Resilienz - Brigitte Dorst - E-Book

Resilienz E-Book

Brigitte Dorst

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Beschreibung

Stress im Job, Angst um den kranken Partner, Streit mit den Nachbarn - Belastungen wie diese werfen manche Menschen völlig aus der Bahn. Doch wie kommt es, dass andere damit gut zurechtkommen? In der Psychologie wird in diesem Zusammenhang von Resilienz gesprochen, den psychischen Widerstandskräften. Sie befähigen uns, in belastenden Lebenssituationen seelisch im Gleichgewicht zu bleiben. Brigitte Dorst verdeutlicht in diesem Buch, was Resilienz aus tiefenpsychologischer Sicht bedeutet und warum wir sie gerade auch in schwierigen Zeiten brauchen. Die erfahrene Jung’sche Analytikerin und Psychotherapeutin ermöglicht den Leserinnen und Lesern, mit Hilfe vieler wirksamer Übungen ihre Widerstandskräfte der Seele zu stärken.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

HAUPTTITEL

Brigitte Dorst

Resilienz

Seelische Widerstandskräfte stärken

Patmos Verlag

Inhalt

Einleitung

Teil 1 Schwierige Zeiten bewältigen

1. Resilienz als Lebens- und Widerstandskraft

Was ist Resilienz?

Vulnerabilität und Resilienz

Die Anfänge der Resilienzforschung

Resilienzfaktoren zur Lebensbewältigung

Burnout, Stress und Resilienz

Resilienz fördernde Lebenseinstellungen und Grundhaltungen

Spiritualität und Achtsamkeit als innere Kraftquellen

2. Krisen und schwierige Lebenssituationen verstehen

Was ist eine Krise?

Was Krisen auslöst und sie verstärkt

Stress in Krisensituationen

Die Burnout-Krise

Lebenskrisen bei Trennung, Scheidung und Tod

Die Bedeutung von Angst in Krisen

Lebenskrisen und die Frage nach dem Sinn

Teil 2 Resilienz aus tiefenpsychologischer Sicht

1. Grundideen der Analytischen Psychologie

Das Kollektive Unbewusste und die Archetypen

Werde der/die du bist – das Konzept der Individuation

Das Selbst als Zentrum der Persönlichkeit

2. Phantasie, Imagination und Intuition als Resilienzkräfte

Die schöpferische Kraft der Phantasie

Imagination und Heilung

Intuition – das tiefe Wissen

3. Die innere Welt der Bilder und Symbole

Was ist ein Symbol?

Das Symbolverständnis der Analytischen Psychologie

Symbolarbeit: Wie man sich auf Symbole einlassen kann

Resilienz fördern mit Symbolen

Teil 3 Die Seele stärken mit inneren ­Bildern und Symbolen

1. Die Straßen des Lebens erkunden Der Weg

2. Schutz und Geborgenheit finden Das Haus

3. Wachsen und festen Stand haben Der Baum

4. Schwierige Aufgaben bewältigen Der Berg

5. Das innere Licht wieder hervorlocken Die Sonne

6. Die Lebensquellen wiederfinden Das Wasser

7. Hoffen und neu beginnen Der Regenbogen

8. Im eigenen Zentrum ankommen Spirale und Labyrinth

9. Verbinden und zusammenhalten Faden, Band und Seil

10. Der Weisheit des Herzens trauen Das Herz

11. Bewährten Wegweisern folgen Märchen und Geschichten als Lebenshilfe

Tiefenpsychologische Zugänge zu Märchen

Geschichten als Quellen der Weisheit

Teil 4 Mit sich selbst in Einklang ­kommen

1. Selbsterkenntnis vertiefen

2. Meditation und Selbstbesinnung

Schluss: Gestärkt aus schwierigen Situationen hervorgehen

Dank

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Zitat- und Bildnachweis

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Einleitung

Auf der Vorderseite dieses Buches sehen Sie die Blätter eines Gingkobaumes. Mit Bedacht wurde dieses Motiv gewählt: Der Gingko ist eine uralte, ganz eigene Pflanzenart, weder ein Nadel- noch ein Laubbaum. Ursprünglich in China beheimatet, ist er heute auf der ganzen Welt verbreitet. Er kann tausend Jahre und noch älter werden und ist in der Lage, auch sehr schlechten Umweltbedingungen zu widerstehen.

