Kreislauf der Unendlichkeit - Open - Ariana Tuma - E-Book

Kreislauf der Unendlichkeit - Open E-Book

Ariana Tuma

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Beschreibung

**Der Auftakt eines epischen Science Fantasy Epos mit Star Warws Vibes und großartigem Weltenbau** Auf noch fremden Planeten, in ferner Zukunft … …wird Nic Lenista aus seinem glamourösen Leben gerissen und muss vor der Regierung fliehen. Dabei trifft er auf Mirija, eine rebellische Draufgängerin, die zu ihren Gunsten einen Deal mit ihm eingeht. Dieser führt sie zu Silias Castillen, dem abenteuerlustigen Sohn eines von der Regierung verfolgten Todeskandidaten. Als der oberste Befehlshaber des Systems, Arijc Callos, erfährt, dass die drei zusammenarbeiten, schmiedet er finstere Pläne. Doch das Aufeinandertreffen von Nic, Mirija und Silias könnte den Lauf ganzer Galaxien für immer verändern …

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76698 Ubstadt-Weiher

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E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Für meine Oma.

Durch alle Universen

und zurück hab ich dich lieb.

Inhalt

Triggerwarnung

Prolog

Mirija

Nic

Silias

Arijc

Jerijco

Darèk

Pedro

Jannijc

Fèrrie

Filas

Rona

Mènco

Nic

Jannijc

Mirija

Arijc

Nic

Mènco

Silias

Jerijco

Jannijc

Nic

Pedro

Mirija

Darèk

Arijc

Pedro

Nic

Jerijco

Silias

Jannijc

Mirija

Darèk

Arijc

Nic

Silias

Mirija

Arijc

Silias

Pedro

Darèk

Jerijco

Mirija

Arijc

Silias

Pedro

Filas

Mirija

Caspar

Jannijc

Jerijco

Silias

Caspar

Filas

Nic

Arijc

Filas

Arijc

Epilog

Glossar

Das Kristallsystem und seine Planeten

Danksagung

Triggerwarnung

Meine Lieben,

Am Ende des Buches findet ihr eine ausführliche Triggerwarnung, da sie euch sonst spoilern könnte. Bitte schaut sie euch an, wenn ihr euch bei folgenden Begriffen getriggert fühlt:

Tod, Krieg, Verlustangst

Habt Spaß beim Lesen!

Eure Ariana <3

Tyrannische Götter.

Hüter, gesandt um sie zu verdammen.

Sie richteten die Tyrannen.

Die Gesandten verschwanden.

Ob sie ihr Werk vollendeten, blieb geheim.

Dennoch gingen sie in die Geschichte ein.

Und sie werden für immer verewigt sein.

Unter den Namen:

Licht.

Dunkelheit.

Schatten.

Prolog

Das Einzige, was zu hören war, war das Schnaufen der Männer, die zwei Kreuze hochzogen. Niemand aus der Menge sprach. Einer Menge, die so dicht aneinander stand, so viele hunderte Meter Schulter an Schulter, dass es niemandem gelang, dem Blut zu entkommen, das ihre Stiefel rot färbte.

Nur wenige hatten Tränen in den Augen, als sie die zwei Leichen an den Kreuzen erkannten. Diese wenigen wagten es nicht, sich zu wehren. Nicht mehr nach einem solch langen Kampf.

In den einst friedlich plätschernden Flüssen der Stadt Omnia, trieben leblose Körper in einer roten Flut, die weißen Häuser waren zu Ruinen geworden. Zerstörte Statuen versperrten jahrtausendalte Wege und hatten ebenso alte Bäume unter sich begraben. Die Stadt des Gleichgewichts und des Friedens war in den Mittelpunkt des Todes gerückt.

Langsam voller Anspannung teilte sich die Menge für drei Männer, die in gebrochener Haltung an Ketten zur Hinrichtung geführt wurden. Gerade als sie an der Spitze der Menge ankamen, im Schatten der Kreuze, richtete man diese mit einem letzten Ächzen in eine vertikale Position auf.

Die Köpfe der drei Männer zuckten hoch. Ihre Augen waren von den Tränen geschwollen, die Körper zerschunden und ihre Kleidung tiefrot. Sie blickten hoch zu ihren Freunden.

Dorian Castillen war der Erste in der Reihe und zog seine Freunde mit sich. Sein Körper zitterte.

Der zweite Mann namens Enijo Endôr hob schwach den Blick. Er bereute es noch im selben Moment wissen zu wollen, wohin diese Seile führten, denn im immer stärker werdenden Morgenlicht wirkten die toten Gesichter seiner Freunde dunkel verfärbt. Ihre Köpfe hingen herab, die Augen aufgerissen, wie als stünden sie noch immer ihrem Mörder gegenüber, die Lippen gespalten. Hätte Enijo gewusst, wer ihr Mörder war, er wäre sich nicht sicher gewesen, ob er noch die Kraft gehabt hätte, sich zu rächen.

Links von Enijo zuckte Antonio Valenti zusammen, als Blut auf seine Schulter tropfte. Ein Wimmern entfuhr dem Mann, als auch er es zum ersten Mal wagte, seinen toten Freunden über sich ins Gesicht zu blicken. Dann legte sich sein müder und trotziger Blick auf den Mann, welcher sich nun entspannt vor sie stellte.

Arijc Callôs war hochgewachsen, mit pechschwarzem Haar und schmalem Gesicht. Zumindest dachten das seine drei alten Freunde. Aber seit dem heutigen Tag hatte er etwas Fremdes an sich. Jegliche Narben von Wunden, die sie ihm vor sechs Jahren zugefügt hatten, waren verschwunden. Doch diese Eigenart war nicht die Veränderung, die sie am meisten verunsicherte. Selbst der Fakt nicht, dass er vor ihren Augen gestorben war, und auch nicht der irre Ausdruck in seinem Gesicht.

Es waren seine Augen.

Sie waren vor sehr vielen Jahren rehbraun gewesen. Stattdessen leuchteten sie nun voller Euphorie in einer Farbe von flüssigem Gold.

Schreie durchbrachen die Stille und ließen Arijc herumfahren.

Die Menge teilte sich erneut und gab einen blonden Mann frei. Die linke Hälfte seines Gesichts war vom Feuer rötlich verfärbt, die Pilotenjacke ebenso vom Blut getränkt wie die Kleidung der Verurteilten.

Caspar Jordån wehrte sich nicht. Er ließ sich vor den alten Freund führen, um ihn mit einem verachtenden Blick zu strafen. Man hatte Caspar die Handflächen aneinandergebunden, die einzige Art und Weise, einen Alienor daran zu hindern, seine Waffe erscheinen zu lassen. Mit gefletschten Zähnen wurde er auf die Knie gezwungen. Im Blick seiner silberblauen Augen lag purer Hass, als er zu Arijc hochsah.

Hinter ihm und den Kreuzen, im Kontrast zur aufgehenden Sonne, stand ein monumentales Bauwerk aus weiß glänzendem Marmor. Dessen jahrtausendealter ausgetretener Treppenaufgang war von vom Kampf zerstörten Statuen flankiert, deren Gesichter so leblos auf ihn herunterblickten wie die seiner toten Freunde.

»Ach, Cassy …«

Arijc streckte die schlanke Hand nach ihm aus.

Mit einer einzigen, kaum wahrnehmbaren Bewegung wich Caspar ihm aus. Arijc erstarrte. Mit seinem Blick durchbohrte er seinen alten Freund.

»Du hast schon einmal besser ausgesehen. Deine Schönheit«, er machte eine wegwerfende Bewegung, als würde er nach der passenden Beschreibung suchen, »ist irgendwie verschwunden. Wie ist das passiert?«

Caspar lachte kurz und zynisch auf. »Ha, ich weiß auch nicht, Archie. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich seit zwei Tagen durchgekämpft habe und mit meinem Schiff abgestürzt bin. Aber ist bloß so eine Vermutung.«

»Ach, Cassy«, begann Arijc, verzog selbstgefällig die einst toten Züge und macht eine fahrige Handbewegung, »Dir werde ich nichts antun. Du warst damals nicht dabei.«

Ein Blitz durchfuhr Caspar, und er sah Arijcs Tod vor seinem inneren Auge. Bis aufs kleinste Detail war er ihm beschrieben worden. Es war wahr; an jenem Tag, vor sechs Jahren, war er als einziger der Freunde nicht dabei gewesen. Er ahnte, worauf der Totgeglaubte hinaus wollte, aber sein Herz musste es selbst hören. »Wovon sprichst du?«

Arijc trat auf die Seite und deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf Dorian, Enijo und Antonio.

Er genoss Caspars Reaktion. Und gab ein Zeichen.

Die drei Männer stöhnten, als sie an den Seilen hochgezogen wurden. Ihre Gesichter verzerrten sich unter den Schmerzen, die ihre angeschlagenen Körper erleiden mussten. Caspar traten Tränen in die Augen, als seine Lippen zitternd nach Worten suchten. Er konnte lediglich stumm mitansehen, wie seine Freunde hoch in die Luft gezogen wurden, bis sie auf selber Höhe mit Lennart und Lars, den Gekreuzigten, hingen. Sein scharfsinniger Verstand ließ nach, als er die beiden Toten erblickte.

Lennarts goldblondes Haar schimmerte im Morgenlicht rötlich und verbarg sein Gesicht. Obwohl sich Caspar gegen den Gedanken wehrte, sah er immer wieder seine grünen Augen. Er war nicht durch die Kreuzigung gestorben. Schon lange davor hatte man ihm ein Schwert in den Bauch gestoßen.

Lars, zu Caspars Rechten, war erschossen worden. Ein einziger Schuss, kalt, tödlich. Mitten durch die Brust. Das weißblonde Haar trug rote Schlieren, die grauen Augen starrten ins Leere.

