Keltenherz - Heike Beardsley - E-Book

Keltenherz E-Book

Heike Beardsley

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Beschreibung

Eine packende, authentische und gefühlvolle Reise in die Zeit der Kelten – für Fans von Iny Lorentz, Rebecca Gablé und Ken Follett »Schämen solltest du dich! Kein echter Römer lässt sich mit Barbaren ein!«  Die Keltin Rowan und ihre große Liebe Drystan, Häuptling der Keltensiedlung auf dem Donnersberg, leiden unter dem Verlust ihres Erstgeborenen. Zusätzlich bedrohen römische Truppen das sonst so friedliche Leben im keltischen Oppidum. Allen Widrigkeiten zum Trotz entwickelt sich mehr als Freundschaft zwischen der Römerin Livia und dem Häuptlingssohn Thorin. Wird ihre Liebe der wachsenden Bedrohung standhalten? Unvorhergesehene Ereignisse stellen die langjährige Freundschaft zwischen den Kelten und den Römern auf eine harte Probe ... Das fesselnde Finale der Donnersberg-Trilogie.

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Lesen & Hören.

Redaktion: Sandra Lode

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

1. Schatten

2. Pläne

3. Rache

4. Freud und Leid

5. Opfer

6. Schmerz

7. Heilung

8. Annäherung

9. Irrungen

10. Rückkehr

11. Hoffnung

12. Entscheidungen

13. Schicksalspfade

Epilog

Glossar

Schlussbemerkung

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Mama

1. Schatten

Keltisches Oppidum auf dem Donnersberg, 73 v. Chr.

Das knirschende Geräusch von Stein, der auf Stein schabt und das flackernde Licht des Kerzenstummels, das die Dunkelheit kaum verdrängen konnte, hatten eine fast einschläfernde Wirkung auf das Mädchen. Langsam bewegte sie den schweren Stößel in der Schale hin und her. Der süß-säuerliche Duft des Krautes kitzelte sie in der Nase und es gelang ihr nur mit Mühe, ein Niesen zu unterdrücken. Seufzend legte sie ihr Arbeitsgerät zur Seite und wischte sich mit dem Saum ihres groben Umhangs über die schweißbedeckte Stirn. Dann rieb sie die verspannten Muskeln ihres Arms und ließ den Kopf im Nacken kreisen.

Die Kerze flackerte kurz auf und verriet ihren Besucher, bevor dieser hinter ihr stand. Sie ließ den schleierbedeckten Kopf hängen und wartete auf das Unausweichliche.

»Das Druidenkraut ist eine unserer wichtigsten Heilpflanzen, Edana, die mit Rücksicht behandelt werden will, ebenso wie unsere Mitmenschen. Der Trank, den ich herzustellen gedenke, bedarf feinst gemahlener Blüten. Und das da« – ein langer dünner Finger zeigte anklagend auf die Kräuterreste in der Steinschale, zwischen denen noch einige grobe Teile der rötlichen Blüte auszumachen waren – »ist noch lange nicht fein genug gemahlen. Also mach dich gefälligst wieder an die Arbeit.«

Ein erneutes Aufflackern der Kerze und das Mädchen war wieder allein. Wie sollte sie den schweren Mörser weiter bewegen, wenn ihr Hände bereits voller Blasen waren? Kurz gab sie sich ihrem Selbstmitleid hin, dann sog sie die kühle Luft tief in ihre Lunge und griff abermals nach dem Steinstößel.

Mareg hat recht, dachte sie. Ich muss mir mehr Mühe geben. Die Menschen in der Siedlung verlassen sich auf mich.

Knirsch, knirsch, knirsch – das schabende Geräusch erfüllte die Stille um sie herum. Eigentlich liebte sie es, hier im hinteren Bereich des Tempels zu arbeiten. Sie würde nie vergessen, als sie das erste Mal den durch einen schweren Vorhang abgetrennten Teil des Heiligtums, der nur den Druiden vorbehalten war, betreten durfte. Ehrfürchtig war sie damals den beiden Druiden Mareg und Meallá gefolgt. Der dick gewebte Stoff des Vorhangs schluckte jegliche Geräusche aus dem Innenraum des Tempels. Selbst laut betende Menschen am Altar waren kaum zu vernehmen. Eine durchdringende Dunkelheit herrschte im Allerheiligsten. Auch jetzt im Sommer war es finster wie die Nacht und sie brauchte ihren Umhang, um sich zu wärmen. Natürlich sorgten die Druiden mit Kerzen für Helligkeit, doch vermochte diese es mit echtem Sonnenlicht nicht aufzunehmen. Dennoch war Edana froh, denn das flackernde Kerzenlicht erzeugte, gepaart mit der Stille und der kühlen Luft um sie herum, eine, wie sie fand, geheimnisvolle Stimmung.

Erst als die letzte Blüte zerstoßen war und sie sicher sein konnte, dass Mareg mit ihrem Werk zufrieden sein würde, legte sie den Mörser wieder zur Seite. Eine klebrige Flüssigkeit rann von ihrer Handfläche, als sie die rechte Hand von dem klobigen Steinwerkzeug löste. Eine der zahlreichen Blasen hatte sich geöffnet. Sie stand auf, ging an das Regal an der hinteren Wand und nahm sich ein Stück grobes Leinen. Diesen Wundstreifen, einer von vielen, die sie selbst erst gestern zurechtgeschnitten und sorgsam aufgestapelt hatte, schlug sie um ihre Hand und faltete das Endstück geschickt ein. Dann nahm sie abermals den schweren Mörser auf und wusch ihn in einem bereitstehenden Wassereimer sorgfältig ab.

Mareg hatte ihr von Anfang an beigebracht, dass Sauberkeit die wichtigste aller Tugenden bei der Arbeit als Heilerin war. So säuberte sie anschließend die Steinschüssel und ihren Arbeitsplatz, nachdem sie das fein zermahlene Kraut in die dafür vorgesehene Schale gefüllt hatte. Damit würde Mareg später einen Heiltrank brauen.

Ob er mich diesmal selbst Hand anlegen lassen wird? Das Mädchen legte den Kopf leicht schief, eine Eigenart, die sich immer dann zeigte, wenn sie nachdachte. Sie verstand, dass sie erst die Grundlagen lernen musste, bevor sie an Versehrten oder Kranken Hand anlegen durfte. Aber das Brauen eines einfachen Suds aus Eisenkraut traute sich das Mädchen auf jeden Fall zu. Wie oft hatte sie schließlich selbst schon Kräutertee auf dem großen Topf über der Feuerstelle ihrer Kate gebraut!

Kaum fünf Lenze war sie alt gewesen, als sie die Dienstmagd ihrer Eltern so lange bekniet hatte, ihr zu zeigen, wie das ging, bis diese ihr es endlich beibrachte. Arlete hatte ihr die Geschichte so oft erzählt, dass sie sie auswendig kannte. Ihr Bruder war mit Fieber danieder gelegen, die Mutter hoch besorgt. Der Vater, wie so oft, nicht zu Hause. Arlete hatte sich Rat bei Mareg geholt, der sie direkt ins Häuptlingshaus begleitet hatte, um nach dem Rechten zu sehen. Diese erste bewusste Begegnung mit dem großgewachsenen Druiden hatte sich fest in Edanas Gedächtnis eingebrannt. Seine geschmeidigen Bewegungen, die Art und Weise, wie er sanft aber zielsicher ihren Bruder Thorin untersuchte. Die einfühlsame Stimme, wie er mit ihrer verängstigten Mutter sprach. Das schelmische Zwinkern in den Augen, als er sie ansah.