Die Blätter des Gingkos sind wunderschöne fächerförmige Gebilde, im Sommer grün, im Herbst goldgelb bis braun, bevor sie abfallen. Es gibt weibliche und männliche Bäume. In Asien wird er besonders als Tempelbaum geschätzt.

Dem Gingko werden besondere Heilkräfte zugeschrieben, vor allem in der traditionellen chinesischen Medizin. Er soll Lernvermögen und Gedächtnisleistungen verbessern. Die Japaner und die Chinesen verehren seine Lebenskraft und sprechen ihm Wunderheilungen zu. Der Gingko zeigt eine hohe Resistenz gegenüber Pflanzenschädlingen. Seine Blätter haben eine große Immunität gegenüber Viren und Bakterien. Daher ist er ein passendes Pflanzensymbol für dieses Resilienzbuch, in dem es um die Widerstands- und Heilkräfte der Seele geht.

In diesem Buch erfahren Sie, wie Sie mit Hilfe Ihrer Phantasie und Imagination Zugang zu inneren Kraftquellen finden und Ihre seelische Gesundheit stärken können. Es will Ihnen helfen, bei seelischen Verletzungen und Verwundungen Kräfte der Heilung und Ihre innere Stärke in sich zu aktivieren. Es gibt Ihnen Anregungen, wie Sie mit den Schattenseiten Ihres Lebens vielleicht besser umgehen können. In diesem Buch werden Sie nicht trainiert zum »Stehaufmännchen«, das, nachdem es niedergedrückt wurde, reflexhaft wieder hochschnellt. Es kann Sie aber vielleicht dabei unterstützen, verständnisvoller, fürsorglicher und kompetenter Ihr Leben mit seinen Problemen und Schwierigkeiten zu leben und daran weiterzuwachsen.

Das Buch bietet keine Patentrezepte, sondern bewährte Übungen, Hinweise und ein hilfreiches Praxiswissen, so dass Sie Ihr ­eigenes Repertoire zur Stärkung Ihrer seelischen Widerstandskräfte – Ihrer Resilienz – für sich finden und weiterentwickeln können. Sie sollen auch nicht weiter unter Selbstoptimierungsdruck gesetzt werden – im Gegenteil: Es geht darum, mit mehr Gelassenheit und weniger Anspannung die täglichen Anforderungen des Lebens anzunehmen und auch Krisen und besondere Belastungssituationen besser zu bestehen – im Vertrauen auf die belebende und inspirierende Kraft des Symbolischen, die sich über Phantasie und Imagination entfalten kann. Dazu wollen vor allem die Übungen dieses Buches Ihnen Hilfestellung geben. Es geht um das seelische Wachsen und Reifen eines Menschen im Sinne der Individuation, einem zentralen Konzept der Analytischen Psychologie C. G. Jungs, das ich in Teil 2 dieses Buches – neben einigen anderen wichtigen Grundideen – noch beschreibe.

Dank der jahrzehntelangen Forschung von Emmy Werner wissen wir heute, welche Schutzfaktoren bedeutsam sind, damit Kinder selbst in einem schwierigen Umfeld gedeihen können. Die heutigen Resilienzforschungen sind zentriert auf die Frage, wie Menschen in der Lage sind, schwierige Lebenssituationen und belastende Ereignisse zu bewältigen, und welche Resilienzfaktoren auch im Erwachsenenalter gefördert werden können. Darüber werden Sie in Teil 1 dieses Buches ausführlich informiert.

Teil 2 führt ein in das Menschen- und Weltbild der Analytischen Psychologie C. G. Jungs und erläutert, welche Bedeutung die Arbeit mit inneren Bildern und Symbolen für die Stärkung der Resilienz hat.

In den Praxisteilen 3 und 4 geht es vor allem um Anleitungen zu Imaginationen, die sich auf verschiedene Motive und Symbole beziehen. Dabei handelt es sich um bewährte heilsame innere Bilder und Themen.1

Betrachten Sie das Buch also als eine Einladung zu einer Reise in Ihre Innenwelt.

Wir träumen von Reisen durch das Weltall:

ist denn das Weltall nicht in uns?

Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht.

Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.

In uns oder nirgends ist

die Ewigkeit mit ihren Welten,

die Vergangenheit und Zukunft.

Novalis2

Teil 1 Schwierige Zeiten bewältigen

1. Resilienz als Lebens- und Widerstandskraft

Ich vertraue darauf, dass in jedem Menschen

ein Lebenswille am Werk ist, der ihm hilft,

das zu wählen, was ihm entspricht.

