicht mitkommen. Sie hatte in den vergangenen Monaten erfolgreich acht Kilo abgenommen, war auf Grund lebensgefährlichen Untergewichts zusammengebrochen und lag mit einer Magensonde im Krankenhaus. Alisa fand, dass ihr die Magensonde irgendwie stand. Sie hätte es nie zugegeben, aber in Wahrheit wünschte sie sich, selbst dort zu liegen, ganz zart, nur pure, reine Knochen. Beide Eltern in Sorge vereint an ihrem Bett sitzend. Aber sie war nicht gut genug. So eine Magensonde musste man sich verdienen mit harter Arbeit und eisernem Willen. So eine Magensonde war nichts für fette, unkontrollierte Schweine, zu denen sie sich nun einmal zählte. Sie musste weinen, und weil Lena, Maschas Mutter, dachte, sie sei traurig, ihre Freundin in diesem schrecklichen Zustand zu sehen, nahm sie sie am Ellbogen und führte sie hinaus.

»Komm Alisa, komm, du musst dir das nicht stundenlang ansehen. Sie kriegt ja eh nichts davon mit, bei all den Medikamenten, mit denen die Ärzte sie beruhigen mussten.«

»Haben sie sie gewogen?«, fragte Alisa.

»Ja, haben sie«, sagte Lena, und nun sah Alisa, dass auch sie weinte. »Vielleicht schafft sie es diesmal nicht. Vielleicht …« Lena schluchzte laut, die Tränen strömten nun über ihre roten Wangen.

»Wie viel?«, fragte Alisa, die ebenfalls weinte.

»Was?«

»Wie viel Kilo?«

»Dreißig …« sagte Lena. Und Alisa fing umso heftiger an zu weinen, weil ihr klar war, dass sie bei ihrer Größe niemals diese Zahl erreichen würde. Mascha war gerade einmal 163cm groß, sie selbst 179. Eigentlich sogar 179,5, aber wenn sie 179 sagte, fühlte sich der Abstand zu der gefürchteten 180 etwas größer an.

»Ah, Alisachka, du bist eine so gute Freundin«, schluchzte Lena und hakte sich bei ihr ein, während sie auf dem langen, von Neonröhren beleuchteten Krankenhausflur Richtung Fahrstuhl spazierten.

»Nein, bin ich nicht«, sagte Alisa. »Es ist doch alles meine Schuld. Sie ist immer dünner geworden und ich habe nichts gemacht. Ich habe es gesehen, aber ich habe nicht gedacht, dass …«

Sie weinte noch heftiger, diesmal aber nicht aus Neid, sondern wegen der erdrückenden Schuldgefühle. Sie war nicht in der Lage gewesen, für Mascha zu sorgen. Sie hätte es sagen oder sich eben mehr um ihre Freundin kümmern müssen. Einfach mehr machen müssen. Aber sie war eine egoistische, fette Sau gewesen. Nun waren sie im Fahrstuhl, und Lena redete ihr gut zu, versicherte ihr, dass sie lieb und toll war und dass es einfach falsch gewesen war, Mascha zu glauben, dass sie selbstständig auf sich achten konnte.

»Sie wollte auf keinen Fall bei uns wohnen, und die Therapeuten haben sie auch noch dazu ermutigt. Sie schien so viel gesünder zu sein nach der Klinik, hatte so gut zugenommen, hatte rosige Wangen. Sie wollte Abitur machen. Das hatte sie uns allen so gesagt, und wir wollten ihr glauben. Du hast nichts falsch gemacht, Liebes, wirklich nicht. Wir konnten damals ja auch nichts tun. Niemand kann was tun. Das habe ich nun nach Jahren verstanden. Es ist in ihrem Kopf. Wir können da nichts machen.«

Gerne hätte Alisa all die Dinge aufgezählt, die Lena sehr wohl hätte machen können. Zum Beispiel ihre Tochter nicht auf Schritt und Tritt überwachen. Oder nicht alles über ihren Kopf hinweg entscheiden oder sie als Mensch und nicht nur als gescheiterte Ballerina zu sehen. Aber sie schwieg. Sie waren im Erdgeschoss, und Lena begleitete sie nach draußen.

»Ich bin froh, dass du gesund bist, Alisachka. Ein großes Glück ist das, wenn man gesund ist«, sagte Lena und umarmte Alisa.

»Ja«, sagte Alisa. »Wenn man gesund ist, ist es super.«

5

Die Kursfahrt zum Gardasee war für Alisa genauso wie alle Klassenfahrten, die sie jemals gemacht hatte. Sie hatte keine wirklichen Freunde, also hatte sie wie immer keine Ahnung, bei wem sie sitzen konnte. Am Ende saß sie dann vorn bei den Lehrern, was immer noch besser war als bei irgendeinem Loser, fand Alisa. Außerdem würde ihr hinten bei den coolen Leuten ohnehin kotzübel werden. Sie hatte es zwar nie ausprobiert, aber als sie einmal mit ihrer Mutter verreiste, war es so, und seitdem ermahnte ihre Mutter sie vor jeder Fahrt, bloß nicht hinten zu sitzen und vor allem vorher nichts zu essen, um nicht den »gesamten Bus vollzukotzen«. Dann wartete Alisa, bis sie einem Mädchenzimmer zugeteilt wurde. Niemand wollte sie wirklich dabeihaben, aber im Gegensatz zu früher sagte ihr das keiner mehr ins Gesicht. Dahingehend hatte Erwachsenwerden durchaus Vorteile. Die Leute behielten ihre Meinung für sich, hatten etwas mehr Anstand. Sie konnte sehr gut allein sein, meistens zeichnete sie, und ab und zu kam jemand vorbei, bewunderte ihre Kunst, sprach ein, zwei Worte mit ihr und ging wieder. Im Grunde wäre sie gerne Teil einer dieser Cliquen gewesen, in die sich ihre Stufe eingeteilt hatte. Sie schminkten sich zusammen, tauschten Klamotten, lästerten, lachten, erzählten von ihren ersten sexuellen Erfahrungen, umarmten sich, saßen beieinander auf dem Schoß, flirteten.

Eigentlich war die Fahrt nur weggeworfenes Geld und Zeitverschwendung dazu, denn es blieben nur noch wenige Wochen bis zu den Prüfungen. Ihre Mutter hatte schon recht, als sie ihr davon abriet. »Du wirst noch hunderte von Reisen in deinem Leben machen können, aber Abitur machst du nur einmal, und zwar jetzt!«, hatte sie gesagt.

Jetzt, nachdem diese blöde Fahrt überstanden war, musste Alisa sich ins Zeug legen. Es ging nur noch ums Abi und natürlich ums Abnehmen. Für den Abiball wollte sie wirklich richtig dünn sein. Ein wenig freute sie sich, dass Mascha nicht da sein würde, auch wenn sie sich für ihre Freude schämte. Sie hatte sich schon vorher überlegt, wie sie es anstellen sollte, auf dem Foto nicht neben Mascha zu stehen, um nicht im Vergleich zu ihr fett auszusehen. Nun war es kein Problem mehr. Wenn sie noch sieben oder mindestens fünf Kilo abnahm, würde sie sogar in das schöne Kleid ihrer Mutter passen.

Es waren noch sieben Wochen bis zu den Abiprüfungen. Alisa büffelte für die Prüfungen nicht nur, indem sie den gesamten Stoff der letzten zwei Jahre wiederholte. Nein, damit wäre es definitiv nicht getan. Sie holte sich in der Bibliothek zu jedem Fach alle