Neroth -Königreich der Albträume - Lara Kempa - E-Book

Neroth -Königreich der Albträume E-Book

Lara Kempa

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Beschreibung

Gefangen zwischen Traum und Albtraum. Zwischen Wahrheit und Lüge. Zwischen Leben und Tod. Die Albtraumkönigin wurde aus ihrem Gefängnis befreit und sinnt auf Rache. Rache am Hüter und seinen Träumen. Verborgen vor aller Augen spinnt sie in Neroth ihre Pläne, die nur die Wanderer Illusions durchkreuzen können. Doch diese sind gescheitert. Verloren. Tot. Oder?

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

1 7

Kapitel 1 - Schmerzhaftes Erwachen 8

Kapitel 2 - Traumwandler 18

Davor - Eine kleine Maus 29

Kapitel 3 - Im gemachten Netz 36

Kapitel 4 - Die Stadt der Spinnen 42

Davor - Mondschein am Sternenhimmel 50

Kapitel 5 - Im Reich der Schatten 57

Kapitel 6 - Entscheidungen 67

2 71

Die erste Erinnerung - Lýrr 72

Kapitel 7 - Alte Bekannte 81

Kapitel 8 - Das Flüstern des Waldes 92

Die zweite Erinnerung - Die Herrschaftvon Licht und Dunkelheit 100

Kapitel 9 - Die Jagd der Toten 113

Kapitel 10 - Tief begraben 123

Die dritte Erinnerung - Die Schönheit der Schöpfung 132

Kapitel 11 - Blutsauger 142

Kapitel 12 - Überfahrt mit Tücken 150

Die vierte Erinnerung - Die großen Drei 156

Kapitel 13 - In die Höhle des Löwen 163

Kapitel 14 - Das Herz des Königs 172

Die fünfte Erinnerung - Der Sturz der Albtraumkönigin 181

Kapitel 15 - Wenn Träume zuAlbträumen werden 187

Kapitel 16 - Eine Träne der Trauer 193

Die letzte Erinnerung - Die wahre Geschichte 203

3 210

Danach - Das Gesicht hinter der Maske 211

Kapitel 17 - Doch zu welchem Preis 217

Danach - Träume aus Porzellan 224

Triggerwarnung 235

Triggerwarnung

Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen können. Eine Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist am Ende dieses Buches zu finden, da sie explizite Spoiler zur Geschichte enthält.

1

Tick. Tack. Tick. Tack.

Der Anfang vom Ende steht uns heute bevor.

Zwei Seelen, so nah und doch viel zu fern.

Gefangen zwischen Albtraum und Traum.

Zwischen Zwietracht und Hass.

Getrennt durch die Lügen, einst gesprochen von Oben

und geteilt durch das Unten.

Werden sie sehen durch den Schleier der Trauer,

der sie umgibt wie eine eiserne Mauer?

Oder wird es so enden, wie zuvor prophezeit?

Mit Glück ganz am Ende und so furchtbar viel Leid?

Kapitel 1

Schmerzhaftes Erwachen

Rowan

Tiefschwarze Schatten umlagerten meine Sinne und erst der alles verzehrende Schmerz brachte mich zurück ins Licht. Ein stummer Schrei lag mir auf der Zunge, doch verließ er nie meine Lippen. Leises Gemurmel drang an meine Ohren, doch schnitt die Dunkelheit die Worte ab. Ich war umgeben von einer Blase aus Nichts, in der meine Seele umherwanderte. Zwischen Licht und Dunkel. Zwischen Grauen und Erlösung. Begleitet von einem blassen Brennen, das durch meinen Körper fuhr. Vernebelte Bilder zogen an mir vorbei und gaben keine Ruhe. Ein Gesicht vor meinen Augen, das sich wandelte. Wandelte von dem gebrochenen Ausdruck meiner Schwester zu einem finsteren Lächeln auf den Lippen eines Monsters.

Die Zeit schlich nur so an mir vorüber. Waren es Stunden, Tage oder gar Wochen? Ich konnte es nicht sagen. Als der Nebel sich allmählich lichtete, jagte eine wohlige Wärme durch meine Muskeln. Die Haare an meinen Armen standen mir zu Berge und ein leiser Stich durchzuckte mich, als ich meine Lider auseinanderzog. Klebrige Reste des Schlafes hingen mir an den Wimpern und suchten sich einen Weg in meine Augen. Ein helles Licht blendete mich, aber ich hielt meine Lider davon ab, sich ein weiteres Mal zu schließen. Die Angst, mich nicht erneut aus der Dunkelheit befreien zu können, ließ mich rebellieren. Erst als sich meine Augen allmählich an die Helligkeit gewöhnten, fiel mein Blick auf den weißen Verband über meiner nackten Brust.

Was ist passiert?, fragte ich mich, als ich das Blut sah, das den Stoff befleckte. Es führte geradewegs zu einer Stelle unter meinem Herzen, die schmerzhaft pochte und mir das Atmen erschwerte. Behutsam wanderte ich mit meiner Hand über den rauen Stoff und stockte, als sich der Schmerz über meinen gesamten Oberkörper hinweg ausbreitete. Ein Stöhnen löste sich von meinen Lippen, das sich in ein erleichtertes Seufzen verwandelte, sobald das Leiden verging.

Ich hielt meine Finger von dem Verband fern und wagte es nicht ein weiteres Mal, die Wunde darunter zu betasten. Stattdessen wanderte mein Blick durch den Raum und blieb an einer Person hängen, die es sich neben dem Bett auf einem Stuhl bequem gemacht hatte. Die Augen meines Vaters waren geschlossen und sein Kinn ruhte auf seiner Brust. Keine äußerst angenehme Position, wenn man mich fragte. Neben ihm saß Freya, der weiße, mit grauen Flecken besprenkelte Wolf von Eira. Sie beobachtete mit schiefgelegtem Kopf jede meiner Bewegungen.

»Was machst du denn hier?«, wollte ich sie fragen, doch bevor nur ein Ton meine Lippen hätte verlassen können, atmete ich zischend auf. Ich verzog mein Gesicht und nur mit Mühe und Not gelang es mir, einen Blick auf die leidverursachende Stelle an meinem Arm zu werfen.