C. G. Jung

Was ist Resilienz?

Das Wort Resilienz ist in den letzten Jahren in vielen Bereichen der Psychologie, in der Psychotherapie, der Beratung sowie im Coaching immer bedeutsamer geworden. Wir können Resilienz verstehen als eine Art psychisches Immunsystem, das die inneren Stabilisierungs- und Heilkräfte umfasst.

Resilienz hat zu tun mit folgenden Fragen:

Wie können Menschen schwierige Lebenssituationen, Krisen und Traumata überwinden, ohne dauerhaft Schaden zu nehmen oder zusammenzubrechen?Wie können Kinder gedeihen und auch Erwachsene weiterwachsen, trotz widriger Lebensbedingungen?Wie können Menschen ihre seelische und körperliche Gesundheit erhalten und Freude am Leben finden?

»Resilienz« kommt vom lateinischen Wort resilire, zurückspringen, abprallen. Im Bereich der Physik bezeichnet dieser Begriff die Elastizität eines Materials unter der Einwirkung von Druck und Belastung. In der Psychotherapie geht es um Heilung nach seelischen Verletzungen und Traumatisierungen, um die Fähigkeiten, Schicksalsschläge und schwierige Lebenssituationen zu bewältigen und in einen guten, gesunden Zustand zurückzukommen.

In der deutschen Sprache gibt es kein entsprechendes Wort für Resilienz. Es hat zu tun mit Stärke und Flexibilität; für manche Bereiche können wir auch von Krisenkompetenz sprechen und meinen damit die Fähigkeiten, mit seelischen Belastungssituationen und traumatischen Erfahrungen so umzugehen, dass die Spannungen ausbalanciert und die entstandenen Probleme bewältigt werden können.

Vieles beeinflusst diese resilienten Fähigkeiten: Veranlagung und genetische Ausstattung, Umweltfaktoren, frühe Erfahrungen in der Kindheit, soziale und kulturelle Einflüsse, Gewalterfahrungen, Vernachlässigung, Sicherheit gebende nahe Bezugspersonen, der Grad an seelischer Verwundbarkeit, Lebensstil und Lebens­erfahrungen im Erwachsenenalter. Hier wird bereits deutlich, dass Resilienz nicht ein stabiles Merkmal der Persönlichkeit sein kann, sondern ein Prozess des Ausbalancierens einer Reihe verschiedener Faktoren ist, bei dem die Resilienz im Verlauf des Lebens gestärkt oder auch weiter geschwächt werden kann.

Resilienz gehört zu unserer seelischen Grundausstattung, die mit ihren jeweiligen Eigenarten die seelische Stabilität bzw. Verletzlichkeit, die sogenannte Vulnerabilität, mit bestimmt. Es sind also innere Kräfte, die uns helfen, den Anforderungen des Lebens zu begegnen, mit Unvorhersehbarem zurechtzukommen, Niederlagen zu verkraften und wieder aufzustehen.

Um die eigenen Resilienzkräfte zu wissen, hilft zu einer Lebenshaltung, bei der Schweres, Schicksalhaftes als zum Leben ­dazugehörig gesehen werden kann. Vor Krisen und schwierigen Lebenssituationen kann man sich nicht schützen, aber doch lernen, damit umzugehen, sich ihnen zu stellen und auch an solchen Erfahrungen seelisch zu wachsen und den eigenen Ressourcen zu trauen.

Dies entspricht auch dem Menschenbild der Analytischen Psychologie C. G. Jungs. Sie sieht den Menschen in einem lebens­langen Prozess der Selbstverwirklichung auf dem Weg, der zu ­werden, der man wirklich ist. Jung nannte dies »Individuation«. Er hatte ein besonderes Zutrauen zu den schöpferischen und ­heilsamen Entwicklungs- und Entfaltungskräften der Seele. Aus ­tiefenpsychologischer Perspektive geht es darum, wie die Entwicklung und Reifung im Sinne der Individuation trotz widriger Umstände, chronischer Belastungsfaktoren und lebensverändernder Ereignisse gelingen kann. Hierbei ist die Resilienz von besonderer Bedeutung.