Meine Freunde, dachte Caspar, wie konnte uns das passieren?

Die letzten Momente hatte Arijc jeden kleinsten Muskel in Caspars Gesicht beobachtet und wandte sich nun selbstgefällig zu Dorian um.

Schwer atmend lehnte er den Kopf an seine Schulter und blickte mit halb geschlossenen Liedern zu Arijc herab.

»Deine Frau hat gebettelt, Dorian. Um das Leben eurer Kinder.«

Aus Dorians Augen quollen Tränen, doch der Klang seiner Stimme verriet nichts davon. Aus ihr klang die pure Verachtung. »Ich hätte dich damals in deiner Gosse verrecken lassen sollen.«

»Ach, Dorian!« erklang begeistert die Antwort, »So kenn ich dich ja nicht! So schlecht gelaunt. Da erinnerst du mich ziemlich an Filli. Wo ist der überhaupt, hm?«

Caspar wartete gespannt auf Dorians Reaktion. Als er sich leicht bewegte, klickten die Waffen der Wächter hinter ihm.

Dorian lachte kalt auf. »Und wenn ich es wüsste, glaub mir du beschissenes Arschloch, ich würde es dir niemals sagen.«

Arijc gab ein tiefes, grollendes Lachen von sich und wirbelte zu Caspar herum. »Ach, ein ganz neuer Dorian! Was Schmerz und Leid mit einem Menschen anstellen können, interessant, findest du nicht?«

Als Caspar keine Antwort gab, machte Arijc zwei große Schritte in seine Richtung, packte ihn am Kragen und zog ihn hoch, bis ihre Gesichter Millimeter voneinander entfernt waren. Caspar stöhnte voller Schmerzen auf.

»Findest du nicht, Cassy?«

Caspar erstarrte. Niemals würde er sich die Blöße geben und vor seinem alten Freund mentale Schwäche zeigen. Dennoch suchte er etwas Vertrautes in seinen Zügen. Vergeblich.

»Gut«, flüsterte Arijc ihm ins Ohr, als Caspar weiterhin schwieg, »wenn du es so willst.«

Und ehe sich Caspar versah, gaben Arijcs Finger drohend den Befehl.

Eine Frau wurde aus der Menge gezogen, alle Waffen auf sie gerichtet. Ein kleiner Junge stolperte hinterher. Das hellblonde Haar war zerzaust und seine silberblauen Augen von Tränen strahlend und gerötet. Caspar schrie wie ein verletztes Tier auf.

Plötzlich wich alle letzte Kraft aus seinem Körper. Die stolze, aufrechte Haltung war verschwunden. Flehend suchte er Arijcs Blick. »Nein, … bitte nicht … Arijc.«

»Untertänigkeit, Cassy. Untertänigkeit«, sagte er und warf ihm einen langen Blick zu.

»Diese Lektion wirst du lernen müssen, wenn du mein Angebot annimmst. Untertänigkeit ist etwas Tolles, Caspar Jordån. Etwas, das einen retten kann. Oder noch besser … die Menschen, die man liebt.«

Langsam ließ er ihn wieder zu Boden. »Untertänigkeit.«

Caspar blieb mit gesenktem Kopf auf den Knien.

»Ich mache dir ein Angebot. Eine Wahl, die sich die anderen nur erträumen können, also entscheide dich nicht falsch.«

Er deutete mit einem Nicken hinter sich. Caspar sah wieder zu seinen Freunden hinauf.

Dorian lebte noch. Enijos Kopf bewegte sich leicht, doch es konnte auch einfach die Täuschung des Windes sein, der durch seine Locken strich.

Antonio schien tot.

Selbstgefällig stützte Arijc die Hände in die Hüften, verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein und legte den Kopf schief.

»Dir schenke ich eine wundervolle Wahl, wirklich. Und eines Tages wirst du mir dafür dankbar sein. Warum ich das tue?«

Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen, und er zuckte leicht mit dem Kopf. Ihr alter Freund hatte schon immer divenhafte Züge an sich gehabt. Hatte von den Freunden immer die umfangreichsten Geschichten erzählt, sie mit den ausschweifendsten Gestiken untermalt. Das hatten sie an ihm geliebt. Deshalb hatten sie miteinander gelacht, gefeiert, geweint.

Nun war es vorbei.

Aus Gründen, die nur Arijc selbst zu verstehen schien. Als er Caspar diese rhetorische Frage stellte, drehte er sich um, ging zu dem kleinen Jungen und kniete sich vor ihn hin.

Ängstlich versteckte sich das Kind hinter den Beinen seiner Mutter.

»Komm her, mein Junge«, sagte Arijc mit einer Stimme, die jeden um ihn herum verwunderte.

»Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, das schwöre ich dir, Arijc, werde ich dich töten«, knurrte die Mutter.

Mit einer beinahe unschuldigen Neugierde blickte der Mann zu ihr hoch.

»Du unterschätzt eine Frau, wenn sie ihr Kind beschützt.« Sie deutete Arijcs Gedanken richtig.

»Ach, Tinka. Glaube mir, ich unterschätze euch Frauen nicht, aber sieh nur, wer von euch allen noch übrig geblieben ist … .«

Diese einfachen Worte ließen Tinka zurückweichen, als ob er ihr pures Gift anbieten würde. Ihre Augen zuckten, und ihr Atem zitterte.

Arijcs kalter Blick reichte, um zu wissen, dass er sie alle hatte töten lassen.

»Ich gebe dir Recht: Ihr Frauen beschützt eure Kinder auf eine ganz eigene Art und Weise. Selbst wenn es keine Hoffnung mehr für sie gibt.«

Tinka zitterte. »Warum? Das Wie erspare ich dir. Sag mir nur, warum.«

Eine eigenartige, angespannte Stille legte sich über sie. Alle wussten, dass ein Thema aufgegriffen wurde, das normalerweise nicht erwähnt werden durfte. Arijcs Augen veränderten sich, wurden kurz dunkel und verletzlich. Dann erbost über seine eigene Schwäche, begann seine Stimme zu brodeln.

»Es ist nicht deine Schuld, Tink. Die deines Mannes zur Hälfte. Sie haben mir alles genommen, was ich je geliebt habe, und nun werde ich dasselbe tun. Ich habe es schon getan. Das nennt man Gerechtigkeit.«

Mit diesen Worten streckte er dem Jungen die Hand hin. »Ihm werde ich nichts tun. Genauso wie seinem Vater.«

Tinka schüttelte mit tränennassen Augen trotzig den Kopf. »Er muss schon selber zu dir wollen, Arijc. Zwingen werde ich meinen Sohn nicht.«

»Tinka«, warnte Caspar und schluckte die Tränen hinunter, die seine Stimme brechen ließen.

Arijc betrachtete das Gesicht des Kindes, und ein Ausdruck, den niemand der Anwesenden deuten konnte, legte sich auf seine Züge.

»Du siehst deinem Vater sehr ähnlich. Hast du deinen Vater lieb?«

Hinterhältig linste er zu Caspar hinüber, dessen Haltung sich nun änderte.

Tinka hielt angespannt den Atem an.

Arean blickte mit seinen großen blauen Augen zu seinem Vater, der mit verzerrtem Gesicht auf Arijcs nächsten Schachzug wartete.

»Ja.«

»Arijc, bitte. Nicht meinen Jungen«, flehte Caspar.

Dieser lächelte schmal bei dem Gedanken, wie schnell sein alter Freund die erste Lektion gelernt hatte.

»Möchtest du heute Abend auch eine Geschichte von deinem Vater hören?«

Der Junge wurde unsicher und drehte sich ängstlich zu seiner Mutter um. Energisch zog Arijc das Gesicht des Kindes wieder in seine Richtung.

»Möchtest du?«

Eine erschreckende Klarheit lag in den Augen des Jungen. Eine Erkenntnis, die für einen Sechsjährigen mehr als ungewöhnlich war.

Arean dachte nach. Mit festem Blick stellte er Arijc eine einzige, beinahe provozierend klingende Frage. »Was, wenn ich von Onkel Enijo eine Geschichte hören möchte?«

Arijc lächelte kühl und berechnend. »Onkel Enijo!«, rief er verächtlich. Er zog Arean grob am Arm hoch, sodass der Junge aufschrie, als seine Füße den Boden unter sich verloren. Die Mutter brüllte und versuchte sich loszureißen. Ein Schlag mit dem Schwertknauf auf den Kopf ließ sie zu Boden sinken.

»Dein süßer Neffe mit seinen strahlenden Augen möchte eine Gute-Nacht-Geschichte von dir hören! Wie findest du das, hm!? Du verdammter Geschichtenerzähler!«

Arijcs Stimme überschlug sich, doch Enijo rührte sich nicht mehr.

»Cassy, sieh nur, Enijo und Tonio scheinen von uns gegangen zu sein. Wie schade!«

Sein Blick war kalt, als er herumwirbelte. Den Jungen fest in seinen Armen haltend. Dieser wehrte sich und schrie.

Plötzlich ließ er das Kind fallen. Er warf es von sich wie ein Stück Abfall. Arean keuchte, als das Blut von seinen Knien auf das Pflaster tropfte. Noch bevor er anfangen konnte zu weinen, verharrte er stumm in seiner Haltung.

Es war totenstill. Caspar fixierte voller Entsetzen das Gesicht seines Sohnes.

Dem Jungen schien es die Sprache zu verschlagen, als er sich zitternd gegen die Kraft, die seinen Körper erfasst hatte, zu wehren begann.

Caspar verstand.

Arijcs rechte Hand war zu dem Kind gestreckt, welches sich langsam und starr in die Luft erhob.

