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Lana Lux

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Beschreibung

»Ein großes, ergreifendes Buch, bei dem ich mich so sehr nach einem Happy End gesehnt habe wie noch niemals zuvor.« Olga Grjasnowa. Ukraine, 90er Jahre. Große Party der Freiheit. Manche tanzen und fressen oben auf dem Trümmerhaufen der Sowjetunion, andere versuchen noch, ihn zu erklimmen. Auch Samira. Mit sieben Jahren macht sie sich auf die Suche nach Freiheit und Wohlstand. Während teure Autos die Straßen schmücken, lebt Samira mit ein paar anderen Kids in einem Haus, wo es keinen Strom, kein warmes Wasser und kein Klo gibt. Aber es geht ihr bestens. Sie hat ein eigenes Sofa zum Schlafen und eine fast erwachsene Freundin, die ihr alles beibringt. Außerdem hat sie einen Job, und den macht sie gut: betteln. Niemand kann diesem schönen Kind widerstehen, auch Rocky nicht. Er nennt sie Kukolka, Püppchen. Wenn Kukolka ihn lange genug massiert, gibt er ihr sogar Schokolade. Alles scheint perfekt zu sein. Doch Samira hält an ihrem Traum von Deutschland fest. Und ihr Traum wird in Erfüllung gehen, komme, was wolle... Lana Lux hat einen gnadenlos realistischen Roman über Ausbeutung, Gewalt und Schikane geschrieben, über ein Leben am Rande der Gesellschaft, geführt von einer Heldin, die trotz allem schillernder nicht sein könnte.

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Über Lana Lux

Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin.

Informationen zum Buch

»Ein großes, ergreifendes Buch, bei dem ich mich so sehr nach einem Happy End gesehnt habe wie noch niemals zuvor.« Olga Grjasnowa

Ukraine, 90er Jahre. Große Party der Freiheit. Manche tanzen und fressen oben auf dem Trümmerhaufen der Sowjetunion, andere versuchen noch, ihn zu erklimmen. Auch Samira. Mit sieben Jahren macht sie sich auf die Suche nach Freiheit und Wohlstand. Während teure Autos die Straßen schmücken, lebt Samira mit ein paar anderen Kids in einem Haus, wo es keinen Strom, kein warmes Wasser und kein Klo gibt. Aber es geht ihr bestens. Sie hat ein eigenes Sofa zum Schlafen und eine fast erwachsene Freundin, die ihr alles beibringt. Außerdem hat sie einen Job, und den macht sie gut: betteln. Niemand kann diesem schönen Kind widerstehen, auch Rocky nicht. Er nennt sie Kukolka, Püppchen. Wenn Kukolka ihn lange genug massiert, gibt er ihr sogar Schokolade. Alles scheint perfekt zu sein. Doch Samira hält an ihrem Traum von Deutschland fest. Und ihr Traum wird in Erfüllung gehen, komme, was wolle.

Lana Lux hat einen gnadenlos realistischen Roman über Ausbeutung, Gewalt und Schikane geschrieben, über ein Leben am Rande der Gesellschaft, geführt von einer Heldin, die trotz allem schillernder nicht sein könnte.

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Über Lana Lux

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Teil 1

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Teil 3

Impressum

Für Konstantin

und Rosalie

Teil 1

An den Anfang erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich erst, als ich so ungefähr fünf war. Es war 1993. Das habe ich mir später ausgerechnet. Denn 1995, kurz vor der Einschulung, sagten sie mir, dass ich sieben bin.

Ich habe das Gefühl, in meiner Kindheit war nur Winter. Ich erinnere mich an den riesigen kalten Schlafsaal und an die Metallbetten. Sie standen dort in unendlich vielen Reihen. Darin haben wir geschlafen. Nachts und auch mittags. Alles, was wir in dem Heim tun durften, war genau festgelegt. Auch das Schlafen.

Als Erstes sollten wir alle aufs Klo gehen. Dann mussten wir uns ausziehen und unsere Kleidung gefaltet abgeben. Wir durften nichts anbehalten, nicht mal die Unterhosen. Auch dann nicht, wenn die Heizung wieder mal ausgefallen war. Viele Kinder haben nämlich ins Bett gemacht, und damit nicht die ganzen Klamotten dreckig wurden, mussten wir alle nackt schlafen. Ich fand es absolut in Ordnung, dass die Kinder, die trotz der Bestrafung immer wieder ins Bett gemacht haben, nackt schlafen mussten. Aber viele von uns machten doch gar nicht ins Bett und mussten trotzdem alles ausziehen. Es waren übrigens immer dieselben, die ins Bett machten. Sie wurden von allen Stinker genannt. Ich weiß auch nicht, warum sie damit nicht aufhören wollten. Ich hätte es sofort gelassen, wenn ich danach so verdroschen worden wäre.

Auf jeden Fall mussten sich alle nackt machen zum Schlafen. Dann hatte man sich auf seine rechte Seite ins Bett zu legen, die Knie im rechten Winkel, beide Hände zusammen und unter die Wange geschoben, Augen zu und schlafen. Eine Erzieherin ging dabei immer durch die Reihen, und wenn irgendwer geflüstert, die Position verändert oder die Augen aufgemacht hatte, hörte man den dünnen Ledergürtel schlagen. Die Erzieherinnen sagten, dass es für uns wichtig ist, in genau dieser Position zu schlafen, denn auf der linken Seite ist das Herz, und es kann zerquetscht werden, wenn man sich darauflegt.

Ich wurde so gut wie nie geschlagen, weil ich mich richtig zu verhalten wusste. Ich war ja auch schon immer im Heim gewesen, deswegen war es für mich nicht so schwer, zu wissen, was richtig war und was nicht. Kinder, die später kamen, haben ständig alles falsch gemacht.

***

Marina war eine Neue. Ihre Eltern hatten sich getrennt, und weil die Mutter Alkoholikerin war, bekam der Vater das Sorgerecht. Aber nach kurzer Zeit war ihm das vermutlich zu viel. Er brachte Marina ins Heim und sagte, es ist nur für den Sommer, weil er viel arbeiten muss. Marina hat geglaubt, es ist wirklich nur für den Sommer. Sie hat am Anfang viel falsch gemacht. Sie wollte nicht, dass man ihr die langen Haare abschneidet, wollte mittags nicht auf der rechten Seite schlafen, wollte die Milch nicht trinken und noch viele andere Sachen. Die Erzieherinnen waren natürlich sauer und haben sie oft bestraft. Zuerst bekam sie nur die kleinen Strafen, zum Beispiel musste sie für den Rest des Tages auf der rechten Seite im Bett liegen, damit sie lernt, wie das geht. Aber als sie sich immer weiter weigerte und immer mehr heulte, wurden die Strafen doller.

Einmal wollte sie die Suppe nicht aufessen. Elena Wladimirowna haute ihr auf den Hinterkopf und sagte: »Wenn du das nicht aufisst, wirst du morgen überhaupt kein Essen bekommen.«

»Aber ich kann das nicht essen«, sagte Marina und heulte noch lauter.

Das war natürlich frech. Man hatte zu essen, was da war. Das war ein Gesetz. Elena Wladimirowna packte Marina am Arm und schleppte sie in den Waschraum. Dort musste Marina bis zum nächsten Abendessen in der Ecke stehen bleiben. Das lange Stehenbleiben fand immer in dem Waschraum statt, weil er auch am Boden gefliest war, und wenn die Kinder sich in die Hose machten, konnte man es mit einem Wasserschlauch leicht wieder saubermachen. Marina hat einfach nicht aufhören wollen zu heulen, und das machte die Erzieherin richtig wütend, deswegen stopfte sie ihr einen Lappen in den Mund.

Nachts, als alle schliefen, wurde ich wach und hörte ein leises Schluchzen aus dem Waschraum. Ich wusste, dass sie Hunger haben musste, weil sie es ja noch nicht gewohnt war, ohne Essen auszukommen. Ich hatte unter der Matratze immer Brotrinde für solche Fälle. Ich nahm zwei Stück raus, um sie Marina zu bringen, dann legte ich aber eins wieder zurück. Erstens war sie selber schuld. Zweitens war sie nicht meine Freundin. Ich hatte gar keine Freunde.