Resilienz betrifft alle Lebensbereiche: Identität und Selbstbild eines Menschen, Privates und Berufliches, gelebte Beziehungen, Lebensstil, soziale und materielle Ressourcen und ebenso Spiritualität. Ein Mensch, der seine Resilienz, seine inneren Kraftquellen, zu nutzen weiß, kommt mit sich, mit den anderen, mit dem Leben gut aus – nicht immer, aber immer wieder. So versteht auch die Schweizer Familientherapeutin Rosemarie Welter-Enderlin das Konzept der Resilienz: »Unter Resilienz kann die Fähigkeit von Menschen verstanden werden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen.«3 Man kann auch sagen, es geht um die Biegsamkeit von Menschen, darum, in den vielfältigen Belastungssituationen des Lebens vielleicht in die Knie zu gehen, aber nicht zu zerbrechen, sondern sich wieder aufrichten zu können.

Resilienz ist die innere Stärke von Menschen, mit Krisen, Konflikten, lebensverändernden plötzlichen Ereignissen – z.B. plötzliche Kündigung, schwere Erkrankung, Krebsdiagnose, Trennung, beruflicher Misserfolg oder das Scheitern von Beziehungen und Lebensplänen – umzugehen, sie als Herausforderungen anzusehen.

Vulnerabilität und Resilienz

Menschen können von Krisen und kritischen, lebensverändernden Ereignissen in sehr unterschiedlichem Ausmaß betroffen sein. Aufgrund von ererbten Dispositionen und bisherigen Lebens­erfahrungen sind sie unterschiedlich verletzbar und belastet. Wir sprechen daher von der je spezifischen seelischen Verwundbarkeit eines Menschen, seiner Vulnerabilität, und seinen seelischen Widerstandskräften, der Resilienz.

Es gibt Menschen, die eine unerwartete Trennung durchleben, ihren Arbeitsplatz verlieren, in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt sind und dennoch diese Lebenserfahrungen verkraften können, ohne in eine schwere Krise zu geraten. Auch wenn das Leben sie beutelt, scheinen sie über seelische Kräfte und Schutzfaktoren zu verfügen, die sie vor krisenhaften Zusammenbrüchen bewahren. Andere sind dagegen schon unter Normalbedingungen und bei kleinen und mittleren Alltagsärgernissen seelisch angegriffen und verletzt. Ihre seelische Verwundbarkeit ist besonders hoch.

Menschen mit hoher Resilienz sind eher in der Lage, selbst bei großem Leid und Schmerz nach Lösungsansätzen für ihre Probleme zu suchen und können sich auch leichter Unterstützung holen. Aktuelle Studien4 zeigen aber auch auf, dass Resilienz nicht einfach auf angeborene Faktoren zurückzuführen ist, sondern vor allem auch durch Lernen gefördert werden kann, und zwar in jedem Lebensalter.

Ein besonders wichtiger Bestandteil der Resilienz ist die Einstellung, sich selbst nicht einfach als Opfer ungünstiger Umstände oder des Schicksals zu sehen, sondern die Überzeugung zu haben, das eigene Leben positiv beeinflussen und gestalten zu können. Diese sogenannte Selbstwirksamkeit gilt auch für Menschen, die traumatische Erfahrungen machen mussten: Nicht jeder Betroffene leidet nach einem Trauma an posttraumatischen Belastungsstörungen.

Selbstwirksamkeit ist eine Form der Selbstwahrnehmung, über eigene Ressourcen und Kompetenzen zu verfügen und ein gewisses Maß an Kontrolle über die jeweilige Situation ausüben zu können. Selbstwirksamkeit ist daher ein wesentlicher Resilienzfaktor.

Selbstwirksamkeit verbindet sich mit der Bereitschaft, sich zur Erreichung von Zielen auch anzustrengen, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen und die Zukunft mitgestalten zu wollen. Personen mit dem Resilienzfaktor einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung setzen sich höhere Ziele und betrachten Probleme vor allem als Herausforderung. Menschen mit niedriger Selbstwirksamkeitserwartung reagieren eher mit Ängsten, depressiven Symptomen und Hilflosigkeit.

Resilienzfaktoren sind nicht primär Persönlichkeitseigenschaften. Sie entwickeln sich in Wechselwirkungen zwischen den Genen und verschiedenen Umwelteinflüssen, die auch zu genetischen Veränderungen führen können. Das zeigen auch neuere Forschungen zur Epigenetik.5 Hier tut sich für die Zukunft vielleicht eine Chance auf, die Resilienzkräfte eines Menschen auch genetisch zu stärken.