Von dem Moment an wusste sie, dass sie selbst eines Tages Heilerin werden wollte. Zu ihrer großen Freude hatte sie ihre Mutter von Anfang an in ihrem Wunsch bestärkt und beim Ältesten der Druiden, Haerviu, damals für sie vorgesprochen. Dieser hatte unter der Bedingung zugestimmt, dass das Mädchen, wenn es acht Lenze zählte, in den Tempel zog, um unter Mareg und Meallás Aufsicht zu lernen. Das war ihrer Mutter gar nicht recht gewesen, wollte sie sich doch nicht so schnell von ihrer einzigen Tochter trennen. Es hatte viele lange Gespräche gebraucht, um ihre Mutter schließlich zu überzeugen. Johs, Arletes Mann und guter Freund der Familie, war es gewesen, dem es letztendlich gelungen war, Rowan umzustimmen.

Drei Jahresläufe war es jetzt her, dass Edana in den Tempel umgezogen war. Es waren zwar nur wenige Schritte zu ihrem Elternhaus, doch war es ihr die ersten zwei Jahresläufe untersagt gewesen, dieses zu besuchen. Vor allem ihre Mutter fehlte ihr anfangs schrecklich. Wäre Meallá nicht gewesen, die einzige Frau unter den Druiden der Siedlung und diejenige, bei der das Mädchen untergekommen war, sie wüsste nicht, ob sie es ertragen hätte. Aber sie hatte auch sehr viel gelernt in dieser Zeit und war sehr selbstständig geworden. Ihre Kindheit war mit dem Eintritt in den Tempel unwiderruflich vorbei gewesen und trotz ihres zarten Alters umgab sie eine würdevolle Ernsthaftigkeit, die man bei Gleichaltrigen vergeblich suchte. Seit letztem Sommer durfte sie endlich das Tempelgelände verlassen und ihre Familie besuchen, was sie auch so oft wie möglich tat.

Das Mädchen erhob sich und streckte die klammen Glieder, bevor sie den schweren Vorhang zur Seite schob und in den Hauptaltarraum trat. Der leicht ranzige Geruch des ewigen Lichts, der einzigen Fackel im Raum, stieg ihr in die Nase, als sie auf den Altar zuschritt. Ihr geübter Blick erspähte sofort, dass alles in Ordnung war. Oftmals ließen die Siedlungsbewohner Opfergaben auf dem großen Steinquader liegen und Meallá hatte ihr beigebracht, wie sie mit diesen umzugehen hatte. Einen Teil, verderbliche Ware wie Brote und andere Lebensmittel, nutzten die Druiden für ihre eigene Ernährung. Gegenstände wie Blumengebinde oder Getreidebündel drapierten sie unter dem ewigen Feuer an der Rückseite der Wand.

Wenn Meallá die Gestirne für günstig befand, veranstalteten die Druiden ein Ritualfeuer, bei dem die Opfergaben den Flammen übergeben und der großen Mutter gehuldigt wurde. Meist wohnten viele Siedlungsbewohner diesem Schauspiel bei und brachten weitere Dinge mit, die sie Rigani opferten. Selbst die Ärmsten trennten sich von dem Wenigen, was sie hatten, um das göttliche Wohlgefallen zu erlangen. Immerhin wusste jeder, dass die Muttergöttin für das Wohl allen Lebens, auch das der Armen und Kranken verantwortlich war.

Wenigstens hat seit vielen Mondläufen kein Siedlungsbewohner mehr an Hunger sterben müssen, dachte Edana. Die Häuptlingsfrau hatte sich der Ärmsten angenommen und eine Regelung eingeführt, bei der die Händler auf dem florierenden Markt einen Obolus abgeben mussten, der den Armen zugeführt wurde. Das Bild ihrer Mutter erschien vor ihrem inneren Auge. Das gütige Gesicht, das so oft einen traurigen Zug um den Mund hatte. Sie wusste, es war wegen ihres großen Bruders Halvor, der als Säugling entführt worden war und den Rowan noch immer schmerzlich vermisste.

Doch sie konnte sich nicht beklagen. Ihre Mutter hatte sie und ihren älteren Bruder Thorin mit Liebe und Zuwendung großgezogen und sie hatte eine Vielzahl schöner Kindheitserinnerungen. Da konnte auch der Schatten, wie es Edana und Thorin immer genannt hatten, nichts ändern.

Wenn der Schatten kam, schaffte Arlete die Kinder aus dem Haus. Als sie noch klein waren, ging sie mit ihnen in ihre kleine Kate, wo sie mit den drei Mädchen der Dienstmagd so lange umhertollten, bis diese sie lachend zum Spielen nach draußen schickte.

Jetzt, wo Edana groß war, wusste sie, dass es Arlete zu verdanken war, dass der Schatten ihre Leben nicht zu sehr berührt hatte. Als sie älter waren, merkten ihr Bruder und sie von allein, wenn der Schatten auf ihrer Mutter lag und sie ihr Ruhe gönnen sollten. Zu Edanas großer Freude nahmen die Besuche des Schattens aber immer mehr ab, je mehr Zeit ins Land ging, doch sie wusste, ganz verlassen würde er ihre Familie wohl nie.

Sie kniete auf der kalten Steinstufe nieder, neigte das Haupt und betete zu Rigani. Es war das gleiche Gebet, das sie täglich sprach. Ein Ehrgebet, das ihr Rowan von klein auf beigebracht hatte: »Rigani, Mutter allen Lebens, halte deine segnenden Hände schützend über die Menschen dieser Siedlung. Sorge für die, die dir wohlgesonnen sind, und strafe die, die sich widersetzen. Große Mutter, behüte und bewahre unsere Familie. Schütze unseren Häuptling vor Gefahr und leite ihn zu Halvor, auf dass er ihn endlich wohlbehalten nach Hause bringen kann. Dir gebührt Ehre, große Mutter.«

Flink kam sie wieder auf die Beine und wandte sich in Richtung Eingang. Konnte sie es wagen? Zu gerne würde sie nach draußen gehen, um ihre steifen Glieder zu wärmen. Obwohl es noch sehr früh gewesen war, als sie und Meallá ihre kleine Kate, die direkt hinter dem Tempel lag, verlassen hatten, um in das Heiligtum zu gehen, hatte Edana gewusst, dass ein besonders schöner Sommertag hereinbrach. Keine Wolke trübte den Himmel und es war schon recht warm am frühen Morgen. Das fröhliche Lied der Vögel, das vom nahen Waldrand herüberwehte, hatte wie ein Lockruf geklungen. Würde Mareg sie zum Kräutersammeln schicken? Ihr Herz machte einen Hüpfer, als sie an die Möglichkeit dachte, doch ihre Hoffnung hatte sich alsbald zerschlagen, als er ihr den schweren Steinmörser auf den Tisch gelegt hatte. Ja, sie würde es wagen. Wenigsten für kurze Zeit wollte sie die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut spüren.

Leichtfüßig durchquerte sie den Altarraum und trat durch den Eingang nach draußen. Sie musste blinzeln, so stark blendete sie das helle Licht und ihre Augen, die fast nur Dunkelheit gewöhnt waren, begannen leicht zu tränen. Dies störte das Mädchen jedoch nicht weiter. Sie entfernte sich von dem knöchernen Bogen, der den Eingangsbereich zierte und der ihr als Kind immer einen wohligen Schauer über den Rücken laufen ließ, wenn sie ihn erblickt hatte. Aberhunderte von Knochen, filigran ineinander verwoben, boten fürwahr einen grausigen, aber auch seltsam anziehenden Anblick.