Ich ging in den Waschraum. Marina kauerte in der Ecke und zuckte zusammen, als sie mich bemerkte. Ich beugte mich zu ihr runter und nahm den Lappen aus ihrem Mund. Aber sie war schon so verängstigt, dass sie ihn sich sofort wieder reinstopfen wollte.

Ich musste kichern und sagte: »Die schlafen alle, hier, iss das, dann kannst du dir den Lappen wieder reintun, wenn du willst.«

»Was ist das?«

»Brot.«

»Das sieht gar nicht aus wie Brot. Sieht aus wie …«

»Hör mal, so wirst du hier nicht weiterkommen. Wenns dir nicht gut genug ist, dann bleib doch hungrig.«

»Doch, doch«, sie griff nach der trockenen Brotrinde und fing an, daran herumzukauen.

»Danke. Das ist sehr lieb«, sagte Marina.

»Du solltest dich hier besser anpassen. Wenn du dich an die ganzen Regeln hältst, dann bekommst du weniger Strafen.«

»Aber ich mach doch gar nichts. Wenn mein Vater wüsste, wie die hier zu Kindern sind, würde er mich sofort abholen. Wann wirst du eigentlich abgeholt?«

»Gar nicht.«

»Gar nicht?«

»Nein. Und du auch nicht.«

»Du bist blöd!«, sagte Marina. »Ich will dein dummes Brot nicht. Du blöde Zigeunerin!«

»Halt die Klappe!«

»Die anderen haben schon recht. Du bist ’ne blöde Zigeunerin!«

»Sei ruhig!«

»Sonst was? Du bist bloß neidisch, weil mein Papa mich abholen wird und dich niemand liebhat.«

Plötzlich ging das Licht an, und Elena Wladimirowna stand im Nachthemd und mit wilden schwarzen Haaren in der Tür.

»Was ist das hier für eine Versammlung?«, zischte sie durch zusammengepresste Lippen.

»Was hast du hier zu suchen, Samira? Was seid ihr Zigeuner nur für unerziehbare Viecher?« Sie schnappte sich ein Handtuch und schlug auf mich ein. Reflexartig machte ich mich ganz klein und bedeckte meinen Kopf. Das Handtuch knallte ein paarmal auf meinen Rücken, dann hörte sie auf, zog mich am Oberarm hoch und erlaubte mir, zurück ins Bett zu gehen.

»Darf Marina auch ins Bett gehen? Sie ist doch noch neu und so …«, sagte ich ganz leise und bereute es im gleichen Moment.

»Du bist wirklich unbelehrbar, was? Na, wenn du dich so sehr um sie sorgst, dann kannst du ja hier mit ihr zusammen schlafen. Und zwar noch drei weitere Nächte. Und ich will nichts hören, außer euer Atmen! Klar?«

Sie knipste das Licht aus und schloss die Tür. Ich saß eine Zeitlang einfach nur da. Den brennenden Rücken gegen die kalten Wandfliesen gelehnt. Finsternis vor den Augen. Aber nach und nach gewöhnten sie sich immer mehr an die Dunkelheit, und bald konnte ich alles sehen, was in dem Waschraum war. Manche Gegenstände schienen in der Dunkelheit wie verwandelt. Das Handtuch, das Elena Wladimirowna vorhin wieder akkurat auf den Haken gehängt hatte, sah nun aus wie eine alte bucklige Hexe. Der Schlauch in der Ecke wie eine Kobra.

»Siehst du auch die Hexe?«, fragte ich Marina.

»Wo?«

»Da.«

»Ich seh nichts.«

»Schau, die Nase, der Buckel …«

»Ja. Heftig.«

»Magst du auch das Nachtsehen?«

»Was ist das?«

»Wenn man in der Nacht die wahre Seele der Gegenstände sieht.«

Und wir fingen an, uns gegenseitig die verwandelten Dinge zu zeigen. Ich hatte vorher noch nie mit jemandem so viel Spaß gehabt wie mit Marina in dieser Nacht.

***

Das Nachtsehen wurde unser gemeinsames Ding. Es funktionierte auch tagsüber. Wir beobachteten Wolken, Wasserflecken auf der Decke, Dreck auf dem Boden, Maserungen im Holz. Uns war nie langweilig, und wir wurden beste Freundinnen. Gleichzeitig waren wir so unterschiedlich, wie zwei kleine Mädchen es nur hätten sein können. Marina war vorlaut und wollte niemandem gehorchen. Sie meinte alles besser zu wissen. Sie hielt sich für besonders hübsch und benahm sich wie eine kleine Prinzessin. Das machte sie nicht gerade beliebt bei den Erzieherinnen, umso mehr aber bei den Kindern, was mein Ansehen auch ein wenig steigerte. Seit ich mit Marina befreundet war, hatten die anderen fast aufgehört, mich zu beschimpfen und zu quälen.

Einmal lauerten mir aber zwei Mädchen wieder auf dem Klo auf.

»Baah, die stinkt!«

»Die hat Läuse!«

»Eklige Zigeunerin!«, schrien sie und fingen an, mich zu schubsen.

Ich versuchte mich irgendwie von ihnen zu befreien, aber sie waren stärker.

»Ich werde dich mal kämmen, du dreckige Zigeunerin. Halt sie fest, Anja! Halt sie fest!«

Anja verdrehte mir die Hände hinter dem Rücken und drückte mich mit aller Kraft nach unten. Meine schwarzen Haare fielen über den Kopf auf den Boden und wurden mit einer dreckigen Klobürste bearbeitet. Ich wehrte mich nicht, sondern ließ es über mich ergehen, bis sie damit aufhörten.

Als Marina zur Toilette reinkam, waren die beiden schon weg. Ich kniete auf dem Boden und versuchte die Klobürste aus meinen Haaren herauszufummeln.

»Waren es wieder diese blöden Fotzen?«, fragte Marina. Ich sagte nichts. Ich konzentrierte mich auf das nach Pisse und Scheiße stinkende Haarknäuel auf meinem Kopf.

»Warte, ich helfe dir«, sagte sie.

»Danke.«

»Wir müssen uns rächen. Das geht so echt nicht.«

»Lieber nicht. Das provoziert sie doch nur …«

»Du musst dich wehren. Verstanden?«

Ich nickte. In der Nacht schlichen wir uns dann an die Betten von Anja und Zhenja und schnitten ihnen die Haare ab.

Am nächsten Morgen gab es viel Trubel, Geschrei und Geheul. Sie wussten, dass wir es gewesen waren, aber wie sollten sie es beweisen? Den Erzieherinnen war das Ganze egal. Die restlichen Haare wurden kurz geschoren, damit es ordentlich aussah, und fertig.

Sie sahen natürlich absolut beschissen aus mit den kurzen Haaren. Wie zwei hässliche Jungs. Umso schlimmer war es für sie, weil wir am kommenden Samstag wieder »hohen Besuch« hatten.

***

An jedem letzten Samstag im Monat kamen Paare, um sich Kinder anzuschauen und eventuell eines zu adoptieren. Die Erzieher sagten, wir hätten es besonders gut, denn früher, zu Sowjetzeiten, gab es nie ausländische Paare. Heute kamen öfters welche aus Amerika, Frankreich, Deutschland und anderen reichen Ländern.

Die ganze Woche lang haben wir über nichts anderes als über die »Adoptiveltern« gesprochen. Wir nannten sie so, auch wenn sie noch niemanden adoptiert hatten. Alles wurde geputzt und geschrubbt, es wurde fleißig gemalt, und zwei Kinderlieder wurden einstudiert. Alle gaben sich die größte Mühe, optimal auf die Gäste vorbereitet zu sein, um eventuell das ganz große Los zu ziehen, nämlich von einem reichen Ehepaar adoptiert zu werden.

Es war das letzte Jahr vor der Einschulung. Wenn man jetzt adoptiert wurde, konnte man gleich zu einer normalen Schule gehen. Man hätte auch Eltern, und niemand würde ahnen, dass es nicht die echten sind. So dachte ich zumindest damals mit meinen sechs Jahren. Ich glaube, das dachten wir alle.

