OUTLIVE - Peter Attia - E-Book

OUTLIVE E-Book

Peter Attia

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Beschreibung

»OUTLIVE ist bereits jetzt DAS herausragende Standardwerk zum Thema Langlebigkeit – und wird es wohl die nächsten Jahre bleiben. Alles andere dazu sind Fußnoten.« BAS KAST Würden Sie nicht auch gerne länger leben? Und besser? In diesem Handbuch für ein langes und gutes Leben schildert Dr. Peter Attia die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, um innovative Ernährungsmaßnahmen und Techniken zur Bewegungs- und Schlafoptimierung anschaulich zu vermitteln – und er gibt Tipps für eine ausgeglichene emotionale und geistige Gesundheit. Denn trotz all ihrer Erfolge ist es der bisherigen Schulmedizin nicht gelungen, die zentralen Krankheiten des Alterns zu bekämpfen, an denen die meisten Menschen sterben: Herzkrankheiten, Krebs, Alzheimer und Typ-2-Diabetes. Allzu oft wird mit Behandlungen eingegriffen, die zu spät kommen, um noch zu helfen. Die verlängerte Lebensspanne geht auf Kosten der Gesundheit oder der Lebensqualität. Dr. Attia fordert mit seinem Buch, dieses veraltete Konzept durch eine personalisierte, proaktive Strategie für ein langes Leben zu ersetzen. Wir müssen jetzt handeln und aktiv werden – und nicht warten.

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OUTLIVE

DR. PETER ATTIA hat Medizin an der Stanford-Universität studiert und als Chirurg am renommierten Johns-Hopkins-Krankenhaus in Baltimore gearbeitet. Er hat eine Weiterbildung zum onkologischen Chirurgen an den National Institutes of Health absolviert und dort zu Immuntherapien gegen Melanome geforscht. Er ist Gründer der digitalen Plattform »Early Medical«, bei der sich Patienten individuelle Maßnahmen zur Verlängerung ihrer Lebens- und Gesundheitsspanne maßschneidern lassen können. Attia hat den erfolgreichen Gesundheits-Podcast THE DRIVE ins Leben gerufen und ist ständiges Redaktionsmitglied der Zeitschrift AGING. Er lebt in Austin, Texas mit seiner Frau und drei Kindern.Bill Gifford ist langjähriger Journalist und Autor. Seine Arbeiten erschienen in Magazinen wie SCIENTIFIC AMERICA und MEN‘S HEALTH.

DIE BIBEL FÜR EIN LANGES UND GESUNDES LEBEN»Eines der wichtigsten Bücher, die Sie jemals lesen werden.«STEVEN LEVITT, Bestsellerautor von FREAKONOMICS»Peter Attia bündelt die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema Langlebigkeit und bietet Strategien, um ein langes und gesünderes Leben zu führen. Ein verblüffendes Buch – und ein Weckruf zum Handeln!«DR. ANNE FLECK, Internistin und Bestsellerautorin von ENERGY! und ENERGY! in 5 Minuten»Voller überraschender Einblicke in die Taktiken und Techniken, die uns helfen können, Krankheiten zu vermeiden und länger und bei besserer Gesundheit zu leben. Attias Texte sind bereichernd.«SIDDHARTHA MUKHERJEE, Autor und Pulitzer-Preisträger von DER KÖNIG ALLER KRANKHEITEN»OUTLIVE ist bereits jetzt DAS herausragende Standardwerk zum Thema Langlebigkeit – und wird es wohl die nächsten Jahre bleiben. Alles andere dazu sind Fußnoten.«BAS KAST, Bestsellerautor von DER ERNÄHRUNGSKOMPASS und KOMPASS FÜR DIE SEELE

Peter Attia

OUTLIVE

Wie wir länger und besser leben können, als wir denken

Aus dem Amerikanischen von Jorunn Wissmann, Susanne Warmuth und Martina Wiese

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© 2024 der deutschen Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin© 2023 by Peter AttiaAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text undData Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,nach einer Vorlage von Rodrigo Corral StudioAutorenfoto: © Early MedicalE-Book by pepyrusISBN 978-3-8437-3157-7

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Vorbemerkung des Autors

Einleitung

Teil I

Kapitel 1   Das lange Spiel

Kapitel 2   Medizin 3.0

Auf dem Weg zu Medizin 3.0

Kapitel 3   Ziel, Strategie, Taktik

Unsere Strategie

Die Taktik

Von evidenzbasiert zu evidenzinformiert

Teil II

Kapitel 4   Hundertjährige

Kapitel 5   Weniger essen, länger leben?

Kapitel 6   Die Überfluss-Krise

Kapitel 7   Die Pumpe

Wie lässt sich das kardiovaskuläre Risiko senken?

Kapitel 8   Zellen außer Kontrolle

Was ist Krebs?

Der Stoffwechsel von Krebszellen

Neue Behandlungsarten

Die Verheißung der Immuntherapie

Früherkennung

Kapitel 9   Die Jagd nach Erinnerungen

Was genau ist die Alzheimerkrankheit?

Kann man neurodegenerativen Erkrankungen vorbeugen?

Alternativen zu Beta-Amyloid

Welche Rolle spielt ApoE-ε4?

Der Präventionsplan

Teil III

Kapitel 10   Taktisches Denken

Kapitel 11   Sport

Der Zehnkampf der Hundertjährigen

Kapitel 12   Training 101

Aerobe Effizienz: Zone 2

Maximale aerobe Leistung: VO2max

Kraft

Kapitel 13   Das Hohelied der Stabilität

Der Marshmallowmann

Die traurige Type

Die Yogini

Was Sport bewirken kann: Barry

Kapitel 14   Ernährung 3.0

Das Wenige, was wir über die Biochemie der Ernährung wissen (und wie wir dazu kamen)

Kapitel 15   Die Biochemie der Ernährung in die Praxis umsetzen

CR: Kalorien zählen

DR: Diät à la Biochemie der Ernährung

TR: Argumente für (und gegen) Fasten

Schlussfolgerung

Kapitel 16   Das Erwachen

Das Blut eines alten Mannes

Schlaf und Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Schlaf und das Gehirn

Wie können wir unseren Schlaf bewerten?

Besser schlafen

Kapitel 17   In Arbeit

Epilog

Anhang

Dank

Bibliografie

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorbemerkung des Autors

Anmerkung

Die in diesem Buch enthaltenen Informationen und Ratschläge ersparen keine Beratung durch einen kompetenten Facharzt. Alle die Gesundheit betreffenden Fragen sollen grundsätzlich mit einem Arzt besprochen werden. Autor und Verlag übernehmen keine Verantwortung für Verluste oder Schädigungen, die angeblich durch Informationen oder Empfehlungen aus diesem Buch entstanden sind.

Widmung

Für meine Patienten.Und für Jill, Olivia, Reese und Ayrton – für eure Geduld.

Vorbemerkung des Autors

Ein populärwissenschaftliches Buch mit medizinischen Inhalten zu schreiben erfordert eine Gratwanderung zwischen Kürze und Detail, Genauigkeit und Lesbarkeit. Ich habe mein Bestes gegeben, um die optimale Balance zu finden, die Fakten korrekt darzustellen und zugleich die Zusammenhänge einem Laienpublikum zugänglich zu machen. Sie entscheiden, ob mir das gelungen ist.

Einleitung

Im Traum versuche ich, die fallenden Eier aufzufangen.

In einer großen, schmutzigen Stadt, die Baltimore ziemlich ähnlich sieht, stehe ich mit einem ausgepolsterten Korb in den Händen auf einem Bürgersteig und schaue nach oben. Alle paar Sekunden entdecke ich hoch über mir ein Ei, das Richtung Boden heruntersaust, und renne los, um es mit dem Korb aufzufangen.

Die Eier regnen auf mich herunter, und ich gebe alles, um sie zu erwischen, laufe hierhin und dorthin, während ich den Korb wie einen Baseballhandschuh den Eiern entgegenrecke. Aber ich kann sie nicht alle fangen. Einige – eine Menge – klatschen auf den Boden, und Eigelb spritzt mir auf die Schuhe und den Arztkittel. Verzweifelt hoffe ich, dass es endlich aufhört.

Woher kommen die Eier? Da oben auf dem Dach des Gebäudes oder auf einem Balkon muss irgendjemand stehen und sie zum Zeitvertreib über das Geländer werfen. Aber ich kann die Person nicht sehen und bin so im Stress, dass ich gar nicht dazu komme, weiter darüber nachzudenken. Ich renne bloß hin und her und versuche, so viele Eier wie möglich zu fangen. Und scheitere kläglich. Die Gefühle drohen mich zu übermannen, als mir klar wird, dass ich sie unmöglich alle erwischen kann, sosehr ich mich auch anstrenge. Ich fühle mich komplett überfordert und hilflos.

Und dann wache ich auf, und wieder ist die Chance auf kostbaren Schlaf dahin.

Wir vergessen fast alle unsere Träume, aber dieser scheint mich auch nach zwanzig Jahren immer noch nicht loszulassen. Während ich am Johns Hopkins Hospital Assistenzarzt in der Krebschirurgie war, hat er mich viele Male heimgesucht. Die Zeit damals war eine der besten meines Lebens, auch wenn ich manchmal das Gefühl hatte durchzudrehen. Für meine Kollegen und mich war es nicht ungewöhnlich, vierundzwanzig Stunden am Stück durchzuarbeiten. Ich lechzte nach Schlaf. Der Traum machte ihn immer wieder zunichte.

Die Oberärzte der Chirurgie am Hopkins waren auf schwierige Fälle wie Bauchspeicheldrüsenkrebs spezialisiert, was bedeutete, dass wir sehr häufig die einzigen Menschen waren, die die Patienten noch vor dem Tod bewahren konnten. Bauchspeicheldrüsenkrebs wächst symptomfrei im Stillen, und wenn man ihn entdeckt, ist er oft schon weit fortgeschritten. Eine Operation kam nur für etwa 20 bis 30 Prozent der Patienten infrage. Wir waren ihre letzte Hoffnung.