Was zur ...? Weiter kam ich nicht, als ich beim Anblick meiner Haut erstarrte. Das schwarze Blut, an das ich mich in den letzten Tagen immer mehr gewöhnt hatte, war durchzogen von lila Schlieren, die sich durch meine Haut nach Außen brannten. Sie formten kryptische Symbole, die ich, selbst wenn mein Verstand nicht von Schmerz vernebelt gewesen wäre, nicht hätte entziffern können. Mit den Fingern meiner rechten Hand strich ich sachte über die mir unbekannten Zeichen, die unter meiner Berührung noch intensiver schmerzten.

»Rowan?« Meine Aufmerksamkeit glitt von meinem Arm zu meinem Vater, der mit einem Gähnen aus seinem Schlaf erwachte. Und als ich erneut einen Blick zurück wagte, waren die Symbole verschwunden und der Schmerz so schnell vergangen, wie er gekommen war. Hatte ich mir das alles etwa nur eingebildet? Ich schüttelte den Kopf. Das war eine Frage, über die ich mir später Gedanken machen würde.

»Was macht Freya hier?« Ich erkannte meine Stimme selbst kaum wieder, so rau und krächzend kam sie mir über die Lippen. Dankend nahm ich das Glas mit frischem Wasser entgegen, welches mein Vater mir hinhielt und trank gierig mehrere Schlucke. Die erfrischende Kälte rann meinen Hals hinunter und ich spürte sie selbst in meinem Bauch nachhallen. Nur mit Mühe verkniff ich mir ein erleichtertes Stöhnen und stellte das Glas auf dem Schrank neben dem Bett ab. Mein Blick huschte erneut zu dem Wolf, der mich noch immer mit schiefgelegtem Kopf musterte und ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. »Geht es Eira gut?«

»Ihr geht es bestens. Sie gab Freya den Befehl, über dich zu wachen«, sagte Hayes und ich atmete auf. Eira war vor unserer Reise nach Naiad in keinem guten Zustand gewesen, wobei diese Beschreibung noch untertrieben war. Und selbst mit den Worten meines Vaters in den Ohren, schaffte ich es nicht, die Sorgen um die Beschützerin Hiems zu verdrängen.

»Aber wie geht es dir?« Hayes musterte mich aus halbgeöffneten Augen heraus, die von einigen schlaflosen Nächten zeugten. Die bläulichen Flecken unter ihnen schienen dies nur zu bestätigen.

»Mir geht es gut«, wiegelte ich ab. »Was ist passiert?«

Hayes rieb sich die Nase, bevor er antwortete. »Ich dachte, das könntest du mir beantworten. Wir wissen nur, dass du vor etwa einer Woche halbtot hier aufgetaucht bist.« Er setzte sich in seinem Stuhl aufrecht hin, bedachte mich mit einem fast schon vorwurfsvollen Blick und fügte hinzu: »Weißt du eigentlich, welche Sorgen ich mir gemacht habe, als Lucy sagte, du hättest für kurze Zeit sogar einen Herzstillstand erlitten? Und Asra ist bis heute nicht aufgetaucht. Also sag mir, was ist in Naiad geschehen?«

Ich war seinem Vortrag stumm gefolgt, doch als die Rede auf meine Schwester kam, setzte ich mich ruckartig auf. Das gefiel meiner Brust so gar nicht, was sie mir mit einem schmerzhaften Ziehen heimzahlte. Zischend atmete ich ein und presste meine Lider zusammen, bis der Schmerz abebbte und meine Lungen wieder genug Luft bekamen.

»Wo ist sie?«, brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Seit meiner Rückkehr war eine Woche vergangen. Eine Woche und keine Anzeichen von Asra?

»Das würde ich auch gern wissen. Sie war nicht bei dir, als du durch das Portal kamst.«

Mein Vater wollte mir dabei helfen, mich aufzusetzen. Reflexartig schlug ich seine Hand beiseite. Ich ertrug zurzeit keine Berührungen. Vor meinen Augen fuhren die Ereignisse in Credance Achterbahn. Die Flucht vor den Kova, die Falle vor dem Portal ... Asras Gesicht, als sie sich entschied, ihren Körper der Albtraumkönigin zu überlassen. Die Albtraumkönigin und ihr perfides Lächeln auf den Lippen meiner Schwester. Ungewollt krümmte ich meine Hände zu Fäusten, fühlte ihren Hals unter meinen Fingerspitzen. Ich hätte nur zudrücken müssen und hätte damit der Königin ein Ende gesetzt. Und Asra. Der Gedanke an sie ließ mich stocken. Die Königin sagte, ihr gehe es gut. Doch wie viel Vertrauen konnte man in die Worte einer Mörderin legen?

»Sie haben sie«, brachte ich stockend hervor, bevor ich ihm alles erzählte. Von unserem Fund in Naiad bis hin zur Flucht in Credance und der anschließenden Falle. Ich ließ es aus, zu erwähnen, dass Asra einen der Dämonen gekannt hatte, und kam direkt zu ihrer Übernahme durch die Königin. Als ich meine Schilderung beendet hatte, sah mich mein Vater stumm mit geweiteten Augen an. Sein Gesicht eine Grimasse des Entsetzens. Und ihn so zu sehen, ließ auch in mir etwas zerbrechen.

»Wir müssen sie finden. Müssen die Königin der Albträume finden und ihren Körper zurückfordern«, durchbrach ich die Stille, die eingetreten war, und meine Stimme holte Hayes aus seiner Erstarrung. Ich war schon halb aus dem Bett gestiegen, als er mich mit einer Hand zurückhielt. Reflexartig befreite ich mich aus seinem Griff, als ein unangenehmer Schauer durch meinen Körper rann.

»Wir machen gar nichts. Du bist noch zu schwach, um irgendetwas zu tun.«

»Ich werde nicht hier herumlungern und mich ausruhen. Wir müssen uns mit Alba beraten, nach Asra suchen«, protestierte ich und wurde mit jedem gesprochenen Wort unabsichtlich lauter.

»Ich habe nicht gesagt, dass du nicht helfen kannst. Aber fürs Erste musst du dich erholen. Du kannst kaum laufen«, sagte er und deutete auf den Verband um meine Brust. »Bis du wieder auf dem Damm bist, wirst du auf keine Rettungsmissionen gehen.«

»Ich kann nicht tatenlos abwarten«, flehte ich, aber mein Vater blieb hart. Der Ernst in seinen Augen wich keinen Millimeter und ich wusste, heute würde ich bei ihm nicht durchdringen. Geschlagen sank ich zurück in die Laken.