Augenblicklich durchströmte Caspar eine schier unbändige Kraft, die ihm verhalf, gegen die Männer anzukommen, welche seine Fesseln hielten. Schnaubend wie ein Tier erhob er sich.

»Der Körper eines Kindes ist zerbrechlich, Cassy. Und du hast doch gehört, wie gerne er noch eine Geschichte hören würde. Oder willst du etwa, dass das hier die letzte Geschichte ist, die er kennenlernen durfte?«

»Was erwartest du von mir?«, fragte Caspar grollend.

»Werde meine rechte Hand und deiner Familie und dir soll es an nichts fehlen.«

Caspar Jordån willigte ein, nichts ahnend, dass er nicht nur das Schicksal seiner Familie besiegelte.

Erster

Teil

Und ihr Schicksal stand schon fest,

bevor sie überhaupt glaubten, es hätte begonnen.

Festgelegt von der Schicksalsweberin.

Auszug aus den Botschaften von Aloura.

10 Jahre später

Mirija

Kauun, Threos

Zeitmarke 7943.272

»Geht es dir gut genug?«

Mirijas Blick lag weit in der Ferne. Verlor sich am endlosen Horizont. Die Sonne stand nun hoch genug, um schlangenartige Schatten über die Wüste zu werfen und schimmernde schwarze Reflexionen zu hinterlassen.

Für manch anderen wäre dieser prächtige Anblick etwas Faszinierendes gewesen, für Mirija war es die reinste Qual.

Jeden Sonnenaufgang, den sie sah, bedeutete erneut einen Tag in Sklaverei. Ihr Blick wanderte zurück zum Steinbruch, in welchem sie Nacht für Nacht Kristalle schürften, die dann zu Geld verarbeitet wurden. Dann zu dem gigantischen Eisenzaun, welcher im Licht der Scheinwerfer unheilvoll glänzte. Vor knapp zwei Stunden war dort eine Sklavin niedergeschossen worden, welche versucht hatte zu fliehen.

»Sternchen?«, fragte Darèk flüsternd und Mirija hob den Kopf von der Schulter des Mannes, der sie großgezogen hatte. Darèk Parèz. Gerade einmal vierundzwanzig.

»Bist du wach genug?«

Mirija winkte unwirsch ab, murmelte eine beruhigende Antwort und setzte sich auf der abgesessenen Holzbank der Messing-Gondel, welche die Sklaven zurück zur Stadt kutschierte, aufrechter hin, wodurch Mènco zu ihrer Linken jammerte.

Ihr allerbester Freund. Ständig beisammen. Und sie beide spürten, dass sie ein tiefes Band verband.

Mirija erinnerte sich noch gut, als sie ihn halb verhungert in den Straßen von Threos gefunden hatte. Selbst jetzt, obwohl sie gleich alt waren, wirkte er mit seiner schmächtigen, zarten Figur zerbrechlich. Er war ein Fennek-Fangaro, eine Spezies, die als Mischung aus Mensch und Tier geboren wurde. Und je nach Belieben konnten sie sich zu einer vollkommenen humanen Gestalt oder in eine tierische wandeln. So wie die meisten Fangaro bevorzugte Mènco eine Mischung aus beidem.

Aber dies war ihm als Latuks nicht erlaubt. Er musste als vollkommener Mensch herumlaufen, was er zutiefst verabscheute.

Desorientiert blickte er unter schwerlidrigen Augen auf. Das sandfarbene strähnige Haar hing ihm ins schmale, spitze, braun gebrannte Gesicht. Ein erschöpftes Lächeln bildete sich auf seinen feinen Lippen, er gähnte, und dann schien ihm einzufallen, was sie alle zusammen in der nächsten Stunde vorhatten.

Anstatt direkt zu ihrem Quartier im Sklavenviertel – ein längst vergessenes Gotteshaus – zu gehen, würden sie durch die Tore in die Stadt Threos spazieren – welche täglich nach Sonnenaufgang geöffnet wurden.

»Mirija«, fing Darèk erneut an, so leise, dass die Wächter in ihren einfarbigen Uniformen sie nicht hören konnten, »wenn du zu erschöpft sind, lassen wir es bleiben.«

»Ich kann deinen Part übernehmen«, meldete sich Ben wispernd zu Wort und lehnte sich nach vorn.

»Wir machen es«, zischte Mirija gereizt. Dann sah sie Darèk direkt in die tiefschwarzen Augen, welche vor Müdigkeit und körperlicher Anstrengung rötlich verfärbt waren. »Ich mache es.«

Ben knetete seine Hände, die wie ihre durch die groben und spitzen Kristallbrocken aufgerissen waren. Dann nickte der Junge, rieb sich müde das elfenbeinblasse Gesicht und fuhr sich sorgenvoll durch die weißblonden Haare.

Darèk deutete Mirijas Glänzen in den Augen genau richtig, zog ihr Gesicht sanft zu sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Das Mädchen schloss für einen kurzen Moment die Lider und zog die stechende, kühle Luft des Morgens durch die Nase. Schon in wenigen Stunden würde diese Kälte zu einer unnatürlichen, tödlichen Hitze werden. Ruckelnd zogen die Tyras die von Sklaven gefüllte Gondel über die sandigen Hügel in Richtung Threos. Schon nach kurzer Zeit kippte Mèncos Kopf erneut auf die Schulter des Mädchens, und sie spürte die fettigen Haarspitzen auf ihren Schlüsselbeinen. Ausgelaugt und nach Schlaf flehend, zwang sie sich wach zu bleiben und lehnte die ausgeprägten Wangenknochen auf Mèncos dichtes Haar, während sie den Sonnenaufgang beobachtete und Darèks Arm um sich spürte. Weit in der Ferne war er nicht mehr als ein einziger blutroter Punkt inmitten von türkisenen und orangen Farbverläufen.

So türkis muss das heluianische Wasser sein, dachte Mirija schwermütig. Dass sie Heluianerin war, hätte sie niemals verleugnen können. Die breiten Wangenknochen, die kurze Nase, welche von Sommersprossen überzogen war und große nussige Locken, die sie zu einem langen Zopf geflochten hatte. Eine Heluianerin die noch nie das Wasser gesehen hatte oder sich zumindest nicht daran erinnerte, meinte Ben oftmals spöttisch. Jedes Mal ärgerte sie es, dass er recht hatte, und jedes Mal war sie danach zutiefst traurig.

Sie konnte sich an ihre Heimat kaum erinnern. Bloß Gefühle, schemenhafte Szenen, unscharfe Gesichter.

So alt und vergessen wie der staubige Boden, über den die Gondel gerade fuhr.

In diesem Moment blieb diese ruckartig stehen, und Mirijas Kopf knallte unsanft gegen Mèncos. Erschrocken fuhr er hoch, die schwarzen Augen entsetzt aufgerissen. Er rechnete einfach mit allem.

»Was ist passiert?!«

»Nichts«, murmelte Mirija. Nichts, wie immer. Es passierte nie irgendetwas. Seit zehn Jahren.

»Wir sind da.«

Threos. Eine bekannte, altertümliche Stadt auf Kauun. Begehrenswert wegen ihrer berühmten Sehenswürdigkeiten wie der Klippe des Ozeans oder dem Goldtempel und sonst noch irgendeinem Quatsch, der für Mirija mehr als uninteressant war.

Für sie bedeutetet diese Stadt ihr persönlicher Albtraum.

Hunger.

Durst.

Demütigung.

Eine Stadt, die von den Ärmsten der Armen und den Reichsten der Reichen zugleich bewohnt wurde.

So früh am Morgen lag sie noch im Schatten, doch selbst am Nachmittag, nachdem die Sonne zwei ganze Himmelsrichtungen gewandert sein würde, würde die riesige Felskante, an deren Fuß sie erbaut worden war, Schatten spenden.

Voller Verachtung blickte Mirija zu den Ausläufen dieser steinigen trockenen Gebirgskette hinauf. Sie war von blauem Kristall – Tansanit – der Energiequelle des Planeten durchmasert, und eine einzige dünne schwarze Linie spaltete sie in zwei Hälften. Auf der rechten Seite glitzerten noch die letzten Lichter in den Casinos und Restaurants, in denen die Reichen ihre nächtlichen Feste gefeiert hatten. Meterlange Terrassen mit farbigen Laternen, Paare, die in schwebende Stoffe gehüllt waren und feinen eliaatanischen Wein tranken.

Gelächter, Geld, Ruhm, alles, was Mirija nicht kannte.

Die linke Seite des Felshanges wiederum wirkte unnatürlich glatt. Lediglich einzelne waagrechte, perfekt symmetrische Linien zierten diesen Anblick.

Hangareingänge zum persönlichen Himmelshafen der Arcano.

Was sich im Inneren des riesigen Gesteins befand, konnte niemand wirklich beantworten, dass die Arcano von dort aus die Stadt steuerten, war klar. Einheitlich wurde es das Arcano – Center genannt.

Selbst in dieser frühen Morgenstunde flogen schon einzelne Schiffe in oder aus dem arcanischen Hangar. Noch mehr landeten im Himmelshafen von Threos.

Wäre ich doch so frei, dachte Mirija und musste beim Gedanken an ihren Traum eines eigenen Schiffes lächeln, dann würde ich alle Plätze dieser Welten bereisen.

Sie hatte sich schon viele Varianten überlegt, aber das schlanke, schnittige, in strahlenden türkisenen Farben gehaltene Schiff, wie ihre Erinnerung an Helu, gefiel ihr am besten.

Einem dieser Schiffe folgte sie mit müden, neugierigen Augen.

Es flog direkt auf das Himmelsportal zu.

Acht einzelne kreisrunde Scheiben, welche senkrecht untereinander gereiht mitten am Himmel hingen, als hätte sie dort jemand vergessen. Jede Scheibe stand für einen Planeten und strahlte in dessen Kristallfarbe.