Im Kampf gegen den Krebs führten wir häufig die sogenannte Whipple-Operation durch, wobei der Pankreaskopf, also der obere Teil der Bauchspeicheldrüse, sowie der erste Abschnitt des Dünndarms, der Zwölffingerdarm, entfernt werden. Dieser schwierige und gefährliche Eingriff verlief zu Beginn fast immer tödlich. Trotzdem wagten sich Chirurgen an die Operation, was die Brisanz dieser Krebserkrankung unterstreicht. Zur Zeit meiner Ausbildung überlebten über 99 Prozent der Patienten den Eingriff für mindestens 30 Tage. Wir waren beim Eierfangen also schon ziemlich erfolgreich.

Damals war ich entschlossen, als Krebschirurg so gut zu werden, wie es nur ging. Ich hatte sehr hart gearbeitet, um so weit zu kommen. Die meisten meiner Lehrer an der Highschool und sogar meine Eltern hatten mir die Zulassung zum College nicht zugetraut und einen erfolgreichen Abschluss an der Stanford Medical School noch viel weniger. Doch nun fühlte ich mich zunehmend hin- und hergerissen. Einerseits liebte ich diese komplexen Operationen, und nach einem erfolgreichen Eingriff war ich immer in Hochstimmung. Wir hatten den Tumor entfernt – das Ei gefangen –, wenigstens glaubten wir das.

Andererseits fragte ich mich plötzlich, was diesen »Erfolg« ausmachte. In der Realität sah es so aus, dass diese Patienten trotzdem fast alle nach wenigen Jahren starben.1 Das Ei würde unweigerlich am Boden zerschellen. Was erreichten wir also wirklich?

Als ich schließlich erkannte, wie fruchtlos dies alles war, frustrierte mich das dermaßen, dass ich die Medizin an den Nagel hängte und einen völlig anderen Beruf ergriff. Aber dann trafen mehrere Ereignisse zusammen, die bewirkten, dass ich komplett anders über Gesundheit und Krankheit dachte. Und so wandte ich mich mit einer neuen Herangehensweise und wiedererwachter Hoffnung erneut der Medizin zu.

Einen bedeutenden Anteil daran hatte mein Traum von den fallenden Eiern. Kurz gesagt: Mir dämmerte schließlich, dass sich das Problem nicht lösen ließ, indem man beim Fangen der Eier besser wurde. Vielmehr mussten wir versuchen, den Kerl aufzuhalten, der sie hinunterwarf. Wir mussten herausbekommen, wie man auf das Dach des Gebäudes gelangte, den Typ finden und ihn unschädlich machen.

Im wirklichen Leben hätte ich das liebend gern getan; als Boxer in jungen Jahren war mein linker Haken durchaus berüchtigt. Aber offensichtlich ist die Medizin ein wenig komplizierter als das. Letztlich erkannte ich, dass wir an die Sache – die fallenden Eier – ganz anders herangehen mussten, mit einer anderen Einstellung und anderen Werkzeugen.

Um genau das, ganz knapp gesagt, geht es in diesem Buch.

Teil I

Kapitel 1   Das lange Spiel

Vom schnellen Tod zum langsamen Sterben

Irgendwann müssen wir aufhören, Menschen einfach nur aus dem Fluss zu ziehen. Wir müssen flussaufwärts gehen und herausfinden, warum sie hineinfallen.

Bischof Desmond Tutu

Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal eine Patientin sterben sah. Es war zu Beginn des zweiten Jahres meines Medizinstudiums. An einem Samstagabend war ich zum Hospitieren ins Krankenhaus gegangen, was uns von der Hochschule empfohlen wurde. Wir durften aber nur zusehen, weil wir damals gerade genug wussten, um die Patienten in Gefahr zu bringen.

Irgendwann kam eine Frau Mitte dreißig in die Notaufnahme, die über Kurzatmigkeit klagte. Sie stammte aus der Kleinstadt East Palo Alto, die im Gegensatz zum äußerst wohlhabenden Palo Alto von Armut geprägt ist. Während die Krankenschwestern sie ans EKG anschlossen und ihr eine Sauerstoffmaske anlegten, saß ich neben ihr und versuchte sie mit etwas Small-Talk abzulenken. Wie heißen Sie? Haben Sie Kinder? Wie lange haben Sie diese Symptome?

Ganz plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht vor Angst, und sie begann nach Luft zu schnappen. Dann verdrehte sie die Augen und verlor das Bewusstsein.

Innerhalb von Sekunden wimmelte der Raum von Pflegepersonal und Ärzten, die ein Routineprogramm abspulten – sie führten einen Atemschlauch in die Luftröhre ein und pumpten die Frau in einem letzten verzweifelten Versuch, sie wiederzubeleben, mit hochwirksamen Medikamenten voll. Gleichzeitig begann ein Assistenzarzt mit einer Herzdruckmassage. Alle paar Minuten drückte ein Oberarzt Defibrillator-Paddles an ihren Brustkorb, und ihr Körper zuckte unter den heftigen Elektroschocks. Alles folgte einer präzisen Choreografie – jeder wusste, was zu tun war.

Ich zog mich in eine Ecke zurück, um niemandem im Weg zu stehen, doch der Assistenzarzt, der die Herzdruckmassage durchführte, fing meinen Blick auf und sagte: »Hey, kannst du mal herkommen und mich ablösen? Drück einfach genauso kräftig und im selben Rhythmus wie ich gerade, okay?«

Und so führte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Herzdruckmassage nicht an einer Puppe, sondern an einem Menschen durch. Doch es half alles nichts. Sie starb dort auf dem Tisch, während ich in rhythmischen Abständen auf ihren Brustkorb drückte. Wenige Minuten zuvor hatte ich sie noch nach ihrer Familie gefragt! Eine Krankenschwester zog das Laken über ihr Gesicht, und alle verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.

Die anderen hatten so etwas schon öfter erlebt, aber ich war entsetzt und zutiefst erschüttert. Was um alles in der Welt war da gerade passiert?

Ich sollte noch sehr viele Menschen sterben sehen, aber der Tod jener Frau verfolgte mich jahrelang. Wie ich heute vermute, starb sie wahrscheinlich an einer schweren Lungenembolie, doch immer wieder fragte ich mich, woran sie eigentlich gelitten hatte. Was war geschehen, bevor sie in die Notaufnahme kam? Und wäre alles anders gelaufen, wenn sie einen besseren Zugang zu ärztlicher Betreuung gehabt hätte? Hätte sich ihr trauriges Schicksal abwenden lassen?

Später, als Assistenzarzt am Johns Hopkins Hospital, lernte ich, dass der Tod auf zwei Arten kommt – schnell oder langsam. In den Straßen der Innenstadt von Baltimore regierte der schnelle Tod mit Schusswaffen, Messern und durch Raser verursachten Autounfällen. Es klingt vielleicht pervers, aber die in der Stadt herrschende Gewalt war ein wichtiger »Gegenstand« des Medizinstudiums. Ich hatte mich zwar für Hopkins entschieden, weil es einen ausgezeichneten Ruf für Leber- und Bauchspeicheldrüsenkrebs-OPs hatte, aber dass jeden Tag im Durchschnitt über zehn Fälle mit penetrierenden Traumata, meist Schuss- oder Stichverletzungen, eingeliefert wurden, hatte zur Folge, dass meine Kollegen und ich reichlich Gelegenheit hatten, unsere chirurgischen Fähigkeiten beim Flicken von Körpern zu trainieren, die allzu oft jung, arm, schwarz und männlich waren.

Während die Nächte von Patienten mit Verletzungen bestimmt wurden, ging es tagsüber um Patienten mit Gefäß- oder Magen-Darm-Krankheiten und vor allem Krebserkrankungen. Der Unterschied bestand darin, dass die »Wunden« dieser Menschen von langsam wachsenden, lange unentdeckt gebliebenen Tumoren verursacht wurden und auch nicht alle von ihnen überlebten – nicht einmal die Wohlhabenden, die von der Sonnenseite des Lebens. Krebs kümmert es nicht, wie reich wir sind. Nicht einmal, wer uns operiert. Wenn er dich töten will, wird es ihm gelingen. Letzten Endes belastete mich dieses langsame Sterben noch mehr als der schnelle Tod.

Doch dies ist kein Buch über den Tod. Eigentlich sogar das Gegenteil.

Mehr als fünfundzwanzig Jahre nachdem jene Frau in die Notaufnahme kam, bin ich immer noch praktizierender Arzt, aber ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich führe keine Krebsoperationen oder andere Eingriffe mehr durch. Wenn Sie mit einem Ausschlag oder einem gebrochenen Arm zu mir kommen, werde ich Ihnen vermutlich nicht allzu viel helfen können.

Was also mache ich?

Gute Frage. Würden Sie mir diese Frage auf einer Party stellen, so würde ich wahrscheinlich versuchen, mich davonzustehlen. Oder ich würde lügen und behaupten, ich sei Autorennfahrer, was ich tatsächlich werden möchte, wenn ich erwachsen bin. (Plan B: Schäfer.)

Mein Fokus als Arzt liegt auf Langlebigkeit. Das Problem ist nur, dass ich das Wort Langlebigkeit hasse. Es hat unter einer jahrhundertelangen Parade von Quacksalbern und Scharlatanen gelitten, die angeblich im Besitz eines geheimen Elixiers für ein längeres Leben waren. Mit diesen Leuten möchte ich nicht in Verbindung gebracht werden, und ich bin nicht so arrogant zu glauben, dass ich ein simples Rezept gegen dieses Problem hätte, über das sich die Menschheit bereits seit Jahrtausenden den Kopf zerbricht. Wäre es einfach, lange zu leben, dann bräuchte es dieses Buch nicht.

