Juckt's? - Ellen Støkken Dahl - E-Book

Juckt's? E-Book

Ellen Støkken Dahl

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Beschreibung

Tropfende, brennende und juckende Geschichten über sexuell übertragbare Infektionen (STIs) von der Autorin von Viva la Vagina. Alles über das weibliche Geschlecht, 2018 bei S. Fischer erschienen. Ein originelles und faszinierendes Sachbuch, das durch einen Besuch in der Arztpraxis führt, während die Ärztin mit Patient:innen spricht, die an einigen der häufigsten und gefürchtetsten sexuell übertragbaren Infektionen unserer Zeit leiden, sie diagnostiziert und behandelt. Støkken Dahl geht neugierig und mit einem reichen Wissensschatz auf die physischen, psychologischen und historischen Fakten dieser Infektionen ein, die von Herpes bis Syphilis reichen. In dieser schamlosen, unterhaltsamen, lehrreichen – und gelegentlich schockierenden – Erforschung sexuell übertragbarer Infektionen werden keine blutigen Details ausgespart. »Dieses Buch dürfte mit seiner gelungenen Mischung aus medizinischer Kulturgeschichte des Sexuallebens und rauem Medizinhumor ebenso verkaufsfähig sein wie es lesenswert ist. Eine faszinierende und unterhaltsame Geschichte, so gut erzählt wie erklärt.« – Andreas Wiese, Dagbladet

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Juckt’s?

Ellen Støkken Dahl

Juckt’s?

Sexuell übertragbare Krankheitenund warum wir dringend offenerüber sie sprechen sollten

Aus dem Norwegischenvon Anna Schiemangk undRahel Schöppenthau

MÄRZ

Inhalt

1 Das Jahr der Flut. Ein bisschen über Gonorrhö

2 Ein schmerzhaftes Kapitel. Ein bisschen über Herpes

3 Feigen und Blumenkohl. Ein bisschen über Genitalwarzen

4 Eine Nacht mit Venus, ein Leben lang mit Merkur. Ein bisschen über Syphilis

5 Der Tod auf dem Nil. Ein bisschen über Trichomoniasis

6 Willkommen in Norwegen, dem Land der Chlamydien. Ein bisschen über Chlamydien

7 Bei jemand anderem am Tisch speisen. Ein bisschen über Filzläuse

8 Der Feind in meinem Bett. Ein bisschen über HPV-bedingten Gebärmutterhalskrebs

9 Eine lästige kleine Schwester. Ein bisschen über Mykoplasmen

10 Das Jucken. Ein bisschen über Krätze

11 Angst und Abscheu unter der Wäsche. Ein bisschen über HIV und Aids

Nachwort

Dank

Literatur

Beratungsstellen und weitere Informationen

Vor achtundvierzig Tagen habe ich das Studiummit Auszeichnung beendet, aber die Auszeichnungist eines, ein Bruch aber etwas anderes.

Michail Bulgakow, Die stählerne Kehle

Swallow this.

Evil Dead II (Sam Raimi, 1987)

1

Das Jahr der FlutEin bisschen über Gonorrhö

Die Menschen aßen und tranken und heirateten bis zu dem Tag, an dem Noach in die Arche ging; dann kam die Flut und vernichtete alle.

Lukas 17, 27

Hier passiert es.

Mein Sprechstundenzimmer ist geräumig und hat helle Wände, trotzdem fühlt es sich durch die vielen Dinge darin etwas eng und chaotisch an. In der einen Ecke steht der massive, mit Kunstleder bezogene gynäkologische Stuhl. Direkt daneben, an der kurzen Wand, steht die Untersuchungsliege und neben ihr ein mobiler Tisch mit sterilen Instrumenten und Zubehör für die Entnahme von Proben.

Unter dem einzigen Fenster des Zimmers, das für die Privatsphäre der Patient:innen sowohl mit Jalousien als auch mit Gardinen ausgestattet ist, steht der Schreibtisch mit dem prähistorischen PC, den ich gerade hochfahre, und einem Drucker, der selten so funktioniert, wie er soll. Auf der anderen Seite des Raums befinden sich ein mobiler Wandschirm und ein Waschbecken mit einem Spiegel darüber. An den übrigen Wänden klärt eine Auswahl anatomischer Plakate darüber auf, wie die menschlichen Geschlechtsorgane unter der Haut aussehen.

Als ich vom sauren Kaffee trinke und über die Terminliste schaue, stelle ich fest, dass der Kittel, den ich heute früh ausgesucht habe, voller Flecken ist, wegen eines Stifts, der wohl zusammen mit der Dreckwäsche in der Waschmaschine gelandet war. Aber jetzt ist es zu spät, mich noch umzuziehen. Stattdessen schließe ich die obersten Mantelknöpfe, während ich die Tür öffne und den ersten Patienten des Tages hereinrufe.

»Komm rein«, sage ich, und Jörn setzt sich auf den Stuhl, auf den ich zeige. Bevor ich überhaupt dazu komme zu fragen, wie ich ihm helfen kann, verrät er, dass er »ein ganz schön großes Problem da unten« habe und dass er hoffe, dass man da etwas machen könne.

»Was für ein Problem?«, frage ich.

»Ich glaube, es ist am einfachsten, wenn ich es dir zeige«, antwortet er.