Auf unseren Bildern, die am Freitag an die Wand geklebt wurden, waren lauter Häuschen, Sonnen, Regenbogen, Schmetterlinge und Mama-Papa-Kind-Strichmännchen, die wir nach Anleitung der Erzieherinnen gemalt hatten. Damit sollten unsere potenziellen Eltern überzeugt werden.

Die meisten konnten nicht malen, und ich am allerwenigsten. Meine Hand machte nie das, was ich mir vorstellte. Marina dagegen hatte eine ganz andere Hand. Sie zeichnete wie eine Erwachsene, das war wirklich beeindruckend. Sie ließ es sich auch nicht verbieten, nackte Menschen zu zeichnen. Zum Beispiel zeichnete sie immer wieder den gleichen nackten Mann mit Schnurrbart und großem Pimmel, der nach oben zeigte. Zuerst wollten die Erzieherinnen Marinas Bilder gar nicht aufhängen, weil sie nicht kindlich genug waren, aber dann einigten sie sich darauf, ein Bild trotzdem zu zeigen, weil es ja schließlich auch ein großes Talent ist, was das Mädchen da hat, sagten sie.

Ich freute mich für Marina. Ich freute mich aber noch mehr über die zwei Lieder, die wir einübten. Seit ich denken kann, mag ich Singen. Meistens durfte man es nicht laut tun, weil es die Erwachsenen störte. Aber im Chor, da konnte ich endlich aus voller Kehle singen. Es war ein Gefühl, als hätte ich ganz lange die Luft angehalten und könnte nun endlich einen ganz tiefen Atemzug nehmen.

***

Am Samstag wurden wir nach dem Frühstück alle schick gemacht. Weiße Hemden, gebügelte Röcke, Schleifen in den Zöpfen. Gegen Mittag war die Spannung so groß, dass mir alles wie in Zeitlupe vorkam. Dann waren die Adoptiveltern endlich da.

Es waren drei Paare gekommen. Ein kleines, ein großes und ein deutsches. Die Deutschen waren ganz anders als die russischen Paare. Der Mann und die Frau sahen sich ähnlich. Sie hatten beide die gleichen Poloshirts an. Sie in hellem Grün, er in hellem Blau. Das Besondere war aber, dass beide einen Pullover über den Schultern trugen und die Ärmel vorne verknotet hatten. Ich dachte nur – Wow! Wer von denen adoptiert wird, hat es bestimmt noch besser als bei echten Eltern. Sie hatten eine junge Frau dabei, die ihnen alles übersetzte.

Es gab eine Führung durch die Räume unserer Gruppe. Zuerst der Vorraum mit den kleinen Spinden, in denen wir unsere privaten Sachen aufbewahrten. Ich hatte zwar wenig Kleidung, dafür aber einige Schätze, bestehend aus einer knolligen Wurzel, einem Glassteinchen und einigen duftenden Bonbonpapierchen. Manche hatten sogar Briefe oder Postkarten, und ganz, ganz wenige hatten auch eigenes Spielzeug oder Bücher. Eigentlich gab es nur einen einzigen Jungen, der ein eigenes Buch besaß, und ein einziges Mädchen, das ein eigenes Kuscheltier hatte. Dieses Kuscheltier hatte sie immer bei sich. Sie legte es nie in den Schrank und hatte es noch nie jemandem ausgeliehen.

Nachdem den Gästen unsere Spinde und die darin herrschende Ordnung präsentiert worden waren, ging es in den großen Gruppenraum. An der Fensterseite standen die Tische und Stühle, an denen wir lernten, bastelten und malten. Die andere Hälfte des Raumes war zum freien Spielen und für Gruppenaktivitäten da. Links um die Ecke waren der Waschraum und dahinter die Toiletten, die zwar mit einer dünnen Pappwand voneinander getrennt waren, jedoch keine Türen hatten. Der letzte Raum war der kalte Schlafsaal mit den vielen Betten.

Während der Führung sollte jeder an seinem Platz sein und ordentlich sitzen. Auch das ordentliche Sitzen war genau festgelegt. Gerader Rücken, Knie und Füße zusammen, Unterarme aufeinander- und vor sich auf den Tisch gelegt. In dieser Position fing mich immer irgendetwas an zu jucken. Je mehr ich versuchte, mich nicht zu bewegen und vor allem nicht zu kratzen, umso schlimmer wurde es.

Irgendwann war die Führung für die Adoptiveltern beendet, und wir wurden aus unserer eingefrorenen Position erlöst. Alle gingen zu der Spielfläche und stellten sich im Kreis für das Spiel Karavai Karavai auf. Ein Kind sollte in die Mitte des Kreises. Dann gingen alle um dieses Kind herum und sagten: »Karavai, Karavai, du kannst wählen, wen du willst.« Dann sagte das Kind in der Mitte: »Ich liebe natürlich alle, aber Hmhmhm mehr als alle.« Und statt Hmhmhm sollte es einen Namen sagen. Dann kam das ausgewählte Kind in die Mitte, und die beiden drehten sich. Dann sollte das erste Kind zurück in den Kreis, und das neue Kind durfte jemanden aussuchen. Ich mochte das Spiel eigentlich nicht, weil ich nie ausgesucht wurde.

Wir stellten uns also auf, und zufällig war ich neben dem deutschen Mann gelandet. Alle fassten sich an den Händen. Er streckte mir seine Hand entgegen. Sehr groß, rau und warm. Meine kleine dunkle Hand verschwand komplett in seiner. Er roch nach Seife und Minze und Parfum. Er roch reich.

Er lächelte und fragte mich irgendwas auf Deutsch, aber ich verstand es nicht und schaute verschämt auf den Boden. Was hatte er wohl gesagt, fragte ich mich später immer wieder. Was wäre gewesen, wenn ich zurückgelächelt hätte? Hätte ich doch einfach gesagt, dass ich es nicht verstehe. Vielleicht hätten die Deutschen dann mich adoptiert. Immerhin hatte der Mann mich angelächelt. Wahrscheinlich hätten sie mich aber auch so nicht genommen. Weil ich eine Zigeunerin bin.

Jedenfalls adoptierten sie am Ende Marina. Sie hatte beim Spiel die deutsche Frau ausgewählt, zu ihr in die Mitte zu kommen, und die Frau war ihr sofort verfallen, der hübschen rothaarigen Marina. Sie hatte es einfach drauf.

***

Es dauerte ein halbes Jahr, bis die Deutschen wiederkamen und Marina abholten. In diesen sechs Monaten schickten sie ihr jede Woche einen Brief und jeden Monat ein Paket. Jedes dieser sechs Pakete machte Marina mit mir zusammen auf. Da waren unglaubliche Sachen drin. Kekse, Bonbons in den buntesten Farben, Kaugummis, Kinderüberraschungseier, Gummibärchen und Schokolade mit einer lilafarbenen Kuh drauf. Einmal sogar ein Jogginganzug. Grau und innen ganz weich. Im letzten Päckchen war eine echte Barbie.

Marina ist in dieser Zeit zu so etwas wie einem Superstar mutiert. Die anderen Kinder wollten immer etwas von den leckeren Sachen abhaben, den Anzug innen drin streicheln oder mal die Barbie halten. Manche fingen auch an, Marina doof zu finden, weil sie selten etwas abgab, und wenn, dann musste man im Gegenzug etwas für sie tun. Zum Beispiel die Haut von ihrer Milch essen, ihren Putzdienst machen oder irgendjemanden schlagen, den sie nicht mochte. Mir gab sie aber immer was ab. Ich durfte auch oft mit der Barbie spielen und manchmal sogar die graue Hose von dem Jogginganzug tragen. Einmal, als wir zusammen die Schokolade aßen, musste ich weinen.

»Was ist denn?«, fragte Marina.

»Sie ist so lecker«, schluchzte ich.

»Wer?«

»Die Schokolade.«

»Und was gibts da zu heulen?«

»Du bist bald weg, und ich werde nie wieder so eine essen.«

»Quatsch. Ich schick dir eine.«

»Die anderen würden sie mir eh wegnehmen.«

»Dann werde ich meinen Eltern sagen, dass sie dich auch adoptieren sollen. Das wäre eh das Beste.«

»Das werden die nie tun.«

»Hab ich dich je im Stich gelassen? Ich werd das schon machen. Jetzt hör auf zu heulen.«

Eine Woche später wurde Marina abgeholt. Sie hatte zwei Plastiktüten gepackt. Die eine mit ihren Sachen, die andere mit dem Rest der Süßigkeiten, die sie gebunkert hatte.