Die zahlreichen Sinneseindrücke, die auf Edana einströmten, ließen sie kurz innehalten. Die sommerliche Hitze auf der Haut, die lauten Geräusche vom nahen Marktplatz in den Ohren und der Geruch nach Erde, Staub und Pferden in der Nase überwältigten sie.

»He, Schwesterchen, bist du mal wieder Mareg entkommen?«, ertönte eine dunkle Stimme seitlich von ihr und sie wandte den Kopf in ihre Richtung. Ihr Bruder, entspannt auf einen langen Holzspeer gelehnt und mit einem breiten Grinsen im kantigen Gesicht, blickte ihr entgegen. Mit ein paar schnellen Schritten überquerte Edana den Tempelvorplatz und blieb vor ihm stehen.

»Thorin! Ich, ähm … ich mache nur eine kleine Pause«, schwindelte sie und sah zu ihm auf. »Was machst du hier?«

Thorin schmunzelte. »So, so, eine kleine Pause …«

Das Mädchen neigte ihr Haupt, um das sich rötende Gesicht zu verbergen. Sanft fasste er ihr Kinn mit seiner rauen Hand und hob es an. »Eda, mir musst du nichts vormachen. Ich verstehe sowieso nicht, wie du es tagein, tagaus in diesem finsteren Loch« – er wies mit dem Kinn in Richtung Tempel – »aushältst.«

Trotzig, mit dem kleinen Fuß auf den Boden stampfend, erwiderte das Mädchen: »Die Arbeit im Tempel ist heilig, das weißt du genau, Thorin. Sei froh, dass andere für dich beten, da dir dein Seelenheil offensichtlich so gleichgültig ist. Ich werde die große Mutter bitten, dir deine unbedachten Worte zu verzeihen.«

Ihr Gegenüber lachte laut auf und klopfte ihr dabei so fest auf die Schulter, dass ihre Beine fast nachgaben. »Ist schon gut, Schwesterchen. Bete du mal für uns alle, ich kümmere mich derweil um die Sicherheit der Siedlung.«

Mit diesen Worten machte er kehrt und stapfte lachend davon in Richtung der Wallanlage.

Kopfschüttelnd sah Edana dem feuerroten Haupt ihres Bruders nach. Wie konnte er nur so unbedacht sprechen? Ohne das Wohlwollen der Muttergöttin gab es keine Sicherheit in der Siedlung. Aber wenn sie es so recht bedachte, war Thorin noch nie besonders gläubig gewesen. Wohl kam er zu den großen Festen in den Tempel, was aber eher daran lag, dass es von ihm als Häuptlingssohn erwartet wurde. Ihre Mutter hatte ihm das unmissverständlich klar gemacht.

Mit Mareg, der seit Haervius Tod vor zwei Jahresläufen den Druiden vorstand, verstand er sich auch gut, was wichtig war, arbeiteten Druiden und Häuptling doch seit eh und je eng zusammen. Haerviu hatte ihrem Vater mit Rat und Tat zur Seite gestanden, eine Aufgabe, die nun Mareg übernahm. Der sanfte Heildruide hatte Thorin einst das Leben gerettet, weshalb dieser wohl eine enge Verbundenheit mit ihm spürte.

Die großgewachsene Gestalt ihres Bruders mit dem langen roten Umhang und dem Schwert an der Seite erinnerte sie plötzlich an ihren Vater. Vater … Sie seufzte. Aus Erzählungen ihrer Mutter, von Arlete und Johs wusste sie, dass er einst ein stolzer Häuptling gewesen war. Ein muskelbepackter Hüne, dessen Gestalt und kantiges Kinn ihr Bruder geerbt hatte. Nur die roten Haare hatte er von ihrer Mutter. Sie selbst hatte das hellblonde Haar ihres Vaters, hielt dieses jedoch meist unter einem Schleier verborgen. Das war auch gut so, erinnerten ihre Haare ihrer Mutter doch jedes Mal an Halvors blonden Flaum … Abgesehen davon war es üblich, das Haupthaar zu verdecken. Ihr Druidenumhang mit der langen Kapuze und den trompetenförmigen Ärmeln, den sie beim Eintritt in den Tempel erhalten hatte, bewerkstelligte dies ohne Schwierigkeiten.

Ihre Augen folgten Thorin, bis er von einer großen Staubwolke verschluckt wurde, als ein paar Reiter vorbeipreschten. Edana reckte den Hals, um zu sehen, wer es wagte, so schnell durch die Siedlung zu galoppieren. Die Wachen am Tor wiesen Besuchern einen Platz für ihre Reittiere zu. Bei den Menschenmengen, die sich mittlerweile auf dem Donnersberg befanden, wäre alles andere zu gefährlich. Es gab nur zwei, denen es erlaubt war, mit ihrem Gefolge in der Siedlung zu reiten. Dem Häuptling und dessen Sohn.

Tatsächlich! Es war ihr Vater, der in Begleitung von Dorran, seiner rechten Hand, und Bran auf das Häuptlingshaus zuhielt. Kurz drehte er den Kopf und sein Blick streifte sie. Unwillkürlich hob Edana die Hand zum Gruß.

»Vater …«, hauchte sie, doch er war so schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Sie ließ den Arm sinken und seufzte. Ein großartiger Anführer, ein Mann wie ein Baum, ein liebevoller Vater … Die Worte ihrer Mutter aus den vielen Erzählungen abends am Feuer, wann immer ihr Vater nicht zu Hause war, was oft der Fall war, weil er wieder mal auf der Suche nach Halvor war, hallten in ihrem Kopf. Wie so häufig drängte sich ihr die Frage auf, ob es nicht besser gewesen wäre, ihr Vater hätte damals bei der ersten Suche den Leichnam des Kindes gefunden. Wie anders hätte ihrer aller Leben verlaufen können!

Augenblicklich spürte sie Gewissensbisse. Sie war als Heildruidin eine Bewahrerin des Lebens. So durfte sie nicht denken! Außerdem war Halvor ihr Bruder! Sie schüttelte den Kopf über sich selbst und blickte der Staubwolke hinterher, die das Pferd ihres Vaters aufwirbelte. Nein, als liebevoll hatte sie ihn nie erlebt. Abweisend war er zwar nicht, eher gleichgültig ihr gegenüber. Nur wenn er ihre Mutter ansah, ja, da sah sie Liebe in seinen blauen Augen aufblitzen. Oder wenn er von Halvor spricht, meldete sich eine kleine Stimme in ihrem Kopf. Thorin behandelte er streng. Einen Häuptling müsse er schließlich aus ihm machen, sagte er oft, und viele Nächte hatte sie ihre Mutter auf ihn einreden hören, dass er sich zurückhalten solle. Ihr Bruder tat so, als wäre es ihm gleich. Oftmals hatte sie versucht, mit ihm darüber zu sprechen, immer mit dem gleichen Ergebnis.

»Ich bin ein Mann und eines Tages werde ich Häuptling, Eda. Vater muss mir zeigen, was ich zu tun habe.« Sprach es und reckte sein damals kindlich rundes Kinn in die Höhe.

Ihr Bruder war seit jeher hart im Nehmen. Das schien ihrem Vater zu gefallen, was Thorin noch mehr anspornte. Immerzu kam er mit irgendwelchen Blessuren nach Hause, die er sich im Kampf mit anderen Jungen zugezogen hatte. Rowan jammerte und versorgte mit Edas Hilfe seine Wunden, sein Vater klopfte ihm nur schweigend auf die Schultern.