Jörn ist direkt, das muss man ihm lassen. Er steht auf, steckt die Hand in die Hose und fängt an, unmögliche Mengen an Papiertüchern aus ihren Untiefen hervorzuziehen. Ein absurder Augenblick, der einfach nicht enden will. Lange, zusammenhängende Streifen und kleine, zusammengeknüllte Klumpen kommen zum Vorschein. Offensichtlich hat er das Papier an unterschiedlichen Orten eingesammelt, hat allmählich nachgelegt, wenn es nötig wurde, wie Sandsäcke an einem kaputten Damm. Ein paar der Tücher sind mit kleinen roten Herzchen verziert. Ich stelle mir vor, wie er bei seiner Oma in einem bestickten Sessel saß und ständig zur Toilette im Flur lief, voller Todesangst, dass der Damm brechen und die scheußliche Flut das verschlungene Blumenmuster beflecken könnte. Wieder andere Tücher sehen nach der Sorte Recycling-Servietten aus, die man um heiße Pappbecher mit Plastikdeckel gewickelt bekommt. Und die kleinsten, abstoßendsten Klümpchen müssen einmal schneeweißes Kleenex gewesen sein.

Doch egal woher, das Papier ist schmutzig. Es ist mit einer grauenhaften gelbgrünen Flüssigkeit vollgesaugt.

»Ich verstehe«, sage ich. »Ich stimme zu, dass das ein großes Problem ist.«

»Was fehlt mir denn?«, fragt Jörn. Er steht mit krummem Rücken über den Mülleimer gebeugt, der nun bis zum Rand mit fleckigem Papier gefüllt ist. »Und kannst du es in Ordnung bringen?«

Mir geht das Herz auf, und ich muss mich bemühen, meinen Enthusiasmus ein paar Gänge runterzuschalten. Es gehört sich nicht, sich zu fröhlich zu engagieren, wenn andere Leute unangenehme Beschwerden haben. Aber ich bin engagiert, weil ich glaube, dass ich weiß, was es ist, und dass ich es sogar sicher in Ordnung bringen kann.

Sexuell übertragbare Infektionen – die sogenannten Geschlechtskrankheiten – sind meine Lieblingskrankheiten. Mit Ausfluss und Wunden, inklusive der unangenehmen Stimmung, die sie umgibt, sind Geschlechtskrankheiten so etwas wie die Antwort der Ärzteschaft auf Gruselfilme. Wir alle haben eine Heidenangst vor ihnen! In Fakten über Geschlechtskrankheiten einzutauchen, besonders in ihre Geschichte, gibt mir dieses herrliche, fröstelnde Gefühl von Furcht gemischt mit Wonne, wie ich es bekomme, wenn ich True Crime lese oder einen guten Horrorfilm ansehe. Ein Teil von mir will wegschauen, die Augen schließen, aber gleichzeitig kriege ich nicht genug. Ich muss hinschauen, ich muss weiterlesen. Es ist eine Besessenheit geworden.

Es ist gut, Ärztin zu sein, wenn die zu behandelnde Person eine Geschlechtskrankheit hat. Denn wenn wir mit derart schambehafteten Krankheiten arbeiten, können wir mit sehr wenig sehr viel erreichen. Oft sind ein gutes Gespräch, etwas Wärme und Verständnis genauso wichtig wie Medikamente. Erkrankte Personen fühlen sich oft allein und behalten ihr Leid für sich. Viele schämen sich für das, was sie getan haben, um sich anzustecken, und haben wahnsinnige Angst, andere anzustecken.

Doch bei Geschlechtskrankheiten geht es nicht um Moral. Eine Infektion sagt nichts darüber aus, wer du bist, ein guter oder schlechter Mensch. Eine Geschlechtskrankheit zu bekommen ist eine normale Folge von Sex, und Sex ist etwas, das fast alle Menschen trotz allem programmiert sind zu mögen. Es kann alle treffen und bei Infektionen geht es genauso um Glück und Unglück wie um die Entscheidungen, die du triffst.

Außerdem gefällt mir, dass es heute, rein medizinisch betrachtet, für die erkrankten Personen fast immer gut ausgeht. Inzwischen haben wir Medikamente, die wirken. Zum Beispiel können wir ein gutes, normales Leben mit HIV führen, werden Chlamydien wieder los, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es auch bei Jörn gut ausgehen wird.

»Keine Angst«, sage ich. »Da finden wir schon einen Weg.«

»Glaubst du wirklich?«

»Ja!«, sage ich. »Das wird schon werden.«

Jörns Augen werden feucht. »Danke!«, ruft er aus und erwidert meinen Blick zum ersten Mal.

»Ich muss dich natürlich noch untersuchen und ein paar Proben nehmen, bevor ich mehr sagen kann«, sage ich, »aber ich tippe darauf, dass du Gonorrhö hast.«

In Wahrheit bin ich zu über 90 Prozent sicher, dass Jörn Gonorrhö hat, aber gleichzeitig finde ich, dass im Hippokratischen Eid festgehalten werden sollte, dass Diagnosen niemals allein auf Basis von fleckigen Papiertüchern zu stellen sind. Deshalb bitte ich Jörn, hinter den Wandschirm zu treten, seinen Unterkörper freizumachen und sich auf die Untersuchungsliege zu legen. Jörn gehorcht und bleibt lange hinter dem Wandschirm stehen. Mehrere harte, abstoßende Klümpchen aus gebrauchten Papiertüchern fallen in den Mülleimer wie Steine in einen Teich.