»Solange du dich erholst, werde ich alles Menschenmögliche unternehmen, um Asra zu finden. Ich verspreche es dir.«

Mein Blick glitt zum Fenster neben meinem Bett. Der Himmel war wolkenlos, gemalt in einem hellen Blau und doch wanderten meine Gedanken immer wieder zu Asra. Ob es ihr gut ging? Ich hatte keine Wahl, als zu hoffen, dass sie in Sicherheit war. Dass die Königin nicht gelogen hatte.

»Du solltest noch ein wenig schlafen«, holte Hayes mich aus meinen Gedanken. Er hielt mir erneut das Wasserglas entgegen und ich nahm einige Schlucke daraus. Ein komischer Nachgeschmack bildete sich in meinem Mund, der zuvor nicht da gewesen war, und mit einem Blick in das Gesicht meines Vaters bestätigte sich mir, was ich bereits befürchtet hatte. Meine Lider wurden immer schwerer und die Dunkelheit gewann erneut die Überhand.

»Es tut mir leid, Rowan.«

***

»Deine Verletzung ist in den letzten Tagen hervorragend geheilt. Aber auch ungewöhnlich schnell, wenn du mich fragst.« Lucys skeptischer Blick lag auf dem rötlichen Streifen, der sich über meine linke Brust zog. Der einzige Beweis für meine Begegnung mit der Albtraumkönigin. Eine Wunde, die mich das Leben hätte kosten können. »Ich würde gern dein Blut noch einmal untersuchen. Ich vermute, deine schnelle Selbstheilung könnte etwas damit zu tun haben.«

Ich hörte Lucy nur mit halbem Ohr zu, denn meine Gedanken drifteten immer wieder ab. Zu Asra, die noch immer nicht gefunden worden war, und zu Hayes, den ich seit unserem Gespräch vor vier Tagen nicht mehr gesehen hatte. Vielleicht ganz gut so. Nachdem er mich mit Tabletten ausgeschaltet hatte, konnte ich ich in seiner Gegenwart für nichts mehr garantieren. In dieser Zeit hatte ich nicht nur einmal versucht, meinem Zimmer zu entfliehen. Wenn Lucy mich nur hätte gehen lassen ...

»Rowan? Hörst du mir überhaupt zu?« Blinzelnd wandte ich mich meiner Tante zu, die mich mit besorgten Augen und schiefgelegtem Kopf musterte. »Wo bist du nur mit deinen Gedanken?«

»Überall und nirgends«, antwortete ich mit Blick auf meine Finger, mit denen ich unbewusst an dem Pflaster auf meiner Hand gespielt hatte. Das unnütze Herumsitzen brachte mich noch um den Verstand. Das tägliche an die Decke starren und nicht wissen, wann ich den Raum endlich würde verlassen dürfen. »Sind wir fertig?«

»Ja, ich habe alles, was ich brauche. Du kannst dich wieder anziehen.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich war längst auf den Beinen, als sie den Satz zu Ende sprach. Vor etwa zwei Tagen hätte ich nicht einfach so aus dem Bett springen können, ohne dass mich im nächsten Moment der Schwindel packte. Lucy hatte recht, meine Verletzung und ihre Nebenwirkungen hatten sich recht schnell gelegt. Ein Grund mehr, mich endlich nützlich zu machen.

Ich schnappte mir mein Hemd vom Stuhl neben meinem Bett und zog es mir über die Arme. Vor dem Spiegel schloss ich die vielen Knöpfe, doch ich hielt inne, als mein Blick auf mein Spiegelbild traf. Es war wundervoll, nach Tagen endlich wieder normale Kleidung zu tragen, anstelle der lockeren Patientenkluft, die meine Verletzung hatte schonen sollen. Ein Schritt mehr in Richtung Normalität. Obwohl ich davon noch immer meilenweit entfernt war. Die Schatten unter meinen Augen zeugten von den schlaflosen Nächten, die ich damit zugebracht hatte, mir Sorgen zu machen und mir einen Plan zu überlegen. Meine blonden Haare hingen mir verstrubbelt auf den Schultern. Es wurde Zeit, dass ich sie mal wieder ordentlich zurechtstutzte. Ansonsten sah ich aus wie immer. Äußerlich hatte sich nicht viel verändert, während mein Inneres eine 180° Wendung durchlebt hatte.

»Ich würde dich nur bitten, nichts zu überstürzen. Morgen sehe ich mir das noch einmal an und dann bist du mich hoffentlich fürs Erste los.« Lucy schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das ich nicht erwidern konnte. Mir war einfach nicht nach Lachen, Lächeln, Freude. In mir war nur Platz für eine Sache: meine Schwester. Bis ich sie gefunden hatte, würde ich keine Ruhe finden.

»Danke, Lucy«, sagte ich, bevor sie mein Zimmer ohne ein weiteres Wort verließ. Erneut war ich allein. Mit einem letzten Blick auf mein Krankenbett öffnete ich die Tür und verließ den stickigen Raum, der prompt von einem in Blau gehaltenen Gang abgelöst wurde. Der Geruch von Desinfektionsmittel umnebelte meinen Geist und verfolgte mich bis zur Eingangstür. Ich freute mich schon darauf, endlich wieder klare Luft atmen zu können.

Im Eingangsbereich der Praxis war keine Spur von Lucy. Kein so unmöglicher Gedanke, wie ich fand, war meine Tante die meiste Zeit recht mysteriös.

Ich verließ die Praxis durch die Eingangstür und wurde umgehend von einer seichten Brise umweht, die mir die Haare ins Gesicht blies. Es war ein traumhaftes Gefühl, die Sonne und den Wind auf der Haut zu spüren. Das erste Mal seit vier Tagen umgab mich der Geruch von frischer Luft, von Natur und Freiheit Der Gestank nach Desinfektionsmittel war verklungen und machte einem nahezu himmlischen Geruch Platz.

Gemächlich schlenderte ich durch die Stadt, beobachtete die Menschen bei ihren alltäglichen Aufgaben und genoss den Anblick der bunten Blätter, die allmählich von den Bäumen fielen. Doch erfasste mich bei diesen Bildern erneut die Trauer. Ich vermisste meine Schwester, die den Herbst von allen Jahreszeiten in Vanity am liebsten mochte. Wie gern hätte ich beobachtet, wie sie versuchte, die Blätter im Fall zu fangen und lachend durch die Laubhaufen zu wandern. Sie hätte all das hier geliebt, und alles, was mir blieb, war die Hoffnung, dass wir sie schon bald finden würden. Dass die Königin nicht gelogen hatte. Tränen brannten in meinen Augen, die ich mit einer einfachen Bewegung der Hand verscheuchte. Jetzt war nicht die Zeit, Trübsal zu blasen. Ich würde mit Hayes reden und mich dann sogleich auf die Suche nach Asra machen. Und ich würde sie finden.