Wir umarmten uns, und sie flüsterte mir ins Ohr: »Das wird schon. Vertraue mir.« Dann drückte sie mir die Tüte mit dem Essenskram in die Hand und ging durch die Glastür. Ich stand da, umklammerte die zerknitterte Plastiktüte und starrte die Tür an.

***

Der Sommer ging zu Ende und mit ihm die Süßigkeiten in der Tüte. Ich redete kaum mit den anderen Kindern, und auch sie ließen mich meistens in Ruhe. Jeden Tag fragte ich die Erzieherin, ob Post für mich gekommen ist. Jeden Tag schnalzte sie genervt mit der Zunge und schüttelte den Kopf.

Am ersten September passierten gleich zwei große Dinge. Ich wurde eingeschult und bekam ein Paket. Das erste in meinem ganzen Leben.

Eine ganze Zeitlang kniete ich vor dem Paket und versuchte mir vorzustellen, was wohl drin war. Dann holte ich eine kleine Schere und schnitt fein säuberlich das Klebeband durch.

Ganz oben lag der graue Sportanzug, den ich schon so oft gestreichelt hatte, darin war die Barbie eingewickelt, und darunter ein Brief.

Ich holte das feste Papier aus dem Umschlag, roch an den kleinen Rosen, die in die rechte Ecke gedruckt waren, und schaute mir die Buchstaben und Wörter an. Ich konnte nicht lesen. Ein älteres Kind, das lesen konnte, kannte ich nicht. Also blieb mir nichts anderes übrig, als Elena Wladimirowna zu fragen.

Widerwillig, aber auch durchaus neugierig, nahm sie mir den Brief aus der Hand und las ihn mir vor:

Liebe Samira,

herzlichen Glückwunsch zur Einschulung. Jetzt sind wir fast erwachsen. Wie ist es so bei euch? Was lernt ihr? Gibts Hausaufgaben? Bekommt ihr Noten? Lassen die anderen dich in Ruhe?

Hier fängt die Schule früher an. Mein erster Schultag war am 14. August, und so wie ich das verstanden habe, kann das jedes Jahr anders sein.

Meine Eltern sind total toll und haben mir ganz viele Sachen gekauft. Ich habe einen coolen Rucksack bekommen, der ist sehr fest und bunt. Er ist von Scout. Das ist hier wichtig. Darin sind Dinge, die ich vorher nie gesehen habe. Ein großes Etui mit Fächern zum Ausklappen. Darin wiederum sind viele kleine Fächer und Schlaufen, in die alles Mögliche, ganz ordentlich, reingesteckt werden kann. Zum Beispiel ein durchsichtiges Dreieck aus Plastik, unterschiedliche Stifte zum Schreiben, Malen, Unterstreichen und Zeichnen, und sogar ein Extrafach für den Stundenplan. Außerdem waren da noch einige kleine Gummis, ähnlich wie die aus der Bonbonpackung, die damals in dem Paket aus Deutschland waren. Weißt du noch? Jedenfalls waren die ganz bunt und rochen nach Apfel und Himbeere. Ich habe ein Stückchen abgebissen und fing an, daran rumzukauen. Da hat meine Mutter mir das Stückchen sofort aus dem Mund gerissen und wurde richtig panisch vor Sorge, mir könnte irgendwas passieren. Mein Vater versuchte sie zu beruhigen und erklärte mir, dass die Gummis zum Radieren sind und nicht zum Essen. Kannst du dir so etwas vorstellen? Radiergummis mit Geruch! Es ist wirklich phantastisch hier. Ich wünschte, du könntest jetzt schon hier sein. Mein Zimmer ist auf jeden Fall groß genug für uns beide. Ich denke, meine Eltern wollen dich bald holen. Sie haben mir sogar so ein Bett gekauft, wo sich unten noch ein zweites Bett rausschieben lässt. Und meine Mutter meinte, dass es praktisch wäre, falls eine Freundin bei mir schlafen will. Freust du dich?

Ich umarme dich und freue mich schon auf dich!

Deine Marina

PS: Den Brief hat eine Frau für mich geschrieben, die Russisch in der Schule hatte. Meine Eltern haben sie für mich geholt. Sie erfüllen mir wirklich jeden Wunsch!

PPS: Hoffe, dass die Geschenke dir gefallen. Ich habe so viele neue Sachen bekommen, dass ich diese an dich abgeben kann. Pass gut auf sie auf und lass dir nichts klauen!

Ich war noch wie hypnotisiert von den Worten und Bildern, die sich in meinem Kopf ausbreiteten, als Elena Wladimirowna den Brief wieder faltete und unter die Schreibunterlage ihres Tisches schob.

»Kann ich den Brief bitte wiederhaben?«, fragte ich und hörte mich kaum selbst.

»Du kannst ihn eh nicht lesen. Geh.«

»Aber … aber … es ist doch mein Brief.«

»Ich habe ihn dir doch vorgelesen, du undankbares Stück. Jetzt geh.«

»Ich möchte ihn aber haben.«

»Den Brief werde ich hierbehalten. Fertig.«

Sie lachte ihre Hexenlache, stand von ihrem Tisch auf und ging weg.

***

Ich wurde wach, weil Elena Wladimirowna mich mitten in der Nacht an den Haaren aus dem Schlafsaal zerrte. Meine nackten Füße schafften es kaum, so schnell zu laufen, sie stolperten und schleiften über den Betonboden und stießen an Bettkanten, Fußleisten, Stuhlbeine und was sonst noch im Weg war. Dann wurde ich in den Waschraum geschleudert, und sie richtete den Wasserschlauch auf mich. Das kalte Wasser trat aus dem Schlauch und verwandelte sich in Tausende Messer, die durch den Raum flogen und sich in mein Fleisch bohrten. Ich machte mich ganz klein und fest. So wie immer. Und stellte mir vor, die Messer würden einfach an mir abprallen.

»Steh auf, du Miststück«, sagte Elena Wladimirowna mit müder Stimme. »Ihr Zigeuner seid wie Tiere. Nein, wie Insekten. Ein normales Kind hätte zumindest geweint … Aber so eine Zigeunermissgeburt wie du …«

Ich stand an die Wand gedrückt und hörte immer weniger von ihren Worten. Das Wasser lief von meinen Haaren über mein Gesicht und tropfte von der Nase auf die Fliesen. Das Tropfen ergab einen Rhythmus, in den ich für einen Moment vollkommen hineinsinken konnte. Als sie mir mit einem Handtuch ins Gesicht schlug, wurden ihre Worte wieder lauter: »… das Klauen liegt euch Zigeunern im Blut, aber das werde ich dir schon abgewöhnen, das sag ich dir! Die Nacht verbringst du hier. Morgen will ich den Brief wieder auf meinem Tisch sehen. Genau dort, wo du ihn geklaut hast! Sonst gnade dir Gott, das sag ich dir, das sag ich dir!«

Eine Zeitlang blieb ich im Waschraum sitzen und betrachtete die Wasserpfütze, die sich wie ein großes Krokodil über den Boden streckte. Ich fragte mich, ob es in Deutschland wohl Krokodile gibt. Versuchte mir vorzustellen, wie sie in großen Fontänen schwimmen. Irgendwann stand ich auf, ging auf Zehenspitzen aus dem Waschraum raus, an dem kleinen Zimmer vorbei, in dem Elena Wladimirowna schnarchte, hinein in den kalten Schlafsaal zu meinem Bett. Dort trocknete ich mich mit dem Laken ab und zog mir eine Unterhose, ein T-Shirt und den weichen grauen Jogginganzug an, die unter meiner Matratze versteckt waren. Das war eigentlich kein sicheres Versteck, weil viele Kinder ihre Lieblingssachen und vor allem Unterwäsche unter der Matratze bunkerten. Dann holte ich den Brief und die Barbie aus meinem Kopfkissenbezug hervor, schlich zurück in den Flur und zog mir die Schuhe an. Ganz kurz überlegte ich, ob Elena Wladimirowna wohl recht haben könnte, dass ich das Klauen im Blut habe. Wenn das eh so ist, könnte ich einfach die Schuhe von Katja anziehen, die sind schöner, dachte ich.

