Stolen Time - Zwischen den Welten - Danielle Rollins - E-Book
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Stolen Time - Zwischen den Welten E-Book

Danielle Rollins

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Beschreibung

Sie kommt aus dem Jahr 1913. Er aus dem Jahr 2077. Gemeinsam können sie die Zukunft retten – oder zerstören!

Seattle, 1913: Auf der Flucht vor einer arrangierten Ehe läuft die 16-jährige Dorothy dem Piloten Ash in die Arme und schleicht sich kurzerhand an Bord seines Flugzeuges. Was Dorothy nicht weiß: Ash ist ein Zeitreisender aus dem Jahr 2077 und kommt aus einer Zukunft, die durch Erdbeben und Flutkatastrophen vollkommen zerstört wurde. Eine kleine Gruppe von Zeitreisenden stellt sich dem Verfall entgegen und versucht, die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Doch dafür müssen sie den Mann finden, der das Geheimnis des Zeitreisens gelüftet hat und nun verschwunden ist. Keiner ahnt, dass Dorothys Ankunft der Schlüssel zur Lösung aller Probleme sein könnte – oder der Anfang vom Ende.

Der atemberaubende Auftakt zu einer packenden Zeitreise-Trilogie mit jeder Menge Romantik!

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Seitenzahl: 474

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DANIELLE ROLLINS

Aus dem amerikanischen Englisch von Charlotte Lungstrass-Kapfer

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© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München,

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2019 by Danielle Rollins

Copyright © 2021 by Sophie Gonzales

Published by arrangement with HarperCollins Children’s Books,

a division of HarperCollins Publishers.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Stolen Time«

bei HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Aus dem amerikanischen Englisch von Charlotte Lungstrass-Kapfer

Covergestaltung: © Carolin Liepins, München, unter Verwendung mehrerer Bilder von © Shutterstock.com (Artlusy, OLaLa Merkel, Miune, diversepixel, anna42f)

sh • Herstellung: UK

Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-641-29604-9V002

www.cbj-verlag.de

Für alle Wissenschaftler in meinem Leben, vor allem aber für Bill Rollins, Thomas van de Castle und Ron Williams – ihnen ist zu verdanken, dass es so aussieht, als wüsste ich, wovon ich spreche.

Teil Eins

Hochgeschwindigkeitsraumfahrt oder Zeitreisen können nach heutigem Verständnis nicht ausgeschlossen werden. Sie würden allerdings große logische Probleme mit sich bringen, also bleibt zu hoffen, dass es ein Gesetz zum Schutz der Chronologie geben wird, damit niemand in die Vergangenheit reisen und unsere Eltern umbringen kann.

Stephen Hawking

1

Dorothy

7. Juni 1913, bei Seattle

Der Kamm funkelte im Licht des späten Morgens. Er war exquisit: Schildpattgriff mit Perlmuttverzierungen und Zinken, deren heller Glanz auf echtes Gold schließen ließ. Ein wesentlich edleres Stück als der billige Modeschmuck, der sonst so auf dem Tisch der Coiffeurin herumlag.

Dorothy gab vor, einen losen Faden an ihrem Ärmel zu mustern, damit es nicht so aussah, als würde sie starren. Wenn sie den richtigen Käufer dafür fand, konnte sie bestimmt fünfzig für das Ding kriegen.

Ungeduldig rutschte sie auf ihrem Stuhl herum. Falls sie überhaupt noch Zeit hatte, nach dem richtigen Käufer zu suchen. Es war schon nach neun. Heute schien die Uhr nicht auf ihrer Seite zu sein.

Ihr Blick wanderte von dem Kamm zu dem Ganzkörperspiegel, der vor ihr an der Wand lehnte. Durch das Fenster der Kapelle fielen einzelne Sonnenstrahlen auf das Glas und tauchten den Umkleideraum in strahlendes, von Staubflocken umspieltes Licht. Seidenkleider und zarte Bänder flatterten an ihren Bügeln. Leises Donnergrollen drang aus der Ferne heran, was merkwürdig war; in diesem Teil des Landes gab es nur äußerst selten mal einen Sturm.

Was zu den Dingen gehörte, die Dorothy an der Westküste am meisten verabscheute. Hier war es immer grau, doch es gab keine Gewitter.

Die Coiffeurin zögerte, als sie Dorothys Blick im Spiegel einfing. »Wie gefällt es Ihnen, Miss?«

Dorothy drehte prüfend den Kopf hin und her. Ihre braunen Locken waren in einen eleganten, tief angesetzten Dutt gezwungen worden. Zahm sah sie jetzt aus. Was vermutlich der ganze Sinn der Aktion gewesen war.

»Reizend«, log sie. Das Lächeln der alten Frau ließ ihr halbes Gesicht in Falten und Furchen verschwinden. Dorothy hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich so über das Kompliment freuen würde. Prompt bekam sie ein schlechtes Gewissen.

Schnell täuschte sie ein Hüsteln vor. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir ein Glas Wasser zu holen?«

»Ganz und gar nicht, meine Liebe, ganz und gar nicht.« Die Coiffeurin legte die Bürste weg und schlurfte ans andere Ende des Raums, wo auf einem kleinen Tisch eine gefüllte Kristallkaraffe stand.

Sobald die Frau ihr den Rücken zugewandt hatte, schob sich Dorothy den goldenen Kamm in den Ärmel. Das Ganze geschah so schnell und mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass ein Zuschauer wohl nur den Schimmer der feinen Perlenknöpfe am Spitzensaum ihres Ärmels wahrgenommen hätte, sonst nichts.

Mit einem verstohlenen Lächeln ließ Dorothy den Arm sinken. Die Schuldgefühle waren vergessen. Natürlich gehörte es sich nicht, so stolz auf sich selbst zu sein, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie hatte den Trick perfekt ausgeführt. Was zu erwarten gewesen war, schließlich hatte sie ihn wieder und wieder geübt.

Eine Bodendiele knarrte hinter ihr und eine Stimme fragte: »Könnten Sie uns bitte einen Moment allein lassen, Marie?«

Mit einem Schlag wich das Lächeln aus Dorothys Gesicht, und ihre Muskeln verkrampften, als wären sie mit sich langsam drehenden Stellschrauben verbunden. Die Coiffeurin – Marie – zuckte so heftig zusammen, dass ein wenig Wasser aus dem Glas in ihrer Hand schwappte.

»Oh, Miss Loretta! Verzeihung, ich habe gar nicht gemerkt, dass Sie hereingekommen sind.« Mit einem Lächeln und einem Nicken begrüßte Marie die zierliche, makellos gekleidete Frau, die unbemerkt den Raum betreten hatte. Dorothy biss so krampfhaft die Zähne zusammen, dass ihr Kiefer schmerzte. Der Kamm in ihrem Ärmel schien plötzlich doppelt so groß zu werden.

Loretta trug ein schwarzes, mit feinster goldener Spitze überzogenes Kleid. Es war hoch geschlossen und hatte lange Ärmel; das alles erinnerte an eine äußerst elegante Spinne. Eigentlich war das Kleid eher für eine Beerdigung geeignet, weniger für eine Hochzeit.

Obwohl Loretta höflich lächelte, schien sich die Atmosphäre um sie herum zu verdichten, als wäre sie von einem ganz eigenen Kraftfeld umgeben. Marie stellte das Wasserglas ab und flüchtete in den Flur. Bestimmt war sie zu Tode erschrocken. Die meisten Menschen fürchteten Dorothys Mutter.

Möglichst unauffällig musterte Dorothy die verkrüppelte Hand ihrer Mutter. Sie war viel zu klein geraten, und die verkümmerten, scheinbar nutzlosen Finger krümmten sich wie Klauen. Noch dazu ließ Loretta ihre Nägel stets so lang wachsen, dass die Spitzen sich gelb verfärbten. Fast schien es so, als wollte sie den optischen Eindruck des Verfalls noch verstärken. Als wollte sie, dass die Menschen sich schaudernd von ihrer Missbildung abwandten. Selbst Dorothy tat sich schwer mit dem Anblick dieser kleinen, hässlichen Hand und Loretta war ihre Mutter. Eigentlich sollte sie sich inzwischen an den Anblick gewöhnt haben.

Dorothy legte den Kopf schief und schloss die Augen. Unter all der Spitze und den Rüschen breitete sich Gänsehaut auf ihrem Körper aus; die Nerven. Sie schenkte dem keine Beachtung und setzte ein züchtiges Lächeln auf. Während ihrer sechzehn Jahre auf dieser Welt hatte sie viel Übung darin erlangt, ihre Gefühle zu ignorieren. Eigentlich hatte sie schon beinahe vergessen, wozu sie überhaupt gut waren.

Schönheit wirkt entwaffnend, dachte sie. Das war die erste Lektion ihrer Mutter gewesen. Seit ihrem neunten Lebensjahr war an ihr herumgezerrt und – gezupft worden, war ihr Mieder enger geschnürt, waren ihre Wangen gekniffen worden, bis sie zart gerötet waren.