Das Quietschen der jahrtausendealten Eisentore – ein Abklatsch derer, die aus massivem Gold am einzigen Ein- und Ausgang standen, holte Mirija aus ihren täglichen Träumen zurück. Diese hier waren der Eingang ins Latuksviertel. Das Steinbruchgelände war bloß durch dieses eine Tor zugänglich. Damit die restlichen Bewohner der Stadt nicht von schlechtem Gewissen geplagt wurden, wenn sie die Latuks nachts arbeiten sahen. Obwohl … dieser Gedanke war zu gutgläubig, Kauuner hatten selten ein schlechtes Gewissen. Der Glaube, dass die Einwohner so denken konnten, war aus Mèncos Kopf entsprungen, nicht Mirijas. So naiv war sie schon lange nicht mehr.

Mènco versprühte eine unheilvolle Spannung, wie jedes Mal, wenn sie in den Morgenstunden zurückkehrten.

Die seelischen Schmerzen, an seine erste Begegnung mit dieser Stadt, hatte er nie ganz überwunden.

Quietschend blieb die Gondel hinter dem Eingang stehen und Mirija, Mènco, Darèk und Ben erhoben sich mit schweren Gliedern, viel zu erschöpft, um in der kommenden Stunde einen Überfall zu begehen.

***

Die Frau kam näher.

Nur noch ein Stück, dachte Mirija.

Noch näher.

Noch ein kleines Stück.

Der Händler fluchte und schrie. Mirija grinste frech, als sie kopfüber von der Stange seines Obststandes baumelte, ihre Hand vorsauste und Madam Toulouse ihrer Kette entledigte.

Ein gellender Schrei ließ die Leute um sie herum zusammenzucken und hektisch um sich blicken. Taschendiebstähle kamen oft vor.

Das Mädchen hievte sich mit Schwung wieder hoch, was ein kurzes Ziehen in ihren Bauchmuskeln hinterließ und verschwand zwischen Tüchern und Leuten.

Mirija rannte und rannte, genau wissend, dass, wenn sie stehen blieb, ihr letzten Stündlein schlagen würde. Die Leute um sie herum schenkten ihr keine Aufmerksamkeit, wunderten sich lediglich, was diese Latuks wohl schon wieder angestellt hatte. Denn eines hatten die Menschen in den letzten zehn Jahren gelernt.

Resignation. Somit verwickelten sie sich nicht in die Probleme anderer.

Mirija erklomm mit ihren langen Beinen drei Stufen auf einmal, als sie die nächste Treppe hinauf zur städtischen Oberfläche nahm. Schwungvoll packte sie eine Laterne, hob wie ein Vogel kurz vom Boden ab und rannte in die entgegengesetzte Richtung weiter und ließ die unterirdischen Einkaufsstraßen, aus denen sie gerade gekommen war, hinter sich.

Sie befand sich nun in der normalen bürgerlichen Stadt. Die quadratischen Häuser links und rechts von ihr wirkten wirr und unüberlegt aufeinandergestapelt. Dächer, Terrassen, Treppen und verwinkelte Balkone und alles in den staubigen braunen Tönen des kauunischen Sandes.

Lokale boten ihr Essen auch außerhalb auf kleinen hölzernen Tischen und Stühlen an, irgendwo spielte ein vereinsamter Straßenmusikant, an dem sich die Leute schlichtweg vorbei drängten, ohne ihm Beachtung zu schenken.

Schon die nächstbeste Möglichkeit ergriff sie, um von der Straße fortzukommen und verschwand in einer Häusernische, die unregelmäßigen Treppen hochrennend. Sie sprang über Dächer, landete auf Terrassen – wo sie meistens wüste Beschimpfungen über sich ergehen lassen musste – störte Familien beim Mittagessen, bis sie schlussendlich bei ihrem Ziel angelangt war.

Schnaufend verharrte sie kurz auf einem flachen Dach und übersah einen großen Teil der verwinkelten Stadt. An einer Ecke kniete sie nieder und beobachtete das rege Treiben unter sich. Schienen verringerten ihre Sicht auf den verdreckten Boden des Viertels unter ihr.

Schräg darunter, so nah, dass sie selbst die Stimmen der Passagiere, die am Bahnsteig warteten, vernahm, war mitten zwischen alle den verwinkelten Wohnhäusern eine kleine Bahnstation gebaut worden: Downtown.

Sie trug diesen Namen nicht umsonst.

Die Passagiere, die dort auf ihren Halt warteten, waren teilweise noch ärmlicher angezogen als Mirija. Sie wagten es als freie Bürger nicht in den Müllcontainer des Kleiderhandles zu stöbern. Sie warteten alle unter einem kleinen, einst wohl schönen Vordach mit gekringelten Verzierungen und einem verblassten Schild an der Seite des Treppenaufgangs, auf dem noch schwer zu entziffern der Name der Haltestelle stand.

Unter den Schienen, welche auf Stützen gebaut und wahllos in die Mauern der Häuser geschlagen worden waren, hingen Tücher. Sowohl zur Lärmdämmung als auch zum Schutz vor dem Dreck, den Passagiere manchmal gedankenlos aus der Gondel warfen. Unter alle den Tüchern und den Schienen, verbarg sich eine dunkle Gasse. Vor den torlosen Eingängen saßen alte Frauen und Männer traurig und ohne Lebensfreude, Kinder rannten umher, lachten nicht wissend, wie hart ihr Leben bald werden würde.

Es war ein trostloses Leben, man könnte sogar meinen trostloser als das der Latuks. Diese Menschen hier hatten nicht einmal mehr die Aufgabe, nachts zu arbeiten. Sie erhielten kaum bis keinen Lohn, da sie keine Arbeit fanden und hatten mit ihrem Dasein abgeschlossen.

Mirija befühlte die schwere Goldkette zwischen ihren Finger. Spürte alleine schon am Gewicht, wie viel Geld für sie dabei herausspringen würde.

Sie brauchten das Geld, um zu überleben. Den Gedanken, dass Darèk, Mènco oder Ben sterben könnten, versuchte sie stets zu verdrängen. Aber er war präsent. Wie die dunkle Höhle; tief im hintersten Teil ihres Kopfes versteckt. Dort, wo all die alten, schrecklichen und grausamen Erinnerungen warteten wieder frei zu kommen. Aber das würden sie nicht. Niemals.

Das Läuten einer Glocke ließ Mirija aufblicken, und sie fixierte die Schienen, welche über die breite Straße rechts von ihr auf den Stützen verliefen und sich dahinter zwischen zwei Hauswänden verloren.

Ein paar Bewohner, die auf der Höhe der Gondel wohnten, schlossen hölzernen Fensterläden, die noch an einer Angel hingen oder zogen die Tücher vor, damit die Passagiere nicht in ihre Wohnung blicken konnten.

Die Gondel erschien, ein offenes Fahrzeug mit runden bläulichen Dach und Messingstäben an den Seiten, an denen sich die Passagiere festhielten. Die Sitze waren so alt und ausgesessen, dass man kaum noch erraten konnte, aus welchen Material sie bestanden.

Quietschend kam das Fahrzeug zum Stehen, und Mirija ließ sich sanft und geduckt auf das Dach der Gondel nieder. Die Passagiere bemerkten sie nicht.

Ein weiteres Läuten erklang, und das Fahrzeug setzte sich wieder in Bewegung.

Mirija grüßte lächelnd eine Frau, die eine Zigarre paffend aus dem Fenster gelehnt, die ganze Szene beobachtete. Zuerst zeigte sie keine Regung, dann nickte sie anerkennend, und ein kurzes Zucken des rechten Mundwinkelns deutete ein Lächeln an.

Das Mädchen setzte sich ruhig in den Schneidersitz und genoss den leichten Fahrtwind. Die Gondel glitt um Häuserwindungen, quietschte, wenn die Kurve zu scharf war.

Sie überquerte eine breite, etwas belebtere Straße. »Da! Da ist sie! Auf der Gondel!«

Mehrere Wächter, grün uniformierte Leutnants, deuteten zu ihr hoch und zückten ihre Waffen.

»Scheiße«, zischte Mirija und legte sich flach auf das Dach, als die Schüsse ertönten.

Im nächsten Moment verschwand die Gondel wieder im schmalen Gang zwischen den Häusern.

Unruhe überkam sie. Erschwerend hinzukam, dass ein kleiner kniffliger Teil ihres Coups in wenigen Sekunden stattfinden würde. Und als ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss, kamen sie zu einem geraden Teil der Strecke, noch mehrere hundert Meter entfernt von einer Brücke. Die Jastinè – Brücke.

Dort baumelte auch schon Mènco kopfüber auf einem Seil, das Ben auf der Brücke stehend mit beiden Händen fest umklammert hielt.

Mirijas Atem beschleunigte sich, und der Gedanke, dass die Wächter wussten, wo sie sich befand, war keine Hilfe, dabei ruhig zu bleiben. Sie legte sich rücklings auf das Dach, den Kopf aber weiterhin leicht gehoben, um die Entfernung abzuschätzen. Unscharf erkannte sie Darèks Gesicht und sie wusste, dass er besorgt war.

Der Kopf der Gondel verschwand unter der Brücke, mit einem knappen halben Meter Abstand zwischen Dach und Gestein. Mirija schätze weiterhin ab. Es musste genau sein. Sie fixierte Mènco, dessen wildes, helles Haar strähnig herunterhing und der sie ebenso angespannt fokussierte.

Noch nicht. Jetzt. Nein, noch immer nicht … Jetzt!

Mirija warf die Kette senkrecht nach oben, so gut es ging, senkte schnell die Arme und legte sie direkt neben ihren Körper, ehe sie der kühle Luftzug der Dunkelheit umschloss.