Aber dann ließ ich es sein. Vielleicht um Elena Wladimirowna eins auszuwischen. Vielleicht weil ich es doch nicht im Blut hatte. Ich weiß nicht. Aus meinem Schrank holte ich die ordentlich gefaltete Plastiktüte, legte die Barbie und den Brief rein und wickelte es zu einem kleinen Päckchen ein. Die Glassteinchen, Bonbonpapierchen und die knollige Wurzel ließ ich da. In Deutschland werde ich sie eh nicht brauchen, dachte ich.

Ich ging die Treppe runter. Der Hausmeister schlief in seinem Glaskasten. In der Tür steckte der Schlüssel. Ich drehte ihn um und ging raus. Einfach so. Ich hätte nicht gedacht, dass es so leicht war.

***

Obwohl ich nichts außer dem Heim kannte, hatte ich keine Angst, es zu verlassen. Ich hatte auch keine anderen Gefühle. Keine Freude, nicht mal Aufregung. Ich hatte einfach beschlossen, rauszugehen, zum Bahnhof zu fahren und dann einen Zug nach Deutschland zu Marina zu nehmen. Damals hatte ich keinen Schimmer davon, wie lächerlich und absurd mein Vorhaben war.

Mit stolzen, schnellen Schritten ging ich die dunkle Straße entlang. Die Plastiktüte mit meinem Besitz presste ich mit beiden Armen fest an die Brust. Ich zählte die Laternen an den Fingern ab, um zu wissen, wie weit ich schon vom Heim entfernt war. Umdrehen darf man sich nicht. Auf gar keinen Fall. Jeder Dummkopf weiß, dass wenn man sich umdreht, irgendwas Schlimmes passiert und man wieder dort landet, von wo man weggegangen ist.

Ich ging also einfach immer weiter, bis die schmale Straße, in der sich unser Heim befand, eine breite Allee kreuzte. Ein kleines Stück weiter, hinter dem Lebensmittelladen, befand sich die Bushaltestelle. Den Weg hatte ich mir gemerkt, als wir einmal einen Ausflug in den Zirkus gemacht haben. Weil ich damals recht wenig vom Leben verstand, ging ich davon aus, dass es in dieser riesigen Stadt, in der ich mich befand, nur einen einzigen Bus gab, und der fuhr einen dorthin, wo man eben hinmusste.

Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber es war noch dunkel draußen, und es fuhren keine Busse. Ich kauerte mich auf die kaputte Bank und beschloss zu warten. Ich bemühte mich, wach zu bleiben, damit mir nichts geklaut wird, aber ich schlief ein. So ziemlich sofort. Als ich wach wurde, hielt gerade der Bus. Ich sprang auf, die Tüte immer noch an mich gedrückt.

»Ich will zum Bahnhof. Bitte.«

»Ich fahr nicht zum Bahnhof«, sagte der dicke Busfahrer.

»Aber ich muss dahin.«

»Bin ich ein Taxi, oder was? Ich fahr nicht hin, hab ich gesagt.«

»Aber Sie sind doch der Busfahrer …«

Eine junge Frau drängelte sich an mir vorbei, gab dem Fahrer Geld, bekam ein Zettelchen und setzte sich.

»Hör mal, bist du irgendwie dumm? Dieser Bus fährt nicht zum Bahnhof.«

Ich stieg aus. Die Türen gingen quietschend und krächzend zu, der Bus fuhr weg. Erst da wurde mir klar, wie klein und hilflos ich eigentlich war. Es war schon hell, aber immer noch kühl. Ich holte meine Barbie hervor, und wir überlegten zusammen, was zu tun war.

»Ich habe Angst«, sagte die Barbie.

»Ich kann dich beschützen«, sagte ich.

»Aber es ist zu gefährlich.«

»Noch ist nichts Schlimmes passiert. Und im Heim war es auch nicht gerade nett.«

»Ja, aber da kannten wir uns zumindest aus. Wir haben keine Ahnung von dem, was hier abgeht.«

»Deswegen müssen wir ja nach Deutschland zu Marina. Dann sind wir nicht mehr allein. Und sie kennt sich saugut aus.«

So ging das hin und her mit uns, als plötzlich ein Auto anhielt, das Fenster heruntergekurbelt wurde und ein Mann mich heranwinkte.

»Ja?«

»Wo willst du denn hin?«

»Zum Bahnhof.«

»Wie alt bist du denn?«

»Zehn«, log ich.

»Du siehst mir wie höchstens sieben aus … Wissen deine Eltern, wo du bist?«

»Ähm …«

»Oder bist du etwa von zu Hause abgehauen?«

»Meine Eltern sind getrennt, und mein Vater ist gemein zu mir gewesen. Und ich will zu Mama, und Mama hat gesagt, ich kann zu ihr kommen … aber sie wohnt ganz nah am Bahnhof, und da muss ich jetzt irgendwie hin …«, sprudelte es aus mir heraus. Ich war selbst erstaunt über diese Lüge, denn sonst war meine Zunge selten schneller als mein Denken. Das war eher eines von Marinas Talenten.

»Steig ein, ich bring dich hin.« Der Mann schien mir die Geschichte abzukaufen. Ich stieg ein.

»Hast Glück, dass ich in die gleiche Richtung muss. Ist nämlich ein ganzes Stück von hier. Und dein Vater war mies, ja? Hat er gesoffen? Säufer sind eh mies. Versteh mich nicht falsch, es können die herzlichsten Menschen sein, aber wenn sie saufen, dann ist es vorbei. Dann werden sie zu Monstern. Meiner war auch ein Säufer. Hat mich verprügelt, bis ich grün und blau war. Aber wenn er dann mal nüchtern war, hat er mir Sachen geschenkt und ist mit mir angeln gefahren und sowas. Ist deiner mit dir zum Angeln gefahren? Na ja, du bist ein Mädel, du stehst auf andere Sachen … Zehn bist du, ja? Also, ich weiß nicht, mit zehn ist man doch heutzutage schon mehr so … na ja, nicht immer, aber manchmal schon mehr so …« So ging es die ganze Fahrt, er redete und redete, und irgendwann hörte ich ihm gar nicht mehr zu und schlief ein.

»Hey, wach mal auf«, er strich mir über die Wange.

»Was?«

»Hier ist schon der Bahnhof. Wo wohnt deine Mutter?«

»Ähm …«

»Wie heißt die Straße?«

»Die Straße heißt … ich kann von hier gut laufen. Ich weiß, wo es ist.«

»Na gut. Brauchst du Geld oder so?«

»Was?«

»Na ja … hier, nimm das einfach mal, du hübsches kleines Ding, du.«

Mit dem zerknüllten Schein in der einen Hand und der Plastiktüte in der anderen, stieg ich aus. Das Auto fuhr weg, und ich blieb auf dem Bürgersteig zurück. Es war schon ziemlich heiß geworden. Die Luft war trocken und schmeckte nach Staub. Viele Menschen mit Taschen, Tüten, Koffern und Bündeln gingen, rannten und drängelten an mir vorbei. Autos hupten. Zwei Straßenhunde bellten, an der Mülltonne saß ein alter Mann ohne Beine und ohne Zähne und spielte Akkordeon. Eine dicke Frau mit weißen Haaren und großen Fettflecken auf der Schürze schrie: »Piroschki, frische Piroschki.« Eine dünne alte Oma lag bewegungslos auf einer Bank.

Meine Augen brannten, die Haut spannte am ganzen Körper, und ein Loch im Bauch hatte ich auch. Ich schaute, dass niemand guckte, dann faltete ich den feuchten, warmen Geldschein auseinander. Ein älterer Mann mit einem langen Schnurrbart, buschigen Augenbrauen und einem strengen, aber wissenden Blick war darauf zu sehen. Mir war klar, dass ein Schein mit so einem Mann drauf viel wert sein musste. Ich überlegte, was ich mit dem vielen Geld alles anstellen könnte.