»Mutter«, hauchte sie nun und tätschelte vorsichtig ihre Frisur. »Sehen meine Haare nicht einfach göttlich aus?«

Unter Lorettas kühlem Blick geriet Dorothys Lächeln ins Wanken. Es war dumm, diese Tricks bei ihrer Mutter anwenden zu wollen, aber im Moment hätte sie alles getan, um einem Streit aus dem Weg zu gehen. Der heutige Tag würde auch so schon schwierig genug werden.

»Sagtest du nicht, du hättest Durst?« Loretta griff mit der gesunden Hand nach dem Wasserglas. Die verkümmerten Finger zitterten leicht. Ein Fremder hätte geglaubt, ihr ginge die Kraft aus. Hätte Hilfe angeboten.

Dorothy wusste es besser. Ohne zu zögern, griff sie nach dem Glas, richtete sich verkrampft auf. Obwohl sie damit gerechnet hatte, spürte sie nicht das Geringste, als die Vogelklauenfinger der verkümmerten Hand ihrer Mutter in ihren Ärmel glitten und den teuren Kamm aus seinem Versteck fischten.

Diese Hand war Lorettas Geheimwaffe: so grotesk, dass die Menschen ihren Anblick kaum aushielten, dabei aber auch so klein und schnell, dass niemand sie bemerkte, wenn sie in Jacketts oder Handtaschen glitt. Was der zweiten Lektion entsprach, die Loretta ihre Tochter gelehrt hatte: Schwäche kann Macht in sich tragen. Die Menschen unterschätzten oft das, was versehrt war.

Loretta warf den Kamm zurück auf den Tisch und zog eine ihrer schmalen Augenbrauen hoch. Gleichzeitig setzte Dorothy eine schockierte Miene auf.

»Wie ist der denn dahin geraten?«, fragte sie verblüfft und nippte an ihrem Wasser.

»Soll ich dich vollständig durchsuchen, um sicherzugehen, dass nicht noch etwas anderes in dein Kleid gekrochen ist?«

Der ausdruckslose Ton ihrer Mutter jagte Dorothy einen kalten Schauer über den Rücken. Sie hatte einen Satz äußerst teurer Dietriche unter dem seidenen Gürtel an ihrer Taille versteckt, im letzten Moment aus der Unterwäscheschublade ihrer Mutter gestohlen, bevor sie zur Kirche aufgebrochen waren. Auf den Kamm konnte sie verzichten, aber diese Dietriche brauchte Dorothy wirklich.

Zum Glück beließ Loretta es bei der leeren Drohung und nahm stattdessen Dorothys Schleier von dem Ständer neben dem Spiegel. Er war lang, hauchzart und mit winzigen Seidenröschen besetzt. Dorothy tat schon den ganzen Morgen angestrengt so, als wäre er nicht da.

»Was denkst du dir nur dabei?«, fuhr Loretta in dem bemüht leisen Tonfall fort, der immer nur dann auftauchte, wenn sie ernsthaft wütend war. »Du wirst in ein paar Minuten heiraten, und dir fällt nichts Besseres ein, als so ein Ding mitgehen zu lassen? Aufstehen.«

Dorothy stand auf. Der Rock ihres Kleides schmiegte sich elegant um ihre Knöchel. Noch hatte sie ihre Schuhe nicht angezogen, weshalb sie sich ein bisschen vorkam wie ein kleines Mädchen, das im Brautkleid seiner Mutter Verkleiden spielte. Ein dummer Gedanke. Ihre Mutter hatte sie niemals spielen lassen.

»Und was hättest du gemacht, wenn dich jemand erwischt hätte?« Loretta legte ihrer Tochter den Schleier über den Kopf und steckte ihn mit heftigen Bewegungen fest.

»Mich hat aber niemand erwischt«, entgegnete Dorothy. Die Haarnadeln bohrten sich schmerzhaft in ihre Kopfhaut, doch sie zuckte nicht einmal. »Ich werde nie erwischt.«

»Ich habe dich erwischt.«

Um sich jeden weiteren Protest zu verkneifen, presste Dorothy die Lippen zusammen. Es war absolut unmöglich, dass ihre Mutter gesehen hatte, wie sie den Kamm nahm. Vermutlich hatte es sie erraten, aber gesehen ganz bestimmt nicht.

»Du setzt alles aufs Spiel, wofür wir gearbeitet haben. Und das nur für albernen Tand.« Loretta zog den Seidengürtel an Dorothys Taille zurecht. Diese spürte, wie sich das Bündel mit den Dietrichen leicht verschob.

Mit diesem »Tand« hätte sie die Zugfahrkarte bezahlen können, die sie hier rausgebracht hätte. Dann wäre sie bereits meilenweit von diesem schrecklichen Ort entfernt gewesen, noch bevor die Zeremonie überhaupt begann.

Dorothy schluckte schwer und schob die Enttäuschung beiseite. Es gab noch mehr Tand. Mehr Gelegenheiten.

»Das Ding ist schrecklich«, murmelte sie und zupfte an einem der Seidenröschen an ihrem Schleier. »Warum wollen die Leute unbedingt in so etwas heiraten?«

»Dieser Schleier hat einmal Charles’ Mutter gehört.« Loretta schob eine weitere Nadel in die Frisur ihrer Tochter, um ihn richtig festzustecken. Gemeint war Dr. Charles Avery. Dorothys Verlobter. Allein von dem Wort wurde ihr schon schlecht. Mädchen wie sie waren nicht dazu bestimmt, zu heiraten.

Dorothy und ihre Mutter waren Hochstaplerinnen. Vor einem Jahr um diese Zeit hatten sie die Hochzeitsnummer am Laufen gehabt. Leicht verdientes Geld. Loretta gab einfach eine Anzeige in einer Lokalzeitung auf und behauptete, eine einsame junge Frau zu sein, die gerne mit einem alleinstehenden Mann korrespondieren wolle, spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Wenn die ersten Anfragen eintrafen, schickten sie dem armen Teufel einfach ein Foto von Dorothy, und schon zappelte er am Haken.

Ein paar Monate lang wurden die Briefe immer schwülstiger und leidenschaftlicher, und nach den ersten Liebesschwüren holten sie die Angel dann ein, baten um Geld für Hustenmedizin oder Arztkosten wegen eines verstauchten Knöchels. Bald war es der Scheck für die Miete oder ein paar Scheine für die Zugfahrkarte, damit man sich endlich besuchen konnte.

Diese Nummer zogen sie immer mit mehreren Männern gleichzeitig ab, sorgten aber stets dafür, sie alle abzuwürgen, bevor sie misstrauisch werden konnten. Dann bekamen sie die ersten Briefe von Avery und alles änderte sich.

Avery war reich, der frisch ernannte Chefchirurg des Providence Medical Center in Seattle. Und er machte ihr einen Antrag, sobald er Dorothys Foto gesehen hatte. Vermutlich wollte er ein Trophäenweibchen haben, das zu seinem neuen Titel passte. Loretta behauptete, das würde der größte Schwindel werden, den sie je durchgezogen hatten. Eine Hochzeit. Eine Ehe. Das würde ihr gesamtes Leben verändern, sagte sie. Dass sie nun alles haben könnten, was sie sich je erträumt hatten.

Dorothy drehte den Verlobungsring an ihrem Finger. Ihr Leben lang hatte sie die Kunst des Betruges erlernt. Und die ging weit über ein Lächeln im Spiegel und ein zartes Kopfnicken hinaus. Sie hatte ihre Fingerfertigkeit trainiert, bis sie Krämpfe in den Händen bekam, hatte sich beigebracht, mit allem, was sich finden ließ, und ein paar Bewegungen aus dem Handgelenk nahezu jedes Schloss zu knacken. Sie konnte aus dem Zucken eines Mundwinkels auf eine Lüge schließen. Konnte einem Mann den Ehering vom Finger stehlen, während der ihr einen neuen Drink einschenkte. Und nun sollte sie an jemanden verscherbelt werden, der ihr für den Rest ihrer Tage vorschreiben würde, was sie zu tun und wohin sie zu gehen hatte. Genau wie ihre Mutter es immer getan hatte. Es kam ihr beinahe so vor, als hätten sich die beiden miteinander verschworen, um sicherzustellen, dass Dorothy niemals auch nur eine Entscheidung allein treffen würde.

»Du siehst bezaubernd aus«, stellte Loretta fest, nachdem sie Dorothy durchdringend gemustert hatte. Sie rückte den Schleier so zurecht, dass die Seidenröschen das Gesicht ihrer Tochter schmeichelhaft umrahmten. »Die perfekte Braut.«

Dorothy richtete sich steif auf. Prompt verrutschten die Dietriche und bohrten sich durch die Rückseite ihres Kleides. Sie wollte keine Braut sein, ganz egal wie perfekt sie aussah. Wenn ihre Mutter tatsächlich glaubte, dass sie die Sache durchzog, war sie eine Närrin.

»Etwas fehlt noch.« Loretta holte etwas aus ihrer Tasche. Der kleine Gegenstand schimmerte golden im gedämpften Licht.