Mit zuckenden Bewegungen setzte sie sich schnell auf, als die Bahn wieder ins Freie fuhr und blickte hinter sich.

Mènco hatte die Kette gefangen. Darèk hielt sie mit ausgestreckter Hand über seinen Kopf. Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht.

Erleichtert lachte Mirija auf, und die Gondel verschwand um die Ecke.

Nur wenige Meter vor ihr war die nächste Haltstelle.

Schnell sprang sie auf ihre Füße und suchte nach einem Ausweg. Um sie herum erstreckten sich die Häuserfassaden zwei Stockwerke hoch. Der einzige Ausweg waren also die Fenster, doch um in eines dieser zu springen, fuhr die Gondel zu schnell. Mirija taumelte, versuchte das Gleichgewicht zu halten, ans Ende der Gondel zu gelangen. Dort erstreckte sich mehrere hundert Meter lang ein schmaler Abgrund.

Sie war gefangen.

Wütend auf ihre Torheit, sich erwischen zu lassen, biss sie die Zähen aufeinander.

Schreie ertönten von der Haltestelle.

Drei Wächter warteten auf sie, die ihr mit grimmigen Mienen entgegenblickten und ihr befahlen, die Hände hinter den Kopf zu legen. Mirija gab sich geschlagen, wurde von der Gondel gezerrt und spürte den Druck der Waffe in ihrem Rücken, als sie zum obersten Arcano der Stadt geführt wurde.

Zum Statthalter. General Pedro Montaña.

Nic

Zanoon, St. Hvit

Zeitmarke 7943.272

»Du hast uns getrennt.«

Nic hörte diese Worte nicht. Sie schwebten lautlos in seinem Kopf, während er über die grünen Dächer von Eliaats Laubwälder blickte.

Blätter rauschten und fielen auf sein gerstenblondes Haar, als die friedliche Ruhe unterbrochen wurde.

Ein unangenehmes Gefühl überkam ihn. Als würde ihn jemand beobachten. Zaghaft wandte er sich um, nun den hölzernen Zaun in seinem Rücken. Seine blassen Finger verkrampften sich um das Geländer, als sich der Blick seiner himmelblauen Augen auf einen fremden Jungen legte.

Er schien schmächtig, zerbrechlich und schrecklich arm. Als Nic genauer hinsah, trug er einen Rennoverall. Seinen Rennoverall! Und plötzlich glaubte er –für eine kurze Sekunde – er sähe in sein Spiegelbild.

Aber nein, … das war nicht er. Das konnte nicht er sein. Das Haar des fremden Jungen war strähniger, seine Haut sonnengegerbt und die Augen braun … oder?

Ja, sie waren dunkel. Nic erkannte es ganz genau, als sie plötzlich gefährlich aufblitzten, kurz bevor der fremde Junge seine spitzen Zähne bleckte und auf ihn zu sprintete.

Ein schriller Schrei entkam Nics Kehle, als er spürte, wie das hölzerne Geländer hinter ihm nachgab, als der Junge ihn packte und sie zusammen in die Tiefe stürzten.

Seine braunen Augen wurden silberblau, dann war alles fort.

Und in dem Moment, in dem Nic hätte tödlich aufprallen sollen, fand er sich stehend in einem dunklen Gang wieder, vor ihm bloß eine Flamme, die das Gesicht eines weiteren fremden Jungen erhellte, dessen Haare dieselbe Farbe wie die des Feuers hatten. Der Blick des Jungen war ängstlich, besorgt, vertraut, freundlich, vorwurfsvoll und voller Hass und Trauer zugleich. Der rothaarige Junge sagte etwas, Nic sah, wie sich seine Lippen bewegten, hörte aber nichts.

Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken.

Nic riss sich los, doch da war nichts, von dem er sich hätte losreißen können. Der Junge hatte ihn nie festgehalten. Er wirbelte herum und rannte, taumelte in diesen endlosen schwarzen Gängen umher. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Er hatte knappe vier Schritte getan, als ihn jemand sanft an der Hand festhielt. Das Gefühl von Wärme und Liebe umfing ihn. Schnell drehte er sich um die eigene Achse, um die dazugehörige Person zu finden.

Nur dieses Gefühl existierte. Und eine weibliche Stimme, die ein einziges Mal seinen Namen aussprach. Traurig. Gebrochen. Dann hörte er ihr Lachen. Schallend und ohne jegliche Sorge. Es wurde lauter und lauter, bis es zu einem ohrenbetäubenden Geräusch anschwoll, dass ihn in dieser Dunkelheit umfing.

***

»Nic!«

Nic keuchte kurz auf und sah sich um. Neben ihm stand Fèrrie und blickte ihn besorgt an. Ein fester Druck um seinen Unterarm verriet ihm, dass sein Freund ihn festhielt.

»Alles gut, Alter?«, fragte eine andere Stimme, die Nic so vertraut war wie seine eigene.

»Du warst gerade einfach weg. Nicht anwesend.« Langsam, sehr langsam, wandte Nic den Kopf zu seiner Rechten und blickte Nino mit großen Augen an. »Was?«

»Sollen wir kurz verschwinden?«, flüsterte Fèrrie und drehte sie beide so, dass die Kameras sie nicht im Blick hatten.

Blitzlichter zuckten um sie herum. Egal in welche Richtung man sah, überall wurde man geblendet. Zuerst alles weiß, dann schwarz und wieder von vorn.

»Nic! Wie sind Sie an die Dokumente gekommen? Illegal? Über den Schwarzmarkt? Weshalb tragen Sie nun den Namen Lenista?«

»Nino! Nino Elsôn?! Glauben Sie, dass sie schon nächstes Jahr durch Ihren Großvater in die Goldklasse eingekauft werden? Stimmen die Gerüchte, dass er vorhat, sich ein weiteres B-Team unter den Nagel zu reißen?«

»García! Carlo, einen Moment bitte! Glauben Sie, dass Sie Chancen haben, nächstes Jahr schon unter den Top drei Teams der Goldklasse mitzufahren?«

Zwischendurch tauchten die Gesichter der Sportjournalisten und Reporter auf und die der restlichen Gäste, die sich mit strahlend weißen Zähnen Sachen zuriefen, winkten und lachten. Dann wieder. Weiß. Schwarz. Weiß.

Nic wankte.

»Wir müssen ihn rausbringen«, nuschelte Nino irgendwo hinter ihm. Nic starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Menge vor sich. Da waren Gesichter, die nicht auf eine Veranstaltung wie Sportler des Jahres passten.

Verdreckte, arme Gesichter. Manchmal zwei – oder dreimal dasselbe, ältere und jüngere Versionen. Vernarbte Gesichter. Blutüberströmte. Weinende. Schreiende. Lachende. Überall um ihn herum schien er dieselben Leute zu sehen. Personen, die er nicht kannte, und doch sah er sie so klar, als spräche er jeden Tag mit ihnen.

Er spürte, wie seine Freunde ihn fest an den Armen packten und unauffällig mit einem unschuldigen Lächeln auf dem Gesicht durch die Menge zogen.

Nic zwang sich zu einem Lächeln, während Fèrrie und Nino ihn aus seiner Lage befreiten. Er wollte nicht den Blick der Kameras auf sich ziehen und sich dann mit noch mehr möglichen Gerüchten herumschlagen müssen.

Die frische kühle Nachtluft von Zanoon prickelte sanft auf seiner hellen, beinahe durchscheinenden Haut, und schlagartig fiel ihm das Atmen wieder leichter.

Keuchend bedeutete er seinen Freunden, ihn loszulassen, was sie nur zaghaft taten.

»Geht‘s wieder?«, fragte Fèrrie besorgt.

Nic nickte mit zitterndem Kinn. »Alles gut. Ich glaube … «, zögerte er, nicht sicher, was er sagen wollte. Ein erschöpftes Stöhnen entkam seinen Lippen, und er winkte ab. Er wollte allein sein. Über diesen Traum nachdenken. War es ein Traum gewesen?

Langsam überquerte er die gepflasterte Straße, vorbei an steinernen Bänken, auf denen verliebte Paare in schönen Stoffen gekleidet saßen und sich Liebkosungen zusprachen. Vorbei an der Allee von hohen rötlichen Tannen, zu dem schwarzen eisernen Geländer. Er wählte die Mitte zwischen zwei goldleuchtenden Laternen, welche links und rechts von ihm die ganze geschwungene Straße beleuchteten. Laute Stimmen waren von den einzelnen Restaurants und Casinos zu hören, aber sie drangen nicht an Nics Ohr. Stattdessen lehnte er sich an das Geländer und überblickte die atemberaubende Aussicht über Zanoons Berge, Wälder und Seen. Es erinnerte ihn noch stärker an seinen Traum. Er liebte diesen Ausblick des Heimatplaneten seiner Mutter zu sehr, um ihn sich zerstören zu lassen.

Nics Vater, dessen gerade Nase und schmales Gesicht er geerbt hatte, war Eliaataner, vielleicht deshalb der Ort des Traumes. Seine Mutter war Zanoonerin. Von ihr hatte er die Blässe, das helle Haar, welches im Mond beinahe weiß schimmerte, und die himmelblauen Augen, die trübsinnig vor sich hinstarrten. Seine Adoptivmutter, Fèrries leibliche Mutter, hatte seine Eltern gekannt. Er selbst konnte sich kaum an sie erinnern. Sie waren vor zehn Jahren gestorben, damals während des Krieges. Nic war fünf Jahre alt gewesen. Deshalb trug er fünf goldene Ringe an seinem rechten Ohr.

Er blickte über seine Schulter zu dem leuchtenden Gebäude. Was würde noch alles in der Presse über ihn stehen?