Zuerst werde ich mir eine von diesen frischen Piroschki kaufen. Oder gleich mehrere, für die Fahrt. Und dann noch das Ticket für den Zug. Und vielleicht noch irgendwas für Marina. Es wäre irgendwie blöd, ohne ein Geschenk bei ihr anzukommen. Und für ihre Eltern vielleicht auch irgendwas. Aber was? Auch Piroschki? Warum nicht?, dachte ich und ging zu dem Stand.

»Piroschki. Bitte«, sagte ich.

»Wie viele?«, fragte die dicke Frau.

»Für mich, für Marina und für ihre Eltern.«

»Also?«

»Für mich, für Marina und für ihre Eltern«, wiederholte ich.

»Kannst du nicht zählen, oder was?«

An den Fingern zählte ich uns alle ab und hielt stolz vier Finger in die Luft.

Sie schüttelte den Kopf.

»Soso, diese Kinder heutzutage … alles geht den Bach runter in diesem Land. Großes Kind, kann nicht zählen. Was zeigst du mir da? Vier, oder was?«

Ich nickte.

»Gut. Zwanzig Griwni.«

Ich streckte ihr den Schein entgegen. Sie fing an, sich furchtbar aufzuregen, und ihr großer runder Kopf wurde immer röter. Ich verstand zwar überhaupt nicht, was los war, wusste aber, dass man in solchen Fällen am besten abhauen sollte, bevor etwas Schlimmeres passierte.

Ich kehrte wieder zu dem Baum zurück, an dem ich aus dem Auto gestiegen war, und überlegte, wie ich über diese breite Straße mit all den Autos und Bussen zu dem Bahnhof rüberkommen sollte. Meine vielen Versuche blieben ohne Erfolg. Mehrmals wurde ich fast von einem Auto erwischt. Auf das laute Hupen wurde schließlich eine Frau aufmerksam. Sie nahm mich an der Hand und führte mich zügig über die Straße. Dann zeigte sie mir, wo der Eingang zum Bahnhof war, erklärte mir, wie ich zu den Schaltern komme, und eilte auf ihren hohen Stöckelschuhen davon.

***

Die Bahnhofshalle war dunkel und kühl. In der Mitte standen viele Sitzbänke. Manche Menschen saßen und manche lagen darauf. Rechts vom Eingang waren die Schalter, so wie die Frau auf Stöckelschuhen es gesagt hatte.

Ich stellte mich hinter den alten Mann, der als Letzter in der Schlange war. Links vor dem Schalter saß eine junge Frau mit ihrem Baby auf dem Boden. Sie hatte genau solche schwarzen Haare und eine genauso dunkle Haut wie ich. Das Baby nuckelte an ihrer Brust, und man konnte ein Stück von ihrer großen dunklen Brustwarze sehen. Vor ihr standen ein Schild und eine Plastikschüssel mit sehr vielen Geldstücken.

Der alte Mann vor mir lehnte jetzt an der hohen Theke und sprach durch das Glas, hinter dem eine hübsche blonde Frau mit großen pinken Lippen war. Fast wie meine Barbie. Nur nicht ganz so schön. Er legte ihr Geld hin, bekam sein Ticket und ging weg. Dann war ich endlich dran. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und versuchte, meinen Hals so lang wie nur möglich zu strecken, um mit der Dame hinter dem Glas reden zu können.

»Ich will nach Deutschland. Bitte.«

»Ja, viele wollen das … Ich hätte auch nichts dagegen, Kleine …«, sagte die Frau mit den pinken Lippen.

»Ich will nach Deutschland. Da ist meine Freundin.«

»Na ja, dann bist du dem Traum schon mal näher als ich, Süße.« Sie lachte, warf dabei ihren Kopf in den Nacken, und ihr großer pinker Mund wurde noch größer. »Hör mal, Kleine, du bist wirklich zu süß, aber ich muss hier weiterarbeiten. Hinter dir sind Menschen, die wollen ein Ticket kaufen, weißt du? Es wäre besser, du gehst jetzt wieder zurück zu deiner Mami, ja?«

»Ich bin nicht klein, und ich will auch ein Ticket kaufen. Ein Ticket nach Deutschland!« Demonstrativ holte ich meinen Geldschein hervor, hob ihn mit ausgestrecktem Arm hoch über den Kopf und knallte ihn auf die Theke.

»Ah, Mäuschen, wie süß, davon solltest du dir lieber ein paar Bonbons kaufen. Für mehr reicht es ja eh nicht. Wie niedlich, mit fünf Griwni nach Deutschland. O Gottchen. Ich kann einfach nicht mehr.« Ihr blödes Lachen wurde immer lauter und ihr fetter pinker Mund immer hässlicher.

»So, Mädchen, das reicht mal, wir haben ja hier nicht ewig Zeit«, schob mich eine ältere Frau einfach beiseite.

Eine Weile stand ich nur da und sah mir die vielen unterschiedlichen Menschen an, die sich ein Ticket zu ihrem Traumort kauften. Dann hatte ich genug davon, setzte mich auf eine freie Bank und dachte nach. Schließlich hatte ich die Lösung. Geld. Ich brauchte viel Geld.

***

Es war Mittag geworden. Ich saß immer noch in der Bahnhofshalle mit meiner Plastiktüte, meinen fünf Griwni und einem mittlerweile unerträglichen Hunger. Ich überlegte, was es im Heim wohl gerade zu essen gab. Überlegte, ob sie bemerkt hatten, dass ich nicht da bin? Ob sie mich suchten? Ob sie wussten, dass ich bald in Deutschland sein würde? Ob sie mich drum beneideten? Und dann dachte ich nur noch: Hunger, Hunger, Hunger, Hunger, Hunger …

Ich wollte nichts von meinem Geld ausgeben, also überlegte ich, die schwarzhaarige Frau mit dem vielen Geld in der Schüssel zu fragen.

Sie saß, genauso wie ich, seit Stunden in der Bahnhofshalle. Das Baby hielt sie mal auf dem Schoß, mal an der Brust, mal legte sie es auf ein Tuch auf dem Boden.

Mit vorsichtigen Schritten ging ich zu ihr rüber. »Ich habe Hunger und nur wenig Geld. Würden Sie mir vielleicht was von Ihrem abgeben? Bitte«, fragte ich sie ganz höflich.

»Biste irgendwie dumm oder so was? Was glaubst du, was ich hier eigentlich mache? Hä? Verpiss dich mal, du kleine Schlampe, bevor ich dich zusammenschlage. Geh woanders betteln, du Fotze! Da sitzt man hier den …«

Ich hörte ihr Schreien und Fluchen immer noch, auch als die schwere Tür der Bahnhofshalle hinter mir zuschlug.

***

Die Mittagshitze war unerträglich. Der Asphalt schien zu glühen, und während ich auf den Eingangsstufen saß, konnte ich eine Art Dampf sehen, der von der Erde hochstieg. So als ob wir alle in einer riesigen Pfanne gebraten werden würden. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich fing plötzlich an zu heulen und konnte mich gar nicht mehr einkriegen. Da beugte sich ein Mann zu mir runter, streckte mir ein Bonbon hin und fragte: »Willst du?«

»Mhh.« Ich griff danach, packte das leicht geschmolzene Karamell aus der knisternden roten Folie aus und stopfte es mir in den Mund.

»Du bist nicht so die Genießerin, hm?«, fragte er mich mit einem schiefen Lächeln im Gesicht. In seinem Mundwinkel steckte eine Zigarette. Später habe ich ihn nur äußerst selten ohne diese Zigarette im Mundwinkel gesehen.

»Ich bin Rocky.« Er ließ sich schwerfällig neben mich auf die Stufen runter und streckte mir eine ganze Tüte mit diesen köstlichen Bonbons entgegen: »Willst du noch mehr?«

Ich langte zu. Erst etwas zögerlich, doch dann immer hemmungsloser zog ich die Bonbons aus der Tüte, knibbelte das Papier ab und schob mir mehr und mehr von der klebrigen süßen Masse zwischen die Zähne. Irgendwann war in meinem Mund ein riesengroßer Knebel aus himmlischem zuckersüßen Karamell.