Die Anfänge der Resilienzforschung

In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts veröffentlichte die amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy E. Werner zusammen mit Ruth Smith die Ergebnisse einer über 40 Jahre umfassenden Langzeitstudie, die sie auf Kauai (einer Insel von Hawaii) durchgeführt hatte. Sie fanden heraus, welche Faktoren für die psychische Gesundheit von Erwachsenen entscheidend sind. Sie hatten 700 Kinder beobachtet und in ihrer weiteren Entwicklung be­gleitet, deren Lebensbedingungen durch eine Vielzahl von Risikofaktoren wie chronische Armut, Hunger, Alkoholismus, Gewalt, problematische Familienverhältnisse, schlechte Schul- und Bildungsbedingungen in Bezug auf ihre körperliche und seelische Entwicklung eine schlechte Prognose hatten.

Überraschenderweise zeigte sich, dass etwa ein Drittel der ­Kinder aus solchen Herkunftsfamilien sich trotz vielfacher Risikofaktoren zu lebenstüchtigen Erwachsenen entwickeln konnte, die Arbeit gefunden hatten und weder straffällig geworden noch auf staatliche Fürsorge angewiesen waren. Diese Kinder verfügten über Lebensstrategien, die es ihnen ermöglichten, nicht in Alkohol und andere Drogen abzugleiten. Besonders wichtig für sie war vor allem eine verlässliche Bezugsperson innerhalb oder außerhalb der Familie sowie ein entsprechendes Rollenmodell.

Diese Studie zeigte vor allem auf, dass es Faktoren gab, die einen Teil der Kinder vor Verwahrlosung, Abgleiten in Drogen, Kriminalität und seelischen Folgeproblemen schützten. Sie hatten jeweils eine Person, die sich als verlässlich erwies, sich mit Wärme und Zuneigung um das Kind kümmerte, Orientierung und Halt gab. Diese – wir würden heute sagen: resilienten – Kinder zeigten keine Verhaltensauffälligkeiten, waren sozial integriert, wurden als fröhlich und sehr zugewandt beschrieben, die anderen halfen und auch selbst um Hilfe für sich bitten konnten. Sie waren als Kleinkinder nicht schwierig im Ess- und Schlafverhalten, waren nach Auskunft ihrer Mütter sehr ausgeglichen und freundlich. Resi­lienz ist demnach vor allem auch die Fähigkeit, förderliche Beziehungen zu entwickeln.6

Resilienzfaktoren zur Lebensbewältigung

Von Geburt an hat jeder Mensch Resilienzpotentiale. Ob sie sich entwickeln können oder verkümmern, hängt ab von den Interaktionen, die sich zwischen dem Individuum und seiner jeweiligen sozialen, kulturellen und gesellschaftlich bestimmten Umwelt gestalten.

Wie schon die Kauai-Studie von Werner und Smith zeigte, sind verlässliche Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit für die weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Als ­weitere grundlegende Faktoren gelten vor allem eine Form von Störungstoleranz gegenüber Belastungen und Stress. Christa Diegelmann nennt als Basispotential ferner: emotionale Stabilität, Lebensfreude, Energie, Offenheit für Neues, Fähigkeit zum Per­spektivwechsel.7

In der Resilienzforschung wurde nach weiteren Merkmalen gesucht, die Menschen mit guter Resilienz kennzeichnet, d.h. Menschen, die trotz schwerer Schicksals- und Lebensbelastungen ein für sie selbst gutes und zufriedenstellendes Leben leben. Als besonders bedeutsam zeigten sich:

soziale Aspekte: Verbundenheit mit anderen und ein tragfähiges Beziehungsnetz sowie die Bereitschaft, Hilfe zu suchen und anzunehmen,emotionale Ausgeglichenheit und Frustrationstoleranz,Spiritualität/Religiosität,das Maß an seelischer Verletzbarkeit (Vulnerabilität),Einstellungen zum Leben und zu Werten,erlernte Verhaltensmuster im Umgang mit Stress und Konflikten,Selbstwahrnehmung,Wertschätzung für andere,Lernfähigkeit,realistische Zielsetzungen,ein ausgeprägtes Kohärenzgefühl, d.h. Vertrauen in die Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Bewältigungsmöglichkeit des Lebens,Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit, d.h. die Überzeugung zu haben, das eigene Leben selbst beeinflussen zu können, die Fähigkeit, an Probleme lösungsorientiert heranzugehen,Krisenkompetenz als die Lebenserfahrung, Krisen in der Vergangenheit gut bewältigt zu haben.