Mit einem letzten Blick auf die Blätter betrat ich das Haus der Schatten, das wie ein kleiner Hoffnungsschimmer vor mir aufragte.

Ich werde dich finden, Asra, das verspreche ich dir.

Im Inneren des Gebäudes blendete mich das grelle Weiß der Wände für einen kurzen Moment, bevor mein Blick auf eines der ersten Bilder traf. Ein Gemälde des Hüters höchstpersönlich. In seinem weißen Anzug und mit dem von Schatten verdeckten Gesicht starrte er auf mich hinab. Verhöhnend, verspottend. Bei seinem Anblick hätte ich kotzen können,und die Zweifel, die mich befielen trugen nur dazu bei. Zweifel an dem Hüter, an dem Allmächtigen, der uns alle geschaffen hatte. Der über uns wachte, unsere Schritte beobachtete und uns half, wenn wir Hilfe brauchten. So hieß es zumindest in den vielen Legenden, die über ihn erzählt wurden. Doch wo war er gewesen, als die Albtraumkönigin erwachte? Wo war er gewesen, als sie Asras Körper stahl und sich ihrer bemächtigte? Wenn es ihn denn überhaupt gab.

»Rowan?« Die Stimme meines Vaters holte mich aus meinen Gedanken. Meine Aufmerksamkeit wandte sich von dem Gemälde ab und ihm zu. »Wie geht es dir?«

»Gut«, antwortete ich knapp. Hayes sah mich aus übermüdeten Augen heraus an. Es schien so, als hätte auch er in den letzten Tagen nur bedingt Schlaf bekommen. Seine gesamte Haltung zeugte von Stress, Anspannung und Trauer. Ein Anblick, der mich erweichte. Auch er litt darunter, dass Asra nicht hier war.

»Können wir reden?«, fragte ich, was Hayes mit einem Nicken quittierte und in Richtung seines Büros deutete. Ich folgte ihm durch die Gänge bis zu seiner Tür, die er mir aufhielt, damit ich eintreten konnte. Das Zimmer sah so aus, wie ich es in Erinnerung hatte, und unwillkürlich glitt mein Blick zu dem Bücherregal an der linken Wand. Dorthin war auch Asras Blick immer zuerst gewandert, zu dem einzigen Fleck Farbe, den dieser Raum zu bieten hatte. Dem roten Lesezeichen in einem der vielen weißen Bücher. Ein kleines Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln, als ich es fand. Wieso steckte es in einem seiner Bücher?

Hayes bedeutete mir, mich auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch zu setzen, während er selbst sich auf seinem niederließ.

»Wie geht es dir?«, fragte er, als ich in das weiche Leder sank.

»Wie schon gesagt, mir geht es gut. Lucy sagt, meine Verletzung heilt problemlos ab.«

»Das freut mich zu hören.« Hayes lächelte, aber es erreichte nicht seine Augen. Ich merkte, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war.

»Ist denn bei dir alles in Ordnung?«, stellte ich die Gegenfrage und holte ihn zurück ins Hier und Jetzt. Sein fragender Blick wanderte über mein Gesicht, bevor er sich klärte. »Was? O ja, mir geht es gut.«

Ich glaubte ihm kein Wort. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.

»Geht es um Asra? Habt ihr sie gefunden?« Ich beugte mich mit bebendem Herzen ein Stück nach vorn, allerdings verflüchtigte sich meine Hoffnung, als Hayes den Kopf schüttelte.

»Nein, wir haben sie noch nicht gefunden, aber wir sind dabei.«

»In Ordnung, dann schick mich los«, sagte ich und kam damit auf das Thema zu sprechen, weswegen ich hergekommen war.

»Was?«

»Schick mich in eine der Welten, lass mich helfen«, wiederholte ich.

»Nein«, erwiderte er, was mich im ersten Moment verwirrt zurückließ, bevor die Bedeutung dieses Wortes mit voller Wucht bei mir ankam. Aus einem Impuls heraus sprang ich auf. Meine Hände landeten hart auf dem Tisch und meine Wunde zwickte schmerzhaft, was ich mit einem tiefen Atemzug zu verstecken versuchte. Mein Blick sprühte Funken, als er auf den meines Vaters traf und die Wut toste wie ein Wirbelwind in mir, bereit, freigelassen zu werden.

»Wieso?«, fragte ich mit fester, ruhiger Stimme, die das Gegenteil von dem war, was ich tief in mir fühlte.

»Ich bin nicht bereit, noch ein Kind zu verlieren. Wir suchen bereits tatkräftig nach Asra. Du würdest dazu nichts beitragen können«, erwiderte Hayes ebenso ruhig und fast hätte ich ihm geglaubt, hätte er nicht weitergesprochen. »Du wärst nur eine Ablenkung.«

»Eine Ablenkung?!«, schrie ich und mit diesen Worten war meine Wut entfesselt. »Wie genau sucht ihr denn nach ihr? Niemand kann so leicht durch die Welten reisen wie ich. Sucht mir eine Anomalie und ich werde sie finden.«

Hitze schoss durch meinen gesamten Körper, feuerte mich an und ließ mich erzittern. Meine Fingerknöchel wurden weiß, so fest hielt ich den Tisch umklammert, um nicht etwas zu tun, was ich später mit großer Wahrscheinlichkeit bereuen würde. Mein Vater blieb eine Zeit lang still, erwiderte nichts auf meine Worte, wirkte fast schon unsicher.

Bis ein einfaches Wort über seine Lippen kam. Ein Wort, das mich in tausend kleine Stücke zerbrechen ließ. »Nein.«

»Aber «, begann ich, doch unterbrach er mich, bevor ich erneut ansetzen konnte.

»Ende der Diskussion. Ich werde keine Reisen erlauben.«

Und damit war es beschlossene Sache. Hayes verschloss sich, verriegelte seine Gefühle hinter einer Mauer aus Eisen. Kein Durchkommen möglich.

Ich atmete tief ein, bevor ich meine Fäuste mit einem wütenden Schrei auf den Tisch schlug. In einer einzigen Bewegung wandte ich mich der Tür zu und verließ das Zimmer. So schnell, dass ich im nächsten Moment in eine Person hineinlief, die nur durch meine schnellen Reflexe nicht zu Boden stürzte.

»Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte Eira, die ihre, durch eine Narbe gespaltene Augenbraue nach oben zog und mich neugierig musterte.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht umrennen«, sagte ich und wollte schon an ihr vorbeigehen, als sie mich am Arm zurückhielt. Ihre Hand war eiskalt und doch jagte ihre Berührung einen warmen Schauer durch meinen Körper.

Eira schenkte mir ein strahlendes Lächeln, bevor sie sagte: »Du siehst aus, als könntest du einen Drink gebrauchen.«

Kapitel 2

Traumwandler

Rowan

»Ich habe bei einem Drink eigentlich an etwas anderes gedacht«, sagte ich und wandte meinen Blick von der dampfenden Tasse Tee zu der Eiskönigin vor mir. Wir saßen in einem heimeligen Café am Rande der Stadt, von dem Eira mir versichert hatte, dass es alles haben würde, was ich im Augenblick brauchte. Und nun saß ich skeptisch auf einem blau gepolsterten Stuhl und sah in ihre strahlenden grauen Augen, die vor Belustigung an den Seiten kleine Fältchen bildeten.

»Glaub mir, Tee hilft Wunder bei Stress und Wut«, versprach sie, konnte mich damit aber noch immer nicht ganz überzeugen. Mir wäre etwas Härteres lieber gewesen, aber Eira zu Liebe würde ich es mit dem Tee probieren, der wie ein ganzer Kräuterladen roch.

»Weißt du, was ebenfalls hilft?«, fragte sie. »Jemanden zum Reden.«

Ich seufzte. »Ich will dich nicht mit meinen Problemen belasten.«

»Ich bin eine gute Zuhörerin«, meinte sie mit einem Zwinkern und lockte mich damit aus der Reserve. Ein seichtes Lächeln schlich sich auf meine Lippen und schließlich gab ich die Abwehrhaltung auf. Ergeben sank ich in meinen Stuhl nach hinten.

»Na gut.« Ich holte tief Luft und mit einem Satz strömte die gesamte Verzweiflung aus mir heraus. »Ich habe es satt, nur herumzusitzen und nichts tun zu können.«

»Wegen Asra?«, hakte Eira nach und nippte an ihrem Tee. Ich nickte. »Es tut mir leid, was passiert ist. Ich meine, ich weiß eigentlich nicht so genau, was passiert ist, aber dass nur du zurückgekommen bist, spricht Bände.«

»Sie ist irgendwo dort draußen und ich sollte unterwegs sein, um sie zu suchen. Aber mein Vater erlaubt mir nicht, zu reisen.«

»Wieso?« Eira hatte ihre Hände um ihre Tasse geschlungen, legte nun aber eine auf meine. Ihre Nähe spendete mir Trost und die Wärme ihrer von der Tasse erwärmten Hand ließ mich dahinschmelzen. Allerdings konnte sie nicht die Wut in mir zum Erlöschen bringen. Die Wut auf meinen Vater und mich selbst.

»Er sagte, ich sei eine Ablenkung für ihn«, sagte ich mit Blick auf unsere ineinander verschränkten Finger. »Ich hätte sie beschützen sollen, dann wäre sie jetzt hier und nicht ... wo auch immer sie nun ist.«

»Es ist nicht deine Schuld«, meinte Eira, während sie ihre Hand aus meiner nahm. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verzog ihr Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse. Sogleich kam mir ihre eigene Verletzung wieder in den Sinn und furchtbare Gewissensbisse überkamen mich. Ich hatte keinen einzigen Gedanken an sie und ihre Verletzungen verschwendet. Stattdessen hatte ich nur an mich und meine Probleme gedacht. Was war ich nur für ein Esel!

»Es tut mir so leid. Wie geht es dir?«, fragte ich und bekam als Antwort ein vor Schmerz verzerrtes Grinsen.

»Mir geht es gut. Die Wunden sind verheilt, aber die Narben tun ab und an noch immer weh.«

»Es tut mir leid.»

Ich hätte jede Reaktion von Eira auf meine Worte erwartet, doch dass sie anfing zu lachen, überrumpelte mich. »Was ist so witzig?«

»Du«, erwiderte sie, »Dir scheint so einiges leidzutun, wofür du überhaupt nichts kannst.«

»So bin ich eben«, meinte ich mit einem entschuldigenden Lächeln, dessen Ironie mich wenige Sekunden später den Kopf schütteln ließ.

»Du solltest dir das abgewöhnen.« Eira schmunzelte, während sie an ihrem Tee nippte und wir in Schweigen versanken.

Allerdings kehrten die Gedanken nach einer Weile zurück. Die Schuldgefühle, die Verzweiflung und die Angst, die mir die Luft aus den Lungen saugten. Ich wippte mit dem Bein unter dem Tisch, während ich ein ums andere Mal die Tasse zu meinem Mund führte. Als der letzte Tropfen meine Kehle hinunterrann, hielt ich das Sitzen nicht mehr aus. Die schlimmsten Szenarien spielten sich wie ein Film vor meinem inneren Auge ab, terrorisierten und vergifteten meine Gedanken. Ruckartig erhob ich mich von meinem Stuhl, stieß dabei fast meine Teetasse vom Tisch und erntete einen erschrockenen Laut von Eira.

»Alles in Ordnung?«

»Ja. Entschuldige, ich geh kurz zu den Toiletten«, erwiderte ich und wandte mich abrupt von ihr ab, bevor sie auch nur ein weiteres Wort hätte sagen können. Ich versuchte, meinen Abgang nicht zu sehr wie eine Flucht aussehen zu lassen, und doch spürte ich die neugierigen Blicke, die mich auf meinem Weg zu den Toiletten verfolgten. Erst als die Tür hinter mir ins Schloss fiel und ich mir der Stille gewahr wurde, konnte ich endlich aufatmen.

»Reiß dich verdammt noch mal zusammen«, schallte ich mich selbst, bevor ich mich mit den Händen auf dem Waschbecken abstützte. Ich ließ kühles, erfrischendes Wasser aus dem Hahn laufen und schüttete mir eine Ladung davon geradewegs ins Gesicht. Mehrere Tropfen rannen mir am Kinn herunter und landeten auf meinem Hemd, allerdings war mir das in diesem Moment relativ egal. Meine Hände verkrampften sich am Beckenrand, als meine Aufmerksamkeit zum Spiegel wanderte. Müde, blutunterlaufene Augen starrten mir daraus entgegen. Kein sonderlich ungewohnter Anblick.

