Strom - Laura Wohnlich - E-Book

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Laura Wohnlich

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Beschreibung

Hector Fober ist sein bisheriges Leben leid. Er möchte endlich nicht mehr unsichtbar sein, sondern berühmt und erfolgreich – und das so schnell wie möglich. Während andere Leute in seinem Umfeld das Internet dafür nutzen, Bilder zu posten oder Dinge zu bestellen, gründet Hector einen Blog, für den er bereit ist, wortwörtlich über Leichen zu gehen. Nichts ist ihm wichtiger als sein Erfolg, und tatsächlich scheint sein morbider Plan aufzugehen: zum ersten Mal in seinem Leben erhält er die Aufmerksamkeit, von der er lange geträumt hat. Allerdings verstrickt er sich schon bald immer tiefer in den Konsequenzen, die sein Handeln nach sich trägt. Es beginnt eine Flucht, welche die Odyssee eines jungen Mannes aufzeigt, der nicht nur in seinem eigenen Wahn gefangen ist, sondern auch in den Strukturen einer modernen, abgebrühten Gesellschaft. Triggerwarnung: in STROM werden fiktive Handlungen von Gewalt und Mord erzählt.

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Seitenzahl: 480

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Laura Wohnlich

STROM

Laura Wohnlich

STROM

Roman

Triggerwarnung:

Dieser Roman enthält Darstellungen expliziter körperlicher Gewalt bis hin zu Tötung. Alle Figuren und deren Handlungen sind frei erfunden.

Impressum

© 2023 Edition Königstuhl

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten.

Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Bild Umschlag: birdys / photocase.de

Gestaltung und Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern

Lektorat: Walburga Glaremin

Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften: Adobe Garamond Pro, Mark, Saerows

ISBN 978-3-907339-35-0

eISBN 978-3-907339-71-8

Printed in Germany

www.editionkoenigstuhl.com

© Foto: Laurent Walser

Laura Wohnlich, 1992 in der Schweiz geboren, hat in Basel eine gestalterische Ausbildung absolviert und danach Medienwissenschaften studiert. Ihr Debütroman SWEET ROTATION erschien 2017 beim PIPER-Verlag, das zweite Buch MOOKIE wurde 2020 mitten während der Covidzeit bei Heyne veröffentlicht. Ihren ersten Roman hat sie bereits mit neun Jahren während eines Familienurlaubs mit Fineliner am Strand im Tessin verfasst. Nebst dem Schreiben ist sie leidenschaftliche Marathonläuferin und empfindet eine unerklärliche Faszination für Steine. Sie lebt mit Mann und zwei Katzen in einem weissen Haus mit grünen Fensterläden.

INHALT

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

EPILOG

PROLOG

Zu sagen, dass ich von meiner neuen Geschäftsidee überzeugt war, wäre untertrieben. Um es mit einer Metapher auszudrücken: Ich war gewillt, mit meinem Projekt nicht nur den Vogel abzuschießen, sondern einen Krieg gegen die komplette Ornithologie anzuzetteln. Und, ohne jetzt spoilern zu wollen, würde ich mal behaupten: Es ist mir gelungen.

Bevor ich mich dazu entschieden hatte, Blogger zu werden, praktizierte ich das, was man gemeinhin wohl ein unauffälliges Leben führen nennen kann.

Nach dem Gymnasium absolvierte ich im Alter von achtzehn Jahren erstmal eine kaufmännische Ausbildung, um, wie mein ehemaliger Stiefvater Herr Nesto es formuliert hätte, etwas in der Tasche zu haben, mit dem Plan, irgendwann, wenn ich etwas Geld zur Seite gelegt hätte, Informatik zu studieren. Mein Ziel war es, eines Tages bei einer renommierten Game-Produktionsfirma einzusteigen und Videospiele zu entwickeln, die es auf die Top-100-Liste von IGN schaffen, mindestens.

Leider liefen die Dinge etwas anders als geplant und ich zog mit neunzehn aus, weshalb ich meinen Lohn nicht wirklich sparen konnte, sondern für die Miete ausgeben musste. Ihn, den Lohn, erwarb ich in einem Elektronikwarenfachhandelshop namens Erwin’s Electronic’s, in dem ich noch während meiner Ausbildung hatte angefangen zu arbeiten. Der Laden gehörte Erwin Lanski, der ihn von seinem Vater und Gründer, Erwin Lanski senior, übernommen hatte. Es handelte sich um ein kleines, lokales Unternehmen, in dem – naheliegenderweise – alles Mögliche verkauft wurde, was mit Elektronik zu tun hatte, außerdem boten wir Reparaturen an (auch von Gerätschaften, die nicht mehr unter Garantie liefen oder überhaupt nicht bei uns vertrieben wurden) und verzeichneten an guten Tagen um die dreihundert Kunden, was, verglichen mit größeren Ketten, natürlich nichts ist.