Es war einige Tage her, seit Vater aufgebrochen war. Was trieb ihn im Galopp zum Häuptlingshaus? Normalerweise ließ er die Pferde bei den Wachen am Tor, damit diese sich um sie kümmerten.

Sie spürte, wie ihr Herz schneller klopfte. Hatte er eine Spur von Halvor gefunden? Sie wusste, sie durfte sich auf keinen Fall ohne Mareg oder Meallás Erlaubnis von der Tempelanlage entfernen, trotzdem hob sie ihren langen Rock und rannte, im Takt ihres stetig schneller klopfenden Herzens, in Richtung ihres Elternhauses. Erstaunt blickten ihr die Siedlungsbewohner nach. Es geziemte sich nicht für ein Druidin, wie ein Dorfkind durch die Straßen zu rennen. Doch das war ihr schlicht gleichgültig. Ihr Vater hatte es eilig, also gab es Neuigkeiten. Heftig schnaufend erreichte sie die Häuptlingskate, vor der Bran und Dorran mit den Pferden am Zügel warteten. Bran war den Tieren zugewandt, deren Fell vor Nässe dampfte. Der ältere Krieger jedoch blickte ihr entgegen. Sein Gesicht war ausdruckslos. Er hob lediglich seine Augenbrauen, dann nickte er ihr zu.

»Ich grüße euch«, murmelte sie, lief an ihnen vorbei und stieß die schwere Holztür auf.

Stille.

Ihre Augen, die Dunkelheit gewöhnt waren, suchten den Hauptraum ab, konnten jedoch weder Mutter noch Vater entdecken. Sie atmete tief durch, um das Trommeln ihres Herzens zu beruhigen, dann tapste sie weiter. Jetzt hörte sie es, ein leises Weinen, nein, eher eine Art Wimmern, wie sie es nie zuvor vernommen hatte. Es kam aus dem Schlafbereich ihrer Eltern, der mit einem Vorhang vom Hauptraum abgetrennt war.

»Ich ertrage es nicht, Rowan.«

Vaters Stimme … Edana lief es eiskalt den Rücken hinunter. Hatte sie recht mit ihrer Vermutung, dass etwas mit Halvor war?

»Sch, sch«, hörte sie ihre Mutter, gepaart mit einem lauter werdenden Schluchzen ihres Vaters.

»Edana, trete ein.« Rowans Stimme klang gefasst und ruhig. Das Mädchen wunderte sich nicht, dass sie sie gehört hatte, denn dass ihre Mutter über ein ausgezeichnetes Gehör verfügte, wusste sie schon von Kindesbeinen an.

Vorsichtig schob sie den schweren Stoff zur Seite und schlüpfte in die Kammer. Rowan saß aufrecht auf dem Holzbett, die schmalen Füße fest auf dem Boden, und blickte ihr entgegen. Ihr Vater lag zusammengekauert auf dem Bett, den Kopf auf dem Schoß ihrer Mutter, die sein blondes, von vielen weißen Strähnen durchzogenes Haar unermüdlich streichelte.

Das Mädchen erschrak zutiefst. Sie hatte ihren Vater mit dem Schatten erlebt, doch niemals hatte sie den stolzen Häuptling hilflos und wie ein Kleinkind schluchzen sehen.

»Es ist Halvor«, bestätigte Rowan Edanas Vermutung. Ihre Stimme klang belegt, aber gefasst. »Dein Vater ist der Überzeugung, ihn ausfindig gemacht zu haben. Ein alter Mann, der in einem Verschlag haust, ganz in der Nähe von dem Platz, wo er einst Aurelia gefunden hat, sagte, dass er vor vielen Jahren von einem ausgesetzten Säugling gehört hat.«

»Aber das ist doch großartig«, rief Edana aus. »Mein Bruder lebt!«

Rowans Gesicht, das bis auf kleine Fältchen um die Augen und Mundwinkel noch glatt und ebenmäßig war, verdüsterte sich. »Ja, das hat er.« Sie atmete tief ein, dann fuhr sie fort: »Du weißt doch, dass immer wieder Römerpatrouillen in der Gegend auftauchen?«

Edana nickte. Ihr schwante Übles.

»Der Alte behauptet, dass er mitbekommen hat, dass der Junge wohl von einer römischen Truppe entdeckt wurde, als er jagen war.« Rowans Stimme brach.

»Ist er … Ist er tot?« Edana flüsterte die Frage fast. Alles in ihrem Inneren wehrte sich dagegen, sie zu stellen. Es konnte nicht sein. Nein, es durfte nicht sein!

Der laute Schluchzer ihres Vaters und ein schwaches Nicken ihrer Mutter zerstörten diese Hoffnung augenblicklich.

»Aber wann soll das denn geschehen sein?«, flüsterte Edana verzweifelt.

Rowan zuckte hilflos mit den Schultern.

»Der Mann war wohl nicht ganz klar im Kopf und hat seine Geschichte immer wiederholt. Dein Vater hat nicht viel mehr von ihm erfahren, aber er ist sich sicher, dass der Mann von Halvor sprach.«

»Aber warum denn?«, hakte Edana nach. »Wer weiß denn schon, vom wem der verwirrte Alte gesprochen hat? Wer hat das Kind denn aufgezogen? Wo hat er bis zu seinem Tod gelebt?«

»Edana, sei vernünftig«, sagte Rowan leise, ohne auf die Fragen ihrer Tochter einzugehen. »Was glaubst du wohl, wie viele Säuglinge in dieser Gegend ausgesetzt wurden? Wir müssen uns wohl mit der Tatsache abfinden, dass dein Bruder tot ist.« Tränen rannen über Rowans Wangen und sie vergrub ihr Gesicht in Drystans Haaren.

»Nein!«

Edana raffte ihr langes Gewand, drehte sich um und rannte aus der elterlichen Kate. Sie bemerkte die Menschen, die sie anstarrten, nicht. Mit tränenverhangenem Blick eilte sie in Richtung der kleinen Lichtung, auf der sie oft Kräuter sammelte. Sie ließ sich im Schatten eines Baumes nieder und bettete den Kopf auf ihre Knie. Was hatte sie nur getan? Hatte sie den Tod des Bruders durch ihre verwerflichen Gedanken zu verantworten? Aber sie hatte sich doch nur eine schönere Kindheit gewünscht, ohne die endlose Suche des Vaters nach dem Erstgeborenen und ohne den elendigen Schatten! Wenn die Geschichte des alten Mannes stimmte, wieso nur hatte ihr Vater ihn nicht viel früher gefunden? Wie viele Jahre der vergeblichen Suche wären ihm erspart geblieben? Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, heiße Tränen nässten ihr Gewand. Sie versuchte nicht, den Tränenstrom zu stoppen, wusste sie doch, dass dieser auch eine heilende Wirkung haben konnte. So weinte sie ihre Trauer über verpasste Kindheitsträume und den Tod des Bruders heraus.

Ein kleines Blatt, das von der Baumkrone über ihr herabgesegelt war, kitzelte sie plötzlich am Nacken und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Mit dem Saum ihres Gewandes wischte sie ihr Gesicht trocken, lehnte sich an den Baumstamm und blickte nach oben in das raschelnde, grüne Blättermeer. Menschen kamen und gingen, genau wie die Blätter an diesem Baum, dachte sie. Doch wer bestimmte die Geschicke dieser? Sie, die kleine Druidin, die kaum Lebenserfahrung hatte? Plötzlich schämte sie sich. Wie konnte sie nur so vermessen gewesen sein, zu glauben, ihre Gedanken könnten den Tod eines anderen Menschen bewirken? Zu ihrer Scham gesellte sich Erleichterung.