Beginnen wir mit dem, was Langlebigkeit nicht ist. Langlebigkeit bedeutet nicht, ewig zu leben. Nicht einmal, hundertzwanzig oder hundertfünfzig Jahre alt zu werden, was heutzutage einige selbst ernannte Experten ihren Anhängern routinemäßig versprechen. Sofern nicht irgendein revolutionärer Durchbruch erfolgt, der auf irgendeine Weise zwei Milliarden Jahre Evolutionsgeschichte ungeschehen macht und den gnadenlosen Pfeil der Zeit umkehrt, wird buchstäblich alles, was heute lebt, unweigerlich sterben. Es ist eine Einbahnstraße.

Ebenso wenig bedeutet Langlebigkeit, einfach nur einen Geburtstag nach dem anderen abzuhaken, während wir langsam dahinwelken. So widerfuhr es in der griechischen Mythologie dem unglückseligen Tithonos, für den Eos, die Göttin der Morgenröte, den Göttervater um ewiges Leben bat. Zu ihrer Freude gewährte er ihrem Liebhaber diese Bitte. Doch weil sie vergessen hatte, zugleich um ewige Jugend zu bitten, verfiel sein Körper mehr und mehr. Dumm gelaufen.

Die meisten meiner Patienten verstehen das intuitiv. Wenn sie das erste Mal zu mir kommen, erklären sie üblicherweise nachdrücklich, dass sie nicht länger leben wollen, wenn das bedeutet, dass sich ihre Gesundheit zugleich immer weiter verschlechtert. Viele haben miterlebt, dass es ihren Eltern oder Großeltern so ergangen ist – sie lebten zwar noch, aber körperliche Schwäche oder Demenz schränkten sie massiv ein. Dieses Schicksal möchten sich meine Patienten ersparen. Aber dann erkläre ich ihnen: Nur weil unsere Eltern im Alter leiden mussten oder früher starben als gedacht, muss es uns nicht genauso ergehen. Die Vergangenheit gibt nicht zwangsläufig die Zukunft vor. Unsere Langlebigkeit ist formbarer, als wir glauben.

Im Jahr 1900 betrug die Lebenserwartung etwa fünfzig Jahre, und die meisten Menschen starben meist »schnell« – an Unfällen, Verletzungen und verschiedenen Infektionskrankheiten.2 Seitdem verdrängt das langsame Sterben nach und nach den schnellen Tod. Von den Personen, die dieses Buch lesen, werden die meisten vermutlich in den Siebzigern oder Achtzigern sterben und fast alle »langsam«. Vorausgesetzt, dass Sie nicht einer hochriskanten Beschäftigung wie Base-Jumping oder Motorradrennen nachgehen oder am Steuer Textnachrichten schreiben, stehen die Chancen ausgesprochen gut, dass Sie einer der chronischen Alterskrankheiten erliegen, die ich die vier apokalyptischen Reiter des Alterns nenne: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, neurodegenerative Erkrankungen oder Typ-2-Diabetes und damit einhergehende Stoffwechselstörungen. Für wahre Langlebigkeit – länger zu leben und länger besser zu leben – müssen wir diese Ursachen eines langsamen Sterbens verstehen und angehen.

Langlebigkeit hat zwei Komponenten. Die erste betrifft unsere chronologische Gesamtlebenszeit – wie lange wir leben –, doch die zweite und genauso wichtige betrifft die Qualität unserer Lebensjahre – wie gut wir leben. Letztere bezeichnen wir als gesunde Lebenszeit. Diese hatte Eos bei ihrem Bittgesuch für Tithonos vergessen. Die gesunde Lebenszeit wird gemeinhin als derjenige Lebensabschnitt definiert, in dem wir frei von Beeinträchtigung oder Krankheit sind, doch das finde ich zu stark vereinfacht. Ich bin heute genauso frei von »Beeinträchtigung und Krankheit« wie als fünfundzwanzigjähriger Medizinstudent, aber mein früheres Ich könnte mein jetziges etwa fünfzigjähriges Ich sowohl körperlich als auch geistig locker in die Tasche stecken. Das ist halt so. Der zweite Teil unseres Plans für Langlebigkeit besteht also darin, unsere körperlichen und geistigen Funktionen aufrechtzuerhalten und zu verbessern.

Die entscheidende Frage lautet: Wohin bin ich unterwegs? Wie sieht mein zukünftiger Weg aus? Schon in mittleren Jahren gibt es zahlreiche Warnsignale. Ich war bereits auf der Beerdigung von Schulfreunden, was mir den steilen Anstieg des Sterberisikos ab dem mittleren Alter vor Augen führt. Gleichzeitig erleben viele mit dreißig, vierzig oder fünfzig, wie ihre Eltern zunehmend von körperlichen Beeinträchtigungen, Demenz oder langwierigen Krankheiten beeinträchtigt werden. Das mit anzusehen ist immer traurig und bekräftigt einen meiner wichtigsten Grundsätze: Wir können uns nur dann eine bessere Zukunft schaffen und auf einen besseren Weg begeben, wenn wir uns ab sofort Gedanken darüber machen und jetzt aktiv werden.

Eines der größten Hindernisse auf der Suche nach Langlebigkeit ist die Tatsache, dass die Fertigkeiten, die meine Kollegen und ich während des Medizinstudiums erworben haben, den schnellen Tod sehr viel besser bekämpfen als langsames Sterben. Wir haben gelernt, gebrochene Knochen zu heilen, Entzündungen mit hochwirksamen Antibiotika den Garaus zu machen, geschädigte Organe zu unterstützen oder gar zu ersetzen und schwerwiegende Rückenmarks- oder Hirnverletzungen erfolgreich zu behandeln. Wir haben eine erstaunliche Fähigkeit entwickelt, Leben zu retten und beschädigten Körpern ihre volle Funktionsfähigkeit zurückzugeben, ja sogar Patienten, die fast tot waren, wiederzubeleben. Deutlich weniger erfolgreich waren wir jedoch dabei, unseren Patienten bei chronischen Leiden wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder neurologischen Krankheiten zu helfen, dem langsamen Sterben zu entgehen. Wir können ihre Symptome lindern und das Ende häufig kurzfristig hinauszögern, aber es sieht nicht so aus, als könnten wir die Uhr zurückdrehen, so wie es uns bei akuten Problemen gelingt. Beim Fangen der Eier sind wir besser geworden, aber nach wie vor fallen sie vom Dach.

Das Problem besteht darin, dass wir bei beiden Arten von Patienten – Menschen mit Traumata und Menschen mit chronischen Krankheiten – im Grunde den gleichen Ansatz verfolgen. Unsere Aufgabe war schon immer, den Patienten nicht sterben zu lassen, koste es, was es wolle. Mir ist vor allem ein Fall im Gedächtnis geblieben – ein vierzehnjähriger Junge, der eines Nachts dem Tode nah in die Notfallambulanz gebracht wurde. Ein Autofahrer hatte mit halsbrecherischem Tempo eine rote Ampel überfahren und den Honda, in dem der Junge saß, seitlich gerammt. Seine Vitalparameter waren schwach, seine Pupillen starr und geweitet, was auf ein schweres Hirntrauma schließen ließ. Als Leiter der Unfallchirurgie begann ich sofort mit den routinemäßigen Wiederbelebungsmaßnahmen, aber genau wie bei der Frau in der Notaufnahme in Stanford half alles nichts. Meine Kollegen bedeuteten mir aufzuhören, aber ich weigerte mich stur, ihn für tot zu erklären. Ich spulte weiter die Routineabläufe ab und pumpte Adrenalin und literweise Blut in seinen leblosen Körper, weil ich nicht akzeptieren wollte, dass das Leben eines unschuldigen Jungen auf diese Weise zu Ende ging. Später stand ich schluchzend im Treppenhaus und wünschte, ich hätte ihn retten können. Doch schon bei seiner Einlieferung war sein Schicksal besiegelt gewesen.

Dieses Berufsethos wird allen Medizinstudenten eingebläut: Niemand stirbt unter meiner Aufsicht. Die Behandlung unserer Krebspatienten gingen wir genauso an. Sehr oft war jedoch klar, dass wir zu spät hinzugezogen wurden, weil die Krankheit schon so weit fortgeschritten war, dass sich der Tod kaum noch abwenden ließ. So wie bei dem Jungen taten wir trotzdem alles, was in unserer Macht stand, um das Leben der Patienten zu verlängern, und unterzogen sie bis ganz zum Ende toxischen und oft qualvollen Behandlungen, um bestenfalls noch ein paar Wochen oder Monate Lebenszeit herauszuschinden.

Das Problem ist nicht, dass wir es nicht versuchen würden. Die moderne Medizin hat unglaublich viele Anstrengungen und Ressourcen in den Kampf gegen jede einzelne dieser Krankheiten gesteckt. Die Fortschritte sind jedoch alles andere als hervorragend. Die einzige Ausnahme sind vielleicht Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei denen die Sterblichkeitsrate in den Industrieländern im Lauf von rund sechzig Jahren um zwei Drittel gesenkt werden konnte (obwohl auch da noch immer einiges zu tun ist, wie wir sehen werden).3 Dagegen ist die Sterberate bei Krebs in den mehr als fünfzig Jahren, seitdem Präsident Richard Nixon dem Krebs mit der Initiative »War on Cancer« buchstäblich den Krieg erklärte, kaum zurückgegangen.4 Und das, obwohl Hunderte Milliarden Dollar öffentlicher und privater Spenden in die Forschung geflossen sind. Typ-2-Diabetes ist nach wie vor eine sehr ernste Bedrohung für das Gesundheitswesen, ohne irgendein Anzeichen abzuflauen, und Alzheimer sowie ähnliche neurodegenerative Erkrankungen suchen die prozentual zunehmende ältere Bevölkerung heim, wobei praktisch keine wirksame Behandlung in Sicht ist.