Ihm war klar, dass die Welten in ihm nicht mehr sahen als ein Schönheitsobjekt, weil er das perfekte Gesicht und den perfekten Körper hatte. Alle glaubten, da er so beliebt war, spielten Gefühle keine Rolle mehr, dass es ihm nichts ausmache, wenn man ihn in der Presse so hinstellte, wie es dieser beliebte.

Er mochte den Ruhm nicht, die Medien, welche ihn wegen jeden kleinsten Detail ausschlachteten. Er wollte doch bloß Rennen fahren.

Es war sein Beruf. Und er liebte seinen Beruf.

Zweiter Fahrer des Kristalla-Teams Matar. Nino war der erste Fahrer.

Nur wenige Sekunden vergingen, und er hörte die Schritte zweier Personen. Rechts von ihm tauchte Nino auf, links Fèrrie.

Erst als der größte und hellste der vier großen Monde von Zanoon hinter einem Wolkenschleier hervor blinzelte und die Spitzen der Nadelbäume im Tal silbern färbte, hob Fèrrie seine Stimme.

»Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Ja.«

»Ganz sicher?« Fèrrie klang besorgt.

»Ja!« Nic betrachtete mit müden Augen seine Fingernägel und fing an, sie mit der Kuppe seines Daumens zu polieren. Er zögerte. Normalerweise erzählte er seinen Freunden alles, aber diesmal … es war, als hätte dieser Traum ihm eine geheime Botschaft ins Unterbewusstsein gepflanzt. Sag es niemandem.

Irgendetwas musste er antworten, also entschied er sich für das Offensichtlichste. Das morgige Rennen.

»Wahrscheinlich bin ich nervös wegen morgen.«

»Aber das musst du doch nicht sein, Nic. Du startest von Platz sechs, das ist prächtig«, warf Fèrrie ein.

Nic antwortete nicht.

»Alter, was soll denn schon schiefgehen, hm? Du bist ein super Fahrer, hast ne gute Zeit und ne super Maschine, entwickelt von dem netten Herrn zu unserer Linken.«

»Mitentwickelt«, korrigierte Fèrrie Nino, welcher geschmeichelt schmunzelte.

»Dann eben mitentwickelt. Über die Maschinen brauchst du dir keinerlei Sorgen zu machen, Alter.« Nino zuckte mit den Schultern und lehnte sich locker an das Geländer, sodass seine Kristallkette, auf der sein Name eingraviert war, unter dem Hemd hervor rutschte.

Es hieß, jede Seele leuchtete in ihrer eigenen Farbe seit der Entstehung ihrer Existenz. Ninos musste leuchtend gelb sein, wie die Blätter einer Sonnenblume, wie der Kristall, welcher im Mondschein schimmerte. Ausgebildete Menschen konnten diese Farbe um die Personen herum sehen und begleiteten sie dann während ihrer Namensgebungszeremonie als Säuglinge.

Nic warf ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zu und musste lächeln. Nino konnte jeden mit seinem klaren Blick, dem freundlichen Gesicht und seiner ganzen Ausstrahlung sofort wieder heiter stimmen.

Seine tiefbraunen, dicken, wild abstehenden Locken wirkten an manchen Stellen, durch die Dunkelheit der Nacht, beinahe schwarz, wie sein Traum, der ihn noch immer mit kalter Hand festzuhalten schien. An manchen anderen Stellen lag jedoch ein leicht heller Schimmer auf dem Haar, aufgeweckt durch das kalte Licht der Monde.

Der junge Mann hatte ein schönes Profil; seine gerade Stirn ging in einem Schwung in eine kurze Nase über, die vollen Lippen waren zu einem genussvollen Lächeln verzogen, als er den feinen Windhauch in seinem Gesicht genoss. Das helle Licht hob seine breiten Wangenknochen und den kantigen Kiefer hervor.

Die Augen, die nun zu den Sternen gerichtet waren, waren von einem tiefen Blau, wie die Farbe des Meeres, wenn der Himmel hellgrau war, die See ruhig und die Welt kurz vor einem Sturm stand.

Das war Nino Elsôn. Achtzehn Jahre alt. Nics persönliche Sonne. Die Person, in deren Gegenwart jeder andere einfach fröhlich sein musste. Und wenn Nino selbst einmal nicht glücklich war, so waren es auch die restlichen Welten nicht. Ein Charakter, der wohl am besten mit der Farbe Gelb beschrieben wurde. Eine Sonne, die sich immer wieder einen Weg durch die Wolkendecke bahnte, egal wie dick diese auch sein mochte.

Fèrrie hingegen war eine ruhige Persönlichkeit. Meist still, in seinen eigenen Gedanken, doch nicht weniger lustig. Er war sechzehn und mit Nic zusammen aufgewachsen, als wären sie Zwillinge. Auch er hatte einen zanoonischen Elternteil; seinen Vater.

Seine Mutter war Kauunerin und so kam es, dass seine Haut von einem satten hellbraunen Farbton war. Er hatte ein ebenmäßiges, feines Gesicht ohne harte Kanten und Spitzen, wie es für die Zanooner üblich war. Die ausdrucksvollen Augen waren von einem dunklen Sturmgrau, umsäumt von dichten schwarzen Wimpern, ebenso schwarz wie sein krauses, kurzes Haar. Das Auffälligste an ihm waren die wenigen Sommersprossen auf seiner feinen Nase, ungewöhnlich für einen Kauuner.

Nino, Fèrrie und Nic. Das unzertrennliche Trio auf der Rennstrecke.

Nic und Fèrrie hatten im Krieg ihre Kristallketten verloren, und manchmal, wenn Nic den gelben Kristall vor Ninos Brust baumeln sah, fühlte er sich nackt – als fehlte etwas an ihm.

»Ich verstehe einfach nicht, weshalb alle so ein großes Drama um meine Namensänderung machen«, griff Nic das Thema wieder auf.

Die Medien schlachteten es seit ein paar Tagen aus. Seit er in ihm unerlaubten Dokumenten geschnüffelt hatte und auf seinen echten Nachnamen gekommen war. Und diesen nun als Künstlernamen verwendete. Nic Lenista.

Nun versuchte Fèrrie seinen Bruder zu besänftigen. »Nic, … lass sie doch einfach. Reporter versuchen immer jede Schwachstelle an euch Fahrern herauszufinden.«

»Ja, aber ich verstehe nicht, was ich Schlimmes getan habe, um überhaupt in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Ich habe bloß meinen Nachnamen geändert! Du hast ja keine Ahnung, wie es sich anfühlt, von allen mit diesen … diesen Blicken begutachtet zu werden.«

»Ich verstehe schon …«

»Nein, Fèrrie. Du verstehst nicht.«

Auf einmal spürte Nic, wie sich sein Leib zusammenkrümmte und ihm Schweißperlen auf die Stirn traten. Dunkle Schatten prägten seine Augen, die dumpf und starr wirkten. Als seine Knie an Stärke verloren, packten ihn seine Freunde an den Armen und wollten ihn wieder hochziehen. Sein schmaler Körper auf einmal unsagbar schwer.

»Er hat schon wieder diesen Blick von vorhin!«, rief Fèrrie mit hoher Stimme.

Nino keuchte. »Ich hol Vlad.« Im nächsten Moment war er verschwunden.

»Hast du gehört, Nic? Vlad kommt gleich! Nino holt ihn. Nic?«

Fèrrie versuchte ihn mithilfe seiner eigenen Knie aufrecht zu halten, aber er sank immer mehr in sich zusammen. Den Blick wie ein Toter in die Ferne gerichtet.

»Nic?!« Fèrries Stimme überschlug sich.

Nic hörte ihn nicht. Vor ihm stand wieder dieser Junge und blickte ihn aus toten Augen an. Sie weinten Blut.

Du hast uns getrennt.

Silias

Eliaat, Nähe der Stadt Clay

Zeitmarke 7943.272

»Hörst du das?«

Silias Castillen hob den Kopf und blickte zu den dichten Kronen der Laubbäume. Seine Augen in derselben lindgrünen Farbe wie die der frischen Blätter.

Danis Feara folgte seinem Blick und lauschte. Es war nichts zu hören, bis auf das leise wiegende Rauschen der Äste, wenn sie sich berührten, das heulende Geräusch der Motorsägen, wenn sie die Rinden der Bäume zerschnitten und hier und da der Laut eines Mannes, der unter dem Gewicht eines Stammes ächzte.

Nach ein paar Sekunden, in denen beide Jungen ihr Kinn emporstreckten, wandte sich Danis wieder von dem kaum sichtbaren Himmel ab, holte mit seiner Hacke aus und schlug mit einem einzigen geraden Schlag einen schlanken Ast in zwei. »Nichts, was für normale Ohren wie meinen bestimmt ist«, gab er murrend als Antwort.

Silias, ein wenig enttäuscht, warf noch einen letzten sehnsüchtigen Blick empor, hoffend, dass sich seine Erwartungen erfüllen würden, aber als nichts passierte, wandte auch er sich wieder seiner Arbeit zu.

Die beiden Jungen waren Holzfäller-Lehrlinge und arbeiteten schon auf dem Gut Pattray, seit sie alt genug waren, eine Hacke in der Hand zu halten. Sie verdienten mit ihren vierzehn Jahren rund zwei Ellis am Tag, womit sie zusammengezählt mit dem Gehalt von Silias‘ Vater und dessen Freund, gut über die Runden kamen. Sie hatten sieben Mäuler zu stopfen.

Gerade als sich Silias wieder seinem Stamm widmen wollte, lenkte ihn eine Bewegung aus dem Augenwinkel erneut ab. Alles war interessanter als diese eintönige Arbeit.

Ein Latuks näherte sich, um die klein gehackten Zweige zur Sammelstelle zu tragen, und Silias schenkte ihm ein Lächeln. Dieser Mann musste eine noch niederere Arbeit verrichten und war ein Leibeigener der Pattrays. Der Latuks erwiderte es mit einem feindseligen, trostlosen Blick.