»Großmutters Medaillon«, sagte Dorothy leise, während Loretta ihr die filigrane Halskette umlegte. Für einen Moment traten die Fluchtgedanken in den Hintergrund. Dieses Medaillon war sozusagen heilig – wie ein Schatz aus einem Märchen. Loretta hatte es ihrer eigenen Mutter vom Hals genommen, kurz bevor die grausame Frau sie vor die Tür gesetzt und dazu verdammt hatte, sich schwanger und ohne einen Penny in der Tasche auf der Straße durchzuschlagen. Und egal wie groß der Hunger auch geworden war, dieses Stück hatte Loretta niemals versetzt.

Vorsichtig strich Dorothy mit den Fingerspitzen über das Medaillon. Das helle Gold war sehr alt. Früher war einmal ein Bild darauf eingraviert gewesen, aber das hatte sich schon lange abgenutzt. »Warum gibst du es mir gerade jetzt?«

»Damit du niemals vergisst.« Loretta drückte die Schultern ihrer Tochter. Ihre dunklen Augen wurden schmal.

Dorothy musste nicht nachfragen, was sie nicht vergessen durfte. Das Medaillon selbst erzählte die ganze Geschichte: Wie grausam Mütter manchmal sein konnten. Dass man sich auf die Liebe nicht verlassen konnte. Dass ein Mädchen nur auf das bauen durfte, was es selbst stehlen konnte.

Aber vielleicht stimmt das ja gar nicht, flüsterte eine leise Stimme in ihr. Vielleicht gibt es da draußen noch mehr als das.

Ihre Finger ruhten auf dem kühlen Metall. Bis heute hatte sie keinen Namen für dieses drängende Gefühl gefunden, aber es nagte immer wieder an ihr und hinterließ eine merkwürdige Leere in ihrem Inneren. Dabei wusste sie nicht einmal, was genau sie eigentlich wollte. Nur, dass es eben mehr geben musste.

Mehr als nur Männer, Kleider und Geld. Mehr als das Leben, das ihre Mutter führte. Mehr als das hier.

Es war geradezu albern. Ein beschämender Wunsch. Für wen hielt sie sich eigentlich, dass sie mehr wollte als das?

»Es ist beinahe so weit.« Wieder rückte Loretta Dorothys Gürtel zurecht, band die Enden zu einer Schleife. »Ich sollte auf meinen Platz gehen.«

Plötzlich wurden Dorothys Hände feucht. »Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bin ich eine verheiratete Frau«, sagte sie, von dem brennenden Wunsch beseelt, dass es nicht so kommen möge.

Ohne ein weiteres Wort trat Loretta auf den Gang hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Als das Schloss einrastete, zuckte Dorothy heftig zusammen. Eine ganze Weile blieb sie reglos stehen.

Sie hatte damit gerechnet, dass ihre Mutter sie einsperren würde. Loretta Densmore ging niemals unnötige Risiken ein, vor allem nicht, wenn es um ihre kostbaren Besitztümer ging. Es war also nur logisch, dass sie ihre Tochter – den wertvollsten Besitz von allen – sicher verwahrte, bis der Rest der Hochzeitsgesellschaft eintraf und sie holte. Loretta war eine pragmatische Frau. Etwas so Entscheidendes würde sie niemals dem Zufall überlassen.

Schließlich tastete Dorothy nach den Dietrichen unter dem Seidengürtel, fand aber nur glatten Stoff und Spitze, dann die harten Kanten der Corsage.

»Nein.« Immer hektischer fummelte sie unter dem Stoffband herum. Nein, nein, nein. Ihre Fingernägel gruben sich in die Spitze, bis sie etwas reißen hörte. Sie mussten da sein. Gedanklich ging sie noch einmal die letzten Momente mit ihrer Mutter durch: Wie Loretta ihr über den Spiegel zugelächelt hatte. Wie sie den Gürtel an Dorothys Kleid gerichtet hatte.

Dorothys Finger erstarrten. Offenbar hatte ihre Mutter ihre schreckliche kleine Hand unter den Gürtel geschoben und damit ihren Fluchtplan gestohlen. Dorothy atmete tief ein, doch die Luft schien wie ein Dolch zwischen ihre Rippen zu fahren. Sie würde nirgendwo hingehen.

Sie musterte ihr Gesicht im Spiegel, die geschminkten Augen, bemalten Lippen, festgesteckten Locken. Ihr Kleid war maßgeschneidert, die spinnwebfeine Spitze handgeklöppelt, besetzt mit Süßwasserperlen, die bei jeder Bewegung schimmerten. Ihr Leben lang hatte sie gelernt, wie man die Wahrheit verdrehte, eine Lüge lebte. Doch ihre Schönheit war die größte Lüge von allen. Sie hatte nie darum gebeten, hatte sie nie gewollt. Sie hatte nichts mit der Person zu tun, die Dorothy gerne sein wollte. Und bislang hatte sie ihr nichts als Schmerz eingebracht.

Angewidert verzog Dorothy den Mund, verlieh ihrem Gesicht einen Hauch von Hässlichkeit. Sie riss sich den Schleier vom Kopf. Die Haarnadeln verfingen sich in ihren Locken, einige fielen klappernd zu Boden. Zerzaust und vollkommen ruiniert fielen ihr die Haare in die Stirn.

Das zauberte ein Lächeln auf Dorothys Gesicht. Zum ersten Mal an diesem Morgen schien ihr Äußeres zu ihrem Inneren zu passen. Dann fiel ihr Blick auf die verstreuten Haarnadeln und sie erstarrte.

Haarnadeln.

Schnell ließ sie sich auf die Knie fallen, hob eine Nadel auf und hielt sie ins Licht: lang, dünn und spitz. Prüfend bog sie das feine Metall zwischen ihren Fingern. Robust. Vermutlich echtes Silber.

Ihre Lippen zuckten. Ja, sie waren mehr als geeignet.

2

Ash

14. Oktober 2077, New Seattle

Landeklappen hoch. Vergaser eingestellt. Drosselklappe komplett geöffnet.

Ash klopfte gegen die EM-Anzeige, und die Nadel drehte sich einige Male im Kreis, bevor sie sich schließlich auf halber Füllung einpendelte.

»Verdammt.« Grummelnd ließ er sich wieder auf den Pilotensitz fallen. Seine Nerven spannten sich noch ein wenig mehr an. Ein halb gefüllter Tank bedeutete, dass nicht mehr genügend EM – Exotische Materie – da war, um einen sicheren Flug zu garantieren. Die Maschine, in der er saß, könnte explodieren, sobald er mit ihr in der Luft war. Er drehte den Fahrtmesser weiter hoch, bis er bei fünfundsiebzig Knoten war; das nervöse Kribbeln in seinen Händen ignorierte er einfach.

Man hatte ihn schon mehr als einmal als Dickkopf bezeichnet. In der Navy hatte sein befehlshabender Offizier es einmal so ausgedrückt: Jungchen, gegen dich ist ein Esel der reinste Scheißdreck. Und der Lehrer in der Sonntagsschule hatte ihn darauf hingewiesen, dass Hartnäckigkeit nicht immer eine Tugend sei.

Aber Zora, die ihn besser kannte als jeder andere, hatte es auf den Punkt gebracht: Willst du immer noch nicht aufgeben? Du wirst dich noch umbringen. Und von da an hatte sie immer irgendetwas vor sich hin gemurmelt, wenn sie an ihm vorbeiging: gefährlich; Idiot; Himmelfahrtskommando.

Nein, es war kein Himmelfahrtskommando. Ash hatte bereits gesehen, wie er sterben würde, und das würde anders ablaufen. Aber mit dem Rest könnte Zora recht haben. Diese Ausflüge waren zu gefährlich, und da er sie trotzdem wagte, war Ash vermutlich wirklich ein Idiot. Aber die Alternative war noch schlimmer. Vor seinem inneren Auge erschien schwarzes Wasser, weißes Haar. Energisch schüttelte er den Kopf.

Das war eine der beunruhigenden Nebenwirkungen, seit er wusste, wie (und ungefähr wann) er sterben würde. Die Visionen davon ließen ihn einfach nicht los.

Außerdem konnte man sich nun wirklich durch Schlimmeres hervortun als durch seine Sturheit. Er könnte als Verräter bekannt sein, wie Roman. Oder wegen Bösartigkeit, wie Quinn. Wenn er es sich aussuchen konnte, würde er immer die lebensgefährdende Dummheit vorziehen.

»Second Star auf Startposition.« Er sagte es laut; eine alte Angewohnheit aus seiner Fliegerausbildung, damals im Zweiten Weltkrieg. Zwar war hier niemand, der ihn hätte hören können, aber es fühlte sich irgendwie falsch an, den Startvorgang einzuleiten, ohne ihn anzukündigen. Als würde er das Schicksal dadurch noch stärker herausfordern, als er es sowieso schon tat. Ash erhöhte die Schubkraft und blickte durch die Frontscheibe nach draußen. Sein Herz raste. Die Maschine begann zu schweben.