Eine Samenflut

Es ist schön, wenn Namen eine Bedeutung haben, und Gonorrhö ist eine der Krankheiten, die ihren Namen dafür bekommen haben, wie sie sich im menschlichen Körper aufführen. Das weiß ich aus dem medizinisch-etymologischen Wörterbuch, das ich mir zu Beginn des Medizinstudiums vor etwas mehr als zehn Jahren gekauft habe, um smart auszusehen.1

Das altgriechische Wort Gonorrhoia setzt sich zusammen aus gónos für »Samen« und der Endung -rhoia oder -rhö, die bedeutet, dass etwas über-»läuft« oder über-»flutet«. Das Wort Diarrhö hat die gleiche Endung, aber im Fall von Durchfall besteht die Flut bekanntermaßen aus etwas anderem. Gemeinsam bedeuten gonos und rhoia »Samenflut«, und das ist kein schlechter Name. Das, was in der Unterhose des armen Jörns vor sich hin läuft, kann durchaus an eine Samenflut erinnern. Beides ist flüssig und kommt in Strömen aus der Harnröhre. Aber es ist kein Samen, es ist Ausfluss.

Es war der römische Arzt und Philosoph Galen, der sich diesen wohlklingenden Namen ausdachte, als er vor etwas weniger als zweitausend Jahren Menschen medizinisch behandelte. Er hat als Erster das Wort Gonorrhö für Ausfluss aus dem Penis benutzt.

Da Galen das Wort Gonorrhö benutzte, könnte man glauben, dass er die gleiche Krankheit sah wie wir heute, dass Gonorrhö also mindestens genauso alt ist wie ihr Name. Das ist möglich, aber schwer mit Sicherheit zu sagen. Es gibt zwar auch biblische Beschreibungen tropfender Harnröhren, doch es ist riskant, uralte Texte als Diagnosewerkzeug zu benutzen. Vor zweitausend Jahren musste Galen sich mit etwas herumschlagen, das Männern tropfende und auslaufende Harnröhren bescherte, das wissen wir; aber wir können nicht sicher wissen, dass der Ausfluss der Krankheit Gonorrhö geschuldet war.

Galens Zeitgenosse und Kollege Aretaios von Kappadokien beschrieb Gonorrhö als eine kontinuierliche Samenflut, die nicht schmerzhaft war. Die Flüssigkeit war »dünn, kalt, farb- und fruchtlos«, völlig anders als der klassische Gonorrhö-Ausfluss, der wegen großer Mengen Eiter gelbgrün ist. Auch Frauen konnten daran leiden, aber »ihr Samen fließt beim Kitzeln der Teile und bei Genuss und einem schamlosen Verlangen nach der Verbindung mit Männern«.2 Frauen mögen vielleicht sündige Wesen sein, aber als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war sexuelle Erregung noch nicht gleichbedeutend mit Gonorrhö.

Andere Krankheiten wie Chlamydien, Mykoplasmen und Trichomoniasis können ebenfalls zu Ausfluss aus der Harnröhre führen, aber Gonorrhö gehört einer triefenden Sonderklasse an. Aus an Gonorrhö Erkrankten tropft es so viel, dass die Krankheit den Spitznamen Tripper bekommen hat. Dennoch können wir ohne Zeitmaschine nicht wissen, welche Krankheit tatsächlich in den alten Texten beschrieben wurde. Das Ganze wird besonders unübersichtlich, wenn wir berücksichtigen, dass Ärzte und Wissenschaftler lange glaubten, dass mehrere verschiedene Geschlechtskrankheiten, unter anderem Gonorrhö und Syphilis, nur unterschiedliche Symptombilder derselben Pest waren.

Der schottische Chirurg John Hunter, geboren 1728, war derart überzeugt davon, dass Syphilis und Gonorrhö ein und dieselbe Krankheit waren, dass er sowohl Ehre als auch Leben riskierte, um es zu beweisen. Er nahm Eiter aus dem tropfenden Penis eines armen Mannes (also Jörn, nur in der Kleidung des 18. Jahrhunderts), füllte ihn in eine Spritze und verabreichte die Spritze sich selbst. Sein Ziel war es, allen zu zeigen, dass man Syphilis entwickle, wenn man eine klitzekleine Dosis »Samenflut« aufnahm.

Als Hunter später an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung starb, wurde dies als Beweis angesehen, dass er Syphilis bekommen hatte, da Syphilis Adern und Herz befallen und die Gefäße verengen kann. In Wahrheit hatte seine Herz-Kreislauf-Erkrankung wohl andere Ursachen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind durchaus nicht ungewöhnlich und liegen in den wenigsten Fällen an Syphilis, selbst in Hunters Tagen. Oder er hatte sich auf eine andere Weise mit Syphilis angesteckt. Vielleicht hatte er sich auch selbst als Versuchskaninchen benutzt, in der Hoffnung, sowohl das eine als auch das andere zu beweisen.

Heute wissen wir, dass John Hunter falsch lag. Gonorrhö ist keine Unterart von Syphilis, sondern eine ganz eigene Krankheit, die durch eine Infektion mit dem Bakterium Neisseria gonorrhoeae, unter Freunden als Gonokokken bekannt, ausgelöst wird.