Auch deutsche Studien, wie die Mannheimer Risikokinder-Studie8, fanden heraus, dass es Kinder gibt, die sich trotz sehr ungünstiger Lebensbedingungen – wie Armut, zerrüttete Familienverhältnisse, Alkoholismus und psychische Erkrankungen in der Familie, Vernachlässigung und Gewalt – gut entwickeln konnten. Diese resilienten Kinder wurden als kontaktfreudig, emotional ausgeglichener und anpassungsfähiger wahrgenommen, sie waren aktiver, suchten für sich Hilfe und hatten mehr Willenskraft, ihr Leben selbst zu gestalten. Auch für diese Kinder waren Bindungserfahrungen mit verlässlichen Bezugspersonen von großer Bedeutung. Die Ergebnisse der Kauai-Studie von Emmy E. Werner und Ruth Smith wurden so bestätigt.

Inzwischen wurden ca. 20 Längsschnittstudien durchgeführt, in Amerika, Europa, Australien und Neuseeland. Im Vergleich ergab sich, dass es ein Bündel von bestätigten Merkmalen gibt, die für die gesunde seelische Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bedeutsam ist. Resilienz erwies sich als ein multidimensionaler Prozess. In der Anwendung der Forschungsergebnisse geht es zum einen darum, die Risikofaktoren für die menschliche Entwicklung genauer kennenzulernen, zum anderen ist das Ziel herauszufinden, welche Ressourcen für die Förderung von Resilienz, für die Lebensbewältigung, bedeutsam sind.

Wenn man also fragt, was Menschen mit gut entwickelten ­Resilienzfaktoren auszeichnet, könnte man sagen: Menschen mit gut entwickelten Resilienzfaktoren:

leben in für sie bedeutsamen Beziehungen bzw. sind sozial gut vernetzt,sind besonders lernfähig,haben Ziele, Werte und Zukunftsperspektiven,können Stress besser verarbeiten und ausgleichen,wissen, wie sie sich selbst beruhigen und nach Anspannung wieder entspannen können,verfügen über eine gute Selbstkontrolle und können negative Emotionen und affektive Impulse hemmen,sind lösungsorientiert in Bezug auf die Probleme und nicht resignierend,können Unveränderliches leichter annehmen,können negative Erlebnisse eher akzeptieren als etwas, das auch zum Leben gehört.

Burnout, Stress und Resilienz

Auch im Zusammenhang mit den weit verbreiteten Burnout-­Erkrankungen spielt Resilienz eine wichtige Rolle.

Burnout kann verstanden werden als Zusammenbruch der körperlichen, geistigen und emotionalen Fähigkeiten. Es ist ein Zustand körperlicher und psychischer Erschöpfung, der aus lang anhaltenden Belastungen und Überforderungen resultiert, bei denen nicht genügend Resilienzfaktoren zum Ausbalancieren verfügbar waren. Man kann das Burnout-Syndrom als eine Zeitkrankheit verstehen, die bei Angehörigen aller Berufe zu finden ist. Auf die Burnout-Krise wird im nächsten Kapitel noch ausführlicher eingegangen.

Wie entsteht ein Burnout? Burnout hat mit lang anhaltenden Stresssituationen zu tun. In einer Stresssituation bereitet sich der Organismus wie auf eine Gefahr vor, bei der es darauf ankommt, schnell zu reagieren. Entsprechend steigen Blutdruck und Puls an, Hormonausschüttungen bereiten auf Kampf- oder lebensrettende Fluchtreaktionen vor. Wenn die Gefahr vorbei ist, sollte der Körper sich wieder herunterregulieren können.

Bei Dauerstress bleibt der Körper aber in einem Alarmzustand mit fatalen körperlich-geistig-seelischen Folgeproblemen. Resi­lienzkräfte, die für Entspannung, Wohlbefinden und Beruhigung sorgen könnten, werden nicht hinreichend aktiviert. Natürlich ist die Belastbarkeit durch Stress bei Menschen sehr unterschiedlich, ebenso, welche Stressoren (Lärm, Termindruck, zu viele ­Aufgaben, Überforderung, Beziehungsprobleme) besonders gesundheitsgefährdend wirken.