»Ganz ruhig, Süße«, murmelte er in dem zarten Singsang, den die meisten Menschen bei Hundewelpen und Kätzchen anwendeten. Zwischen seinen Fingern und dem Hebel sammelte sich Schweiß. Schnell wischte er die Hände an seiner Jeans ab und hielt sich vor Augen, dass er schon Hunderte Starts geschafft hatte, die schlimmer waren als dieser hier. Vielleicht sogar Tausende.

Du wirst heute nicht sterben, dachte er. Du könntest verstümmelt werden. Blind. Deine Arme und Beine könnten abgerissen werden. Aber du wirst nicht sterben. Komischerweise war dieser Gedanke nicht ganz so beruhigend, wie er gehofft hatte.

Ash bekreuzigte sich, ebenfalls eine alte Angewohnheit. Diese stammte allerdings von den unzähligen Sonntagen, an denen er die Sacred-Heart-Kirche in seiner verschlafenen Heimatstadt im Mittleren Westen besucht hatte. Wieder packte er den Gashebel. Die Luft wurde durch dicken Rauch getrübt, als seine Zeitmaschine in den Himmel hinaufschoss.

3

Dorothy

7. Juni 1913, bei Seattle

Die Haarnadeln hatten tadellos funktioniert, sogar besser als richtige Dietriche. Nun war Dorothys handbesticktes Kleid mit Kletten übersät und zäher Matsch quoll zwischen ihren Zehen hervor. Die quälend drückenden Absatzschuhe trug sie in der Hand, bezweifelte aber, dass sie verzweifelt genug sein würde, um sie noch mal anzuziehen. Da war ihr das nass-klebrige Gefühl des Schlamms an den Füßen wesentlich lieber. Außerdem war es nur eine Meile bis zum Bahnhof.

Während sie lief, feilte sie an ihrer Mitleidsmasche. Bitte, Sir, ich sollte heute heiraten, aber auf dem Weg zur Kirche wurde ich entführt, ich konnte nur mit knapper Not entkommen. Könnten Sie mir vielleicht mit einer Fahrkarte aushelfen?

Oder war das zu melodramatisch?

Donner grollte, zwischen den Wolken zuckten Blitze.

Dorothy sah zum Himmel hinauf. Stürme und Gewitter hatte sie schon immer geliebt. Als sie noch klein gewesen war, hatten ihre Mutter und sie ein paar Monate in Nebraska gelebt, und dort gab es wahrhaft monströse Unwetter. Dorothy hatte sich immer ins Gras gelegt, in die Wolken hinaufgesehen und die Sekunden zwischen dem grellen Blitz und dem Donnerschlag gezählt, um herauszufinden, wie lange es noch dauern würde, bis der Sturm sie erreichte.

Aber dieses Unwetter war irgendwie anders. Direkt vor ihr hingen schwarze, wogende Wolken am Himmel, doch wenn sie zur Seite blickte, lag der kleine Hain jenseits des Kirchhofes in hellem Sonnenlicht, und ein endloser blauer Himmel spannte sich darüber. Dieser Sturm – oder was es auch war – schien sich nur auf das Gebiet des Waldes zu beschränken und ließ alles andere unberührt.

Wieder zuckte ein Blitz durch die Wolken, dann zeichnete sich plötzlich etwas Schlankes, metallisch Glänzendes vor dem schwarzen Hintergrund ab.

Dorothys Herz setzte einen Schlag aus. Konnte das etwa ein … Flugzeug sein?

Staunend sah sie zu, wie das metallische Objekt durch die Wolken schoss. Bis jetzt hatte sie noch nie ein echtes Flugzeug gesehen, nur Zeichnungen davon, und das waren kleine, unbeholfen wirkende Gebilde gewesen, mit großen Propellern und Flügeln, die so schwächlich wirkten, als könnte sie schon ein heftiger Windstoß zerbrechen.

Dieses hier war anders – groß, schlank, ohne Flügelbespannung oder Propeller. Stattdessen hingen zwei riesige, runde Röhren hinten an dem Gefährt, aus denen brüllendes rotes Feuer zu schießen schien, das sich grell von dem Grau und Schwarz ringsum abhob. Als sich die Nase des Flugzeugs Richtung Boden neigte, wich Dorothy erschrocken einen Schritt zurück.

Es würde abstürzen.

Das seltsame Flugobjekt raste auf die Erde zu und verschwand dann hinter den Bäumen. Sekunden später stieg über den dichten Kronen Rauch auf, nur einige Meter von der Stelle entfernt, an der Dorothy stehen geblieben war.

Ihr blieb die Luft weg. Dann lief sie wie in Trance zwischen den Bäumen hindurch, ohne sich um die spitzen Zweige zu kümmern, die sich in ihre nackten Fußsohlen bohrten. Der Rauch roch seltsam, nicht erdig und vertraut wie der eines Lagerfeuers. Nein, dieser Geruch war irgendwie scharf und beißend. Er brannte in Dorothys Nase und schien die Luft völlig auszutrocknen und aufzuheizen, so als würde sie gleich in Flammen aufgehen.

Ein derber Fluch drang zwischen den Bäumen hindurch zu ihr heran.

Der Klang der fremden Stimme hatte dieselbe Wirkung wie ein Fingerschnippen: Er riss Dorothy aus ihrer Trance. Abrupt blieb sie stehen, plötzlich von Angst gepackt. Was machte sie hier eigentlich? Sie musste doch zum Bahnhof. Die Straße war nur wenige Meter entfernt und von dort war es nicht mehr weit bis zum Zug.

Sie wollte sich schon abwenden, als sie zwischen den Bäumen Metall funkeln sah.

Verdammt noch mal, dachte sie. So schnell bekam sie bestimmt nicht wieder die Gelegenheit, sich ein echtes Flugzeug anzuschauen. Nur ein kurzer Blick, um herauszufinden, wie es aussah. Vorsichtig schob sie sich durch das Unterholz bis auf die Lichtung, auf der das Flugzeug niedergegangen war.

Gerade kletterte ein Mann aus dem Cockpit. Er wirkte frustriert. Anscheinend war er tief in Gedanken versunken, als er sich über sein Flugzeug beugte, denn er bemerkte sie nicht.

Dorothy hielt sich versteckt, musterte aber seine muskulösen Arme, das blonde Haar, das ihm in die Stirn fiel, und die leicht gerötete Haut in seinem Nacken. Einen Herzschlag später hatte sie sich noch immer nicht vom Fleck gerührt. Dieser Mann sah so ganz anders aus als alles, was sie gewöhnt war, so wild und zerzaust, als wäre er gerade aus einer anderen Welt hierhergeweht worden. Sicher, er sah gut aus, aber das war für Dorothy nicht von Belang. Sie war schon vielen gut aussehenden Männern begegnet, und normalerweise war dieses Merkmal auch schon das einzig Interessante an ihnen.

Aber dieser Pilot war … merkwürdig. Faszinierend. Seine rauen Hände wiesen darauf hin, dass er wohl viel mit ihnen arbeitete, die gerötete Haut verriet Dorothy, dass er oft in der Sonne war. Was er wohl für ein Leben führte, wenn er so viel Zeit im Freien verbrachte? Ihre Mutter hatte sie immer zu schmalen Gentleman-Typen mit schicken Klamotten dirigiert, Männern mit weichen Händen, die nie etwas Schwereres anhoben als den Stift, mit dem sie Schecks ausstellten. Bei dem Gedanken an Averys schwammige, stets feuchte Hände, die er so gerne auf ihre gelegt hatte, überlief Dorothy ein kalter Schauer. Nein, sie konnte dem Männergeschmack ihrer Mutter nicht viel abgewinnen.

Nun stieß der Pilot einen so lauten und deftigen Fluch aus, dass Dorothy automatisch zusammenzuckte. Sie schob die Erinnerungen beiseite und konzentrierte sich wieder auf das Flugzeug. Ihre Augen wurden groß. Es war riesig, mindestens doppelt so groß wie die Konstruktionen, die sie einmal in einem Buch gesehen hatte, und trotz der dicken Schmutzschicht war der Glanz der Aluminiumverkleidung noch gut zu erkennen. An der Seite konnte sie die Worte Second Star entziffern. Seine Schnauze lief vorne spitz zu und war mit einem Gesicht bemalt: ein breit grinsender Mund und schwarze, zusammengekniffene Augen.

Dieses Gesicht entlockte Dorothy ein Lächeln, und ihr Blick wanderte zurück zu dem Piloten. Hatte er das da draufgemalt? Ohne es wirklich zu wollen, trat sie aus ihrem Versteck. Der Pilot bemerkte sie und richtete sich so hastig auf, dass er sich den Kopf stieß.

»Herr im Himmel. Was machen Sie denn hier?«, fragte er und rieb sich dabei den Hinterkopf. Er war größer, als in der geduckten Haltung zu vermuten gewesen war, und seine Augen strahlten in einem warmen hellen Braun.