Rocky fing plötzlich an zu lachen. Ich wusste nicht genau, warum, lachte aber auch. »Zumindest hab ich dich ein bisschen aufgeheitert«, sagte er.

»Mhh …«, ich kämpfte immer noch mit der Masse in meinem Mund.

»Mit wem bist du denn eigentlich hier?«

Ich vermied es, ihn anzugucken. Zuckte mit den Achseln und kratzte mir Karamell von den Backenzähnen.

»Bist du abgehauen?«

»Weiß nicht.«

»Na, was gibts da zu wissen. Wissen deine Eltern, wo du bist, oder biste abgehauen?«

»Hab keine Eltern.«

»Heimkind?«

»Mhh.«

»Also abgehauen.«

Ich spürte, wie meine Arme und Beine plötzlich ganz weich wurden und es in meinen Ohren zu pochen begann.

»Hey, Süße, du wirst ja ganz blass.« Er strich mir mit seiner rauen Hand über die Wange.

»Na, du musst doch keine Angst haben. Vor mir doch nicht. Ich verpfeife dich schon nicht. Du, ich kann dich besser verstehen, als du denkst. Bin selbst auch ein Heimkind gewesen, weißt du?«

»Auch im Sonnenschein?«, purzelte es aus mir heraus.

»Nee«, er lachte heiser, »nee, nee, das war gar nicht in der Ukraine. In Georgien. Aber ein Heim ist überall dasselbe Drecksloch. Hier und dort. Ist echt scheißegal, wo, weißt du, Kleine. Sind noch andere mit dir abgehauen?«

»Nein.«

»Echt? Ganz allein? Respekt, Süße, Respekt. Wow. Da gehört echt Mumm dazu. Du bist ein echtes Juwel, du. So was sehe ich sofort, du! Das sag ich dir!«

»Woran denn?«

»Du bist eben ganz besonders. Das merkt man, wenn man dich nur ansieht. Allein diese Augen! Schau mich doch mal richtig an, Süße, schau mal her!«

Mit gesenktem Kopf schaute ich in sein kantiges Gesicht mit der großen Nase, auf der viele kleine schwarze Punkte waren. Seine Haut war so dunkel wie meine. Unter den dicken Augenbrauen blitzten die schwarzen Augen. Er hob mein Kinn hoch und sah sich in aller Ruhe mein Gesicht an.

»Diese Augen … Mann, Mann, Mann … Wer kann denen schon widerstehen. Du wirst mal eine richtige Schönheit, wenn du erst mal groß bist, Süße. Ich habe noch nie eine solche Farbe gesehen. Was ist das? Blaugrün? Ein paar gelbe Punkte sind da auch … Und dann diese schwarzen Wimpern, kaum zu glauben, dass die echt sind. Wenn du nur nicht so streng gucken würdest. Andererseits hat es so was Erwachsenes. Wie eine kleine Kindfrau bist du. Wie alt bist du eigentlich?«

»Zwölf.«

»Ach, echt?«, sagte er lächelnd und pustete den Rauch zur Seite aus.

»Nein. Sieben.« Ich weiß nicht, wieso, aber ich konnte ihn einfach nicht anlügen.

»Wow. Und was hast du jetzt so vor? Ich meine, hast du einen Plan? Oder bist du im Heim einfach mal spontan aus dem Fenster geklettert?«

»Nein. Also ja. Also ja, ich habe einen Plan, und ich bin nicht aus dem Fenster geklettert. Ich bin einfach weggegangen, und jetzt will ich nach Deutschland. Da ist Marina, meine beste Freundin. Sie hat jetzt Eltern. Also, Adoptiveltern. Und sie wartet auf mich. Und vielleicht wäre ich schon längst da, aber ich konnte mir kein Ticket kaufen, und ich weiß auch nicht, welcher Zug und überhaupt …«

»Krass. Hört sich echt gut an. Ein super Los hat deine Freundin da gezogen. Sind die reich, die Deutschen? Na klar. Doofe Frage. Na ja, so ’ne Fahrt nach Deutschland, das ist echt nicht ohne. Das dauert schon ein paar Tage, denk ich. Und es kostet auch ’ne Menge Kohle. Hat sie dir nichts geschickt? Deine Freundin?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Na ja, das ist schon echt schwach von ihr. Hast du denn überhaupt Geld?«

Ich steckte die Hand in die Hosentasche und holte den Schein mit dem ewig grimmig schauenden Mann hervor. »Das hier«, sagte ich kleinlaut.

Wie ich es bereits erwartet hatte, fing auch Rocky an zu lachen. »Oh, Süße, das ist doch kein Geld. Das ist nur so für ein paar Bonbons«, er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und ließ drei kreisrunde Rauchwolken in den Himmel steigen. »Okay, Mädchen, heute ist wohl dein Glückstag. Ich werde dir helfen. Du kannst ja schlecht hier auf der Straße bleiben. Wer weiß, an wen du da gerätst. Du kommst mit zu mir. Bei mir wohnen noch ein paar andere Kids. Auch so Leute wie du und ich, die diese Scheißgesellschaft ausgespuckt hat. Bei mir haben alle ein Dach überm Kopf, und was zu futtern ist auch immer da. Du wirst dich mit denen verstehen. Ich zeig dir, wie du an ein paar Moneten kommst, und wenn dir was fehlt, leg ich was dazu. Dann kaufen wir dir ein Ticket, und ab nach Deutschland, mein Juwel. Ab in das schöne Leben.« Mit seiner schweren Hand wuschelte er meine Haare durch, strich sie dann wieder glatt, stemmte sich hoch und sagte: »Komm, nimm dein Zeug, mein Auto steht direkt da hinten.«

***

Wir gingen zu seinem Auto, das in einer Seitenstraße hinter dem Bahnhof stand.

»Ein ausländischer Wagen. Alfa Romeo. Rot. Gefällt er dir?«, fragte Rocky. Ich nickte. Ich war noch nie mit so was gefahren. Ich war überhaupt nur ein einziges Mal mit einem Auto gefahren. Rocky ließ sich auf seinen Sitz fallen, so dass das ganze Auto sich kurz zur Seite neigte. Dann lehnte er sich rüber und öffnete die Beifahrertür.

»Steig ein, mein Juwel!«, sagte er.

Ich war wie hypnotisiert von seiner rauen Stimme, von seinen lebendigen Augen, von seiner Freundlichkeit. Vorsichtig setzte ich mich ins Auto und zog die Tür zu.

»Nein, Süße, richtig feste!« Er beugte sich über mich, so dass sein warmer, feuchter Bauch auf meinen Oberschenkeln lag. Er roch nach Zigaretten, Schweiß und Zwiebeln, und obwohl es eklig war, mochte ich es irgendwie auch. Er knallte die Tür so fest zu, dass ich zusammenzuckte. Ich war schon immer schreckhaft bei lauten Geräuschen.

Wir fuhren los, und keiner von uns sagte was. Ich saß wie erstarrt da. Obwohl ich Rocky übelst nett fand, hatte ich irgendwie so ein mulmiges Gefühl im Bauch. Vielleicht kam es aber auch vom Hunger oder von der Hitze. Ich wischte mir in einer Tour den Schweiß von Oberlippe und Stirn, aber es bildete sich sofort wieder neuer.

Rocky hatte das Fenster runtergekurbelt und ließ seinen muskulösen Arm aus dem Auto hängen, während er mit dem anderen Arm mal lenkte und mal am Radio fummelte. Der kühle Fahrtwind war sehr angenehm, dennoch schwitzte ich weiterhin wie ein Schwein und hatte bald das Gefühl, in einer Pfütze zu sitzen.

Im Radio wurde Russkaja Wodka gespielt. Ich kannte das Lied sehr gut. Eine Erzieherin im Heim hatte es wieder und wieder gespielt und dazu manchmal einen Kurzen gekippt.

Neue Zigarette. Er rauchte wirklich ununterbrochen. Dann griff er nach hinten unter den Sitz und holte eine halbvolle Flasche Pepsi hervor.