Der einzige Grund für das Überleben des Geschäfts war das Vermögen, welches Erwin junior von seinem Vater geerbt hatte und bis dato vollumfänglich in den Laden steckte. Jeder vernünftige Mensch hätte das Geld in etwas Sinnvolles investiert – eine bis zwei Immobilien wären mit dieser Summe tatsächlich drin gewesen –, aber mein Chef hatte sich offenbar nicht die Blöße geben wollen, das Business seines Vaters in den Sand zu setzen, welches anno dazumal, als elektronische Geräte noch als Innovationen gegolten hatten, wesentlich besser gelaufen sein musste als jetzt, Stichwort Immobilien.

Wie dem auch sei, das Geschäft lag gleich bei mir um die Ecke, was ganz angenehm, im Grunde aber auch schon das einzig Positive war, was meine Arbeitsumstände zu verzeichnen hatten.

Mein Chef – Erwin – war ein leicht übergewichtiger Asthmatiker von siebenundsechzig Jahren, der oft über Blähungen klagte und süchtig war nach Energydrinks, des Weiteren war er ein geduldiger, gutmütiger Mensch, über den man im Großen und Ganzen nichts Schlechtes sagen konnte, außer vielleicht, dass er ein unambitionierter Volltrottel war. Von den zwei anderen Angestellten bei Erwin’s Electronic’s konnte ich das leider nicht behaupten, aber dazu später mehr.

Warum ich neun Jahre lang in diesem Laden geblieben bin und nie einen ernsthaften Versuch unternommen habe, mir ein Stipendium zu organisieren? Keine Ahnung. Vermutlich, nein, mit Sicherheit wollte ich tief im Herzen immer noch Videospiele entwickeln, aber mit zunehmender Arbeitserfahrung war mir bewusst geworden, dass ich keine Lust darauf hatte, mein Leben lang Angestellter zu sein. Auch nicht in einer Game-Firma, wo ich zwar mehr Geld verdienen, aber höchstwahrscheinlich dennoch nicht erheblich an sozialer Anerkennung gewinnen, sondern unsichtbar bleiben – welcher Mensch kennt schon das Gesicht eines erfolgreichen Spieleentwicklers? – und überdies weiterhin der Willkür irgendwelcher Vorgesetzten ausgesetzt sein würde. Klar, es gäbe natürlich die Alternative, zuhause am Rechner meine eigenen Indie-Games zu programmieren und diese im Netz zu verkaufen, aber ganz ehrlich, für den da zu erwartenden Ertrag wäre mir der Aufwand dann doch etwas zu groß (unter anderem jener, mir selbstständig das Programmieren beizubringen).

Jedenfalls fühlte ich mich trotz allem zu etwas Höherem, Sinnhafteren berufen, ohne dass mir zum Zeitpunkt dieser Erkenntnis eine konkrete Berufsidee vorschwebte.

Was ich wusste, war, dass ich endlich in einem Job Fuß fassen und durchstarten wollte, der meinen Kompetenzen gerecht wurde, und vor allen Dingen: Ich wollte endlich gesehen werden.

Ja, ich wollte nicht einfach wieder von dieser Erde verschwinden, ohne dass ein paar Leute – oder eher, viele – die mich überlebten, meinen Namen in Erinnerung behalten würden. Der Gedanke, selbstverschuldet austauschbar zu bleiben, war mir unerträglich. Die Vorstellung, im Sterben zu liegen und mir eingestehen zu müssen, dass ich mich nicht genug angestrengt hatte, um die Welt auf meine Existenz aufmerksam zu machen, versetzte mich in Panik. Ich war mir im Klaren darüber, dass auch Erwin wusste, dass meine Fähigkeiten den mir zugewiesenen Tätigkeitsbereich überstiegen, aber was sollte er tun, er konnte sie nun mal in seinem Laden nirgends unterbringen, es war also nicht seine Schuld, dass ich unterfordert war, darum musste ich selber aktiv werden.