Auf jeden Fall greifen wir jeweils zum falschen Zeitpunkt ein, nämlich erst, nachdem die Krankheit weit fortgeschritten ist, und häufig, wenn schon nichts mehr hilft – wenn die Eier bereits herunterfallen. Mir drehte sich jedes Mal der Magen um, wenn ich einem Krebspatienten eröffnen musste, dass er nur noch sechs Monate zu leben habe, und wusste, dass sich die Krankheit wahrscheinlich schon mehrere Jahre, bevor sie überhaupt zu diagnostizieren war, im Körper eingenistet hatte. Wir hatten eine Menge Zeit vergeudet. Die Häufigkeit, mit der die apokalyptischen Reiter uns heimsuchen, nimmt im Alter zwar sprunghaft zu, doch üblicherweise entwickeln sich diese Krankheiten viel früher, als uns bewusst ist, und meistens dauert es sehr lange, bis sie zum Tode führen. Selbst wenn jemand »plötzlich« an einem Herzinfarkt stirbt, wurden die Herzkranzgefäße vermutlich schon über zwei Jahrzehnte hinweg fortschreitend geschädigt. Das langsame Sterben vollzieht sich sogar noch langsamer, als wir bemerken.

Daraus folgt der logische Schluss, dass wir früher einschreiten müssen, um den apokalyptischen Reitern Einhalt zu gebieten – oder, noch besser, sie gar nicht in unsere Nähe kommen zu lassen. Keine unserer Behandlungen von Lungenkrebs im Spätstadium hat die Sterberate auch nur annähernd so stark gesenkt wie der weltweite Rückgang des Rauchens im Verlauf der letzten zwanzig Jahre, was auch den weitverbreiteten Rauchverboten zu verdanken ist. Diese einfache präventive Maßnahme (nicht zu rauchen) hat mehr Leben gerettet als alle medizinischen Interventionen im Spätstadium. Trotzdem beharrt die Mainstream-Medizin darauf, eine Diagnose abzuwarten, bevor sie eingreift.

Typ-2-Diabetes ist ein Paradebeispiel. Die von der American Diabetes Association festgelegten Richtlinien der Regelversorgung sehen vor, dass bei einem Patienten Diabetes mellitus diagnostiziert wird, wenn er einen Hämoglobin-A1c-Wert (oder HbA1c-Wert)5 von 6,5 Prozent oder höher aufweist, was einem durchschnittlichen Blutzuckerniveau von 140 mg/dl entspricht (normal wären eher 100 mg/dl oder ein HbA1c-Wert von 5,1 Prozent). Diese Patienten werden dann einer ausführlichen Behandlung unterzogen, unter anderem mit Medikamenten, die den Körper bei der Produktion von Insulin unterstützen, Medikamenten, die die Menge der vom Körper produzierten Glucose reduzieren, und schließlich direkt mit dem Hormon Insulin, um Glucose aus der Blutzirkulation heraus- und in ihre hochgradig insulinresistenten Körperzellen hineinzutransportieren.

Wenn aber der HbA1c-Test einen Wert von 6,4 Prozent aufweist, impliziert das einen durchschnittlichen Blutzuckerspiegel von 137 mg/dl – nur drei Punkte weniger –, was bedeutet, dass sie technisch betrachtet überhaupt keinen Typ-2-Diabetes haben. Stattdessen spricht man von Prädiabetes, wogegen die Richtlinien der Regelversorgung leichte sportliche Betätigung empfehlen sowie schwammig definierte Ernährungsumstellungen, die optionale Einnahme eines Wirkstoffs zur Glucose-Hemmung namens Metformin und »jährliche Kontrolluntersuchungen« – was im Grunde heißt, man soll abwarten, ob der Patient tatsächlich Diabetes entwickelt, bevor man ihn sodann dringend einer Behandlung unterzieht.

Ich würde behaupten, dass dies praktisch genau diejenige Vorgehensweise ist, die man zur Bekämpfung von Typ-2-Diabetes nicht verfolgen sollte. Wie wir in Kapitel 6 sehen werden, gehört Typ-2-Diabetes in ein Spektrum von Stoffwechselstörungen, die einsetzen, lange bevor jene magische Bluttestschwelle überschritten wird. Typ-2-Diabetes ist lediglich der Endpunkt der Strecke. Einschreiten sollte man bereits viel früher, wenn sich der Patient noch längst nicht in der Gefahrenzone befindet; selbst Prädiabetes kommt in diesem Prozess erst sehr spät ins Spiel. Es ist absurd und gefährlich, diese Erkrankung wie eine Erkältung oder Knochenbrüche zu behandeln, die man entweder hat oder nicht hat. Hier gibt es kein Entweder-oder. Doch allzu häufig beginnen die ärztlichen Interventionen erst mit der klinischen Diagnose. Warum wird das so hingenommen?

Ich glaube, dass wir anstreben sollten, so früh wie möglich einzuschreiten. Wir sollten versuchen, es gar nicht so weit kommen zu lassen, dass Menschen Typ-2-Diabetes und die anderen apokalyptischen Reiter entwickeln. Unsere Herangehensweise sollte nicht reaktiv, sondern proaktiv sein. Um langsames Sterben zu bekämpfen, müssen wir als Erstes unsere Einstellung ändern. Wir wollen diese Erkrankungen verzögern oder verhindern, sodass wir länger ohne Krankheiten leben können, statt mit Krankheiten dahinzuvegetieren. Das bedeutet: Bevor die Eier anfangen herunterzufallen, ist der beste Zeitpunkt, um einzugreifen – wie ich es auch in meinem eigenen Leben erfahren habe.

Am 8. September 2009, einem Tag, den ich nie vergessen werde, stand ich am Strand von Catalina Island, als meine Frau Jill plötzlich zu mir sagte: »Peter, ich finde, du solltest dich bemühen, etwas weniger vollschlank zu werden.«

Ich war so geschockt, dass ich beinahe meinen Cheeseburger fallen ließ. »Etwas weniger vollschlank zu werden?« Das hatte meine geliebte Frau gesagt?

Ich war durchaus der Meinung, dass ich den Burger und auch die Cola in meiner anderen Hand verdient hatte. Schließlich war ich soeben von Los Angeles aus zu dieser Insel rübergeschwommen – 34 Kilometer gegen die Strömung übers offene Meer, was 14 Stunden gedauert hatte. Noch vor einer Minute war ich darüber begeistert gewesen, diese Langstrecke erfolgreich von meiner Bucketlist streichen zu können.6 Und auf einmal sollte ich ein kleines bisschen abnehmen!

Trotzdem wusste ich im gleichen Moment, dass Jill recht hatte. Ohne es wirklich zu registrieren, brachte ich mittlerweile stolze 210 Pfund auf die Waage, stramme 50 Pfund über meinem Kampfgewicht als jugendlicher Boxer. Wie so viele Männer in mittleren Jahren hielt ich mich nach wie vor für »athletisch«, auch wenn ich mich abmühen musste, meinen Körper in zu enge Hosen zu zwängen. Auf Fotos von damals ähnelt mein Bauch auffallend dem von Jill, als sie im sechsten Monat schwanger war. Ich hatte einen echten Dad Bod – eine prächtige Birnensilhouette – entwickelt und war noch nicht einmal vierzig.

Bluttests offenbarten größere Probleme, als ich im Spiegel sehen konnte. Obwohl ich exzessiv Sport trieb und mich meiner Meinung nach gesund ernährte (vom Cheeseburger nach dem Langstreckenschwimmen mal abgesehen), hatte ich eine Insulinresistenz entwickelt. Das war einer der ersten Schritte auf dem Weg zu Typ-2-Diabetes und vielen anderen schlimmen Dingen. Mein Testosteronlevel lag für einen Mann in meinem Alter unter dem 5. Perzentil. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass mein Leben in Gefahr war – nicht unmittelbar, aber zweifellos auf längere Sicht. Ich wusste genau, wohin mich das führen konnte. Ich hatte die Füße von Menschen amputiert, die zwanzig Jahre zuvor so ausgesehen hatten wie ich. Noch bedrohlicher war, dass es in meiner eigenen Familie zahlreiche Männer gab, die in den Vierzigern an Herz-Kreislauf-Erkrankungen gestorben waren.

In diesem Moment am Strand erwachte mein Interesse an, ja, Langlebigkeit. Ich war sechsunddreißig und stand am Abgrund. Gerade erst war ich mit der Geburt unseres ersten Kindes, Olivia, Vater geworden. Als ich sie zum ersten Mal in ihrem weißen Wickeltuch im Arm hielt, verliebte ich mich auf der Stelle und wusste, dass mein Leben sich für immer verändert hatte. Doch bald erkannte ich, dass ich dank verschiedener Risikofaktoren und meiner Gene unter Umständen früh an einer Herz-Kreislauf-Krankheit sterben könnte. Was ich noch nicht begriff, war, dass sich dieses Problem restlos aus der Welt schaffen ließ.

Als ich mich in die wissenschaftliche Literatur vertiefte, wollte ich schon bald mit der gleichen Leidenschaft wie früher, als ich Krebschirurgie gelernt hatte, alles über Ernährung und Stoffwechselvorgänge erfahren. Weil meine Neugier schon immer unersättlich war, wandte ich mich an die führenden Experten in diesen Bereichen und überredete sie, meinen Wissensdurst zu stillen. Ich wollte verstehen, wie ich mich in diesen Zustand manövriert hatte und was das für meine Zukunft bedeutete. Und ich musste herausfinden, wie ich mich wieder auf Spur bringen konnte.