»Hast du Durst, mein Juwel?«

Ich griff ehrfürchtig nach der geschwungenen warmen Plastikflasche. Bis dahin hatte ich noch nie Pepsi probiert. Ich kannte das nur aus der Werbung, die ich im Fernsehen gesehen habe. Es gab im Heim ein Fernsehgerät. Es gehörte den Erzieherinnen. Aber manchmal durften wir auch was gucken.

Vorsichtig schraubte ich den Verschluss ab und nahm einen kleinen Schluck. Die dunkle Flüssigkeit füllte meinen Mund. Sie war süß und hatte nur noch eine ganz leichte Spur von Blubberblasen, die wie kleine Nägel in meine Zunge pikten. Ich wollte die Flasche sofort zurückgeben, aber Rocky meinte, ich kann trinken, so viel ich will, also trank ich sie Schluck für Schluck komplett aus.

»Was denken Sie, wie lange es dauern wird, bis ich das Geld zusammenhab und nach Deutschland kann?«

»Schatz, du kannst mich ruhig duzen. Ich bin für dich einfach Rocky«, sagte er und zwinkerte mir zu. Ich mag es nicht, wenn man mir zuzwinkert. Ich weiß irgendwie nie, was das soll. Heißt es, dass es ein Witz ist? Oder dass ich was Doofes gemacht habe? Oder dass man mich gut findet? Keinen Plan. Ich mag es nicht.

Nach einer Weile fragte ich wieder: »Was denkst du, wie lange es dauern wird, bis ich nach Deutschland kann?«

»Süße, keine Ahnung. Ich kann dir nur sagen, dass ich dir auf jeden Fall helfen werde und dass du bei mir bleiben kannst, bis du genug Kohle hast. Aber ich bin doch nicht der verdammte Gott, der weiß, wann es für dich Kohle regnet. Wenn ich das wüsste, hätte ich ein ganz anderes Leben, Süße, das sag ich dir. Aber mach dir mal keinen Stress. Sei mal lieber froh, dass ich dich aufgegabelt hab und du erst mal ein Dach übern Kopf kriegst, bevor du da an sonst wen geraten wärst. Hast du eigentlich einen Namen?«

»Samira«, sagte ich.

»Samira«, wiederholte er.

Er war echt voll nett, und ich mochte die kleinen Grübchen, die sich in seinen borstigen Wangen bildeten, wenn er mich anlächelte. Ich fühlte, wie eine Welle der Entspannung sich über mich ausbreitete, meine Augenlider ganz schwer wurden und ich in einen tiefen Schlaf fiel.

***

»Kleines, was ist denn? Hey, wach mal auf!« Rocky schüttelte mich leicht an der Schulter. Mein Jogginganzug war mittlerweile komplett nass. Wieder einer von den seltsamen Träumen. Die hatte ich schon immer. Seit ich denken kann.

»Mademoiselle?« Rocky hielt die Autotür auf und streckte mir seine Hand entgegen. Ich wusste nicht genau, was er von mir erwartete. Also griff ich nach meinen Sachen und stieg aus, ohne seine Hand zu berühren.

Er machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge, ließ die Tür zuknallen und ging mir voraus auf ein kleines, heruntergekommenes Haus zu. Drum herum war ein niedriger Holzzaun, der mal blau gewesen sein muss. Ich hatte keine Ahnung, was so ein Zaun bringen sollte, denn ich hätte sogar mit meinen sieben Jahren locker drübersteigen können. Das Haus war grau-weiß. An manchen Stellen war der Putz aufgeplatzt, und die roten Backsteine darunter sahen aus wie das rohe Fleisch einer Wunde. Die Tür war mit Leder bespannt, welches an vielen Stellen kaputt war.

»Nummer fünf«, sagte Rocky und zeigte auf eine verrostete Zahl oben an der Tür. »Meine Lieblingszahl. Hast du eine Lieblingszahl, Süße?«

»Auch fünf«, sagte ich.

»Kannst du schon rechnen?«

»Nicht so richtig.«

»Ah, Scheiße … Das werden wir schnell ändern müssen, Kleines. Mal sehen, wer dir das beibringen kann. Ohne gehts gar nicht im Leben. Das sag ich dir.«

Ich lächelte und nickte. Mir wurde ganz warm. Aber nicht außen, wegen der Hitze, sondern innen, im Bauch. Ich war noch nie jemandem so wichtig gewesen, dass er mir was beibringen wollte.

Rocky drückte die Tür auf und erklärte mir, dass es keine Schlüssel gab und dass man einfach ein bisschen doller gegen die Tür treten musste, um ins Haus zu kommen.

Obwohl es draußen noch sehr hell und sonnig war, war es im Haus ziemlich dunkel und kühl. Der kleine Flur war vollgestellt mit irgendwelchen Sachen, Kartons, Reifen, Fahrradteilen, Schuhen, einem alten Kühlschrank, in dem irgendein Müll lag, dickem weißen Stoff, der als Berg darauf lag, einem Ruder, einem Verkehrsschild, einem zerbrochenen Spiegel, jeder Menge leerer Marmeladengläser und Flaschen und so weiter und so fort.

Rocky schob mit einem Fuß ein wenig von dem Zeug beiseite und bildete für mich einen Pfad in die Küche. Die Dielen waren mal rot gestrichen gewesen und vorher blau und davor gelb. Das konnte man sehen, wenn man sich die abgeblätterte Farbe genau ansah. Und ich sah mir so was immer genau an. Links am Fenster stand der Tisch. Die Stühle waren alle unterschiedlich. Zwei Klappstühle aus rostigem Metall, ein schwarzer Plastikstuhl, ein weißer Plastikstuhl, ein grauer Hocker, ein alter Holzstuhl mit löchrigem roten Stoffsitz und ein großer schwarzer Lederstuhl mit hoher Lehne und Rollen. Auf der rechten Seite standen ein Heizofen, ein Herd, die Spüle mit sehr viel dreckigem Geschirr drin, eine Badewanne und ein Kühlschrank. Es roch wieder nach kaltem Zigarettenrauch, Schweiß und Zwiebeln. Ich wusste nicht, ob die Küche so roch oder ob Rocky es war. Aber mit jedem Zug, den ich davon einatmete, wurde mir der Geruch angenehmer.

»Willst du den Rest sehen, oder was?«, sagte Rocky, kickte eine leere Plastikflasche zur Seite und ging durch eine Flügeltür. Ich folgte ihm und fühlte mich ein bisschen wie ein kleiner Hund, den man von der Straße geholt hatte.

Der nächste Raum war größer als die Küche und hatte eine blaue Tapete, die sich an manchen Stellen oben ablöste und von der Wand herunterhing. Sie muss früher sehr hübsch gewesen sein und wahrscheinlich teuer. Sie hatte ein geschnörkeltes Muster und schimmerte golden. An der Wand stand ein grünes Sofa. Rechts davon ein kleiner Sessel, der ganz dreckig und zerschlissen war. Der Stoff hatte ein Blümchenmuster. Früher war er wahrscheinlich plüschig gewesen, aber nun sah die Sitzfläche aus, als wäre sie aus Leder. Ich hatte Mitleid mit dem Sessel. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es ist ihm peinlich, so gesehen zu werden.

»Ich hoffe, du hast keinen Palast erwartet, he?« Er lachte. »Man muss hier mal ein bisschen Ordnung schaffen. Aber irgendwie hat niemand so richtig Bock drauf. Vielleicht hast du ja Bock, hier ein bisschen aufzuräumen, Kleine?« Er zwinkerte mir wieder zu.

»Weiß nicht«, sagte ich und hatte sofort Angst, es könnte die falsche Antwort gewesen sein. Dieses verdammte Zwinkern verunsicherte mich vollkommen.

»Das hier ist eigentlich ein Schlafsofa. Da schläft Lydia drauf. Die wirst du gleich kennenlernen. Die anderen schlafen hier.« Er trat durch die Tür in einen weiteren Raum, in dem genau die gleiche Tapete war, nur in Rot. Dort stand ein großer Schrank mit einem ovalen Spiegel. Andere Möbel gab es nicht, nur ganz viele Matratzen, Kissen und Decken, die den ganzen Boden bedeckten. Dazwischen wieder Kram, den ich nicht zuordnen konnte. In der hinteren Ecke führte eine Wendeltreppe nach oben.