Sie senkte das Haupt und sagte leise: »Verzeih mir, Muttergöttin. Du allein bist es, die die Geschicke der Menschen leitet.«

Am nächsten Tag, Edana hatte lange und traumlos geschlafen, gestattete ihr Mareg, ihr Elternhaus aufzusuchen. Sie wusste, es würde das letzte Mal für einen halben Mondlauf sein – ihre Strafe für ihren Ungehorsam für das unerlaubte Verlassen des Tempelgeländes gestern. Ihr Kopf fühlte sich seltsam leer an. Jeder Gedanke war gedacht, jede Träne geweint. Ihr fester Glaube bot ihr Trost. Jetzt war es an ihr, Mutter und Vater in dieser schweren Zeit beizustehen. Edana hatte Kräuter mitgenommen, um einen beruhigenden Sud zu brauen. Der würde ihrer Mutter gut tun. Wie sie ihrem Vater helfen konnte, wusste sie nicht.

Ihr Verhältnis zu ihm war nicht eng. Er war selten zu Hause gewesen und wenn er da war, beschäftigte er sich mit Mutter oder Thorin. Für sie war weder Zeit noch Platz gewesen. Es gab nur wenige Momente in ihrer Erinnerung, in denen er ihr zärtlich über das Haar gestreichelt hatte oder sie auf seinem Schoß saß. Hätte sie ihren Großvater Alan nicht gehabt, der sie von vorne bis hinten verwöhnt hatte, sie hätte sich tatsächlich manchmal einsam fühlen können. Leider war ihr geliebter Großvater kurz vor ihrem Eintritt in den Tempel und direkt nachdem ein Fieber ihre Großmutter dahingerafft hatte, gestorben. So verschieden die beiden gewesen waren, schien sie doch eine große Liebe verbunden zu haben, da er ihr so schnell in den Tod gefolgt war, dachte das Mädchen.

Tod … Der Gedanke ließ sie ihre Schritte beschleunigen. Sie musste zu ihren Eltern, um ihnen nach Halvors Verlust beizustehen. Vor der Kate erblickte sie Thorin und Iain, die sich leise unterhielten. Die beiden jungen Männer sahen auf, als sie ihrer gewahr wurden.

»Schwesterchen«, sagte Thorin und lächelte ihr entgegen. Iains Gesicht blieb ausdruckslos, er nickte nur kurz.

»Und? Wie geht es ihnen?« Edana deutete mit dem Kinn in Richtung Häuptlingshaus.

Thorin strich sich mit einer Hand durch die schulterlange rote Mähne, dann zuckte er mit den Schultern. »Wie soll es ihnen schon gehen? Ihr Erstgeborener ist tot.«

Seine dunkle Stimme klang unsicher. Edana wurde bewusst, dass ihr Bruder nicht wusste, wie er mit der Nachricht umgehen sollte oder gar, was er zu fühlen hatte. Im Grunde ging es ihr nicht anders als ihm. Nachdem der erste Schock abgeklungen war und sie sich nicht schuldig fühlte, hatte sie in sich hineingehorcht. Doch sie spürte kaum etwas, außer einer Traurigkeit, die aber dem Gram der Eltern geschuldet war und nichts mit ihren eigenen Gefühlen zu tun hatte.

Für Mutter und Vater tat es ihr unendlich leid. Sie leiden zu sehen war eine Qual für das Mädchen. Sie selbst hatte Halvor jedoch nie gekannt. Er war weit vor ihrer Geburt verschwunden und alles, was sie von ihm wusste, stammte von den wenigen Erzählungen, die sie mitbekommen hatte. Man sprach nie offen über ihn, vor allem nicht vor ihrer Mutter. Das hatte sie schon von klein auf verstanden. Denn sonst kam der Schatten und manchmal blieb er für einen halben Mondlauf oder länger. Jedes Jahr, am Jahrestag seiner Geburt, erzählte sie von ihrem Kind mit dem weichen blonden Haarflaum, dann wurde wieder geschwiegen.

»Ist doch gut, dass die beiden endlich Gewissheit haben. Mir war von Anfang an klar, dass Halvor nicht mehr lebt.« Iains Stimme klang leicht rau, als hätte er am Vortag den einen oder anderen Krug Met zu viel getrunken.

»Das kannst du nicht wissen, Iain«, wies Edana ihn scharf zurecht. »Wenn ich das gestern richtig verstanden habe, wurde er erst später als Junge aufgegriffen und getötet. Wo er wohl bis dahin gelebt hat? Wer hat ihn aufgezogen?«

»Pah, wenn der zu dämlich ist und sich von dem Römerpack fangen und abschlachten lässt, dann ist es vielleicht besser so, wie es gekommen ist. Ein feiner Häuptling wäre das gewesen.« Iains Blick ging Zustimmung heischend zu seinem Ziehbruder, den um einen Kopf größeren Thorin.

Der jedoch schüttelte den Kopf. »Sag so was nie wieder, Iain. Halvor ist« – eine kurze Pause, dann räusperte er sich – »Halvor war der Erstgeborene. Er hätte mit Sicherheit einen hervorragenden Häuptling abgegeben.«

Iain zog verärgert die Augenbrauen hoch. »Wenn er so hervorragend war, warum ist er dann nicht einfach zurück auf den Donnersberg gekommen?«

Jetzt wurde es dem Mädchen zu viel. Sie stampfte mit dem Fuß fest auf den Boden und ergriff Iains Arm.

»Halt doch einfach den Mund! Du redest so einen Unsinn. Es ist unfassbar! Sei doch endlich still.«

Mit einer flinken Bewegung packte ihr Ziehbruder den Arm, der ihn hielt, drehte ihn brutal um und zwang sie in die Knie. Tränen schossen ihr in die Augen, doch sie blickte trotzig zu ihm auf.

»Ja, du bist stärker als ich, Iain. Doch deine Brutalität ist kein Maß für meinen Verstand.«

Mit einem missmutigen Schnauben ging Thorin dazwischen und befreite sie aus ihrer misslichen Lage. »Lasst das, das bringt jetzt nichts.«

Edana erhob sich langsam und klopfte den Staub aus dem bodenlangen Kleid. Sie überlegte, ob sie noch etwas sagen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Ihren Eltern musste die Aufmerksamkeit jetzt gelten, nicht Iain. Es ärgerte sie trotzdem, dass er sie so behandelte. Immerhin waren sie zusammen aufgewachsen.

Die Eltern des jungen Mannes waren beide tot, sein Vater Biorach war als Verräter gestorben und seine Mutter Berit, die Rowans Schwester gewesen war, hatte so viel Leid über die Familie gebracht, und doch war es für Rowan selbstverständlich, dass der Junge damals bei ihr aufwuchs. Edana wusste, dass Berit am Verschwinden Halvors schuld war und bei der Flucht vor ihrem Vater ums Leben kam, aber mehr wusste sie über die Umstände damals nicht. Auch dieses Thema war in der Häuptlingskate tabu.

Edana warf Iain noch einen wütenden Blick zu, bückte sich daraufhin, um das Kräuterbündel aufzuheben, das ihr vorhin aus der Hand gefallen war, und schritt zur Eingangstür. Sie klopfte kurz, dann trat sie ein. Zu ihrer Erleichterung bemerkte sie, dass das Feuer schon brannte. Arlete legte gerade einen neuen Holzscheit in die Flammen, anschließend wandte sie sich ihr zu.