Meine nächste Aufgabe bestand darin, alles über die Natur und Ursachen von Atherosklerose oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen herauszufinden, wovon die Männer in der Familie meines Vaters heimgesucht werden. Zwei von seinen Brüdern waren an einem Herzinfarkt gestorben, bevor sie fünfzig wurden, und einen dritten hatte der Tod in seinen Sechzigern ereilt. Das nächste naheliegende Thema war Krebs, der mich schon immer fasziniert hat, und danach kamen neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer an die Reihe. Zum Schluss widmete ich mich dem sich rasant entwickelnden Feld der Gerontologie, die zu ergründen versucht, was den Alterungsprozess an sich antreibt und wie man ihn verlangsamen könnte.

Die wichtigste Erkenntnis war möglicherweise, dass die moderne Medizin nicht wirklich weiß, wann und wie sie die chronischen Alterskrankheiten in den Griff bekommen soll, denen wahrscheinlich die meisten Menschen in den Industrieländern zum Opfer fallen werden. Das liegt zum Teil daran, dass alle vier apokalyptischen Reiter komplexe Angelegenheiten sind – eher Krankheitsprozesse als akute Erkrankungen wie eine Erkältung. Überraschenderweise ist das gewissermaßen eine gute Nachricht. Jeder Reiter ist das Produkt mehrerer Risikofaktoren, die sich mit der Zeit addieren und anhäufen. Viele dieser Risikofaktoren sind für sich genommen jedoch leicht einzudämmen oder sogar zu eliminieren. Noch besser ist, dass sie bestimmte Merkmale oder Auslöser teilen, denen man allesamt mit einigen der Taktiken und Verhaltensänderungen, die wir in diesem Buch erörtern, beikommen kann.

Der größte Fehler der Medizin ist zu versuchen, alle diese Erkrankungen am falschen Ende der Zeitskala zu bekämpfen – sie wartet, bis sie sich eingenistet haben, statt es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Demzufolge ignorieren wir wichtige Warnsignale und verpassen die Gelegenheit, zu einem Zeitpunkt einzuschreiten, an dem wir noch die Chance haben, die Krankheiten abzuwehren, gesünder zu werden und die Gesamtlebenszeit vielleicht zu verlängern.

Hier sind einige Beispiele:

Statt Milliarden Dollar in die Erforschung der apokalyptischen Reiter zu stecken, verfolgt die Mainstream-Medizin völlig falsche Ansätze, um gegen die eigentlichen Ursachen vorzugehen. Wir werden einige vielversprechende neue Theorien über Ursprung und Ursachen der einzelnen Krankheiten sowie mögliche präventive Strategien untersuchen.

Die typische Auflistung Ihrer Cholesterinwerte, die Ihnen Ihr Arzt beim Gesundheitscheck mitteilt und erklärt, sowie zahlreiche Annahmen, die ihr zugrunde liegen (z. B. »gutes« und »schlechtes« Cholesterin), sind irreführend und zu stark vereinfacht, wenn nicht gar komplett nutzlos. Die Werte sagen so gut wie nichts über Ihr tatsächliches Risiko aus, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben – und wir tun so gut wie nichts dafür, um diesen Killer zu stoppen.

Millionen Menschen leiden an einem kaum bekannten und zu selten diagnostizierten Leberleiden, das möglicherweise Typ-2-Diabetes vorausgeht. Trotzdem erhält man bei Personen in einem Frühstadium dieser Stoffwechselstörung häufig Blutwerte im »Normalbereich«. Doch leider sind »normale« oder »durchschnittliche« Werte in der ungesunden heutigen Zeit nicht gleichbedeutend mit »optimal«.

Die Stoffwechselstörung, die zu Typ-2-Diabetes führt, befördert auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs

und

Alzheimer. Wenn wir uns um einen gesunden Stoffwechsel bemühen, senkt dies auch das Risiko, an einem der apokalyptischen Reiter zu erkranken.

Fast alle »Diäten« ähneln einander: Manchen Menschen können sie helfen, aber bei den meisten erweisen sie sich als nutzlos. Statt über Diäten zu diskutieren, werden wir unser Augenmerk auf die

Biochemie der Ernährung

richten – wie sich die Kombination der Nährstoffe, die wir zu uns nehmen, auf unseren Stoffwechsel und unsere Physiologie auswirkt und wie wir aus Daten und Technologie das für uns optimale Ernährungsmuster herausfiltern können.

Ein spezieller Makronährstoff verdient mehr Aufmerksamkeit, als man gemeinhin vermutet: Nicht die Kohlenhydrate, nicht Fette, sondern

Proteine

gewinnen mit zunehmendem Alter entscheidend an Bedeutung.

Sportliche Betätigung ist das bei Weitem wirkungsvollste »Medikament«, um länger gesund zu leben. Mit keiner anderen Maßnahme tun wir auch nur annähernd so viel dafür, unsere Gesamtlebenszeit zu verlängern und unsere geistigen und körperlichen Funktionen in Schuss zu halten. Die meisten Menschen tun jedoch bei Weitem nicht genug – und auf die falsche Art Sport zu treiben kann mehr schaden als nützen.

Und schließlich musste ich mühsam lernen, dass das Ringen um körperliche Gesundheit und Langlebigkeit sinnlos ist, wenn wir unsere seelische Gesundheit vernachlässigen. Seelischer Schmerz kann unsere Gesundheit an allen Enden beeinträchtigen und muss behandelt werden.

Warum braucht die Welt noch ein weiteres Buch über Langlebigkeit? In den letzten Jahren habe ich mir diese Frage oft gestellt. Die meisten Autoren in diesem Themenbereich lassen sich in bestimmte Kategorien einteilen. Es gibt die wahren Gläubigen, die darauf beharren, dass man dem Tod ein Schnippchen schlagen und ewig leben kann, wenn man ihre ganz spezielle Diät befolgt (je restriktiver, desto besser) oder auf eine bestimmte Weise meditiert oder eine bestimmte Art von Superfood zu sich nimmt oder seine »Energie« auf die richtige Weise fließen lässt. Was sie an wissenschaftlicher Genauigkeit vermissen lassen, machen sie mit ihrer Leidenschaft wieder wett.

Am anderen Ende des Spektrums befinden sich diejenigen, die davon überzeugt sind, dass die Wissenschaft bald herausfinden wird, wie der Alterungsprozess an sich gestoppt werden kann, indem man irgendeinen mysteriösen zellulären Wirkmechanismus justiert, unsere Telomere verlängert oder unsere Zellen »umprogrammiert«, sodass wir gar nicht mehr altern müssen. Zu unseren Lebzeiten wird das höchstwahrscheinlich nicht mehr passieren, obwohl die Wissenschaft zweifellos Quantensprünge machen wird, was unser Verständnis des Alterungsprozesses und der apokalyptischen Reiter betrifft. Wir entdecken so vieles, aber kompliziert wird es, wenn es darum geht, wie wir dieses neu entdeckte Wissen außerhalb des Labors auf echte Menschen anwenden – oder zumindest, wie wir uns für den Fall absichern, dass diese hochtrabenden Forschungen doch daran scheitern, die Langlebigkeit in eine Pille zu gießen.

Meine eigene Rolle dabei sehe ich folgendermaßen: Ich bin weder Laborwissenschaftler noch klinischer Forscher, sondern vielmehr eine Art Übersetzer, der Ihnen beim Verstehen und Anwenden dieser Erkenntnisse helfen möchte. Dies erfordert ein gründliches Durchdringen der Wissenschaft, aber auch ein künstlerisches Geschick, so als würden wir ein Gedicht von Shakespeare in eine andere Sprache übertragen. Wir müssen die Bedeutung der Worte richtig vermitteln (die Wissenschaft) und zugleich den Ton, die Nuancen, das Gefühl und den Rhythmus erfassen (die Kunst). Entsprechend gründet mein Ansatz für Langlebigkeit fest auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, doch es ist auch ein gut Teil Kunstfertigkeit gefragt, um Ihnen, den Patienten, mit Ihren ganz individuellen Genen, Ihrer Geschichte sowie Ihren Gewohnheiten und Zielen, das erforderliche Wissen auf die richtige Weise zum richtigen Zeitpunkt nahezubringen.

Ich glaube, dass wir schon heute mehr als genug wissen, um entscheidend voranzukommen. Aus diesem Grund heißt dieses Buch Outlive.7 Darunter verstehe ich hier sowohl »länger leben« als auch »besser leben«. Im Gegensatz zu Tithonos können Sie Ihre Lebenserwartung verlängern und sich zugleich einer besseren Gesundheit erfreuen, womit Sie im doppelten Sinne mehr vom Leben haben.

Ich möchte Ihnen eine praktizierbare Gebrauchsanweisung für Langlebigkeit an die Hand geben – einen Führer, der Ihnen hilft, länger besser zu leben. Ich hoffe, Sie überzeugen zu können, dass Sie mit ausreichend Zeit und Mühe Ihre Gesamtlebenszeit um ein Jahrzehnt und Ihre gesunde Lebenszeit vielleicht um zwei Jahrzehnte erweitern können, sodass Sie sich bestenfalls so fit wie jemand fühlen, der zwanzig Jahre jünger ist als Sie.

Allerdings werde ich Ihnen nicht haarklein erzählen, was Sie zu tun haben. Ich möchte Ihnen nahebringen, wie Sie über diese Dinge denken sollten. Für mich war dies eine Reise, ein leidenschaftlicher Prozess des Lernens und geduldigen Übens, der an jenem Tag an der felsigen Küste von Catalina Island begann.

Im weiteren Sinne erfordert Langlebigkeit einen Paradigmenwechsel im medizinischen Ansatz, der den Fokus auf die Vorbeugung von chronischen Krankheiten legt und unsere gesunde Lebenszeit optimiert. Und wir sollten sofort aktiv werden und nicht warten, bis wir krank werden oder unsere geistigen und körperlichen Funktionen bereits merklich nachgelassen haben. Dies ist keine »präventive«, sondern proaktive Medizin. Ich glaube, sie hat das Potenzial, nicht nur das Leben Einzelner zu verändern, sondern unserer ganzen Gesellschaft enorm viel Leid und Leiden zu ersparen. Zudem geht dieser Wandel nicht vom medizinischen Establishment aus. Er wird sich nur dann vollziehen, wenn Patienten und Ärzte ihn gleichermaßen fordern.