»Hör endlich auf, zu versuchen, nett zu ihnen zu sein«, fing Danis an, der Silias‘ Gedanken nur aufgrund seines Gesichtsausdrucks hatte deuten können. »Und hör endlich auf, in der alten Demokratie zu leben, Sil. Wir haben eine Diktatur, diejenigen, die damals Pech hatten und versklavt wurden, müssen die Scheißarbeit machen. Manchmal läuft das Leben halt beschissen. Echt, … du bist wie dein Vater, ihr müsst in der Gegenwart ankommen.«

»Würdest du auch noch so großspurig reden, wenn ich dich damals nicht im Wald gefunden hätte und du nun Sklavenarbeit verrichten müsstest?«, zischte Silias.

Danis sagte nichts, sondern warf ihm lediglich einen wütenden Blick zu. Die beiden Jungen schwiegen sich an, und Silias ließ seine unterdrückte Wut an dem Baum vor seinen Füßen aus. Sein Vater nannte diese Stille Diplomatie. Er nannte sie langsames in sich hineinfressen. Sein Vater, der vor zehn Jahren noch ein Alienor gewesen war und in der monarchistischen Demokratie für gesetzliche Ordnung gesorgt hatte.

Nachdem der Krieg zwischen den Welten ausgebrochen war, die Alienor gestürzt wurden und ein gewisser Arijc Callôs die Macht übernommen hatte, lebten sie im Exil.

Silias kannte nichts außer das Gut Pattray und sein Zuhause. Auf den Markt durfte er nie mitgehen, da sein Vater zu große Angst hatte, einer der Wächter könne Silias erkennen und einsperren.

Das nannte Silias Paranoia.

Woher auch immer die mein Gesicht kennen sollten, dachte er sich beinahe täglich, denn diese Abgeschiedenheit ließ den Kloß in seiner Brust immer größer werden. Wenn, dann erkennen sie sowieso meinen Vater.

Manchmal fing Silias an zu zittern, wenn er vor seiner Grundstücksgrenze stand, vor der Grenze zu einem freieren Leben. Er wusste nicht, was dieses Zittern zu bedeuten hatte; überladene Energie, Angst, Adrenalin oder doch sein heimliches, gut unterdrücktes Temperament. Er wusste, dass er es nicht mehr lange aushalten würde. Diese aufkeimende Wut auf seinen Vater, der ihn einsperrte.

Silias liebte seinen Vater. Er bedeutet ihm alles, war seine Bezugsperson, der Mann, zu dem er aufblickte. Doch in letzter Zeit war er verdrossener, noch ängstlicher, angespannter und paranoider geworden. Vielleicht lag es an den immer häufigeren Aufständen der Resilienz. Vielleicht lag es daran, dass man in der Luft spürte, dass bald etwas auf den acht Welten geschehen würde.

Silias‘ Vater besaß eine Freude, die sonst wohl kaum ein Vater mit ihm teilen würde. Er erfreute sich jeden Tag aufs Neue daran, dass sein Sohn ihm kaum ähnlich sah. Sie hatten zwar dasselbe kupferfarbene Haar, ein ähnlich geschnittenes Gesicht – wobei Silias nicht die Sommersprossen seines Vaters geerbt hatte – und ein scharfes Profil. Die lindgrünen Augen hatte Silias von seiner Mutter, so wurde es ihm zumindest erzählt. Das dunkle Blau seines Vaters hatte sich in feinen, kaum sichtbaren Strahlen um die Pupille dazu gemischt. Die Augen eines Kindes, der Ausdruck eines Erwachsenen. Noch nicht viel hatten sie von der Welt gesehen, aber schienen sie alles zu wissen, was man zum Durchstehen des Spiels des Lebens – wie es sein Vater nannte – brauchte. Silias wusste nicht, dass Filas jedes Mal, wenn er diesen Ausdruck in den Augen seines Sohnes sah, erschauderte.

Er verstand nicht, warum sein Vater nichts gegen diese Diktatur unternahm. Er war ein Alienor, hatte seine Kräfte, konnte kämpfen und mit dem Schwert umgehen, wie ein wildgewordenes Tier, das sich gegen den Tod aufbäumte, und doch tat er nichts. Gar nichts.

Das nagte an Silias. Und genau jenes Gefühl der Nichtübereinstimmung, des Unverständlichen wuchs in ihm. Er gestaltete sich nun seine eigenen Ansichten der Welt.

Ein dröhnendes Geräusch ließ die Köpfe aller Holzfäller gen Himmel zucken. Hier unten im Dickicht, wirkten die Spitzen der Laubbäume gegen die wenigen Flecken Himmel dunkel wie unheilvolle schwarze Löcher.

»Was ist das?«, fragte Danis, leichte Beunruhigung in der Stimme.

»Das was ich vorhin gemeint habe«, flüsterte Silias. »Kampfjets.«

Und wirklich stahlen dunkle, im Sonnenlicht hell glänzende, große Umrisse, das Licht von der kleinen Lichtung. Silias‘ Alienor-Kraft schärfte sich, und seine Augen konnten hunderte Meter weit gestochen scharf sehen. Seine Ohren alles im Umkreis eines Kilometers hören. Seine Sinne waren übermenschlich ausgeprägt, … wenn er es zuließ.

»Die Resilienz«, hauchte er, da er das Wappen der Rebellen an den Seiten der Schiffe erkannte. Dunkelgrün mit dem alten, leicht abgeänderten Zeichen der Alienor.

Je eine Hand packte die Jungen an den Schultern und zog sie blitzschnell in den Schutz einer Eiche.

Silias spürte den schnellen Atem seines Vaters im Nacken, seine Hand, deren Finger sich schmerzhaft in die Schulter des Jungen bohrten, war eiskalt.

Filas‘ Verhalten war nicht auffällig, viele brachten sich in Sicherheit.

Sein Sohn wandte leicht den Kopf. »Es sind die Rebellen.«

Ein anderer hätte es vielleicht für einen Irrglauben eines pubertierenden Jungen, der an der Freiheit festhielt, halten können, für Filas war es mehr.

»Und die?«, fragte er, als eine zweite Kolonne über sie hinweg preschte.

Silias Körper spannte sich an. »Die Arcano.«

Filas Atem zitterte und sie warteten. Sie warteten so lange in dem Schutz der Eiche, bis der Lärm der Maschinen vollkommen abgeklungen war und der leitende Holzfäller ihnen einen strengen Blick zuwarf.

Bis zum Ende ihrer Schicht verhielten sich beide Jungen ruhig, sprachen bloß das Notwendigste über die Arbeit. Silias warf keinem der Latuks ein weiteres Lächeln zu.

***

Auf dem Nachhauseweg gingen sie erschöpft einen dünnen Pfad entlang, den ausschließlich sie täglich benutzten. Sonst kannte ihn niemand. Ab und zu warfen sie unheilvolle Blicke durch das Dickicht des Waldes gen Himmel.

Als sie daheim angelangt waren, rannte ihnen ein kleiner Junge mit rundem Gesicht und spitzer Nase freudestrahlend entgegen. Seine Latzhose war dreckig, und Silias bildete sich ein, sogar ein wenig Blut darauf zu erkennen. Das Haar des Jungen war von einem hellen Brünett, durchmischt von weißen Streifen und unterbrochen von zwei runden, kleinen Ohren. Ein kurzer, ebenso brauner, buschiger Schwanz zuckte freudig hinter seinem Rücken hervor. Bodo war ein Fangaro-Dachs, ebenso wie sein Vater, Cillian Olcay, dem er sich gerade kreischend in die Arme warf.

Sofort stellte der Achtjährige tausend Fragen.

»Habt ihr das auch gehört? Da sind riesige Schiffe über uns drüber geflogen! Wer war das? Die Rebellen? Oder Piraten? Vielleicht auch Kopfgeldjäger? Papa, bitte sag mir, dass das Kopfgeldjäger waren! Habt ihr sie gesehen? Silias! Du musst sie doch gesehen haben, oder? Du siehst und hörst immer alles! Jetzt sag schon! Edda ist auch ganz neugierig. Wir wollen es wissen! Jetzt sag schon!«

Silias lächelte müde, als der Kleine an seinem Hemd zerrte und mit erwartungsvollen, tiefgrünen Augen zu ihm hochsah. So tiefgrün wie das individuelle Zeichen eines Fangaro auf seiner Stirn.

»Ich habe sie gesehen, und ja, es waren die Rebellen, die von den Arcano verfolgt wurden.«

Das Gesicht des Jungen wuchs zu einem einzigen Ausdruck des Staunens. »Wirklich?! Papa, hast du das gehört? Aber was machen die hier? Onkel Filas?!«

Filas blickte über seine Schulter zu dem Jungen. Ein seltsamer Glanz lag in seinen Augen. »Ich weiß es auch nicht, Kleiner. Wahrscheinlich war es eine Verfolgungsjagd. Irgendwo werden die Rebellen irgendwas ausgefressen haben, verstehst du?«

»Und?«

»Was und?«

Sie kamen an eine kleine Lichtung, auf der zwei identische Holzhäuser sich wie Zwillinge gegenüberstanden. Ein kleiner, von Lichtern umsäumter Pfad verband die beiden. Gemüsebeete, Blumenbeete und Obstbäume lagen etwas abseits, damit die Kinder Platz zum Spielen hatten. Ein kleines Mädchen, kaum älter als Bodo, mit ebenso hellbrünettem, langem Haar, hob den Kopf, als sie die Gruppe aus dem Dickicht des Waldes spazieren sah und sprang begeistert auf.