Für Burnout-Gefährdete und stressgeschädigte Menschen sind Resilienz-Übungsprogramme – etwa Progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Achtsamkeitsübungen, Yoga, Qigong, Meditation, körperliche Bewegung, Auszeiten ohne Medienpräsenz, Aufenthalt in der Natur – empfehlenswerte Möglichkeiten zur notwendigen Stressreduktion.

Unter dem Resilienzaspekt geht es also vor allem um Stress­abbau, um Normalisierung des Alltags, darum, Anspannungs- und Normalisierungsphasen in ein ausbalanciertes Verhältnis zu bringen. Aus der Forschung der Psychoneuroimmunologie ist ­bekannt, wie fatal sich Stress auf das gesamte Immunsystem ­auswirkt. Insbesondere langfristiger, chronisch gewordener Stress stört die Regelkreise des Organismus empfindlich. Auch Ent­stehung und Wachstum von Tumoren und die Zunahme von ­allergischen Erkrankungen werden in diesem Zusammenhang ­erforscht.

Resilienter zu werden bedeutet, Risikofaktoren (Energieräuber) und Regenerationsmöglichkeiten (Kraftquellen) für sich persönlich herauszufinden, und vor allem, den Widerstand gegen eine Veränderung zum Besseren bei sich selbst wahrzunehmen. Niemand verändert sich gern, das »Gewohnheitstier« in uns wird weiter »gemästet«, das ist bequemer. Achtsame Selbstwahrnehmung und ehrliche Selbstkritik werden benötigt, um in ein erfolgreiches Selbstveränderungsprogramm einzusteigen. Ein solches umfasst mehrere Abschnitte in einer Wachstumsspirale der Resilienz, in sieben Schritten vom Ausgangspunkt Dauerstress hin zur Stressreduktion:

Die sieben Schritte der Resilienz

1. Erschöpfung, Unzufriedenheit, Missstimmung, Dauerstress, Stresssymptome (»Alles Mist«),

2. Status quo, Bequemlichkeit, Widerstand gegen Veränderungen, Sich-eingerichtet-Haben (»Es geht nicht anders«),

3. Einsicht und echte Veränderungsbereitschaft (»So kann’s mit mir nicht weitergehen«),

4. Selbstermutigung, Motivierung, Wünsche und Sehnsucht, Phantasien von einem besseren Leben in sich zulassen (»Ich erlaube mir, Träume und Hoffnungen zu haben«),

5. Konkrete Pläne machen und sich Ziele setzen (»Ist es machbar, realistisch, konkret, überprüfbar?«),

6. Change-Phase: Veränderungen im Berufsleben und Privat­leben durch Aktivierung von Resilienz (»Ich tu’s!«),

7. Stressreduktion, besserer Gesundheitszustand, wieder wachsende Zufriedenheit mit sich selbst, in den Alltag übernommene dauerhafte Resilienzaktivitäten (»Es darf mir wieder gut gehen / Es geht mir so besser!«).

Resilienz fördernde Lebenseinstellungen und Grundhaltungen

Im Zusammenhang mit Resilienz sind einige Grundhaltungen und Lebenseinstellungen besonders relevant. Diese haben sich in der Beobachtung und Untersuchung von Menschen mit sehr guter Resilienz immer wieder bestätigt. Es sind:

Selbstvertrauen, Selbstakzeptanz, Selbstwertgefühl,Hoffnung und Optimismus,Selbstwirksamkeit,gute Selbstsorge,Gelassenheit,Humor.

Ein positives Selbstbild und Vertrauen ins Leben bilden sich vor allem in den frühen Bindungserfahrungen eines Kindes, wenn das Kind seine Bezugspersonen als verlässlich und einfühlsam in Bezug auf seine Bedürfnisse erlebt.

Selbstvertrauen und Vertrauen ins Leben zu haben, hat nichts zu tun mit Naivität und unkritischem Denken. Die Schwere von Problemen wird nicht verleugnet, aber die Zukunft ist offen und der Bezug zu vergangenen guten Erfahrungen in der Bewältigung ist ebenfalls vorhanden. Menschen mit wenig Selbstvertrauen und einer negativen Lebenseinstellung fühlen sich dagegen schnell persönlich benachteiligt und gekränkt nach dem Muster: »Da sieht man es mal wieder, natürlich trifft es mich wieder. Das Leben ist einfach ungerecht!« Sie generalisieren leicht ihre Miss­erfolgserlebnisse und erwarten eher Negatives als Positives.