Nur wenn wir anders an die Medizin herangehen, gelangen wir auf das Dach des Gebäudes, um zu verhindern, dass die Eier herunterfallen. Niemand sollte sich damit zufriedengeben, auf der Straße herumzurennen und zu versuchen, sie aufzufangen.

Kapitel 2   Medizin 3.0

Ein neuer Denkansatz für Medizin im Zeitalter chronischer Krankheiten

Man sollte das Dach reparieren, solange die Sonne scheint.

John F. Kennedy

Ich weiß nicht mehr, was der letzte Tropfen war, der das Fass meiner zunehmenden Frustration über das Medizinstudium zum Überlaufen brachte, aber ich weiß sehr wohl, dass der Anfang vom Ende mit dem Medikament Gentamicin zusammenhing. Gegen Ende des zweiten Jahres meiner Facharztausbildung lag ein Patient mit einer schweren Sepsis bei mir auf der Intensivstation. Im Grunde hielt ihn nur noch dieses Medikament, ein starkes Antibiotikum, am Leben. Gentamicin hat ein sehr enges therapeutisches Fenster, was die Sache verkompliziert. Gibt man dem Patienten zu wenig, hat es keine Wirkung, aber gibt man ihm zu viel, könnten Nieren und Gehör dauerhaft geschädigt werden. Die Dosierung hängt vom Gewicht des Patienten und der erwarteten Halbwertszeit des Wirkstoffs im Körper ab. Weil ich ein kleiner Mathefreak bin (genauer gesagt, nicht nur ein kleiner), entwickelte ich ein mathematisches Modell, das den genauen Zeitpunkt vorhersagte, wann dieser Patient seine nächste Dosis brauchen würde: um vier Uhr dreißig.

Als wir den Patienten um vier Uhr dreißig überprüften, stellte sich tatsächlich heraus, dass der Gentamicinspiegel im Blut auf exakt den Wert gefallen war, der eine weitere Dosis erforderlich machte. Ich bat die Krankenschwester, ihm das Medikament zu verabreichen, doch eine Kollegin, die sich ebenfalls noch in der Ausbildung befand, aber in der Klinik-Hackordnung eine Stufe über mir stand, widersprach. »Das würde ich nicht machen«, sagte sie. »Warten wir lieber bis zum Schichtwechsel um sieben Uhr.« Das verstand ich nicht – wir wussten, dass der Patient dann noch über zwei Stunden praktisch schutzlos einer massiven Infektion ausgeliefert wäre, die ihn töten konnte. Warum warten? Als die Kollegin gegangen war, wies ich die Schwester an, dem Patienten das Medikament trotzdem zu geben.

Später bei der Visite stellte ich den Patienten der behandelnden Ärztin vor und erläuterte, was ich getan hatte und warum. Ich glaubte, sie würde meine ärztliche Fürsorge – die richtige Dosierung des Medikaments – gutheißen, aber stattdessen hielt sie mir eine Standpauke, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ich war zwar seit mehr als 24 Stunden auf den Beinen, aber das war keine Halluzination. Sie schrie mich an und drohte sogar mit fristloser Entlassung, weil ich versucht hatte, den Zeitpunkt der Medikamentengabe für einen schwer kranken Patienten zu optimieren. Es stimmte, dass ich den Hinweis (keine direkte Anweisung) der Kollegin, meiner unmittelbaren Vorgesetzten, missachtet hatte und dass das nicht korrekt gewesen war, aber diese Tirade schockierte mich. Sollten wir uns nicht immer bemühen, Dinge zu verbessern?

Letztlich schluckte ich meinen Stolz hinunter und entschuldigte mich für meinen Ungehorsam. Das war aber nur ein Vorfall unter vielen. Im weiteren Verlauf meiner Facharztausbildung wuchsen die Zweifel, ob ich mich für den richtigen Beruf entschieden hatte. Immer wieder fanden meine Kollegen und ich uns im Konflikt mit einer Kultur, die sich gegen Wandel und Innovation sträubte. Dass Medizin an sich konservativ ist, hat natürlich gute Gründe. Doch mitunter hatte es den Anschein, als sei das gesamte Gefüge der modernen Medizin so stark in seinen Traditionen verwurzelt, dass es nicht in der Lage war, sich auch nur geringfügig zu verändern – selbst wenn es um Möglichkeiten ging, das Leben von Menschen zu retten, für deren Wohlergehen wir doch sorgen sollten.

Im fünften Jahr, gequält von Zweifeln und Frustration, teilte ich meinen Vorgesetzten mit, dass ich meine Ausbildung im Juni abbrechen würde. Meine Kollegen und Mentoren hielten mich für verrückt. Kaum jemand bricht die Facharztausbildung ab – schon gar nicht am Johns Hopkins Hospital, wenn man nur noch zwei Jahre vor sich hat. Aber mein Entschluss stand fest. Nach neun Jahren Medizinstudium für nichts und wieder nichts – so schien es wenigstens – trat ich eine Stelle bei der renommierten Unternehmensberatung McKinsey & Company an. Meine Frau und ich zogen quer durch die USA in die noble Gegend von Palo Alto und San Francisco, wo ich mich während meiner Zeit an der Stanford University so wohlgefühlt hatte. Nun war ich so weit von der Medizin (und Baltimore) entfernt, wie es nur ging, und ich war froh. Ich hatte das Gefühl, ein Jahrzehnt meines Lebens vergeudet zu haben. Doch letzten Endes führte dieser scheinbare Umweg dazu, dass sich mein Blick auf die Medizin – und, noch wichtiger, auf jeden einzelnen Patienten – grundlegend veränderte.

Wie sich herausstellte, lautete das Schlüsselwort Risiko.

Ursprünglich hatte mich McKinsey für Beratung in der Gesundheitsfürsorge vorgesehen, doch weil ich mich auch mit quantitativen Themen beschäftigt hatte (ich hatte Angewandte Mathematik und Maschinenbau studiert, weil ich in Luft- und Raumfahrttechnik promovieren wollte), steckten sie mich in die Abteilung Kreditrisiko. Das war 2006, als sich bereits die Weltfinanzkrise anbahnte, doch abgesehen von den Protagonisten in Michael Lewis’ Roman The Big Short hatte kaum jemand eine Ahnung von der Tragweite dessen, was da kommen sollte.

Wir sollten US-Banken mit einem neuen Regelwerk vertraut machen, das sie befolgen sollten, um genügend Reserven zur Deckung unerwarteter Verluste zu bilden. Beim Einschätzen ihrer erwarteten Verluste hatten die Banken einen guten Job gemacht, aber niemand wusste so richtig, wie mit den unerwarteten Verlusten umzugehen sei, die per definitionem sehr viel schwerer zu prognostizieren waren. Unsere Aufgabe bestand darin, die internen Daten der Banken zu analysieren und mathematische Modelle zur Vorhersage dieser unerwarteten Verluste auf Basis von Korrelationen zwischen Anlageklassen zu erstellen. Das war genauso kompliziert, wie es klingt – gewissermaßen ein blind abgefeuerter Schuss ins Blaue.

Was zunächst wie eine Hilfestellung für die größten US-Banken beim Überwinden einiger regulatorischer Hürden ausgesehen hatte, brachte zutage, dass sich eine Katastrophe rund um eine ihrer scheinbar sichersten und solidesten Geschäftsbereiche zusammenbraute: Prime-Hypotheken8. Gegen Ende des Sommers von 2007 gelangten wir zu dem erschreckenden, aber unausweichlichen Schluss, dass die Großbanken in den beiden kommenden Jahren durch Hypothekendarlehen mehr Geld verlieren würden, als sie in der letzten Dekade verdient hatten.

Ende 2007, nachdem wir sechs Monate rund um die Uhr gearbeitet hatten, fand ein Meeting mit den hohen Tieren unseres Kunden, einer großen US-Bank, statt. Normalerweise hätte mein Chef als Leiter des Projekts die Präsentation übernommen, doch stattdessen fiel seine Wahl auf mich. »Mit Blick auf Ihren bisherigen Werdegang«, sagte er, »gehe ich davon aus, dass Sie besser dazu geeignet sind, jemandem eine Horrornachricht zu überbringen.«

Tatsächlich war es fast so, als müsste ich einem Patienten mitteilen, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Ich stand in einem Tagungsraum der Chefetage und erläuterte der Geschäftsführung die Zahlen, die ihren Untergang prophezeiten. Im Laufe meiner Präsentation beobachtete ich, wie in den Gesichtern der Manager die fünf Phasen der Trauer aufschienen, die Elisabeth Kübler-Ross in ihrem Klassiker Interviews mit Sterbenden beschrieben hat: Nichtwahrhabenwollen, Zorn, Verhandeln, Depression, Zustimmung. Das hatte ich außerhalb einer Klinik noch nie erlebt.

Mein Abstecher in die Welt der Unternehmensberatung war bald wieder vorbei, aber er führte mir einen großen blinden Fleck der Medizin vor Augen – die Risikoeinschätzung. In der Finanz- und Bankenwelt ist es lebenswichtig, Risiken einschätzen zu können. Bedeutende Investoren gehen niemals unbedacht ein Risiko ein; sie informieren sich gründlich über mögliche Gefahren und Gewinne. Die Beschäftigung mit Kreditrisiken ist eine Wissenschaft, wenn auch eine unvollkommene, wie die Banken mich lehrten. In der Medizin sind Risiken offenkundig ebenfalls von Bedeutung, aber die Ärzteschaft geht an das Thema eher emotional als analytisch heran.