Es dauerte jedenfalls ziemlich lange, bis ich endgültig realisierte, dass sich etwas ändern musste, wenn ich nicht als Niemand sterben wollte. Die Erde hatte sich weiterentwickelt und war nicht mehr das herausgehobelte Stück einer überschaubaren Kugel von damals, als ich Erwin meinen Lebenslauf auf den Schreibtisch geknallt hatte.

Ich war achtundzwanzig Jahre alt, als ich mich endlich dazu entschied, im Internet Karriere zu machen.

Ich besitze eine unscheinbare Persönlichkeit, zumindest war das mein Eindruck anhand dessen, was mir die längste Zeit meines Lebens von meiner Umwelt gespiegelt wurde, und eigentlich stellte das eine ideale Grundvoraussetzung dar für das, was mein neuer Beruf werden sollte. Ich war der Typ, der zwar immer wieder zu irgendwelchen Partys eingeladen wurde, den man aber nach einer saloppen Begrüßungsfloskel à la »Schnapp dir da drüben erstmal nen Drink« sofort begann, konsequent zu übersehen, und der dann ewig lange neben einem Gummi – oder Katzenbaum herumstehen und sich fragen musste, warum zur Hölle er hier war. Ich war die Randfigur, die zwar jede Party kannte, aber nicht brauchte. Ich war der ignorierte Geist, der irgendeine billige Wodkaflasche leersoff und aus Langeweile einen Großteil der Häppchenplatte wegfraß, bis er irgendwann ohne Verabschiedung und selbstredend von allen Anwesenden unbemerkt wieder von der Veranstaltung verschwand, und der dann am Folgetag wie durch einen mysteriösen Zufall auf keinem der zwanzigtausend Gruppenfotos zu sehen war, die inflationär in den sozialen Medien gepostet wurden. Apropos Fotos: ich sehe auch sehr durchschnittlich aus. Ich selber finde das zwar nicht, aber auch das wird mir so gespiegelt.

Meine Ex-Freundin Karine sagte mal zu mir: »Du hast schöne Nasenflügel«, und dieses unhandliche Kompliment blieb der einzige Kommentar bezüglich meiner Optik, den sie in den drei Jahren unseres Zusammenseins veräußert hatte.

Ich persönlich halte ja meine Augen für ziemlich besonders, weil das linke grün ist und das rechte braun, aber erschreckenderweise fällt das keiner Menschenseele auf, zumindest hat mich seit Jahren niemand mehr darauf angesprochen. Genau genommen erinnere ich mich, bis auf meine Mutter, nur an eine einzige Person, die das jemals thematisiert hat, und zwar meine Sitznachbarin in der fünften Klasse, Inna Gerber. »Erde«, hatte sie gesagt und auf mein rechtes Auge gezeigt, dann wandte sie sich dem linken zu und murmelte: »Wasser … nein, warte. Irgendwie nicht. Hm. Ich weiß nicht.« Sie runzelte die Stirn und schien angestrengt zu überlegen, dann seufzte sie resigniert: »Es passt nichts«, und wandte sich wieder ihrem Matheheft zu, um kleine Spiralen neben eine Textaufgabe zu zeichnen. Jahre später knipste Inna in angeschwipstem Zustand auf einer der besagten Homeparties tatsächlich ein Selfie von uns beiden, auf dem man zwischen meinen beiden Augen keinen Farbunterschied erkennen konnte, und zwei Wochen später zog sie nach Ägypten, um dort allen Ernstes Pyramidenforscherin zu werden, was schade war, weil aus uns beiden echt etwas hätte werden können.

Jedenfalls, um jetzt endlich zum Punkt zu kommen: Es würde wohl keiner, der mich auf der Straße sieht, auf die Idee kommen, dass ich das Zeug zu einem Mörder habe, der einen Blog betreibt, was die ganze Sache für mich natürlich umso reizvoller machte. Ja, richtig gelesen: Ich wollte Blogger werden, und das Thema sollten Morde sein. Zunächst war ich im Kopf die gängigen Optionen durchgegangen: Reiseblogger, Foodblogger, Ich-habe-eine-schlimme-Krankheit-und-dokumentiere-meinen-Leidensweg-wobei-ich-aus-der-Situatuion-das-Beste-und-anderen-Betroffenen-Mut-mache-Blogger. Let’s-Plays, Schlösser knacken, Mukbangs. Nichts fühlte sich richtig an. Auch das Thema Sex nicht, obwohl das ja immer als Klickgarant gilt, egal ob Expertentum vorhanden ist oder nicht. Ich brauchte etwas, das mehr mit mir zu tun hatte. Da ich nicht sonderlich musikalisch bin, fielen Instrumente lernen oder Singen also weg. Body-Building? Da musste ich fast selber lachen.