»Kind, wie gut, dass du gekommen bist.«

Edana nickte, dann öffnete sie die Schnur, die die Lederhaut mit dem kostbaren Inhalt zusammenhielt. »Johanniskraut, Lavendel und Zitronenmelisse«, zählte das Mädchen auf. »Zur Beruhigung.«

Die rundliche Dienstmagd nickte, dann nahm sie ihr die Kräuter ab und setzte den Kessel auf die Feuerböcke, deren Enden wie das kunstvolle Geweih eines prächtigen Hirschen geschmiedet waren. Eine Zeit lang schwiegen die beiden und warteten. Dann nahm die Magd ein weiteres Gefäß zur Hand, in dem sie den wertvollen Honig aufbewahrte, und gab einen guten Schuss in das Gebräu. Edana nickte. Kräuter konnten bitter schmecken, das wusste sie aus eigener Erfahrung.

Sie nahm zwei Trinkbecher aus einem Holzregal an der Wand und goss den Sud mit einer Kelle vorsichtig hinein. Dann ging sie, Arletes besorgten Blick in ihrem Rücken spürend, langsam nach hinten zum Schlafbereich. Als sie eintrat, war es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Der Häuptling lag in gekrümmter Haltung mit angezogenen Beinen auf der Bettstatt, den Kopf auf dem Schoß seiner Frau, die diesen unablässig streichelte. Ihre Mutter sah mit seltsam leerem Blick auf, als sie eintrat.

»Ich habe euch einen stärkenden und beruhigenden Trank mitgebracht.« Das Mädchen erschrak selbst über die Lautstärke ihrer Stimme in der stillen Kammer.

Ihre Mutter lächelte. »Du bist ein gutes Kind, Eda«. Sie strich ein letztes Mal über das strubbelige Haar ihres Mannes, dann streckte sie die Hände nach dem Gefäß aus.

»Stell Vaters Trunk auf den Boden. Ich werde dafür Sorge tragen, dass er ihn zu sich nimmt.«

Sie nickte und tat, wie ihr geheißen. Anschließend verharrte sie unsicher.

Rowan lächelte sie abermals an. »Geh ruhig. Hier kannst du im Moment nichts tun.« Sie schien kurz zu überlegen. »Sei so gut und sag Mareg, dass es bei Brealla demnächst so weit ist. Ich wollte ihr bei der Niederkunft beistehen, doch daraus wird jetzt wohl erst einmal nichts. Sie hat große Angst, ist es doch ihr erstes Kind.« Bei den Worten erstes Kind legte sich ein Schatten auf das Gesicht ihrer Mutter. Nicht ein Schatten, korrigierte sich das Mädchen, sondern der Schatten. Der altbekannte Begleiter ihrer Familie, den sie voller Inbrunst hasste.

Sie nickte kurz, danach verließ sie gehorsam die Schlafkammer. Arlete sah sie fragend an, als sie an ihr vorbei zur Eingangstür lief, doch sie schüttelte als Antwort nur traurig den Kopf.

Helles Sonnenlicht, das so gar nicht zu ihrer düsteren Stimmung zu passen schien, umfing sie, kaum dass sie nach draußen getreten war. Sie blinzelte, wischte sich eine Träne von der Wange, dann bemerkte sie Thorin, der immer noch vor der Kate stand. Von Iain war weit und breit keine Spur.

Gut so, dachte das Mädchen. Den hätte ich jetzt nicht noch einmal ertragen können.

Ihr Bruder blickte sie fragend an.

»Ich habe ihnen etwas zur Beruhigung gegeben.«

Ein Nicken und ein verunsicherter Blick antworteten ihr.

»Thorin.« Sie ergriff seine schwielige Hand. »Mir ergeht es wie dir. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll, und schon gleich gar nicht, was ich tun soll. Ja, Halvor war mein Bruder, doch ich kannte ihn nicht. Die einzigen Brüder, die ich kenne, sind du und Iain.«

Thorins Gesicht hellte sich ein wenig auf. »Ich bin froh, dass du das sagst, Eda. Mir geht die ganze Zeit durch den Kopf, was für ein schlechter Bruder ich bin, dass ich keine Trauer um Halvor empfinde. Zu hören, dass es dir genauso geht, hilft mir wirklich.«

Das Mädchen drückte seine Hand. »Wir können jetzt nur versuchen, für Mutter und Vater da zu sein. Ich werde dafür Sorge tragen, dass sie jeden Tag einen neuen Kräutersud erhalten. Auch wenn ich ihn nicht selbst bringen kann …«

Ein fragender Blick des Bruders nötigte sie zu einer Erklärung. »Maregs Strafe für das Verlassen des Tempelgeländes gestern.« Sie seufzte und zuckte mit den Schultern.

Thorin grinste. »Es ist ja nicht das erste Mal, nicht wahr, Schwesterchen?« Er knuffte sie freundschaftlich in die Seite. »Aber mal im Ernst, ich werde Arlete täglich zu dir schicken, damit sie die Kräuter holt. Außerdem werde ich Vater hier in der Siedlung vertreten, mich um die Wachmannschaft kümmern und auch alles weitere regeln.«

Erstaunt blickte Edana zu ihrem Bruder auf. Traute er sich das wirklich zu? Sie wusste zwar, dass er seit eh und je seinem Vater bei den Pflichten auf dem Donnersberg zur Seite stand, immerhin würde er eines Tages Häuptling der Siedlung sein. Doch noch nie war er allein verantwortlich für die Siedlung gewesen. Ein Blick in sein Gesicht verriet ihr, dass er wohl ähnlich dachte.

»Ich denke, es wäre in Vaters Sinne, wenn du dich mit Dorran besprichst.« Ihre Stimme klang vorsichtig. Sie wollte ihren großen Bruder nicht verärgern, doch konnte es sicher nicht schaden, wenn er Rat bei Vaters rechter Hand einholte.

Zu ihrer Erleichterung nickte Thorin. »Das habe ich vor. Mach dir keine Gedanken, Schwesterchen. Ich begleite dich noch zum Tempel, nicht, dass du unterwegs abermals abhanden kommst« – er zwinkerte ihr schelmisch zu – »dann begebe ich mich auf direktem Wege zu Dorran und bespreche mich mit ihm.« Er straffte die Schultern und reckte das Kinn mit dem leichten roten Flaum in die Höhe: »Ich bin bereit, Eda. Ich kümmere mich um alles, mach dir keine Sorgen.«

Sie seufzte erleichtert. Das war der Thorin, den sie kannte, strotzend vor Selbstbewusstsein und voller Tatendrang. Gemeinsam würde es ihnen schon gelingen, diese schwierige Zeit zu überstehen.

»Thorin«, sagte Edana leise und legte die Hand auf seinen Arm, als sie am Tempel angekommen waren, »was, wenn der alte Mann Unsinn erzählt hat und Halvor noch irgendwo dort draußen lebt?«

Thorin sah sie verständnislos an. »Wie kommst du denn auf so eine Idee?«

»Du weißt doch, dass ich seit längerer Zeit auch die alten Menschen in der Siedlung besuche. Das gehört zu meiner Ausbildung.«

Thorin nickte. »Und weiter?«

»Nun ja, einige Menschen werden im Alter etwas sonderbar. Was, wenn der Mann, den Vater gesprochen hat, ebenfalls nicht ganz richtig im Kopf ist? Was, wenn die ganze Geschichte nicht stimmt?«

Thorin legte seinen Arm um das Mädchen und drückte sie kurz an sich.

»Ich verstehe deine Sorge, Edana.« Er hob ihr Kinn an, um seiner Schwester in die Augen zu blicken. »Vater hat viele Jahre vergeblich nach Halvor gesucht. Er und Mutter haben genug gelitten, meinst du nicht?«

Edana nickte stumm.