»Mama! Sie sind da!«

Dann kam sie lachend und springend auf ihren Vater zugelaufen. Cillian nahm sie freudig in die Arme, hob sie hoch und drehte sie ein paar Mal im Kreis.

Edda schlang die dünnen Arme um Cillians Hals. Das Mädchen war nach ihrer Mutter gekommen; einem Luchs. Spitze Ohren stachen aus ihrem glatten Haar hervor, dünne Schnurrbarthaare zierten ihre Oberlippe und die Augen waren dunkel umrahmt, als hätte sie einen Lidstrich. Ihre Farbe war ein tiefes Orange, ebenso wie das Zeichen auf ihrer Stirn. Sie war knapp zwölf Jahre alt.

Auch sie plapperte vor sich her. Ihre Stimme vermischte sich zu einem immer lauter werdenden Orkan mit dem Quieken ihres jüngeren Bruders.

Danis verdrehte genervt die pechschwarzen Augen und warf Silias einen erschöpften Blick zu. Als sie alle auf der kleinen Lichtung ankamen, ergriff er seine Chance und zog sich seine Provianttasche von der Schulter.

»Hier, kannst du sie bitte auf mein Zimmer bringen? Ich dreh noch ‘ne Runde.«

Anteilnahmslos nahm Silias die Tasche entgegen. »Alles klar.«

Ohne auf Filas‘ widersprechende Worte zu achten, richtete sich Danis sein Haarband, das die dunkelgrauen Haare zusammenhielt, und sprintete auf die Klippe zu, die das Grundstück auf einer Seite säumte. Mit geschmeidigen Bewegungen wurde er immer schneller und schneller, sprang, stieß sich mit einem Bein von dem Holzzaun ab und drehte sich. Und genau in dieser Drehung geschah das, was Silias so gerne beobachtete. Dunkelgraue Rabenflügel wuchsen aus Danis‘ Rücken, wurden größer und stärker, entfaltete sich. Von hier konnte man es zwar nicht erkennen. Silias wusste, dass nun auch einzelne graue Federn sein dichtes Haar zierten und ein Mal auf seiner Stirn prangte, in derselben Farbe wie seine Kristallkette. So veilchenviolett wie seine runden Augen geworden waren.

Und dass er lächelte.

Im nächsten Moment war Danis verschwunden.

Im Gegensatz zu Silias. Er würde niemals frei sein …

Stumm trottete er neben seinem Vater her auf das Haus der Olcays zu und warf Danis‘ Tasche achtlos auf den nächstbesten Stuhl.

»Silias, ist alles in Ordnung?«, hörte er seinen Vater fragen. Er antwortete mit einem stummen Nicken.

Filas presste die Zähne aufeinander.

Der Sohn wandte sich ab und warf noch einen letzten Blick zu seinem Vater, der ihn entschuldigend mit einem schiefen Grinsen ansah. Dasselbe Grinsen, welches er von ihm geerbt hatte.

Vor vielen Jahren musste sein Vater gut aussehend gewesen sein. Stattlich, mit leuchtenden blauen Augen, die mittlerweile stumpf und trostlos in die Welt blickten, ohne ihre Schönheit zu erkennen. Das Haar von einem strahlenden Rot, nun fahl, von hellen Strähnen durchzogen, und auch sein Gesicht, welches durchaus mit einer schönen Anmut hätte alt werden können, sich diesem Umstand jedoch verweigert hatte. Es war von Trauerfalten zerfurcht.

***

Als das Essen auf dem Tisch stand, ließen sich alle auf ihren üblichen Plätzen nieder.

Danis stürmte noch im letzten Moment verschwitzt und mit einem Grinsen auf den Lippen herein und nahm neben Silias Platz.

Niemand bemerkte, wie Bodo etwas unter seinem Hintern hervorzog und es Filas hinschob, der am Kopfende Cillian gegenübersaß.

»Onkel Filas, wer ist das?«

Silias reckte den Kopf. Seit Bodo eine gewisse Größe erreicht hatte, kam er mit allen Bildern, die auf dem Kaminsims standen, herangelaufen und fragte sie aus. Dieses stammte nicht aus dem Hause der Olcays.

»Von wo hast du das?«, fragte Filas, und eine gewisse Strenge schwang in seiner Stimme mit.

»Von euch drüben.«

»Bodo!« Kahyla sah ihn scharf an. »Du kannst nicht einfach in fremde Häuser gehen und Sachen mitnehmen, hast du verstanden?«

»Aber das ist kein fremdes Haus«, antwortete der Junge trotzig, dann wandte er sich wieder Filas zu, »Wer ist das?«

Er deutete auf einen Arm, der über die Schulter eines jungen Helus lag. Der dazugehörige Körper war abgeschnitten.

Silias erkannte das Bild und schluckte. Es war das Bild, auf dem alle alten Freunde seines Vaters versammelt waren.

Keine gute Idee.

»Du meinst den hier?«, fragte Filas und wartete gar nicht erst auf Bodos Antwort.

»Das war Arijc Callôs. Er ist tot, genau wie alle anderen auf diesem Bild.«

Arijc

Eliaat I., Omnia

Zeitmarke 7943.272

»Oberster Befehlshaber, ich bitte Sie, meinen Bruder zu begnadigen. Es war bloß ein einziger Fehltritt.«

»Ein Fehltritt zu viel.« Arijcs Stimme schnitt scharf die Luft entzwei. Der Mann, der ihm mit gesenktem Haupt gegenüberstand, zuckte leicht zusammen.

»Sir …»

»Sirius, Sie wollen mir hier wirklich weiß manchen, dass ich einen Narr wie ihren Bruder, der plötzlich die Gabe der Barmherzigkeit und Nächstenliebe erlernt hat, begnadigen soll?«

Sirius stand schon lange genug unter der Führung des Obersten Befehlshabers, um zu wissen, wann er kapitulieren sollte. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Sie haben Recht, Sir.«

»Gut, Sirius. Also, was ist Ihr Bruder?«

Einige zögerliche Momente, gefolgt von verräterischer Anspannung, machten sich in dem großen marmornen Empfangssaal breit.

»Ein Verräter des arcanischen Regimes, Sir.« Die Worte kamen dem Mann schwer über die Lippen. »Ein Verräter, der verfolgt und gefoltert werden sollte.«

»Sehr gut, Sirius. Mir scheint, Sie haben es verstanden. Sie können wegtreten.«

Sirius verbeugte sich tief, die Tränen zurückhaltend, als er an das jetzige Leben seines Bruders dachte. Das müde Winken des Obersten Befehlshabers war wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Schlag, der bewies, wie schnell man ausgewechselt werden konnte, wenn man einen Fehler beging. Einen einzigen.

Als er sich entfernte, lief er die ersten Schritte rückwärts. Dann drehte er sich herum und ging mit geradem Rücken und zurückgedrückten Schultern der schwarzen Wand von abgedunkelten Türen entgegen, die die frische Luft der Außenwelt vom Empfangssaal abgrenzten. Das goldene Wappen der Arcano prangten hoheitsvoll auf dem dunklen Glas.

Aus dem Augenwinkel sah er eine weiß gekleidete Person zwischen den dunklen Schatten der hellen Marmorsäulen, die den Saal flankierten, hervortreten. Ein Minister.

Auch erkannte Sirius das weiße Haar. Also der Minister der Justiz. Und rechte Hand des Obersten Befehlshabers.

»Ach, Sirius!«

Sirius wandte sich mit wehendem Mantel um und reckte ein wenig das Kinn, um anzudeuten, dass der Oberste Befehlshaber nun seine ganze Aufmerksamkeit erhielt.

Die beiden Männer hatten die Köpfe zusammengesteckt, und der Minister musterte Sirius mit stechendem, klarem Blick.

Weiß und schwarz. Nicht nur ihre Kleidung deutete auf diesen deutlichen Unterschied, auch ihre Haare und ihr Charakter. Sirius kannte den Minister, hatte schon oft mit ihm zusammengearbeitet. Sehr viele Seelen verdankten ihm ihr Leben. Leben, die der Oberste Befehlshaber vorgehabt hatte auszulöschen.

Die goldenen Augen des Arcano stachen in Sirius‘ Aura und er hielt die Luft an.

»Wenn Sie auch bloß einen dummen Gedanken bezüglich ihres Bruders fassen, wird nicht nur er sterben, sondern auch Sie. Und wir wissen beide, wie wichtig es ist, dass Ihre Familie Nachkommen zeugt.«

Alle drei Männer verharrten für einen kurzen Augenblick in ihren starren Positionen. Sirius löste sich mit einem kurzen, scharfen Nicken, wandte sich auf seinen Absätzen um und verschwand.

Arijc wartete einen Moment, als könne der Portalspringer sein darauffolgendes spöttisches Auflachen hören. Noch immer lachend wandte er sich an Caspar. Als er Arijcs Blick spürte, drehte dieser sich um.

»Die Besprechung«, sagte er kühl und richtete sich wieder auf.

»Richtig, das Kriegskabinett!« Arijc klatschte in die Hände. Auf diese Besprechung hatte er schon seit Stunden gewartet. Hatte, als er die nötigen Mitteilungen erlangt hatte, sofort alle Minister einbestellt. Und durch diesen Trottel von Portalspringer beinahe vergessen.

»Jetzt holen wir uns den Jungen.« Euphorisch erhob er sich von seinem Thron.

Die schwarzen, edlen Stoffe umhüllten Arijc, wie den leibhaftigen Tod. Das goldene Innenfutter seines Mantels schimmerte wie Lava im Licht der Lampen.

Dann plötzlich erschien ein irres Lächeln auf seinen wohlgeformten Lippen. Locker und freundschaftlich klopfte er auf Caspars Schulter. Er seufzte theatralisch. »So lange haben wir auf diesen Moment gewartet.«