Ich googelte: Spannende Blogthemen, ich googelte ungewöhnliche Hobbies, und alles, was ich fand, war gleichermaßen unbrauchbar: Baumpatenschaften, Kerzenziehen, Apnoe-Tauchen, scheiße.

Ich wollte etwas mit mehr Spannung, ich wollte Action, also überlegte ich weiter und kam schließlich auf das Thema True Crime. Klar, lag absolut im Trend, aber nein, irgendwie passte auch das nicht zu mir; ich hatte keine Lust auf langwierige Recherchen, die im Zweifelsfall schon hundert andere Leute vor mir angestellt und zu Content verarbeitet hatten.

Und dann kam mir die Idee, gerade, als ich beschloss, meinen Brainstorm aufzugeben und weiterzuschlafen. Es war so naheliegend! Es war plausibel und perfekt: Ich würde meine eigenen wahren Verbrechen erschaffen! Mord war allgegenwärtig, unmissverständlich und zeitlos, Mord war aufsehenerregend und vielschichtig. Im Grunde war Morden eine der wenigen Handlungen auf diesem Planeten, die ausnahmslos jede Person ausüben konnte, egal, welcher Ethnie oder Schicht sie angehörte und ohne über ein besonderes Vorwissen verfügen zu müssen, geschweige denn ein Diplom, und die einen trotzdem auf einen Schlag berühmt machen konnte. Mord war ein immer wiederkehrender Klassiker in der Menschheitsgeschichte, und ich war entschlossen, ihn endgültig hip und salonfähig zu machen.

Hellwach lag ich also da, aufgepeitscht, und fühlte mich so energiegeladen wie schon lange nicht mehr. Mein Herz klopfte vor Tatendrang und da ans Schlafen nicht mehr zu denken war, fing ich an, Pläne zu schmieden. Ich überlegte, was für eine Kamera ich verwenden sollte, und dachte zuerst an Drohnen. Dann entschied ich, dass das zu trivial war. Das Internet wurde damit ja seit einigen Jahren regelrecht überflutet; nahezu kein Account, der etwas auf sich hielt, verzichtete auf hochaufgelöste 360-Grad-Aufnahmen, und ich wollte aus dem Mainstream hervorstechen, also beschloss ich, mir folgendes Equipment zuzulegen: eine schlichte Handkamera, wie ich sie damals zu meinem zwölften Geburtstag von Herrn Nesto geschenkt bekommen und dann leider ein Jahr später während einer Klassenfahrt verloren hatte, sowie eine einfache Sportkamera, die qualitativ nicht ganz so viel hergab wie eine moderne GoPro.

Ich würde alle meine Morde aus zwei Perspektiven von Anfang bis Ende filmen, die Aufnahmen dann zu aussagekräftigen Clips zusammenschneiden und diese schließlich auf meinem Blog hochladen, den ich The Killing Tour nennen wollte.

Das Medium Film erschien mir perfekt, da ich durch meinen Job über das nötige technische Knowhow verfügte und mir das Aufzeichnen ermöglichen würde, mir meine Arbeit jederzeit anschauen und meine Vorgehensweise analysieren zu können.

Ich wollte schließlich nicht einfach nur ein unkreativer Amateur-Serienmörder werden, sondern den Leuten zeigen, dass ich mich für sie, mein Publikum, ins Zeug legte. Ich wollte der gefürchtetste Influencer aller Zeiten werden, nicht mehr und nicht weniger.

Nun, und hier also kommt sie, meine Story, die Geschichte von mir: Hector Fober.

1

Der Tag, an dem ich meine neue Karriere in Angriff nahm, war ein halb sonniger, halb verhangener Nachmittag in der zweiten Oktoberhälfte. Es war Samstag, und gestern war endlich der erste Teil meines Arbeitsmaterials eingetroffen, das ich bestellt hatte: eine handliche Videokamera der altbewährten Marke Canon, gefunden auf einem Online-Flohmarkt, und eine Sportkamera mit 720p plus Kopfhalterung, dazu noch eine schicke, unauffällige Umhängetasche aus Kunstleder, in die beide reinpassten.