Wieder starrte Dorothy einfach nur. Eigentlich wollte sie ihn über sein Flugzeug ausfragen, über seine merkwürdige Kleidung und das aufgemalte Gesicht, doch stattdessen platzte sie heraus: »Ich … ich werde heiraten.«

Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, bereute sie auch schon, den Mund aufgemacht zu haben. Schließlich war sie einzig und allein deswegen weggelaufen, weil sie nicht heiraten wollte, und aus irgendeinem Grund wollte sie nicht, dass dieser Mann sie für eine glückliche Braut hielt. Trotzig reckte sie das Kinn, als der Pilot sie durchdringend musterte. Hoffentlich war sie nicht rot geworden.

»Sie werden heiraten?«, wiederholte er. Dorothy war es gewöhnt, von Männern angestarrt zu werden, kannte die gierigen Blicke, so als wäre sie nichts weiter als ein Besitz, kein denkendes Wesen mit eigenen Ansichten. Doch der Pilot betrachtete nur stirnrunzelnd ihr Hochzeitskleid, das nach dem Marsch durch den Wald ziemlich zerrissen und mit Schlamm verklebt war. »Heute?«

Ein wirklich merkwürdiges Gefühl – Dorothy war geschmeichelt, weil dieser Mann sie nicht so angesehen hatte. Merkwürdig, aber auf jeden Fall schmeichelhaft. Irgendwie schien sie nicht genügend Luft zu bekommen, denn ihre Stimme klang atemlos, als sie ihm viel zu hastig antwortete: »Ich meine, ich sollte heute heiraten, aber jetzt nicht mehr. Eigentlich war ich gerade auf dem Weg nach … weg. Wie Sie ja sehen können. Der … äh … der Bahnhof ist gleich dort hinten.«

Der Pilot blinzelte verwirrt. »Aha. Na ja, dann viel Glück.« Er nickte ihr zu, was fast aussah wie eine kleine Verbeugung oder ein Salut oder etwas ähnlich Nobles. Wäre er so ein Typ gewesen wie Avery, hätte Dorothy nun gekichert und mit den Wimpern geklimpert, aber er war nicht wie Avery, also ballte sie nur im Schutz ihrer langen Ärmel die Fäuste.

Wie redete man mit einem Mann, wenn man ihn nicht einwickeln wollte? Ihr wurde klar, dass sie keine Ahnung hatte.

Der Pilot hatte sich schon wieder über sein Flugzeug gebeugt und murmelte wütend vor sich hin.

Dorothy sah ihm einen Moment bei der Arbeit zu, dann fragte sie: »Gehört es Ihnen?«

»Ja.« Er schob ein Maschinenteil zurück an seinen Platz; seine Hände waren schwarz vom Öl. Anscheinend war er ziemlich gut im … was auch immer er da gerade machte. Es war wirklich beeindruckend. Avery konnte nicht einmal einen Cocktail mixen, ohne die Hälfte zu verschütten. Es grenzte an ein Wunder, dass man ihm gestattete, lebende Menschen aufzuschneiden.

»Ich habe noch nie ein echtes Flugzeug gesehen.« Dorothy spähte dem Piloten über die Schulter. »Fliegt es denn noch?«

»Natürlich fliegt es.« Der Pilot fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht und wirkte plötzlich erschöpft. »Hören Sie, Miss, ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber dieses Ding repariert sich nicht von selbst. Und, na ja, Sie sollten ja wohl eigentlich auch irgendwo anders sein, oder?«

Dorothy war klar, dass dies einem Rauswurf gleichkam – sozusagen –, aber sie brachte es einfach nicht über sich, jetzt zu gehen. Ihr waren Geschichten über Männer zu Ohren gekommen, die nach Alaska zogen, um nach Gold zu suchen. Ob er wohl auch von dort kam? Hatte er vielleicht versucht, mit seinem Flugzeug den Pazifik zu überqueren?

Noch während sie darüber nachgrübelte, begannen die Kirchenglocken zu läuten; wie eine bedrückende Warnung hallte ihr Klang durch das Wäldchen. Dorothy lief es kalt den Rücken herunter. Die Messe hatte begonnen.

Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe herum und blickte an dem Piloten vorbei in den Wald hinein. Hinter diesen Bäumen lag der Bahnhof. Dort könnte sie eine Brieftasche klauen, sich eine Fahrkarte kaufen und sich auf den Weg machen nach …

Ja, wohin eigentlich? In die nächste staubige Kleinstadt mitten im Nirgendwo? Noch am Morgen, als sie ihre Flucht geplant hatte, war ihr diese Vorstellung höchst verlockend erschienen, aber jetzt konnte sie nicht fassen, dass sie sich mit so wenig zufriedengegeben hätte. Ihr gesamtes Leben hatte sie in solchen Städten verbracht, und bisher war sie immer davon ausgegangen, dass sie auch in einer solchen sterben würde. Doch dieses Flugzeug kitzelte ehrgeizigere Träume in ihr wach.

Von einem Moment auf den anderen verstummten die Glocken. Während sich Stille ausbreitete, setzte Dorothy ein geübtes Lächeln auf.

»Eigentlich hatte ich gehofft, Sie könnten mir helfen«, sagte sie und neigte kokett den Kopf. »Offenbar habe ich mich verlaufen.«

»Tut mir leid, wenn ich Ihnen das sagen muss, Miss, aber für mich sieht es so aus, als hätten Sie sich mit Absicht verlaufen.« Die Ohren des Piloten verfärbten sich zart rosa. »Entschuldigung«, murmelte er und schüttelte den Kopf. »Das war unangemessen.«

Dorothy unterdrückte ein Grinsen. Diese roten Ohren waren irgendwie niedlich. Passten so gar nicht zu dem Bild des sturmerprobten Piloten. Bestimmt machte es eine Menge Spaß, ihn zu triezen, bis er so richtig errötete.

Sie starrte ihn einen Moment zu lange an, denn er hob noch einmal den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Fragend zog er die Brauen hoch.

Konzentriere dich, ermahnte sich Dorothy. Niedliche Ohren hin oder her, jetzt war keine Zeit für Spielchen. Sie musste dringend von hier weg.

»Bestimmt ist es schrecklich beängstigend, so ganz allein durch die Wolken zu fliegen«, fuhr sie fort und schauderte dramatisch, um möglichst klein und hilflos auszusehen. »Vielleicht sollten Sie sich Gesellschaft suchen.«

»Gesellschaft?« Er rieb sich mit zwei Fingern den Nasenrücken und hinterließ eine schmierige Ölspur. »Wozu sollte das gut sein?«

»Fühlen Sie sich denn nicht manchmal einsam?«, hauchte Dorothy in einem Tonfall, bei dem jeder andere Mann sofort begriffen hätte, dass sie mit ihm flirtete. Doch der Pilot blinzelte nur verwirrt.

»Einsam? Oben am Himmel?«

»Oder … auch woanders?«

Nun runzelte er die Stirn, als wäre der Begriff Einsamkeit etwas vollkommen Neues für ihn. »Ich schätze nicht, nein.«

»Ich verstehe.« Dorothy verzog den Mund. Das lief nicht gut. Interessiert spähte sie in das Innere des Flugzeuges. Auf dem Boden waren bunte Papierfetzen verstreut, und auf dem Sitz neben dem Pilotenstuhl lag etwas, das aussah wie ein halbes Sandwich. Das reinste Chaos. Aber genügend Platz für zwei. »Wie schnell fliegt dieses Ding?«

»Was? Oh, nicht … Ich meine, bitte nicht anfassen.« Entschlossen wollte sich der Pilot zwischen sie und das Flugzeug stellen, aber Dorothy wich ihm geschickt aus und ließ eine Hand in seine Jackentasche gleiten, als er gerade abgelenkt war. Zwar wusste sie nicht, nach was sie suchte – vielleicht nach einer Geldbörse oder etwas, das sich verkaufen ließ –, ertastete dann aber eine Taschenuhr. Mit zwei Fingern schob sie sich die Uhr in den Ärmel. Dann ging sie möglichst unauffällig zur Front des Flugzeuges, ließ eine Hand hinter dem Rücken verschwinden und drückte den Türhebel herunter. Abgeschlossen.

Das schien der Pilot gar nicht mehr lustig zu finden. Mit zwei Schritten war er bei ihr, woraufhin sich Dorothy mit dem Rücken gegen das Cockpit drückte. Das Metall war heiß.

»Ich muss Sie bitten, meine Maschine in Ruhe zu lassen, Miss«, befahl er ihr mit rauer Stimme und beugte sich vor. Dorothy stieg der trockene, leicht rauchige Duft seiner Haut in die Nase. So aus der Nähe wirkte er etwas derb. Rau und kantig wie ein Untier im Märchen. Nur seine Augen waren sanft, leuchteten golden.

Wenn sie in diese Augen sah, überkam Dorothy ein merkwürdiges Gefühl der Vertrautheit. Jetzt spiegelten sich Frustration und Erschöpfung in ihnen, aber sie konnte sich mühelos vorstellen, wie sie fröhlich strahlten. So mühelos, als hätte sie es schon einmal gesehen …

Dann wandte der Pilot kopfschüttelnd den Blick ab. »Was wollen Sie?«

Plötzlich war Dorothys Mund wie ausgetrocknet. Sie wollte von hier weg. Sie wollte, dass er sie an einen Ort brachte, den sie nie zuvor gesehen hatte. Wieder breitete sich diese merkwürdige Leere in ihr aus.