Der Ärger begann mit Hippokrates. Die meisten Leute kennen den Grundsatz des alten Griechen »Vor allem schade nicht«.9 Er beschreibt prägnant die wichtigste Verantwortung des Arztes, die Patienten nicht zu töten oder irgendetwas zu tun, was ihr Befinden verschlechtert, statt es zu verbessern. Klingt plausibel. Doch da gibt es drei Probleme: (a) Hippokrates hat das nie so gesagt,10 (b) es ist scheinheiliger Mist, und (c) in vielerlei Hinsicht ist es nicht hilfreich.

»Schade nicht«? Ernsthaft? Zahlreiche Behandlungen, die unsere medizinischen Vorgänger von Hippokrates’ Zeiten bis ins 20. Jahrhundert hinein ihren Patienten angedeihen ließen, waren weit eher angetan, ihnen zu schaden, als zu heilen. Haben Sie Kopfweh? Dann käme für Sie eine Trepanation infrage, wobei Ihnen ein Loch in den Schädel gebohrt wird. Merkwürdige wunde Stellen an den Geschlechtsteilen? Versuchen Sie bitte das Schreien zu unterdrücken, während der Doktor der Naturwissenschaft Ihre Genitalien mit giftigem Quecksilber betupft. Und dann gab es natürlich noch das seit Jahrtausenden bewährte Heilverfahren des Aderlasses, das gewöhnlich das Allerletzte war, was eine kranke oder verwundete Person benötigte.

Was mich an »Vor allem schade nicht« aber am meisten ärgert, ist die stillschweigende Voraussetzung, dass die beste Behandlung stets diejenige mit dem geringsten unmittelbaren Verlustrisiko ist – was sehr oft bedeutet, überhaupt nichts zu tun. Jeder Arzt, der seine Approbationsurkunde wert ist, kann mit einer Geschichte aufwarten, die diesen Unsinn widerlegt. Hier ist meine: Bei einem meiner letzten Trauma-Fälle als Assistenzarzt wurde ein siebzehnjähriger Junge eingeliefert. Er hatte eine Stichwunde im Oberbauch, direkt unterhalb des Schwertfortsatzes, dem kurzen knöchern-knorpeligen unteren Ende des Brustbeins. Als er hereingerollt wurde, schien er stabil zu sein, aber plötzlich zeigte er ein auffälliges Verhalten und bekam große Angst. Eine schnelle Ultraschalluntersuchung zeigte, dass sich in seinem Herzbeutel, dem Sack aus festem Bindegewebe, der das Herz umgibt, möglicherweise ein Erguss gebildet hatte. Mit einem Mal lag ein kritischer Notfall vor, denn wenn sich dort zu viel Flüssigkeit ansammelte, käme es zum Herzstillstand, der ihn innerhalb von ein oder zwei Minuten töten würde.

Es war keine Zeit mehr, ihn hinauf in den OP zu bringen – es war gut möglich, dass er die Fahrt im Aufzug nicht überleben würde. Als er das Bewusstsein verlor, musste ich in Sekundenschnelle eine Entscheidung treffen. Ich öffnete an Ort und Stelle seinen Brustkorb und schlitzte den Herzbeutel auf, um den Druck auf das Herz zu verringern. Es war stressig und blutig, aber es funktionierte, und kurz darauf hatten sich seine Vitalparameter wieder stabilisiert. Der Eingriff war zweifellos hochriskant gewesen und hatte ihm kurzfristig großen Schaden zugefügt, aber wenn ich es nicht getan hätte, wäre er beim Warten auf eine sicherere und sterilere Operation im OP vielleicht gestorben. Der schnelle Tod wartet auf niemanden.

Dieser dramatische Eingriff war nötig gewesen, weil das Risiko so asymmetrisch war: Nichts zu tun – um einen »Schaden« zu vermeiden – hätte vermutlich zu seinem Tod geführt. Umgekehrt war das hastige Öffnen des Brustkorbs, selbst wenn meine Diagnose falsch gewesen wäre, keineswegs lebensgefährlich, auch wenn man sich für einen Mittwochabend wahrscheinlich etwas anderes wünscht. Nachdem die akute Gefahr gebannt war, stellte sich heraus, dass die Spitze des Messers ganz leicht die Lungenarterie angeritzt hatte – eine kleine Wunde, die mit zwei Stichen vernäht wurde, nachdem er stabilisiert und in den OP gebracht worden war. Nach vier Übernachtungen konnte er nach Hause.

Risiken sollte man nicht um jeden Preis vermeiden. Wir müssen sie vielmehr verstehen, analysieren und mit ihnen arbeiten. Alles, was wir tun, sei es in der Medizin oder im täglichen Leben, beruht auf dem Abwägen von Risiken und Belohnungen. Haben Sie zum Mittagessen einen abgepackten Salat gegessen? Dann besteht eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass sich im Grünzeug E. coli-Bakterien befanden. Sind Sie mit dem Auto zum Supermarkt gefahren? Ebenfalls riskant. Doch unter dem Strich ist der Salat vermutlich gut für Sie (oder zumindest nicht so schlecht wie andere Dinge, die Sie essen könnten).

Manchmal, wie bei dem Siebzehnjährigen mit der Stichwunde, muss man den Sprung ins Ungewisse wagen. In anderen, weniger akuten Situationen hat man vielleicht die Wahl, bei einem Patienten eine Darmspiegelung durchzuführen, bei der ein kleines, aber reales Verletzungsrisiko besteht, oder die Untersuchung zu unterlassen und dabei möglicherweise eine Krebserkrankung zu übersehen. Damit will ich sagen: Ein Arzt, der seinen Patienten noch nie irgendeinen Schaden zugefügt hat oder zumindest das Risiko einer Schädigung eingegangen ist, hat wahrscheinlich auch nicht viel unternommen, um ihnen zu helfen. Und in Fällen wie bei besagtem Teenager kann Nichtstun auch die riskanteste Entscheidung von allen bedeuten.

Eigentlich hätte ich es gut gefunden, wenn Hippokrates bei der Operation an dem Jungen mit der Stichwunde zugesehen hätte – oder bei einem beliebigen anderen Eingriff in einem modernen Krankenhaus. Alles hätte ihn umgehauen – von den Präzisionsinstrumenten aus Stahl über Antibiotika und Anästhesie bis zum hellen elektrischen Licht.

Es stimmt zwar, dass wir der Antike eine Menge verdanken – zum Beispiel die 20 000 meist aus dem Lateinischen oder Griechischen stammenden Wörter, die ich im Medizinstudium gepaukt habe. Dennoch ist die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschritts von der Zeit des Hippokrates bis in die Gegenwart eine Fiktion. Für mich sieht es so aus, als habe es in der Medizingeschichte zwei getrennte Zeitalter gegeben und wir ständen heute am Beginn eines dritten Zeitalters.

Die erste Ära, für die Hippokrates steht, die aber nach seinem Tod fast zweitausend Jahre angedauert hat, nenne ich Medizin 1.0. Ihre Schlussfolgerungen beruhten auf direkter Beobachtung, und ärztlicher Beistand stützte sich mehr oder weniger auf pure Vermutungen, die zum Teil ins Schwarze trafen, zum Teil aber auch nicht. So befürwortete Hippokrates Wandern als sportliche Betätigung und befand, dass »in Nahrung vorzügliche Medizin zu finden ist und in Nahrung schlechte Medizin zu finden ist«, was nach wie vor Gültigkeit hat. Für manches aus Medizin 1.0 trifft dies jedoch ganz und gar nicht zu, wie die Lehre von den »Körpersäften«, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. Hippokrates’ bedeutendste Leistung war die Erkenntnis, dass Krankheiten natürliche Ursachen haben und den Menschen nicht von den Göttern auferlegt werden, wie man vorher geglaubt hatte. Allein das war ein großer Schritt in die richtige Richtung. Mit ihm und seinen Zeitgenossen darf man daher nicht allzu kritisch ins Gericht gehen. Ohne Kenntnis von Naturwissenschaft oder der wissenschaftlichen Methode taten sie das Beste, was sie konnten. Man kann kein Werkzeug benutzen, das noch nicht erfunden wurde.

Die Ära der Medizin 2.0 brach Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Keimtheorie zur Erklärung von Krankheitsursachen an, die an die Stelle der Idee trat, dass die meisten Krankheiten von »Miasmen«, giftigen Ausdünstungen, hervorgerufen werden. Das führte zu verbesserten Hygienemaßnahmen bei ärztlichen Behandlungen und letztlich zur Entwicklung von Antibiotika. Das heißt aber keineswegs, dass ein klarer Schnitt erfolgte – es war nicht so, dass Louis Pasteur, Joseph Lister und Robert Koch ihre bahnbrechenden Studien veröffentlichten11 und sich die gesamte Ärzteschaft ihnen sogleich anschloss und über Nacht völlig anders praktizierte. Tatsächlich war der Übergang von Medizin 1.0 zu Medizin 2.0 ein langer, blutiger Gewaltmarsch, der sich durch vielerorts ausgetragene Grabenkämpfe gegen den Widerstand des Establishments auszeichnete.

Nehmen wir den Fall des armen Ignaz Semmelweis, eines ungarisch-österreichischen Chirurgen und Geburtshelfers, der mit Sorge beobachtete, dass so viele Mütter, die im Krankenhaus entbanden, am »Kindbettfieber« starben. Er kam zu dem Schluss, dass dies mit den Autopsien zusammenhing, die er und seine Kollegen morgens vornahmen, bevor sie am Nachmittag Geburtshilfe leisteten – ohne sich zwischendurch gründlich die Hände zu waschen. Obwohl die Existenz von Keimen noch nicht belegt war, glaubte Semmelweis, dass die Ärzte irgendetwas auf die Frauen übertrugen, was sie krank machte. Seine Beobachtungen stießen auf strikte Ablehnung. Semmelweis wurde von seinen Kollegen geächtet und starb 1865 in einer Irrenanstalt.