»Wir können nicht wissen, ob der alte Mann die Wahrheit sprach, aber es ist Zeit, mit dem Leben weiterzumachen.« Er sah sie eindringlich an. »Für uns alle!«

»Du hast recht. Wir werden für Mutter und Vater da sein, aber die elende Sucherei muss ein Ende haben.«

»So ist es«, sagte Thorin mit fester Stimme. »Vielleicht kehrt dann endlich so etwas wie Ruhe ein.«

Er küsste seine Schwester auf die Stirn, bevor er sich abwandte und davonging. Lange blickte Edana dem großgewachsenen Krieger hinterher, bevor sie sich ins Innere des Tempels begab.

2. Pläne

Römisches Weingut in der Nähe von Borbetomagus, 73 v. Chr.

»Livia! Wo steckst du nur wieder, Mädchen?«

Kichernd flitzte die Gesuchte um die Ecke der Villa Rustica und verschwand hinter einer großen Säule. Schwer atmend hielt sie inne und spähte vorsichtig aus ihrem Versteck hervor.

Stirnrunzelnd stand die alte Mara vor dem Eingangsportal, die Arme in die breiten Hüften gestemmt, und hielt nach allen Seiten Ausschau. Sie sah dabei so entrüstet aus, dass Livia sich die Hand vor den Mund presste, um nicht laut aufzulachen. Mara tat gerade so, als hätte sie etwas furchtbar Schlimmes angestellt, dabei wollte sie doch nur ihre freie Zeit genießen, nach den langen, qualvollen Unterrichtswochen, bei denen sie vor Langeweile beinahe umgekommen wäre. Mara hatte allen Ernstes vorgeschlagen, Livia während ihrer unterrichtsfreien Zeit mit der Haushaltsführung vertraut zu machen! Mit ihren neunzehn Jahren sei sie schließlich längst im heiratsfähigen Alter!

Belustigt sah Livia zu, wie Mara sich die krausen, weißen Haare zurückstrich und dann kopfschüttelnd in der Villa verschwand. Zweifellos würde sie nun Livias Mutter Aurelia ihr Leid klagen oder sie gleich bei ihrem Vater Caius anschwärzen. Livia liebte Mara von ganzem Herzen, immerhin hatte sie ihr seit ihrer Geburt zur Seite gestanden, aber manchmal konnte die ehemalige Sklavin ganz schön anstrengend sein. Als sie sich einmal über ihre Strenge bei ihrem Vater beschwerte, hatte er ihr liebevoll über den dunklen Schopf gestrichen. Dann hatte er ihr schmunzelnd gebeichtet, dass auch er als kleiner Junge hin und wieder der strengen Aufsicht seines ehemaligen Kindermädchens entflohen war.

Nachdem er in die Rheinlande gezogen war, war Mara ihrem Schützling über die Alpen gefolgt, um sich auf dem Weingut, das Caius betrieb, niederzulassen. Seither war sie die gute Seele des Hauses und half, wo sie gebraucht wurde. Sie scheuchte die Haussklaven umher und sorgte dafür, dass sie ihre Arbeit anständig verrichteten. Jedoch hatte sie für jeden, der es benötigte, ein liebevolles Wort übrig und wurde trotz ihrer Strenge von allen verehrt.

Livia blickte sich um. Was konnte sie mit ihrer freien Zeit anfangen? Obwohl die Sonne noch nicht hoch am Himmel stand, wurde es bereits drückend heiß. Sie schwitzte in ihrer schweren Kleidung und überlegte, ob sie es wagen konnte, die Stola abzulegen, die sie über der ärmellosen Tunika trug und die ihre Arme bedeckte. Kurz entschlossen löste sie die beinernen Spangen, die Fibulae, die die Stola auf beiden Schultern zusammenhielten, und schlüpfte aus dem schweren Stoff. Erleichtert seufzte sie auf. Was für eine Wohltat!

Rasch verstaute sie das blaue Gewand hinter der Säule und folgte anschließend dem Weg, der an der Seite des Herrenhauses entlangführte. Sie atmete tief durch, als sie die Ausläufer des Weinberges erreichte und verlangsamte ihre Schritte. Sie liebte diesen Ort. Schon als kleines Mädchen hatte sie ihre freie Zeit am liebsten hier verbracht. Ihr Vater hatte sie auf seinen Schultern durch die grünen Rebstöcke getragen und Livia hatte den Blick über die langen, akkurat geordneten Reihen schweifen lassen. Von oben genoss man eine sagenhafte Aussicht auf den Rhenus, der sich majestätisch durch die hügelige Landschaft schlängelte. Sie schloss die Augen und sog tief den herben, würzigen Duft der erwärmten Erde ein. So roch Heimat!

Plötzlich legte sich eine Hand schwer auf ihre Schulter. Erschrocken fuhr Livia herum.

»Vater«, seufzte sie erleichtert, als sie Caius erkannte. Der Winzer sah sie streng an.

»Solltest du nicht bei Mara sein?«

Schuldbewusst senkte Livia ihren Blick.

»Ja, Vater.«

»Was machst du dann hier? Und wie siehst du überhaupt aus?«

Livia zuckte mit den schmalen Schultern. Caius fasste unter ihr Kinn und hob es sanft an. Die Mundwinkel im wettergegerbten Gesicht ihres Vaters zuckten. Um die dunklen Augen hatten sich etliche Lachfältchen eingegraben. Livia fand jedoch, dass Caius trotz seines Alters gut aussah. Obwohl er schon jenseits der Vierzig war, war sein Haar voll und nur an den Schläfen ergraut. Er überragte sie um über eine Haupteslänge und seine Gestalt war nach wie vor sehnig und schlank.

»Livi, du erinnerst mich sehr an mich früher«, sagte er schmunzelnd. »Für mich gab es auch nichts Schöneres, als den lieben langen Tag durch die Weinberge zu streifen.«

Livia schob ihre Hand in Caius’ schwielige und schenkte ihm einen liebevollen Blick.

»Dann weißt du ja, warum es mich wahnsinnig macht, wenn ich den ganzen Tag im Haus verbringen soll, um zu lernen, wie man einen Haushalt führt.«

»Ich verstehe dich sehr gut, aber du bist kein kleines Kind mehr, Livi. Du bist eine erwachsene Frau geworden und musst solche Dinge lernen.«

Ein Feldsklave näherte sich mit einer Hacke in der Hand und verbeugte sich kurz, als er seinen Dominus und dessen Tochter erkannte, bevor er seinen Weg fortsetzte.

»Wieso sollte ich all diese Dinge lernen, wenn ich sowieso nie einer Villa vorstehen werde?«, fragte Livia trotzig.

Ihr Vater verdrehte die Augen. »Fang bitte nicht wieder davon an.«

»Und wieso nicht? Ich habe nicht vor, die brave Hausfrau und Mutter zu spielen. Ich will frei sein und die Welt auf eigene Faust entdecken.« Livias Augen blitzten, als sie sich in Rage redete. »Mutter mag mit diesem Leben zufrieden sein, aber ich bin es noch lange nicht!«

Caius schob seine Tochter ein Stückchen von sich und sah ihr in die Augen.