Meine Sicht verschwamm zu einem Brei aus unwirklichen Bildern. Schnaufend fuhr ich mir über die Lider und erschrak, als ich sie wieder öffnete. Mein eigenes Spiegelbild hatte sich gewandelt und nun starrten mir die haselnussbraunen Augen meiner Schwester entgegen. Wie erstarrt stand ich da, nicht imstande, irgendetwas zu tun.

»Rowan, hilf mir«, flehte sie mich mit leiser Stimme an. Sie schaute sich hektisch zu allen Seiten um, ihr Gesicht vor Angst verzerrt. Als würde etwas sie verfolgen, als würde sie sich verstecken.

»Wo bist du?«, fragte ich, als ich meine Stimme wiederfand, aber Asra verschwand und machte einer bedrohlichen Grimasse Platz. Die Hälfte ihres Gesichts hing in Fetzen und ihre Augen leuchteten in einem dunklen Lila. Ich stolperte nach hinten, erschrocken von dem plötzlichen Anblick, und schüttelte den Kopf. Das ist alles nicht real, dachte ich mir und als ich erneut den Kopf zum Spiegel wandte, starrte mir nur mein eigenes blasses Gesicht entgegen.

Nicht weniger besorgt als zuvor, verließ ich das Bad. Weshalb ich die Person nicht bemerkte, die unmittelbar vor den Toiletten gestanden hatte. Ohne mich bremsen zu können, lief ich in sie hinein und wurde nur durch ihre Arme vor einer Kollision geschützt.

»Langsam, langsam.« Ich hob meinen Blick und erkannte Alba, der mich mit schiefgelegtem Kopf musterte. Seine schulterlangen weißen Haare hatte er sich zu einem Zopf zusammengebunden und alles in allem sah er wacher aus als mein Vater. »Wo sind nur deine Gedanken?«

»Tut mir leid. Die letzten Tage waren nicht leicht«, erwiderte ich und sogleich huschte eine Welle der Trauer über Albas Züge.

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte er und legte seine Hand auf meine Schulter. »Aber deswegen bin ich hier. Ich habe nach dir gesucht.«

»Was ist los?«

»Könnten wir das an einem Ort besprechen, an dem wir etwas ungestörter sind?«, fragte er mit einem Blick auf die vielen Menschen, die überall im Raum verteilt saßen und aßen. Mit einem Nicken bedeutete ich ihm, mir zu folgen, wobei ich einen Blick zu Eira warf. Diese hatte Alba und mich bereits entdeckt und ihre Brauen fragend nach oben gezogen. Ich bedeutete ihr, dass ich gleich wieder da sein würde, bevor ich hinter Alba das Café verließ. Wir setzten uns in einen kleinen Park in der Nähe auf eine Bank, wo wir hoffentlich ungestört miteinander reden konnten.

»Worüber wolltest du mit mir sprechen?«, hakte ich nach und zupfte mit zitternden Fingern an den Enden meines Hemdes herum.

Alba sah sich ein letztes Mal um, als befürchtete er, jemand könnte uns belauschen, was mich umso nervöser machte.

»Ich hatte eine Vision. Von Esmur.«

Ich bedeutete ihm mit einem fragenden Blick, fortzufahren.

»Esmur wird angegriffen. Von den Kova.« Nun wurde ich hellhörig. Ich setzte mich aufrechter hin, mein Blick ein Ausdruck der Verwirrung.

»Warum erzählst du mir das?«

»Hayes ist in letzter Zeit nicht er selbst. Er denkt, er könnte alle Probleme im Alleingang lösen, weil er Angst davor hat, noch mehr Menschen zu verlieren«, sagte er und leise Hoffnung wuchs in mir. »Ohne dich werden wir es nicht schaffen, Asra zu finden.«

»Heißt das ?«

»Deine Idee, die Kova zu konfrontieren und auf das Beste zu hoffen, ist nicht die optimale Lösung. Aber sie ist besser, als weiter ohne Anhaltspunkt nach der Nadel im Heuhaufen zu suchen.«

»In Ordnung, aber wie genau hast du dir das vorgestellt? Lucy wird mich nicht einfach so durch das Portal marschieren lassen, wenn ich nicht die Erlaubnis von meinem Vater habe.« Dieser Gedanke verpasste meiner Euphorie einen gehörigen Dämpfer, den Alba mit seinen nächsten Worten ausmerzte. Er fischte einen gefalteten Zettel aus seiner Manteltasche und überreichte ihn mir. Darauf stand eine Reihe von Nummern und Buchstaben in den seltsamsten Kombinationen.

»Das sind die gespeicherten Codes für Esmur. Gib sie in die Computer ein und das Portal wird sich für dich öffnen.«

»Und was ist mit Lucy?«, hakte ich nach, denn meine Tante würde mich unter keinen Umständen einfach so durch Illusion wandern lassen.

»Ich werde sie ablenken, während du zur Wanderung aufbrichst.«

»Danke, Alba«, sagte ich und wünschte, ich könnte meine Dankbarkeit mit mehr als nur reinen Worten Ausdruck verleihen. Er gab mir eine Möglichkeit, meine Schwester zu suchen. Er gab mir mehr, als mein eigener Vater mir gegeben hatte. Er gab mir ein Ziel.

»Dank mir nicht zu früh und versprich mir eines: Pass auf dich auf und bring Asra zu uns zurück.«

»Ich verspreche es.« Ich würde erst zurückkehren, wenn ich Asra an meiner Seite wusste. Ich würde nicht aufgeben, bis ich sie gefunden und ihr ihren Körper zurückgegeben hatte.

»Heute Abend, 20 Uhr, du hast nur einen Versuch. Viel Glück.« Mit diesen Worten wandte Alba sich von mir ab. Die Hoffnung schwelte in meinem Inneren, als ich einen letzten Blick auf den Zettel warf, bevor ich ihn in meiner Hosentasche verstaute. Das erste Mal seit Tagen hatte ich wieder das Gefühl, freier atmen zu können. Ich würde Asra finden, würde sie zu uns zurückholen. Koste es, was es wolle. Mit Zuversicht im Herzen und Ungeduld in der Brust ging ich zurück zum Café. Eira saß noch immer an unserem Tisch, ihre Tasse war längst leer. Vor ihr standen zwei kleine Küchlein, die einen wundervoll süßen Geruch verströmten.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte ich, was Eira ein kleines Schmunzeln entlockte.