Den Applaus mit nach Hause nehmen

»Willst du, dass ich mich dahin lege«, fragte Jörn, »auf diese Liege?«

»Ja«, sage ich.

»Aber das Papier ist zerknautscht«, sagt Jörn. »Das sieht aus, als ob dort jemand gelegen hat!«

Er hat recht. Jemand hat dort gelegen. Das Papier ist benutzt, ich habe vergessen, es auszuwechseln.

»Widerlich«, sagt Jörn. »Sich hinlegen, in jemand anderes …«

Er hat sich noch nicht die Boxershorts ausgezogen, die wohl irgendwann einmal weiß gewesen sein müssen.

»Entschuldigung«, sage ich.

Er nickt.

Ich entferne das zerknitterte Papier und stelle fest, dass die Rolle leer ist. Ich muss das Sprechzimmer verlassen, um eine neue zu holen.

»Warte hier«, sage ich, und drücke die Daumen, dass Jörn nicht abhaut, während ich weg bin. »Ich bin gleich wieder da.«

Während ich den Gang zum Lager entlangwandere und meine fleckigen Birkenstock-Latschen schmatzende Geräusche auf dem Linoleum machen, denke ich an die vielen Spitznamen der Gonorrhö. Tripper ist, wie erwähnt, einer davon. Ein anderer ist »the clap«. Es ist nicht ganz klar, woher dieser Name eigentlich kommt. Die glaubwürdigste Theorie ist, dass der Name in den 1370ern in Frankreich entstand. Les Clapiers war der Name eines Pariser Bezirks, in dem die Bordelle dicht an dicht lagen. Damit war es einfach, sich den »Applaus« mit nach Hause zu nehmen. Andere Theorien sind: a, dass eine alte Gonorrhöbehandlung darin bestand, Dinge hart und rhythmisch gegen den Penis zu klatschen, oder b, dass Gonorrhö ein »klopfendes Gefühl« (was auch immer das bedeuten soll) in der Harnröhre verursachte. Für gewöhnlich wird das Gefühl, mit Gonorrhö Wasser lassen zu müssen, so beschrieben, als würde man Stacheldraht pinkeln.

Gonorrhö ist keine Kuriosität, doch das Vorkommen in Norwegen war und ist schwankend. In den 1930ern und 40ern war die Krankheit gängig, mit 11.195 Fällen im Spitzenjahr 1946, bevor der Zugang zu Antibiotika das Tropfen eindämmte.3 In den 1970er- und frühen 80er-Jahren fegte eine neue Gonorrhöwelle durchs Land, mit fast 15.000 Infektionsfällen im Spitzenjahr 1975. Es wurde so schlimm, dass die staatliche Gesundheitsbehörde 1976 eine Plakatkampagne mit der Aufschrift »i natt får 36 nordmenn gonoré« (»Heute Nacht bekommen 36 Norweger Gonorrhö«) startete. Sie sollte die Leute auf die wilden Gonorrhözahlen aufmerksam machen und zum verstärkten Gebrauch von Kondomen auffordern. Zum Ende der 90er-Jahre war Gonorrhö mit unter 200 Fällen pro Jahr wieder seltener geworden. Leider steigen die Infektionszahlen inzwischen erneut an, denn 2019 wurden 1.705 Fälle nachgewiesen. Das gibt Anlass zur Sorge, es sind wiederum aber bloß 4,6 Fälle pro Nacht, weit entfernt von den Zahlen der 1970er-Jahre.4

Gonorrhö ist schockierend ansteckend. Das Risiko, sich durch einen einzigen Vaginalverkehr (für die, die dem nachgehen) anzustecken, liegt bei 70 Prozent für Personen mit Vagina und bei 30 Prozent für Personen mit Penis. Zum Vergleich liegt die Infektionsgefahr für Chlamydien bei 10 bis 20 Prozent pro Verkehr für beide Partner, und für HIV, ein Virus, vor dem sich viele außerordentlich fürchten, ist das Risiko bei niedrigen ca. 0,1 Prozent.5 Gonorrhö-Bakterien sind in keinster Weise wählerisch. Sie mögen die meisten Schleimhäute im Körper und können Enddarm, Scheide, Hals, Harnröhre und Augen infizieren. Da die wenigsten beim Oralsex Kondome benutzen und Gonorrhö bei Ansteckung über den Hals seltener Symptome auslöst, können Gonorrhö-Bakterien im Hals ein stilles Reservoir für die Krankheit sein.

Das Gonorrhö-Bakterium überträgt sich durch den direkten Kontakt zwischen Schleimhäuten, sodass es wenig Fantasie braucht, um zu verstehen, wie es im Hals oder im After landen kann. Aber die Krankheit überträgt sich auch indirekt. In einigen Studien sind Gonorrhö-Bakterien im After von Männern gefunden worden, die angaben, keinen Analverkehr gehabt zu haben.

Eine Infektion des Auges lässt sich dadurch erklären, dass man beim Anfassen »verbotener« und tropfender Dinge Gonokokken an die Finger bekommen und sich diese danach ins Auge gerieben hat. Eine andere Möglichkeit besteht bei Babys, die während der Geburt durch den direkten Kontakt mit den mütterlichen Schleimhäuten im Auge mit Gonorrhö infiziert werden.