Selbstakzeptanz, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl

Selbstbewusstsein und Selbstakzeptanz bedeuten, sich seiner Ich-Identität bewusst zu sein, sich mit seinen Stärken und Schwächen wahrzunehmen und anzunehmen. Dies zeigt sich darin, wie ­jemand mit eigenen Fehlern sowie mit Fremd- und Selbstkritik umgeht. Selbstbewusstsein lässt sich auf die einfache Grundformel bringen: »Ich bin okay« – als ein Mensch im Werden, in einer lebenslangen Entwicklung, auf dem Weg der Individuation.

Manche Menschen kennen an sich ein hohes Maß an Selbstablehnung und Selbstverurteilung. Die Gründe dafür sind in der Lebensgeschichte zu finden: Schon dem Kind wurde nicht ermöglicht, ein Gefühl für seinen Wert zu entwickeln; es fehlte ein hinreichendes Maß an liebevoller Fürsorge, sicherer Bindung und Bestätigung. Selbstablehnung bedeutet eine schmerzhafte innere Verletzung und richtet eine innere Barriere gegen heilsame Resi­lienz auf.

In sehr ausgeprägten und lebenseinschränkenden Formen ist eine Psychotherapie notwendig, um sich selbst besser akzeptieren zu lernen, Verzerrungen im Selbstbild zu korrigieren, einen anderen Umgang mit sich selbst einzuüben und Zugang zu eigenen heilsamen inneren Kräften zu finden.

Bei den menschlichen Grundbedürfnissen geht es neben den körperlichen Bedürfnissen auch um die emotionalen Bedürfnisse nach Achtung, Anerkennung und Wertschätzung. Wir alle haben den Wunsch, geliebt zu werden und unsere Liebesfähigkeit zu verwirklichen. Wir brauchen Nähe und Zugehörigkeit zu anderen Menschen und gedeihen lebenslang am besten in sozialer Verbundenheit mit anderen.

Selbstakzeptanz kommt zum Ausdruck in einem liebevollen, achtsamen Umgang mit sich selbst. Dazu gehört das Beachten der Grundbedürfnisse, vor allem auch der Bedürfnisse des Körpers nach sinnvollen Lebensrhythmen, nach guter Ernährung, nach Sicherheit, nach Aktivität und Bewegung ebenso wie nach Ruhe und Entspannung. Wesentlich ist auch das Beachten der geistigen Bedürfnisse nach Lernen, Information und geistigen Anregungen, nach altersgemäßer Entwicklung, nach Werten und Orientierung im moralisch-ethischen Bereich. EbensEso wollen Bedürfnisse nach Sinn und Spiritualität wahrgenommen und gelebt werden.

Sehr hilfreich zur Entwicklung von Selbstakzeptanz finde ich einen Text der amerikanischen Familientherapeutin Virginia Satir:

Alles, was zu mir gehört

Ich bin ich selbst. Es gibt auf der ganzen Welt keinen Menschen, der mir vollkommen gleich ist. Deshalb ist alles, was von mir kommt, ganz und gar mein – ich habe es gewählt.

Alles, was ein Teil meines Selbst ist, gehört mir: mein Körper und alles, was ich damit tue, mein Geist und meine Seele mit allen dazugehörigen Gedanken und Ideen, meine Augen und alle Bilder, die sie aufnehmen, meine Gefühle, gleich welcher Art – Ärger, Freude, Liebe, Frustration, Enttäuschung und Erregung […].

Mir gehören meine Phantasien, meine Träume, meine Hoffnungen und meine Ängste. Mir gehören alle meine Erfolge, all mein Versagen und all meine Fehler.

Weil alles, was zu mir gehört, mein ist, kann ich mit allem zutiefst vertraut werden. Ich kann lernen, mich selbst anzunehmen, und kann mit allem, was mir gehört, freundlich umgehen. So kann ich es möglich machen, daß alle Teile meines Selbst zu meinem Besten zusammenarbeiten.

Ich weiß, daß es manches an mir gibt, was mich verwirrt, und manches, was mir gar nicht bewußt ist. Aber solange ich liebevoll und freundlich mit mir umgehe, kann ich mutig und voll Hoffnung darangehen, Wege durch diese Wirrnis zu finden und Neues an mir zu entdecken.9