»Ich dachte, dass mit den Entschuldigungen hätten wir hinter uns«, meinte sie und schob mir eines der Küchlein entgegen. »Ich habe uns was Kleines zu Essen bestellt.«

»Danke, die sehen lecker aus.«

»Sind sie auch«, erwiderte sie mit der Gabel in der Hand. »Was wollte Alba von dir?«

»Ich sollte ihm noch einmal von der Konfrontation mit der Albtraumkönigin in Credance berichten. Er sagte, die kleinsten Details könnten uns zu Asra führen«, log ich.

»Und hat es etwas gebracht?« Ich schüttelte den Kopf.

»Ihr werdet deine Schwester finden.«

»Das werden wir«, hauchte ich gedankenverloren. Schweigend aßen wir unsere Küchlein, doch in meinem Kopf ratterte es. Ich konnte es nicht erwarten, endlich nach Esmur zu wandern.

***

Mit flinken Fingern zog ich mir meine Stiefel an und augenblicklich sank die Wärme in meine Knochen. Esmur war kein freundlicher Ort, weshalb ich über mein weißes Hemd einen weichen schwarzen Mantel zog. Er glitt mir bis in die Kniekehlen, als ich mich von meinem Bett erhob und noch einmal tief durchatmete. Meine Atmung kam kurz ins Stocken, als sich meine Verletzung mit winzigen Stichen zurückmeldete. Schmerzhaft, aber aushaltbar, dachte ich mir und der Schmerz verging. Ich konnte mir jetzt keine Ausfälle leisten. Es war kurz vor 20 Uhr und ich war knapp davor, Asra zu finden. Ich schob mein Schwert in die Scheide an meiner Hüfte.

Nach Esmur reisen, die Kova ausfindig machen und dann? An dieser Stelle hakte es jedes Mal. Ich wusste, dass dieses Unterfangen risikoreich war, aber ich würde verlangen, mit der Königin zu sprechen. Es war unsere einzige Chance, Asras Körper zurückzuholen. Und trotzdem flüsterte eine Stimme in meinem Kopf immer wieder, dass diese Idee vollkommener Humbug war. Ich würde sterben, bevor ich auch nur ein Wort an die Kova würde richten können. Sie würden mir nicht zuhören, mich vielleicht sogar verspotten, bevor sie mir den Kopf von den Schultern rissen.

Ich versuchte, die Stimme aus meinem Kopf zu verbannen. Hatte keine Zeit für solche Gedanken. Sie standen mir im Weg und eine andere Wahl hatte ich nicht. Anstatt in meinem Zimmer zu sitzen und darauf zu warten, dass mein Vater sie irgendwann fand, würde ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Ich würde hinter seinem Rücken handeln, etwas anderes blieb mir nicht übrig.

Ich sah ein letztes Mal hinab auf den Zettel mit den Daten für Esmur.

Ohne weiter darüber nachzudenken, schnappte ich mir meine Taschenuhr von meinem Schreibtisch, hängte sie mir um den Hals und verließ den Raum. Es wurde Zeit.

Die Gänge des Hauses lagen still da und das einzige Licht, das sie beleuchtete, kam vom Mond, der durch die Fenster schien. Es war so ruhig, dass ich bei jedem kleinsten Geräusch zusammenzuckte und hinter jeder Ecke meinen Vater oder Lucy erwartete. Ich konnte nicht glauben, dass alles so einfach war. Irgendetwas musste schief gehen, das sagte mir zumindest mein Verstand. Erst als ich ohne Zwischenfälle an der Tür zum Portalzimmer ankam, konnte ich wieder freier atmen. Jetzt galt es nur noch, unbemerkt in die andere Welt zu gelangen.

Auf leisen Sohlen schlich ich in den Raum hinein, schloss die Tür und atmete erleichtert auf. Das Zimmer lag im Dunkeln vor mir und nur das leise Knacken der Computer war zu hören. Und trotzdem lief ich auf Zehenspitzen hinüber zu den Monitoren. Man konnte nie vorsichtig genug sein. Ich sank in einen der Stühle vor den Geräten und erlaubte es mir, für einen kurzen Moment zu verschnaufen.

»Na dann wollen wir mal sehen, ob wir dich zum Laufen bekommen«, flüsterte ich dem Bildschirm zu, der sich auf mein Zeichen hin erhellte. Na gut, vielleicht war es auch dem Knopf geschuldet, denn ich betätigte.

»Du musst wirklich lernen, besser zu lügen.« Die Stimme ließ mich so heftig zusammenzucken, dass ich mit meinem Knie gegen den Schreibtisch stieß. Das war‘s, ich habe versagt, dachte ich, während ich mit einer Hand über mein pochendes Knie strich. Doch als ich die eingetretene Person und ihre tierische Begleitung genauer in Augenschein nahm, fiel mir ein Stein vom Herzen.

»Verdammt, Eira, du hast mich zu Tode erschreckt«, meinte ich und lehnte mich im Stuhl zurück. »Was machst du hier?«

»Ich könnte dich dasselbe fragen«, erwiderte sie und rückte näher zu mir vor, sodass ich sie im schwindenden Licht besser erkennen konnte. Sie wirkte nicht wütend, sondern viel mehr enttäuscht. »Wieso hast du mir nicht gesagt, was du vorhast?«

»Was hätte das geändert?«

»Du willst in eine andere Welt reisen? Ganz allein?«, stellte sie die Gegenfrage, ohne auf meine eigene einzugehen.

»Ich muss Asra finden.«

Eira blieb eine ganze Weile lang still und ich konnte nicht sagen, was in ihrem Kopf vorging. Allerdings befürchtete ich nicht, dass sie mich verraten würde. Das war nicht ihre Art.

»In Ordnung, wo geht es hin?« Ungläubig starrte ich sie an. Meinte sie damit das, was ich glaubte? Das konnte sie nicht wirklich ernst meinen, oder?

»Du wirst nicht mitkommen.«

»Und wieso nicht?«

»Es ist zu gefährlich. So viel wir wissen, ist die Albtraumkönigin noch immer hinter euch Beschützern her«, argumentierte ich, doch schien sie das überhaupt nicht zu interessieren. Ganz im Gegenteil. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete mich mit einem abschätzigen Blick.