Gonokokken haben leider die besondere Fähigkeit, Entzündungen auszulösen und sich durch die Hornhaut ins Auge zu fressen. Glücklicherweise sehen wir heutzutage weniger gonorrhoische Augeninfektionen, doch im 19. Jahrhundert waren sie an der Tagesordnung. Ganze 10 Prozent der europäischen Kinder wurden bei der Geburt über die Augen mit Gonorrhö infiziert und 3 Prozent der Infizierten erblindeten dadurch.6

Der deutsche Gynäkologe und Venerologe Carl Credé (ein Mann mit einem imponierenden weißen Bart, der am besten für den Credé-Handgriff bekannt ist, einen Handgriff, der nach der Geburt eines Kindes den Mutterkuchen schneller herausbefördern soll) fand 1879 eine smarte Lösung für die Erblindung durch Gonorrhö. Er begann, silberhaltige Lösungen in die Augen aller Neugeborenen zu träufeln. Silber tötet Bakterien ab und war in der Medizin schon seit Langem in Gebrauch. 1882 wurden die Silbertropfen für Augen, Credé-Prophylaxe genannt, als Standard in norwegischen Krankenhäusern eingeführt. Von 1958 bis 1984 war Gonorrhö in Norwegen so verbreitet, dass das Beträufeln aller Neugeborenen vorgeschrieben und ausgeführt wurde.7

Stäbchen im Penis

Als ich mit einer schweren Papierrolle auf der Schulter ins Sprechzimmer wanke, steht Jörn immer noch mit heruntergelassener Hose hinter dem Wandschirm in der Ecke. Ich befestige die Rolle in der Halterung an der Liege und ziehe etwas glattes und unbenutztes Papier hervor, das ich auf der Liege drapiere.

»Jetzt kannst du dich hinlegen«, sage ich.

Jörn legt sich auf den Rücken und kneift die Augen zu.

»Das wird schon gutgehen«, sage ich, »aber du musst die Boxershorts etwas herunterziehen.«

»Oh«, sagt Jörn und schiebt sie vorsichtig auf die Oberschenkel hinab. »So?«

»Gut«, sage ich.

Ich richte die grelle Lampe auf seine edlen Teile und nehme das große Problem näher in Augenschein. Aus seiner Harnröhre sickert die dicke gelbgrüne Flüssigkeit, die all die Papiertücher eingesaut hat.

Ich ziehe mir Handschuhe an (meine Liebe für Geschlechtskrankheiten hat ihre Grenzen) und taste seine Leisten ab. Unter der Haut finde ich mehrere feste, empfindliche Kugeln – vergrößerte Lymphknoten. Die Lymphknoten sind Wachtposten des Immunsystems. Wenn das Immunsystem aktiviert wird, was es definitiv tut, wenn man eine starke, eiternde Entzündung in der Harnröhre hat, schwellen die Lymphknoten an und beginnen zu schmerzen.

Als nächstes taste ich Jörns Hodensack ab.

»Es wäre eine ernste Folge einer Geschlechtskrankheit im Penis«, sage ich, »wenn die Bakterien es schaffen, weiter in den Körper hineinzuklettern.«

»In den Körper rein?«, fragt Jörn.

»Das willst du am liebsten vermeiden«, sage ich. »Schau mal hier.«

Ich deute auf das anatomische Plakat an der Wand, welches einen Penis und die Beckenorgane des Mannes im Querschnitt zeigt. Jörn passt widerwillig auf.

»Zuerst klettern sie durch die Harnröhre und quetschen sich durch die Prostata«, erkläre ich. »Sie kommen in einem der beiden Samenleiter raus, die in einem Looping durch deinen Unterleib gehen, und dann finden sie den Weg zu einem der Nebenhoden.«

Die Nebenhoden sind zwei kleine Organe, die an den beiden Hoden liegen wie Nacktschnecken an einem Stein.

»Und was passiert da?«, fragt Jörn.

»In den Nebenhoden können sie eine Nebenhodenentzündung auslösen. Dabei schwillt die eine Seite des Hodensacks an. Das kann wirklich riesig werden und bei Berührung wehtun.«

Ich taste vorsichtig Jörns Hodensack ab, fühle, dass die Hoden glatt und normal groß sind. Dann fühle ich nach Klumpen und Kugeln in den Nebenhoden, aber alles ist, wie es sein soll.

»Schmerzen?«, frage ich zur Sicherheit.

Jörn schüttelt den Kopf.

Vom Tisch hinter mir nehme ich ein schmales und langes Metallwerkzeug mit abgeflachter Spitze, einen Spatel, und öffne die Tüte, in die es eingepackt ist.

»Was willst du damit?«, fragt Jörn.

»Eine Probe von deinem Ausfluss nehmen.«

Jörn wird blass.

»Das tut nicht weh«, sage ich, aber ich rechne damit, dass Jörn mir nicht glaubt. Er befürchtet wohl – wie viele Männer, die ich treffe – dass Tests für Geschlechtskrankheiten (die im Großen und Ganzen etwas so Einfaches und Ungefährliches bedeuten wie in einen Becher zu pinkeln) eingreifende und schmerzhafte Prozeduren sind, bei denen Stäbchen tief in den Penis hineingesteckt werden.