»Deine Mutter tut alles für ihre Familie«, sagte er ernst. »Ihre Aufgabe ist es, allen, die hier wohnen, ein Heim zu bieten, alle zu versorgen und sich darum zu kümmern, dass alles seinen Gang geht. Wenn sie das nicht tun würde, würde es uns allen schlecht ergehen.« Er strich sich mit der Hand seufzend durch die Haare. »Ich glaube, du machst dir keinen Begriff von der Verantwortung, die deine Mutter trägt. Wir beschäftigen inzwischen über zwanzig Feldsklaven und zehn Haussklaven. Wer glaubst du, kümmert sich um sie alle? Deine Mutter! Und du findest, das sei keine wichtige Aufgabe?«

Livia senkte den Blick und scharrte verlegen mit einem Fuß in der rotbraunen Erde.

»Es tut mir leid, Vater. Ich wollte nicht respektlos erscheinen.« Sie sah auf und bemerkte erleichtert, dass er ihr nicht ernsthaft böse war.

»Lass mir einfach noch ein wenig Zeit«, bat sie ihn. »Nach den endlosen Unterrichtsstunden mit dem alten Tichon brauche ich einfach frische Luft und Bewegung.«

Caius nickte verständnisvoll.

»Ich verstehe dich, Kind. Mein Grammaticus Alexander hatte auch immer alle Hände voll zu tun, meine Aufmerksamkeit zu fesseln, wo ich doch viel lieber draußen gewesen wäre oder meinen Vater auf Handelsreisen begleitet hätte. Ich habe immer davon geträumt, einst mit ihm nach Rom zu reisen.« Sein Blick schweifte in die Ferne. »Daraus ist nie etwas geworden …«

Livias Großvater Vicinius war vor einigen Jahren in Ferrentium in der fernen Toscana verstorben. Sie hatte ihn leider nie kennengelernt, da die weite Reise über die Alpen, nicht zuletzt wegen der vielen keltischen Stämme, die den Römern nicht gerade wohlgesonnen waren, zu gefahrenreich war. Caius war ebenfalls nie in seine Heimat zurückgekehrt, da er mit der Leitung des Weingutes, das er vom Vater seiner Frau Aurelia geerbt hatte, alle Hände voll zu tun hatte. Unter seiner Führung hatte sich der Ertrag verdoppelt. Etliche neue Gebäude hatten gebaut werden müssen, um die Amphoren vollmundigen Weines zu lagern.

»Da du selbst so gerne verreist wärst, verstehst du doch sicher, dass es mich auch in die Welt hinauszieht«, sagte Livia verschmitzt lächelnd und legte den Kopf schief.

Caius lachte und strich ihr über die Haare.

»Mein kleiner Wildfang, du bist einfach unverbesserlich!«

Er nahm ihre Hand und lief mit ihr in Richtung der Villa zurück.

»Ich mache dir einen Vorschlag: Wie wäre es, wenn du dich die nächsten Tage mit Feuereifer in die Haushaltsangelegenheiten stürzt und Mara als mustergültige Schülerin begegnest?«

Livia zog einen Schmollmund und setzte an, etwas einzuwenden.

»Lass mich bitte ausreden«, sagte Caius streng. »Im Gegenzug nehme ich dich bei meiner nächsten Fahrt auf den Donnersberg mit.«

Livia jauchzte und fiel ihrem Vater um den Hals.

»Oh danke, danke, lieber Vater! Endlich darf ich Thorin wiedersehen!«

Lachend wirbelte Caius seine Tochter im Kreis herum. »Es wird ohnehin Zeit, dass wir Rowan und ihrer Familie wieder einen Besuch abstatten. Was meinst du, wollen wir deine Mutter fragen, ob sie mitkommen möchte?«

Livia strahlte.

»Ich frage sie jetzt gleich. In Ordnung?«

Sie wartete seine Antwort gar nicht mehr ab, sondern flitzte davon, um ihrer Mutter die großartigen Neuigkeiten zu überbringen.

 

Caius schmunzelte, als er seiner Tochter hinterher sah. Immer öfter erinnerte Livia ihn in ihrer ungestümen Art an ihn selbst. Wie öde und endlos waren ihm damals die langen Stunden mit seinem alten Lehrer vorgekommen! Wie oft war er in Gedanken woanders gewesen und hatte seinen Grammaticus zur Verzweiflung getrieben? Livia war eigentlich schon zu alt für Schulunterricht. Die meisten Jugendlichen wurden nur bis zu ihrem fünfzehnten Jahr unterrichtet, doch Aurelia hatte darauf bestanden, die Dienste des alten Tichon weiterhin in Anspruch zu nehmen, da er ohnehin vorhatte, seinen Lebensabend in den Rheinlanden zu verbringen. Sie meinte, dass Livia dann wenigstens nicht so viel Zeit hatte, andauernd irgendwelche Dinge auszuhecken oder allein herumzustromern.

Insgeheim gab Caius seiner Frau ja recht, es gehörte sich nicht für ein römisches Mädchen aus gutem Hause, den ganzen Tag draußen zu verbringen und durch die Weinberge zu laufen. Livias Haut war inzwischen tief gebräunt wie bei einem Bauern, keine Spur von der vornehmen Blässe auf die Römerinnen allgemein den allergrößten Wert legten. Aber andererseits verspürte er Mitleid mit dem lebhaften Mädchen und konnte durchaus nachvollziehen, wie wenig ihr die langen Stunden im Schulzimmer zusagten. Er nahm sich vor, mit Aurelia darüber zu sprechen. Es wurde Zeit, dass Livias Leben sich anderen Dingen zuwandte.

Caius seufzte. Allein der Gedanke daran, dass sein kleines Mädchen in Bälde heiraten könnte und ihn dann verlassen würde, verursachte ihm größtes Unbehagen.

Lautes Kinderlachen riss ihn aus seinem Grübeln. Ein großgewachsener Mann kam den Pfad entlang gelaufen, ein kleines, blondes Mädchen auf den Schultern balancierend, das fröhlich vor sich hin kicherte. Hinter ihm lief ein junger Mann mit ernstem Gesichtsausdruck, der noch ein Mädchen an der Hand hielt.

»Tito«, rief Caius erfreut, als er sah, wer da auf ihn zu kam. Er freute sich immer, wenn er seinen Freund und Vorarbeiter Tito mit dessen Familie sah. Der ehemalige Sklave war damals mit ihm über die Alpen gegangen und hatte ihn seit jeher tatkräftig unterstützt. Nachdem Caius das Weingut nach dem gewaltsamen Tod von Aurelias Vater, der bei einem Überfall der Kelten umgekommen war, übernommen hatte, hatte Tito seinem Freund mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Tito war nicht nur sein bester Freund, er war wie ein Bruder für ihn.

Als er vor sechs Jahren dann endlich seine große Liebe Veronica geheiratet hatte, hatte Caius sich riesig für Tito gefreut. Veronicas erster Mann Flavius war bei dem Überfall ebenfalls um Leben gekommen. Die damals hochschwangere Veronica war zunächst in ein tiefes Loch gefallen, hatte sich dann aber rührend um ihren Sohn Flavius gekümmert, der kurz darauf zur Welt kam und seinem Vater so ähnlich sah, nach dem er benannt war. Sie hatte lange Zeit gebraucht, um die ganze Geschichte zu verarbeiten, bevor sie Titos Werben endlich nachgab. Im Jahr nach der Hochzeit kam Julia zur Welt und zwei Jahre später machte die kleine Claudia das Glück der Familie perfekt. Tito hatte Flavius den Vater ersetzt und wurde von diesem mit »Pater« angesprochen.

Die Kinder hatten Caius von Anfang an »Onkel« genannt, was ihm mehr als recht war. Immerhin gehörten sie zur Familie. Flavius hatte seit einiger Zeit damit aufgehört, ihn so zu nennen. Wahrscheinlich fühlte er sich zu erwachsen für so etwas.