»In etwa so gefährlich wie für dich? Denn die Kova werden dich genauso angreifen wie mich. Außerdem werde ich ganz bestimmt nicht hierbleiben, während du durch das Portal schreitest.«

»Und ich werde dich nicht mitnehmen. Mal davon abgesehen, dass du gar nicht wandern kannst«, sagte ich, woraufhin Eira etwas aus ihrer Jackentasche zog. Es war ein funkelnder roter Rubin. Ich seufzte. »Das ändert meine Meinung nicht.«

»Du kannst mich nicht davon abhalten, mitzukommen. Also können wir auch gleich aufhören, zu diskutieren, und aufbrechen«, meinte Eira und sie hatte recht. Ich würde sie nicht aufhalten können, auch wenn ich die Idee für vollkommen bescheuert hielt.

»Na gut«, gab ich schließlich nach und ein strahlendes Siegerlächeln erschien auf Eiras Gesicht.

Mit einem schmalen Grinsen wandte ich meine Aufmerksamkeit erneut dem Bildschirm vor mir zu, auf dem sich die unterschiedlichsten Fenster geöffnet hatten. Sie waren beschriftet mit Namen, die ich nicht ganz verstand. Es wäre hilfreich gewesen, hätte Alba mir eine SchrittfürSchrittAnleitung zum Weltenwandern mitgegeben, denn ich hatte keinen blassen Schimmer, wo genau ich die Codes eingeben sollte. Auch Eira, die mir über die Schulter schaute, zuckte nur ahnungslos mit den Achseln.

»Was genau soll das werden, wenn es fertig ist?« Ich zuckte zusammen bei der lauten Stimme, die ertönte, und mein Mut sank gen Boden, als der Raum in helles Licht getaucht wurde. Im Türrahmen stand Lucy mit den Händen in die Seiten gestemmt.

»Ich kann das erklären«, suchte ich vergebens nach einer Ausrede.

»Spar dir den Atem«, unterbrach mich Lucy, die die Tür hinter sich schloss und auf uns zu geschlendert kam. »Ihr wollt nach Esmur, um deine Schwester zu suchen.«

»Woher ?«, fragte Eira, die genauso überrascht schien wie ich. Wieso war Lucy hier und woher wusste sie, dass wir auf dem Weg nach Esmur waren?

»Ich bin nicht dumm. Auch wenn ihr und Alba das denken mögt.«

»Wir denken nicht, dass du dumm bist. Ganz im Gegenteil«, rechtfertigte ich mich, doch brachte Lucy mich mit einer einzigen Bewegung ihrer Hand zum Schweigen.

»Aber ihr dachtet, Alba könnte mich ablenken, während ihr eure Wanderung antretet? Ihr dachtet wirklich, ich würde das nicht mitbekommen?« Lucy sah regelrecht verletzt darüber aus, dass wir sie so unterschätzt hatten, aber mein Mitleid verflog, als sie uns unwirsch von den Bildschirmen wegschubste. »Heute wird niemand irgendwo hinreisen.«

»Das kannst du nicht machen.« Die Hoffnung, Asra zu finden, schwand mit jedem Tippen von Lucys Fingern auf der Tastatur. »Ich muss nach Esmur.«

»Und was dann? Suchst du die Kova auf und verlangst von ihnen, dir zu sagen, wo sie ist?«, hakte meine Tante nach und so, wie sie das sagte, klang mein Plan schrecklich naiv, aber was sollte ich sonst tun? »Die Kova werden dir nicht zuhören, sondern dich zerfleischen und damit ist niemanden geholfen.«

»Sie werden mich nicht zerfleischen. Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, aber manche von ihnen sind uns nicht unähnlich.«

»Inwiefern?«

»Als Asra und ich in Credance in eine Falle gelockt wurden, hat sich einer der Stufe 4 Kova in einen Menschen verwandelt. Zumindest in etwas, dass uns sehr ähnlich ist. Ich habe die Hoffnung, dass genau so ein Wesen sich auf ein Gespräch einlassen könnte.« Die Verzweiflung war meiner Stimme mehr als deutlich anzuhören und mein flehender Blick ließ Lucys harte Hülle langsam erweichen.

»Und was, wenn sie nicht mit dir reden? Wenn keiner von diesen Kova dabei ist?«

»Dann werden wir kämpfen. So wie wir es auf jeder unserer Reisen getan haben«, sagte ich und bemerkte, wie Lucys Widerstand zu bröckeln begann. Es fehlte nicht mehr viel, das konnte ich spüren. »Bitte Lucy. Wir gehen nur auf eine Wanderung, wie wir es schon Dutzende Mal zuvor getan haben.«

»Zuvor gab es aber auch noch keine Albtraumkönigin und zuvor bist du auch noch nicht fast gestorben.« Ihr Blick glitt von mir zu Eira, die noch immer stumm hinter mir stand.

»Ich weiß, aber du hast gesagt, dass meine Verletzungen so gut wie geheilt sind. Also was spricht dagegen?«

»Dein Vater. Hayes hat dir verboten, zu reisen«, erwiderte sie, aber ich konnte sehen, dass dies nur ein schwacher Versuch eines Argumentes war.

»Mein Vater wird es nicht erfahren und selbst wenn, was soll er denn tun? Wenn wir erst einmal in Esmur sind, kann er uns nicht mehr zurückholen.«

Lucys Schultern sanken zusammen und das war der Moment, in dem ich wusste, dass ich sie hatte überzeugen können.

»Wehe, ich muss einen von euch danach wieder von den Toten zurückholen«, warnte sie uns mit einer angedeuteten Drohung in der Stimme. Mit einem strahlenden Lächeln fiel ich ihr stürmisch um den Hals, was sie im ersten Moment überrumpelte, doch schließlich erwiderte sie meine Umarmung.

»Jetzt macht euch bereit«, sagte sie, als ich mich von ihr löste, und mit einem Nicken brachten Eira, Freya und ich uns vor dem Portal in Stellung. Die leichten Konturen von Bergen und Felsen wurden sichtbar und Eira schnappte neben mir nach Luft.

»Bereit?«, fragte ich sie und sie nickte.

»Viel Glück und passt auf euch auf«, meinte Lucy, bevor wir gemeinsam einen Schritt nach vorn und in eine neue Welt traten.

Davor

Eine kleine Maus

Asra

Es tut mir leid.

Vertrau mir.

Wir alle haben unsere Gründe.

Wach auf ...

Wach auf.

Wach auf, Asra!

M