»Ich brauche eine frische Probe«, sage ich. »Der soll nicht tief rein, du brauchst keine Angst haben.«

»Okay«, sagt Jörn und schließt die Augen. »Mach einfach. Bringen wir es hinter uns.«

Ich führe das Ende des Spatels nur gerade so in seine Harnröhrenöffnung ein und hole einen Tropfen Ausfluss heraus, den ich dann in einer dünnen Schicht auf eine kleine Glasplatte schmiere. Danach nehme ich zwei Teststäbchen mit absorbierender Spitze, nehme mit jedem davon ein wenig Ausfluss auf und stecke sie in Probenröhrchen mit Schraubdeckel.

»Hast du gesehen?«, frage ich. »Das ging doch wunderbar!«

Jörn sagt nichts, aber ich nehme an, dass er erleichtert ist.

»Zieh dich wieder an«, sage ich. »Dann gehe ich kurz nachschauen, ob sich meine Vermutung bestätigt.«

Ich sehe natürlich davon ab, zu sagen, dass tief in den Penis eingeführte Stäbchen sein Schicksal hätten sein können, wenn die Krankheit ihren Lauf in einer Zeit ohne wirksame Antibiotika genommen hätte.

Eine Bougie, auch Dilatator genannt, zur Anwendung in der Harnröhre ist ein langes (etwas länger als ein Penis), dünnes Werkzeug mit abgerundeter, oft kugelförmiger Spitze. Das Wort bougie ist französisch für »Kerze« und wird zum einen benutzt, weil Bougies Kerzen (und allem anderen, was dünn und lang ist) ein wenig ähneln, und zum anderen, weil Bougies im Lauf der Geschichte neben Materialien wie Holz, Metall oder Plastik auch aus Stearin hergestellt wurden.

Der stumpfe Kopf und der schmale Körper sorgen dafür, dass die Bougie mit bestimmten Bewegungen und einer guten Portion Druck in die Harnröhre (oder andere natürliche Körperöffnungen) geschoben werden kann, ohne befürchten zu müssen, neue, unerwünschte Öffnungen zu verursachen. Sie folgt dem natürlichen Weg der Röhre, bis diese Stopp sagt. Und wenn sie stoppt, kann man sich in echter Klempnermanier vorwärts sprengen, indem man Blockaden entfernt und enge Partien aufweitet.

Bei Gonorrhö in der Harnröhre beginnt ein Kampf zwischen dem Immunsystem und den hitzköpfigen Gonorrhö-Bakterien. Dieser Kampf ist die Ursache der Entzündung. Das Ziel ist es, dass das körpereigene Immunsystem alle Eindringlinge angreift und tötet, doch im Eifer des Gefechts werden auch die eigenen Zellen des Körpers beschädigt. Verletzte Schleimhäute können auf neue Weisen zusammenwachsen. Die Harnröhre kann enger oder im schlimmsten Fall verschlossen werden. Man muss keinen Doktorgrad haben, um zu verstehen, dass das nicht besonders gut wäre.

Bevor die Behandlung mit Antibiotika zugänglich war, betrafen zugewachsene Harnröhren einige an Gonorrhö Erkrankte. Das Aufdehnen enger Röhren war eine übliche Prozedur, die im Rikshospitalet in Oslo durchgeführt wurde – zu einer Zeit, in der die gesamte Abteilung für venerische Krankheiten mit Stacheldraht eingezäunt war. Leider habe ich wenig Grund zur Annahme, dass der Stacheldraht dazu diente, Leute draußen zu halten.8

Es gab auch Versuche, die Gonorrhö selbst und nicht nur ihre Folgen mit Bougies zu behandeln. In einem Artikel von 1913 beschreiben zwei Chirurgen einen neuen fancy Trick. Es war bekannt, dass Gonorrhö-Bakterien sich mit hohen Temperaturen schwer tun. In Laborstudien starben sie bei 40 Grad, doch man vermutete, dass höhere Temperaturen einen noch besseren Effekt haben würden. Zudem müssten isolierte Körperteile wie die Innenseite der Harnröhre weit höhere Temperaturen aushalten können als der gesamte Körper. Tatsächlich meinten die Chirurgen, dass 45 Grad in der Harnröhre über sechs Stunden hinweg glänzend effektiv und kaum schädlich seien. Sie platzierten also zwei hohle Silberbougies ineinander. Die äußere hatte nur an einem Ende ein Loch. Die innere hatte an beiden Enden Löcher, sodass Wasser frei durch sie hindurch und in die äußere fließen konnte. Sie erwärmten Wasser auf ein paar Grad über 45, um die Abkühlung auf dem Weg durch den Apparat zu berücksichtigen. Dann befestigten sie die beiden Bougies an Gummischläuchen, die das Wasser sowohl hinein- als auch herausleiteten und so einen gleichmäßigen Strom und eine gleichmäßige Temperatur erzeugen sollten. Schließlich stopften sie die Bougies in den Penis und ließen alles so stehen. Höhere Temperaturen könnten den Erkrankten ernsthafte Verbrennungen in der Harnröhre zufügen, wie die Verfasser zum Schrecken und als Warnung für andere, die die Methode versuchen wollten, erwähnten.9

Es braucht schon einiges, um mich aus der Fassung zu bringen, aber bei dem Gedanken an eine erhitzte Harnröhre wird mir schon ein wenig unwohl, vor allem sechs Stunden lang. Nicht nur, weil es unglaublich unangenehm klingt. Es ist außerdem etwas am langsamen Aufwärmen, das ans Kochen erinnert, als ob man langsam sous vide gegart würde. Unser Fleisch ist letztendlich nicht widerstandsfähiger gegen Wärmebehandlung als das von Schweinen oder von Kühen.