Genau im selben Jahr demonstrierte Joseph Lister erstmals erfolgreich das Prinzip der antiseptischen Chirurgie, indem er bei der Operation eines Jungen in einem Krankenhaus in Glasgow ein Sterilisierungsverfahren anwendete. Das war der erste praktische Nachweis, dass Krankheiten durch Keime verursacht werden können. Semmelweis hatte die ganze Zeit recht gehabt.

Der Übergang von Medizin 1.0 zu Medizin 2.0 wurde teilweise durch neue Technologien wie das Mikroskop angestoßen, aber der wichtigste Faktor war eine neue Denkweise. Die Grundlage dafür war schon um 1620 gelegt worden, als Sir Francis Bacon als Erster darlegte, was wir heute als die wissenschaftliche, oder empirische, Methode kennen. Dies markierte einen bedeutenden philosophischen Wandel, von Beobachten und Raten zum Beobachten und anschließendem Bilden einer Hypothese, auch wenn das, wie Richard Feynman hervorhob, im Grunde nur eine vornehme Bezeichnung für Raten ist.

Der nächste Schritt ist entscheidend: Man führt ein Experiment durch, um festzustellen, ob die Hypothese bzw. Vermutung zutrifft. Statt auf Behandlungen zurückzugreifen, von denen sie annahmen, dass sie wirkten – obwohl auch oft genug Gegenbeweise vorlagen –, konnten Forscher und Ärzte nun mögliche Heilverfahren systematisch testen und bewerten und sich anschließend für diejenigen entscheiden, die sich in Experimenten am besten bewährt hatten. Dennoch vergingen zweieinhalb Jahrhunderte zwischen Bacons Essay und der Entdeckung von Penicillin, die den letzten und entscheidenden Wendepunkt hin zu Medizin 2.0 markierte.

Medizin 2.0 war revolutionär. Sie ist ein bestimmendes Merkmal unserer Zivilisation, eine wissenschaftliche Kriegsmaschine, die tödliche Krankheiten wie die Pocken und zwei Typen von Polio ausgerottet hat. Ihre Erfolge setzten sich in den 1990er- und 2000er-Jahren mit der Eindämmung von HIV/Aids fort. Was eine Seuche zu sein schien, die die gesamte Menschheit bedrohte, wurde zu einer beherrschbaren chronischen Krankheit. Auch die seit Kurzem mögliche Heilung von Hepatitis C würde ich hier nennen wollen. Ich weiß noch, dass man uns im Medizinstudium erklärte, Hepatitis C werde eine unkontrollierbare Epidemie auslösen, die innerhalb von fünfundzwanzig Jahren die Infrastruktur für Lebertransplantationen in den USA völlig überfordern werde. Heute lassen sich die meisten Fälle durch eine kurze Behandlung mit (allerdings sehr teuren) Medikamenten heilen.

Aus diesem Diagramm geht hervor, wie wenig sich die Mortalitätsrate verändert hat, wenn man die acht relevantesten Infektionskrankheiten nicht berücksichtigt, die mit der Einführung von Antibiotika zu Beginn des 20. Jahrhunderts großenteils kontrollierbar wurden.

Quelle: Gordon (2016)

Noch verblüffender war vielleicht die rasante Entwicklung von nicht nur einem, sondern mehreren wirksamen Impfstoffen gegen COVID-19 in nicht einmal einem Jahr nach Ausbruch der Pandemie Anfang 2020. Das Virusgenom wurde nach den ersten Todesfällen in wenigen Wochen sequenziert, was die schnelle Formulierung von Impfstoffen ermöglichte, die gezielt auf das Oberflächenprotein des Virus einwirken. Auch die Fortschritte in der Behandlung von Covid-Patienten sind bemerkenswert gewesen; in weniger als zwei Jahren wurden mehrere virenhemmende Medikamente entwickelt. Dies ist Medizin 2.0 in Reinkultur.

Was langfristige Erkrankungen wie Krebs betrifft, hat sich Medizin 2.0 jedoch als weit weniger erfolgreich erwiesen. Während Bücher wie dieses immer betonen, dass sich die Lebenserwartung seit Ende des 19. Jahrhunderts fast verdoppelt hat, ist der Löwenanteil dieses Fortschritts möglicherweise vollständig auf Antibiotika und verbesserte sanitäre Anlagen zurückzuführen, wie Steven Johnson in seinem Buch Extra Life hervorhebt.12 Der Ökonom Robert J. Gordon von der Northwestern University hat Mortalitätsdaten ab 1900 untersucht (siehe Abbildung 1) und Folgendes festgestellt: Wenn man Todesfälle durch die acht relevantesten Infektionskrankheiten außer Acht lässt, die mit der Einführung von Antibiotika in den 1930er-Jahren großenteils kontrollierbar wurden, sank die Gesamtsterberate über das 20. Jahrhundert hinweg nur geringfügig.13 Das bedeutet, dass Medizin 2.0 kaum etwas gegen die apokalyptischen Reiter ausgerichtet hat.

Auf dem Weg zu Medizin 3.0

Während meiner nichtmedizinischen Tätigkeit erkannte ich, dass meine früheren Kollegen und ich dafür ausgebildet worden waren, die Probleme einer vergangenen Ära zu lösen: die akuten Erkrankungen und Verletzungen, deren Behandlung sich Medizin 2.0 gewidmet hatte. Diese Krankheiten spielten sich in einem sehr viel kürzeren Zeitrahmen ab; bei unseren Krebspatienten war die Zeit selbst der Feind. Und wir traten stets zu spät auf den Plan.

Vorher war mir das gar nicht so bewusst gewesen. Erst als mich während meiner kleinen Auszeit von der Medizin die Welt der Mathematik und Finanzen gefangen nahm und ich tagaus, tagein über die Natur des Risikos nachdachte, wurde es mir klar. Die Probleme der Banken waren gar nicht so verschieden von der Situation, mit der sich einige meiner Patienten konfrontiert sahen: Ihre scheinbar unbedeutenden Risikofaktoren hatten sich mit der Zeit zu einer nicht mehr aufzuhaltenden Katastrophe aufgetürmt. Auch chronische Krankheiten bahnen sich über Jahre und Jahrzehnte an – und haben sie sich erst einmal eingenistet, wird man sie kaum wieder los. Atherosklerose beispielsweise beginnt viele Jahrzehnte, bevor es bei der betreffenden Person zu einem koronaren »Ereignis« kommt, das zu ihrem Tod führen könnte. Doch erst dieses Ereignis, häufig ein Herzinfarkt, markiert zu oft den Punkt, an dem die Behandlung einsetzt.

Darum bin ich der Meinung, dass wir eine neue Sichtweise auf chronische Krankheiten, ihre Behandlung und die Bewahrung langfristiger Gesundheit entwickeln müssen. Diese neue Medizin – ich nenne sie Medizin 3.0 – verfolgt nicht das Ziel, die Leute zu verarzten und dann wieder nach Hause zu schicken, also etwa einen Tumor zu entfernen und dann das Beste zu hoffen, sondern vielmehr, von vornherein zu verhindern, dass sich der Tumor bildet und ausbreitet. Oder jenem ersten Herzinfarkt vorzubeugen. Oder jemanden von dem Weg abzubringen, der zu Alzheimer führt. Unsere Behandlungen wie auch unsere Präventions- und Diagnosemaßnahmen müssen sich so verändern, dass sie an die charakteristische Natur dieser Krankheiten mit ihrem langen, langsamen Verlauf angepasst sind.

Schon jetzt ist zu erkennen, dass sich die Medizin der heutigen Zeit rapide wandeln wird. Viele Fachleute sagen eine glorreiche neue Ära der »personalisierten« oder »Präzisionsmedizin« voraus, in der die Gesundheitsfürsorge auf unsere individuellen Bedürfnisse, bis hin zu unseren Genen, zugeschnitten ist. Das ist zweifellos ein hehres Ziel. Offenkundig gibt es keine zwei völlig identische Patientinnen, selbst wenn sie anscheinend an genau der gleichen Erkrankung der oberen Atemwege leiden. Eine Behandlung, die bei der einen anschlägt, kann sich bei der anderen als wirkungslos herausstellen, weil ihr Immunsystem möglicherweise anders reagiert oder ihre Infektion nicht bakteriell, sondern viral bedingt ist. Sogar heute noch ist der Unterschied äußerst schwer zu erkennen, was dazu führt, dass Millionen nutzlose Antibiotikarezepte ausgestellt werden.

Viele Experten glauben, dass diese neue Ära durch den technischen Fortschritt angetrieben wird, und vermutlich haben sie recht. Zugleich aber hat die Technologie (bisher) eher hemmend gewirkt. Lassen Sie mich das erklären. Einerseits sind wir dank verbesserter Technologien in der Lage, viel mehr Daten über Patienten als je zuvor zu sammeln, und die Patienten selbst können ihre eigenen Biomarker besser kontrollieren. Das ist gut. Noch besser ist, dass künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen allmählich für die Verarbeitung dieser ungeheuren Datenmengen gerüstet sind und dann zu fundierteren Einschätzungen etwa für unser Risiko, eine Herz-Kreislauf-Erkrankung zu entwickeln, gelangen als die eher simplen Berechnungen aufgrund von Risikofaktoren, auf die wir uns bislang stützen. Außerdem wird auf die Möglichkeiten der Nanotechnologie verwiesen, welche Ärzte in die Lage versetzen könnten, Krankheiten mithilfe kleiner bioaktiver Moleküle, die in den Blutkreislauf injiziert werden, zu diagnostizieren und zu behandeln. Doch noch stehen uns die Nanobots nicht zur Verfügung, und ohne bedeutende öffentliche oder private Förderung könnte es noch eine Weile dauern, bis sie Wirklichkeit werden.

Das Problem ist, dass unsere Idee