Mehr. Ich will mehr.

Und die geübte Betrügerin ertappte sich dabei, wie sie die Wahrheit sagte: »Bitte, ich brauche eine Mitfahrgelegenheit. Ich kann hier nicht bleiben.«

Eine gefühlte Ewigkeit lang sah der Pilot sie einfach nur an. Als ein Muskel in seinem Kiefer zuckte, stieg ein Gefühl des Triumphes in Dorothy auf, aber auch eine gewisse Enttäuschung. Sie kannte diesen Blick. Schon bei Dutzenden Männern hatte sie ihn gesehen, wenige Sekunden, bevor sie sich bereit erklärten, ihr einfach jeden Wunsch zu erfüllen.

Jetzt hatte sie ihn. Eigentlich war es schade, sie hatte wirklich geglaubt, er wäre anders. Besser. Aber am Ende war er genau wie alle anderen.

Erst als der Pilot »Nein« sagte, begriff Dorothy, dass sie ihn völlig falsch eingeschätzt hatte.

Er wandte sich wieder seinem Flugzeug zu und öffnete die Tür. Da Dorothy noch dabei war, zu überlegen, wann ihr das letzte Mal ein Mann etwas abgeschlagen hatte, brauchte sie einen Moment, um zu reagieren.

Kurz bevor er die Tür zuschlagen konnte, umklammerte sie die Kante.

»Wieso nicht?«, fragte sie mit solcher Verzweiflung in der Stimme, dass es ihr selbst peinlich war. »Ich brauche nicht viel Platz. Ich würde Ihnen bestimmt nicht zur Last fallen.«

Der Pilot seufzte schwer. »Glauben Sie mir, dort, wo ich hinfliege, würde es Ihnen ganz sicher nicht gefallen.«

»Woher wollen Sie denn wissen, was mir gefällt?«

»Tue ich gar nicht.« Er kämpfte mit der Tür. Dorothy hielt sie mit beiden Händen fest, damit er sie nicht schließen konnte. »Dort gefällt es niemandem«, ächzte er.

»Mir vielleicht schon, wer weiß?«

Er gab den Kampf gerade so lange auf, wie er brauchte, um ihr einen wissenden Blick zuzuwerfen. »Wo ich hinfliege, sind ganze Städte unter Wassermassen begraben, Gangs entführen alte Damen, die einfach nur auf den Markt wollen, und es gibt sogar ein Mädchen, das sich von Menschenfleisch ernährt.«

Erstaunt riss Dorothy den Mund auf, klappte ihn aber schnell wieder zu. Siegessicher sah der Pilot sie an. Sie begriff, dass er ihr Angst machen wollte und nun glaubte, das auch geschafft zu haben.

Aber Dorothy hatte keine Angst. Sie war einfach nur sprachlos. Was er ihr da erzählte, klang wie eine Abenteuergeschichte. »Sie leben an einem Ort, wo es Kannibalen gibt?«

»Nur einen«, antwortete er und zog schnell die Tür zu, bevor sie sich von ihrer Verblüffung erholt hatte. Fluchend packte sie den Griff, doch ein leises Klicken verriet ihr, dass er abgeschlossen hatte. Der Pilot hob zwei Finger an die Stirn und salutierte spöttisch.

Leben Sie wohl, sagten seine Lippen, auch wenn sie es nicht hören konnte.

Ein summendes Dröhnen ertönte, es begann zu qualmen und die Luft wurde brennend heiß. Dorothy musste husten. Das war’s dann also. Bestimmt würde sie gleich jemand aufspüren und zur Kirche, zu ihrer Mutter und zu Avery zurückschleifen. Dass ihr Kleid zerfetzt und ihre Füße schmutzig waren, würde keine Rolle spielen. Man würde sie zwingen, den Mittelgang hinabzuschreiten, und ihre Mutter würde sich direkt hinter ihr positionieren, damit sie auch wirklich brav »Ja« sagte.

Taumelnd entfernte sich Dorothy von dem Flugzeug. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Leben einer Arztgattin vor sich: langweilige Dinnerpartys, einsame Abende und nervtötende Frauen, die über nichts anderes sprachen als über Wohltätigkeitsbälle und Reisepläne für den Herbst. Und stets würde ihre Mutter neben ihr sitzen und sie unauffällig in den Arm zwicken, damit sie an den richtigen Stellen lachte.

Plötzlich war die Luft viel zu stickig, das Mieder viel zu eng. Dorothy schob einen Finger in ihren Kragen und zerrte die Spitze von der Haut weg. Sie konnte nicht atmen.

Irgendwie war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie Avery tatsächlich heiraten müsste. Sie war immer davon ausgegangen, dass sie irgendwie aus dieser Sache rauskommen würde. Aber jetzt läuteten die Glocken zum zweiten Mal, das Flugzeug würde gleich abheben und …

Dorothy blinzelte irritiert. Moment mal. War das etwa …

Da, am Heck des Flugzeugs. Da war eine Tür.

Ein Blick in das Cockpit zeigte ihr, dass der Pilot gerade abgelenkt war: Er beugte sich mit einem sorgenvollen Stirnrunzeln über ein wahres Meer von Hebeln und Knöpfen. Dorothy schob sich an das Heck des Flugzeuges heran, packte den Türgriff und drückte.

Abgeschlossen. Natürlich.

Entschlossen zog Dorothy eine Haarnadel aus ihren Locken.

4

Ash

7. Juni 1913, Puget Sound Anil

Ash fuhr sich durch die Haare, und als er seine Finger wieder herauszog, waren sie nass. Beinahe belustigt musterte er sie.

Er schwitzte? Ernsthaft? Wegen eines Mädchens?

Schuldgefühle, sagte er sich. Denn er fühlte sich wirklich schuldig. Nicht, weil er der Braut die Mitfahrgelegenheit abgeschlagen hatte – ein solches Mädchen würde dort, wo er hinflog, keinen Tag überleben –, sondern weil er sie mit den Geschichten über Quinn Fox provoziert hatte. Den Gerüchten nach aß die Killerin des Black Cirkus tatsächlich Menschenfleisch und folterte selbst die stärksten Männer ohne jede Gnade. Soweit es Ash betraf, sollte man besser kein Wort über sie verlieren. In seiner Zeit kursierten sowieso schon zu viele Geschichten über sie. Da kam es ihm einfach falsch vor, sie auch noch eine andere Zeit verpesten zu lassen.

Er zwang sich, nicht weiter an Quinn zu denken, was sofort dazu führte, dass sich das Mädchen aus dem Wald wieder in seinen Kopf schlich. Wie sie ihn angesehen hatte … Fühlen Sie sich denn nicht manchmal einsam? Seine Ohren begannen, zu glühen.

»Idiot«, murmelte er leise und schickte ein stummes Dankgebet gen Himmel, dass Zora nicht Zeugin dieser Episode geworden war.

Hast du dir eine kleine Braut mitgebracht? Oh ja, er konnte ihn regelrecht hören, diesen herablassenden Tonfall, den seine beste Freundin sich immer speziell für ihn aufhob. Und dazu würde sie wahrscheinlich Knutschgeräusche von sich geben.

Ash flirtete grundsätzlich nicht, was wohl auch erklärte, warum er so schlecht darin war. Er wusste, wie es ging, immerhin lebte er mit drei recht attraktiven Menschen zusammen. Aber ihm war der Spaß daran vergangen. So wie ein Steakliebhaber den Appetit auf Fleisch verlor, wenn er beinahe an einem Bissen erstickte. Es war einfach schwer, Freude an etwas zu haben, wenn man wusste, dass es einen umbringen konnte.

Schwarzes Wasser, dachte er mit der Vision vor Augen. Tote Bäume …

Um sich das Mädchen aus dem Kopf zu schlagen und nicht weiter über die Vision oder darüber nachdenken zu müssen, warum sich in seinem Nacken ein richtiges Schweißrinnsal gebildet hatte, prüfte Ash die EM-Anzeige gleich doppelt. Nach dem Absturz stand sie bei fünfundvierzig Prozent, was … na ja … nicht gerade toll war. Noch immer kein Himmelfahrtskommando, aber definitiv im Bereich Verstümmelung.

Eigentlich war er auf dem Weg in das Jahr 1908 gewesen, um sich anzusehen, wie auf dem Bürgersteig vor einem Juweliergeschäft eine blöde alte Uhr gebaut wurde. Besagte Uhr – die Hoeslich-Uhr – war an sich nichts Besonderes, aber der Professor hatte einmal gesagt, wie cool es gewesen sei, dass man früher Uhren an öffentlichen Orten gebaut habe, und dabei eben auf diese Uhr hingewiesen. Mehr Ermutigung hatte Ash nicht gebraucht. Im Laufe des letzten Jahres hatte er jede noch so kleine Spur verfolgt, doch da er inzwischen alle offensichtlichen Orte abgegrast hatte, an die der Professor gereist sein konnte, trieb ihn langsam die Verzweiflung an.