Stark wie Gonorrhö

Das Beste an Gonorrhö, denn das ist tatsächlich etwas Gutes, ist, dass ich nicht immer die Antwort auf eingesandte Proben abwarten muss. Manchmal kann ich die Diagnose auf eigene Faust stellen.

Mit der kleinen Glasplatte mit Jörns Ausfluss in der Hand, durchquere ich den Gang und schließe mich im Labor der Arztpraxis ein. Hier steht das Mikroskop. Ich entferne die schützende Stoffhülle, die es bedeckte, schalte es ein und setze mich auf den Hocker davor. Die Ausrüstung, die ich zum Nachweis der Gonorrhö-Bakterien brauche, ist der letzte Schrei von gestern. Albert Neisser, der die Gonorrhö-Bakterien entdeckte (weshalb sie Neisseria gonorrhoeae heißen), untersuchte Ausfluss auf die fast exakt gleiche Weise, wie ich es nun tun werde, als er sich 1878 im Eiter und Ausfluss von 35 Männern und Frauen, die typische Symptome der Geschlechtskrankheit zeigten, zum Bakterium vorarbeitete.

Als Erstes führe ich die Glasplatte durch eine kleine Flamme. Das Ziel ist es, den Ausfluss zu trocknen und am Glas festzubrennen, ohne dass der aufgetragene Abstrich vom Feuer zerstört wird. Daraufhin öffne ich ein Glasfläschchen mit Pipettenverschluss und bedecke den getrockneten Ausflussfleck mit einem Farbstoff namens Methylenblau. Ich spüle die überschüssige Farbe im Waschbecken ab und trockne die Glasplatte, vorsichtig, um den geronnenen Ausfluss nicht wegzureiben. Die blaue Farbe macht es einfacher, die mikroskopische Welt der Mikroben zu sehen.

Die Venerologie, die Lehre von sexuell übertragbaren Infektionen, ist eines der Fachgebiete, in denen es sich lohnt, oft Mikroskope zu benutzen, und ich mag das Praktische daran. Mithilfe dieser mehrere Hundert Jahre alten Erfindung kann ich unter anderem Gonorrhö und durch andere sexuell übertragbare Krankheiten verursachte Unterleibsentzündungen diagnostizieren und sie von Pilzinfektionen und bakterieller Vaginose unterscheiden.

Leicht vergrößert ist das Bild chaotisch. Voller Punkte und Flecken in unterschiedlichen Größen und Blautönen, aber je mehr ich heranzoome, desto besser kann ich unterschiedliche Zellen und Bakterien auseinanderhalten. Ich erkenne spiegeleiähnliche Hautzellen aus Jörns Harnröhre und einen Teppich weißer Blutkörperchen. Die weißen Blutkörperchen tauchen auf, um in die laufende Infektion einzugreifen. Sie sind klein und kugelförmig und haben einen großen, gelappten Zellkern. Ich bin nicht nur an den weißen Blutkörperchen interessiert – ein sicheres Anzeichen dafür, dass eine starke Entzündung in Jörns Harnröhre vorliegt. Wenn ich Glück habe, kann ich außerdem die Gonorrhö-Bakterien selbst finden.

Bakterien haben Merkmale, durch die wir sie voneinander unterscheiden können, wenn wir eine Probe unter dem Mikroskop studieren. Das Gonorrhö-Bakterium, die Gonokokke, ist eine Kokke, ein Bakterium, das – im Gegensatz zu einem Stäbchen – eher wie eine Kugel als ein Strich geformt ist. Gonokokken sind nicht ganz rund, stattdessen erinnern sie ein wenig an Kaffeebohnen.

Ein anderes Merkmal ist, wie sie sich im Verhältnis zueinander anordnen. Einige legen sich in chaotische Trauben, Haufen genannt, andere ordnen sich in Ketten an. Zum Beispiel kann ich leicht den Unterschied zwischen Streptokokken – Kokken in Ketten – und Staphylokokken – Kokken in Haufen – sehen.

Gonokokken sind dagegen am liebsten paarweise unterwegs. Sie sind Diplokokken (das Wort diplo ist griechisch für »doppel-«), und ich finde sie überall in Jörns Abstrich. Unter meinem Mikroskop sehe ich sie dicht aneinander liegend, immer zu zweit, mit der gewölbten Seite nach außen und der flachen Seite nach innen. Einige wenige liegen frei, aber die meisten liegen im Bauch der weißen Blutkörperchen, die gekommen sind, um sie zu verspeisen. Zu Jörns Pech sind die weißen Blutkörperchen mit dieser Taktik nicht besonders erfolgreich.

Ich respektiere die Gonokokken. Zu sagen, dass ich ein derart schädliches Bakterium bewundere, wäre vielleicht sonderbar, aber wenige Bakterien arbeiten härter, schlauer und zielgerichteter als die Gonokokken. Also finde ich, dass sie Respekt verdienen. Aber sie machen mir auch Angst. Zweifellos.

Während unser Körper aus Billionen von Zellen besteht, sind Bakterien einzellige Organismen. Sie sind einfach, aber gleichermaßen komplett lebendig. Genau wie unsere eigenen Zellen, genau wie alles andere Lebende auf der Welt haben sie Erbgut in sich, ihren ganz eigenen Bauplan. Das Erbgut ist in Flüssigkeit eingebettet und in eine weiche, dünne Zellmembran aus Fettstoffen eingepackt, die alles an seinem Platz hält. Ich stelle mir gerne einen winzig kleinen, bösartigen Wasserballon vor, der sich bevorzugt in den Harnröhren von Pechvögeln wie Jörn ansiedeln will.

Das, meiner Meinung nach, Unglaublichste an den Gonokokken befindet sich auf der Außenseite der Zellmembran: Gonokokken sind von haarähnlichen Auswüchsen bedeckt, die Pili genannt werden. Diese nutzen sie wie eine Art Bergsteigerhaken. Die Gonokokke wirft einen langen, dünnen Pilus aus und befestigt ihn gut an einer Schleimhaut, von der wir nicht wollen, dass sie sich daran befestigt, zum Beispiel in der Vagina oder der Harnröhre. Dann zieht das Bakterium den Pilus wieder zu sich zurück, wie wenn ein Staubsaugerkabel auf Knopfdruck eingezogen wird. Dadurch wird die Gonokokke mit dem widerlichsten Skilift der Welt zur Schleimhaut gezogen.

Die Pili der Gonokokke sind fantastisch (für die Gonokokken, nicht für uns). Ihre Bewegung wird durch einen der stärksten biologischen Motoren der Welt betrieben und lässt die Gonokokken das Einhunderttausendfache ihres eigenen Gewichts ziehen.10 Zum Vergleich: Wäre ich in der Lage, 100.000-mal mein Gewicht zu mir heranzuziehen, könnte ich etwa 35 Blauwale schleppen. Ich habe gelernt, dass wenig unmöglich ist, wenn ich nur hart genug arbeite, aber ich muss einsehen, dass »stark wie Gonorrhö« kein erreichbares Ziel für mich ist, wo ich gerade einmal 0,016 Prozent des Gewichts eines einzelnen Blauwals zu mir heranziehen könnte.

Durch das Innere der Vagina und der Harnröhre fließt ständig Flüssigkeit, und diese Flüssigkeit könnte die Bakterien mit sich herausspülen, wenn die Pili nicht wären. Die Gonokokken klammern sich fest wie Blutegel und lassen sich weder von Urin noch von Ausfluss wegspülen.

Wenn die Gonokokken Halt gefunden haben, klettern sie durch die dünne äußere Schicht der Schleimhaut und machen es sich dort in der Tiefe bequem. Sie teilen sich und teilen sich und teilen sich, und auf biblische Weise mehren sie sich und füllen die Welt. Der menschliche Körper versteht schnell, dass etwas faul ist, und ruft die weißen Blutkörperchen hinzu. Sie sind Experten fürs Verschlingen und Unschädlichmachen von Bakterien.

Normalerweise ist der Auftritt des Immunsystems eine schlechte Nachricht für unsere bakteriellen Feinde, nicht aber für die Gonorrhö-Bakterien. Sie kommen ausgezeichnet gegen alles an, was der menschliche Körper so aufzubieten hat.

Die weißen Blutkörperchen legen munter los. Sie vertilgen die Gonokokken, als wären sie Bonbons. Deshalb sieht man in den weißen Blutkörperchen massenweise kaffeebohnenförmige Diplokokken, wenn man nach Gonorrhö sucht. Aber das Fressgelage kann die Infektion aus zwei Gründen nicht stoppen: Zum einen gelingt es zu vielen Gonokokken davonzukommen. Der starke Halt der Pili macht es den Immunzellen schwerer, sie aufzuessen. Zum anderen überleben viele Gonokokken, die geschluckt werden. Die gierigen Immunzellen haben bakterienabtötende Proteine im Bauch, aber die Gonokokken können diese in Stücke schneiden. Wenn einige Gonokokken Schaden nehmen, gelingt es ihnen auf geniale Weise, dies durch Zusammenarbeit zu überleben. Sie leihen einander Erbgut und reparieren, was an ihnen selbst zerstört wurde.

Die Gonorrhö-Bakterien, die es überstehen, teilen sich im Inneren der Immunzellen weiter, bis diese zu trojanischen Pferden werden. Wenn die Immunzelle schließlich an Erschöpfung stirbt und die Zellmembran sich auflöst, fließt ein Meer frischer Gonokokken heraus, bereit, noch mehr Ärger anzuzetteln.

Üblicherweise wird die Immunabwehr beim Bekämpfen einer Krankheit mit der Zeit immer besser, weil die weißen Blutkörperchen Bakterien, die sie bereits getroffen haben, wiedererkennen und sie stärker und schneller angreifen, wenn sich ihre Wege das nächste Mal kreuzen. Das Problem an den Gonorrhö-Bakterien ist aber, dass sie sehr gut darin sind, sich zu verkleiden. Sie vertauschen die sichtbaren Proteine, sodass die Immunabwehr sie von einem auf das nächste Mal nicht wiedererkennt.

»Es ist Gonorrhö«, sage ich, zurück im Sprechzimmer bei Jörn. »Ich hab’s gesehen.«