Dummerweise war er ein paar Jahre zu spät abgestürzt. Die EM war zu instabil, um sofort einen neuen Versuch zu wagen, also blieb ihm nichts anderes übrig, als in die Werkstatt zurückzukehren und zu hoffen, dass sich die Materie ausreichend stabilisierte, um am nächsten Morgen die Sache mit der Uhr zu überprüfen.

Was hieß, dass wieder ein Tag verloren war, und inzwischen hatte er nicht mehr allzu viele übrig.

Ash zog die Schultern hoch und ließ sie dann langsam wieder sinken, stellte sich vor, wie er jeden Muskel einzeln entspannte. Dabei glitt seine Lederjacke wie eine zweite Haut über seinen Rücken. Diesen Trick zum Stressabbau hatte er während seiner ersten Woche im Pilotencamp gelernt; damals hatten sich die anderen immer über ihn lustig gemacht und behauptet, er würde die Kampfjets behandeln, als wären sie bissig. Er ballte die Hände zur Faust und streckte dann nach und nach alle Finger wieder aus, auch eine mentale Vorbereitung auf den instabilen Flug, der vor ihm lag.

»Du wirst heute nicht sterben«, sagte er laut, und irgendwie beruhigte ihn das. Das einzig Gute daran, zu wissen, wie und wann er sterben würde, war eine ganz bestimmte Form der Freiheit: Bis es so weit war, konnte er tun, was immer er wollte, da er ja wusste, dass es ihn nicht umbringen würde. Kein besonders breiter Silberstreifen am Horizont, aber besser als nichts.

Ash schob den Schubhebel auf zweitausend Umdrehungen pro Minute. Die Second Star machte einen kleinen Satz und die Turbinen gaben ein müdes Ächzen von sich. Mit angehaltenem Atem wartete Ash darauf, ob ein Knall folgen würde.

Doch nach einem kurzen Moment der Spannung begann die Maschine zu brummen, und er hob ab.

Der Anil im Puget Sound wölbte sich über dem Meer wie eine große, spiegelnde Blase. Es sah aus, als würde ein Lichtschimmer über den Wellen tanzen, ein greller Sonnenstrahl, eine optische Täuschung. Erst als Ash sich direkt davor befand, war zu erkennen, dass es sich eigentlich um einen Tunnel handelte.

Nein, nicht wirklich ein Tunnel, dachte Ash. Eher ein Abgrund. Ein Nichts. Man konnte den Anil nicht direkt ansehen, das Gehirn schien ihm stets auszuweichen, versuchte, diesem Ding, das sich jeder Logik entzog, einen Sinn zu verleihen. Manchmal sah er aus wie eine wirbelnde Masse aus Nebel und Rauch. Manchmal wie festes Eis. Und manchmal sah er sogar aus wie das, was er war: ein Riss in der Zeit.

Ash richtete die Nase des Flugzeugs auf den Anil aus. Das Cockpit begann so heftig zu beben, dass die Reste von Ashs Sandwich vom Nebensitz rutschten und als Mayonnaise-Salat-Sauerei auf dem Boden landeten. Wie von einem unsichtbaren Wind angehoben, flogen Bonbonpapierchen um ihn herum. Draußen klatschte das Wasser gegen die Scheiben, um sich dann in Nebelschwaden aufzulösen.

Dann erreichte die Second Star Lichtgeschwindigkeit und katapultierte ihn in die Zukunft.

Bevor er zum Zeitreisenden geworden war, hatte Ash nur ein einziges Mal eine Erfahrung gemacht, die dieser Kombination aus Tornado und Hurrikan, gewürzt mit Regen und Hagelsturm auch nur nahe kam: als er mit seiner F6F Hellcat unter Beschuss geraten war. Das war im Jahr 1945, bei seinem ersten Kampfeinsatz. Die Wolken waren eine einzige, trübe Suppe gewesen. Irgendwo war er wohl falsch abgebogen, denn plötzlich flogen ihm Kugeln um die Ohren. Zwanzig grauenhafte Minuten lang war er dem feindlichen Beschuss ausgewichen und hatte sich dabei so fest an seinen Steuerknüppel geklammert, dass er irgendwann nicht mehr glaubte, ihn je wieder loslassen zu können. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er wieder in sicherem Luftraum war.

Der Flug in einen Anil ließ diese Erfahrung zu einem Sonntagsspaziergang werden.

An den gebogenen Tunnelwänden zogen sich Blitze entlang und das Heulen des Windes drang durch die dünnen Metallwände. Nur mit Mühe konnte Ash den Steuerknüppel ruhig halten. Als er Pilot geworden war, hatten seine Ausbilder ihn gewarnt, niemals zu fliegen, wenn die Windstärke mehr als siebenundvierzig Knoten betrug. In einem Anil erreichte sie oft mehr als hundert Knoten, doch wenn sie richtig funktionierte, bildete die EM eine Art Schutzblase um das Flugzeug und seinen Inhalt und hielt das unbarmherzige Wetter davon ab, die zerbrechlichen Körper der menschlichen Passagiere zu zerfetzen.

Nun fing die Nadel der EM-Anzeige an, sich wild im Kreis zu drehen.

»Halt durch, Star«, murmelte Ash. Er wagte es nicht, die Hände vom Steuerknüppel zu lösen. Hinter ihm grollte der Donner, dicke Eisplatten glitten an der schützenden EM-Blase entlang. Vor den Scheiben zuckten grelle Blitze – viel näher als es bei einem vollen EM-Tank möglich gewesen wäre. Ash flog die Maschine dichter an die in Nebel gehüllten Tunnelwände heran. Dort war die Sicht zwar schlechter, dafür tobte der Sturm nicht ganz so heftig.

Prärinnerungen schossen durch seinen Kopf. Wie immer kamen sie so plötzlich, dass er sich kaum auf die Bilder vorbereiten konnte.

Ein Ruderboot auf schwarzem Wasser … Geisterhafte Bäume, fahlweiß in der Finsternis … Eine Frau, das Gesicht von einer Kapuze verdeckt … Weißes Haar, das im Wind flattert … Ein Kuss … Ein Messer …

Seine Lider drohten zuzufallen und Ash riss sie keuchend wieder auf. Er spürte kalten Stahl zwischen seinen Rippen, gefolgt von unerträglichen Schmerzen. Auf seiner Stirn bildete sich ein feiner Schweißfilm. Hektisch tastete er nach der Stelle, an der das Messer in seinen Brustkorb geglitten war, doch seine Finger streiften nur Stoff und feste, warme Haut. Keine Wunde, kein Blut. Nichts davon war passiert.

Noch nicht.

Ihm wurde übel und er krampfte sich zusammen. Der Schmerz war verschwunden, doch die Prärinnerungen blieben, hielten sich in einer Endlosschleife in seinem Hinterkopf fest. Ein schwankendes Boot und ein Mädchen mit weißen Haaren, das ihn erst küsste und dann tötete. Es war immer dasselbe, jedes Mal schrecklich.

Der Professor hatte das Phänomen am besten erklärt.

In einem Anil existiert die Zeit in ihrer Gesamtheit, hatte er gesagt, leise und gelassen wie immer. Das verwirrt das fragile Gehirn des Menschen, und es bildet Erinnerungspfade aus, die noch gar nicht existieren sollten. Das führt dazu, dass man sich an Ereignisse erinnert, die erst Tage später stattfinden werden, manchmal liegen sie sogar bis zu einem Jahr in der Zukunft. Und diese Erinnerungen tauchen so mühelos und selbstverständlich auf wie das Wissen darum, was man am selben Tag zum Frühstück hatte.

Bis zu einem Jahr. Ash war vor elf Monaten von den ersten Prärinnerungen an das weißhaarige Mädchen mit dem Dolch heimgesucht worden und im Laufe der letzten Wochen hatten sie sich deutlich verstärkt. Dem Professor zufolge passierte das, wenn das prärinnerte Ereignis zeitlich näher rückte. Falls das der Wahrheit entsprach, hatte Ash keine vier Wochen mehr zu leben.

Blinzelnd versuchte er, sich wieder auf die Welt vor seiner Windschutzscheibe zu konzentrieren. Aus dem Hagel war heftiger Regen geworden und der Sturm hatte sich ein wenig abgeschwächt, sodass er die Second Star wieder in die Mitte des Tunnels lenken konnte. Wie alles andere wies auch die Zeit gewisse Strukturen auf und nun erkannte Ash vor sich das vertraute, wirbelnde Muster des Jahres 2077. Seine Ausfahrt.

Er packte den Steuerknüppel noch fester und richtete das Flugzeug auf eine Nebelschwade aus, die etwas heller war als die trüben Wände ringsum. Es war ein bisschen wie eine nächtliche Autofahrt bei schlechter Sicht. Zwar konnte Ash nicht immer die genaue Stunde oder Minute finden, nach der er suchte, aber was Monate und Tage anging, war er wirklich gut.

Blitze zuckten, die Luft wurde schwerer und feuchter, dann tauchte die Second Star ins Wasser ein.

Endlich wieder zu Hause. Ash rieb sich mit zwei Fingern die Augen. Es überraschte ihn nicht, dass seine Hände zitterten. Diesmal hatten ihn die Prärinnerungen noch stärker mitgenommen als sonst. Noch immer glaubte er, den Dolch in seinem Brustkorb zu spüren. Eine stumme Warnung vor dem, was kommen würde.

Inzwischen hatte er seinen eigenen Tod ein Dutzend Mal gesehen. Vermutlich sogar öfter. Da sollte man doch meinen, er hätte sich daran gewöhnt.

»Reiß dich zusammen, Soldat«, murmelte er. Obwohl er schon seit fast zwei Jahren kein Soldat mehr war, ging ihm das Wort immer noch leichter von der Zunge als sein eigener Name.

Er schaltete die Scheinwerfer ein und zwei helle Strahlen erhellten das finstere Wasser ringsum. Dann zog er die Nase der Second Star hoch, bis sie an der Oberfläche schwamm. Mit einem schnellen Blick suchte er nach Schatten auf dem Wasser.

Auf den Wellen war alles ruhig. Das hieß allerdings nicht unbedingt, dass er allein war. 

14. Oktober 2077, New Seattle

Die Werkstatt des Professors war eine Mischung aus Garage und Bootshaus. Das merkwürdig geformte Gebilde ragte direkt aus dem Wasser auf und war mit einem Sammelsurium aus Blech- und Plastikteilen verkleidet, das Dach bestand hauptsächlich aus alten Autoreifen und Treibholz. Die Fenster waren allerdings noch aus echtem Glas, und das Tor konnte per Fernsteuerung geöffnet werden; ein Luxus, den sich Ash und Zora – die einzige Tochter des Professors – gern leisteten, auch wenn er horrende Stromkosten mit sich brachte. Nun drückte Ash auf den Knopf, und das Tor pflügte sich durch das Wasser. Drinnen gab es ausreichend Platz für zwei bis drei Maschinen von der Größe der Second Star, doch außer Ashs Motorboot lag hier kein Fahrzeug mehr vor Anker. Er flog die Second Star dicht neben das Boot und schloss dann mithilfe der Fernsteuerung das Tor hinter sich.

Die Scheinwerfer der Zeitmaschine beleuchteten die unzähligen schmutzigen Werkzeuge und Ersatzteile, die an der Wand hingen, aber auch Dutzende – vielleicht sogar Hunderte – von Skizzen, Schemata und Weltkarten aus verschiedenen Epochen der Geschichte. Viele der Karten waren nicht mehr lesbar, denn die hohe Luftfeuchtigkeit hatte das Papier wellig werden lassen und die Tinte verwischt, aber Ash hängte sie trotzdem nicht ab. An einigen dieser Orte war er sogar gewesen: in der Lobby des Fairmont Hotel während der Mondlandung 1969; beim legendären Sieg der Cubs im Finalspiel der World Series 1908; im Garten des Weißen Hauses, als 2029 die erste weibliche Präsidentin der USA vereidigt wurde. Zora war der Meinung, der Anblick dieser Karten wäre kaum auszuhalten, aber Ash mochte es, sich zu erinnern.

Er machte sich an die Nachflugkontrollen, drückte Knöpfe und legte Hebel um, bis die Second Star sich langsam auf das Wasser absenkte und der Motor verstummte. Das grüne Licht sprang an und signalisierte Ash, dass er die Maschine verlassen konnte. Während er sich abschnallte und die Tür öffnete, fing es hinter seinen Schläfen schmerzhaft an zu pochen.

»N’Abend.«

Die Stimme ertönte am hinteren Ende des Docks, wo selbst die Scheinwerfer der Second Star die Schatten nicht durchdrungen hatten. Automatisch glitt Ashs Hand an die Hüfte, wo er lange seinen Navy-Revolver getragen hatte, einen Smith-&-Wesson mit kurzem Lauf. Doch als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, konnte er die Umrisse eines groß gewachsenen Mädchens erkennen. Es saß mit vor sich gekreuzten Beinen auf einem Plastikstuhl und wischte mit einem Lappen an einem öligen Motorenteil herum.

Schon wesentlich entspannter ließ sich Ash auf das Dock fallen, ohne die Cockpittür hinter sich zu schließen. »Was machst du hier, Zora?«

»Ich wollte sehen, ob du es lebendig zurückschaffst.« Ihre Antwort klang vollkommen neutral, es schwang höchstens eine gewisse Enttäuschung darüber mit, dass er es tatsächlich geschafft hatte.

»Tja, hier bin ich. Lebendig und immer noch verdammt sexy.« Ash versuchte es mit einem Lächeln. Trotz häufiger Gegenbeweise hielt er sein Lächeln für ziemlich gewinnend. Zora blickte nicht einmal von ihrer Arbeit auf.

Ashs Lächeln verblasste. »Bist du wütend?«

Wortlos spuckte Zora auf ihren Lappen und rieb noch fester an den vielen Ritzen des Ersatzteils herum. Sie erhob niemals die Stimme. Das musste sie auch gar nicht. Während der letzten zwei Jahre hatte sich die Qualität ihres Schweigens von nervenzerfetzend zu schlichtweg brutal gesteigert. Dieses Schweigen nahm Raum ein, entzog dem Gegenüber Energie. Es erinnerte Ash an ein großes, bedrohliches Tier, das irgendwo im Zimmer herumsaß und das man weder ansehen noch sonst irgendwie zur Kenntnis nehmen durfte.

»Komm schon«, drängte er sie. »Kommuniziere mit Worten.«

Nun legte Zora das ölige Teil in ihren Schoß, richtete sich steif auf und sah Ash endlich ins Gesicht. »Du hörst ja nie auf meine Worte.«

»Das ist nicht wahr.«

»Worte wie: ›Ash, bitte flieg nicht länger mit diesem Schrotthaufen.‹«

»Immerhin ist es mein Schrotthaufen …«

»Oder: ›Ash, ich werde nie wieder mit dir reden, wenn du weiter mit solchen Flügen dein Leben riskierst.‹«

»Jetzt gerade redest du aber doch mit …«

»Und: ›Ash, ich schwöre dir, wenn du auch noch stirbst …‹« Zora verstummte abrupt. Sie zögerte kurz, dann nahm sie das Motorenteil in die Hand und warf es … nicht wirklich auf Ash, aber auch nicht wirklich in die andere Richtung.

Es rutschte über das Dock und landete mit einem leisen Platschen im Wasser. Zurück blieb nur eine schmale Ölspur.

Ash wollte gerade noch einmal betonen, dass es verdammt noch mal sein Flugzeug war und er deshalb auch darin sterben konnte, wenn er das so wollte, als zwei kleine Worte in seinem Kopf aufleuchteten.

Auch noch, hatte Zora gesagt. Wenn du auch noch stirbst.

Abrupt machte er den Mund zu. Zora stieß einen leisen Fluch aus und stützte den Kopf in die Hände.

Sie tat immer gerne so, als hätte sie keine Gefühle. Könnte sie darüber bestimmen, würde ihr Innenleben ebenso reibungslos schnurren wie die Motoren, die sie so gerne auseinandernahm und wieder zusammenbaute. Deshalb sprach sie auch nie über den wahren Grund, warum sie Ashs Reisen durch die Zeit ablehnte. Sie hatte bereits zu viele Menschen verloren, die ihr wichtig waren.

Nun stand Zora auf, öffnete die Motorhaube der Second Star und beugte sich über den Motor. »Der ist wieder einmal abgesoffen.«

Ash kannte Zora gut genug, um die eigentliche Botschaft herauszuhören: Wir können über deine verdammten Gefühle sprechen, aber nur, wenn wir dabei diesen Motor reparieren.

Eigentlich war Ash kein besonders guter Mechaniker, wusste aber, wie er sich nützlich machen konnte. Deshalb holte er nun einen Schraubenschlüssel von der Wand und duckte sich neben Zora unter die Haube. »Das ist nicht meine Schuld. Der Hebel verklemmt sich ständig.«

»Wenn du nicht immer so daran herumreißen würdest, würde er sich auch nicht verklemmen.« Sie nahm ihm den Schraubenschlüssel aus der Hand und fing schweigend an, zu arbeiten. Ash schaute ihr dabei über die Schulter. Unbewusst strich er über die Stelle, wo der Dolch seine Haut durchstoßen hatte. Oder würde. Obwohl es nicht mehr wehtat, hatten seine Nerven den prärinnerten Schmerz gespeichert.

»Ist das die Stelle, wo sie zusticht?«, fragte Zora und drehte den Schraubenschlüssel nach links.

Ash nickte. Er hatte Zora sämtliche Details der Prärinnerung anvertraut, von dem weißhaarigen Mädchen über das Ruderboot bis hin zu dem Dolchangriff, aber sie hatte ebenfalls keine Ahnung, wie man verhindern konnte, dass es geschah. Ash klopfte auf seine Rippen. »Ungefähr hier, ja.«

»Küsst du denn wirklich so schlecht?«