Selbstverständlich plante ich, über VPN zu arbeiten, aber es erschien mir noch eine Spur sicherer, dazu nicht meinen eigenen Rechner zu verwenden. Durch einen unverhofften Zufall war ich an einen besitzerlosen Laptop gekommen, den ich kostenfrei mit nach Hause nehmen konnte, was ausnahmsweise den bescheidenen Vorteilen meines Ladens zu verdanken war. Vor ziemlich genau einem halben Jahr hatte nämlich ein völlig verstrahlter Typ mit gekringeltem Haar und Zahnpastaresten in den rissigen Mundwinkeln seinen Vaio bei uns in Reparatur gegeben (ein Modell, das es schon seit Jahren nicht mehr im Handel gab) und dann einfach drauf geschissen, ihn wieder abzuholen. Ich rief mehrfach bei ihm an, nachdem ich die Tastatur ausgewechselt hatte (mehr war nicht daran zu machen gewesen), und jedes Mal kam die Mailbox. Bis die Schnarchnase mich dann einige Wochen später endlich zurückrief und plärrte: »Ja, was wollen Sie? Mir wurde Ihre Nummer angezeigt«, und als ich ihm meinen Namen und den Grund meiner vorangegangenen Anrufe nannte, meinte er, dass er sich zwar nicht an mich erinnern könne, aber: »Ach, ja, sorry, der Computer. Den brauch ich nicht mehr, genau. Ich habe aufgehört, WoW zu zocken, weißt du. Außerdem bin ich pleite und habe keine Hausratsversicherung. Also, sorry nochmal.« Da unser Geschäft auch in Sachen Entsorgung nicht gerade übermäßig vorbildlich organisiert war und wir keinen geregelten Abholservice für ungewollte Ware hatten, der sie zum Recyclinghof transportierte, blieb die Kiste sinnlos bei uns in einem der Regale im Hinterzimmer rumstehen, neben einer irreparablen Heißluftfritteuse und einem paar alter Sneakers, die Roberto gehörten, der schon lange nicht mehr hier arbeitete, und dort von uns allen in Vergessenheit geriet.

Bis zum letzten Mittwoch, wo um zwölf Uhr dreißig mein Blick auf diesen Laptop fiel und ich spontan die Idee hatte, dass ihm die Ehre zuteilwerden würde, mein neues und wichtigstes Arbeitswerkezug zu sein. Tja, ein kleiner Verlust für Erwins Geschäft, der bekehrte Zahnpasta-Typ, aber ein großer Gewinn für mich. Kurz vor Beginn meiner Mittagspause, als meine zwei Mitarbeitenden gerade von ihrer zurückkamen (die sie unerlaubterweise zusammen verbracht hatten, obwohl wir sie eigentlich gestaffelt machen sollten), schnappte ich mir den Laptop und ließ ihn mitsamt dem verstaubten Ladegerät, das der Typ ebenfalls mit abgegeben hatte, in meinem Rucksack verschwinden. Ihnen, meinen sogenannten Kollegen, fiel das Fehlen dieser zwei Gegenstände nicht auf, genau, wie ich erwartet hatte. Die drückten sich stets vor Reparaturarbeiten, waren aber auch abgesehen davon nicht gerade die hellsten Kerzen auf der Torte, weshalb ich da keine große Gefahr witterte.

An besagtem Samstag saß ich also in meinem Stammcafé Tamarinde, hatte mir gerade einen Bagel mit Hummersalat und Kresse einverleibt und war motiviert wie ein angehender Firmenchef während seines ersten wichtigen Meetings. Unter dem Tisch in meinem Rucksack befanden sich die restlichen Arbeitsmaterialien, die ich mir über eine chinesische Internetseite bestellt und soeben bei einem Postfach abgeholt hatte: Handschuhe, Strumpfmaske, dickes Klebeband, Seile, Teppichmesser. Ja, ich weiß, diese Artikel klingen klischeehaft, aber ich beabsichtigte absolut, sie alle früher oder später einzusetzen, schließlich hatten sie sich in der Geschichte der Verbrechen schon mehrfach weltweit bewährt.

Falls sich jetzt schon jemand moralische Fragen in Bezug auf meine Person stellt: Nun, grundsätzlich distanziere ich mich davon, ein famegeiler Brutalo zu sein. Aber, und das gebe ich gerne offen zu: mein eigener Werdegang ist mir eben einfach wichtiger als das Leben anderer Leute. Und mir kann keiner erzählen, dass das nicht vielen so geht, oder besser gesagt, allen. Bescheidenheit ist doch nichts anderes als ein heuchlerisches Überbleibsel einer pseudoliberalen, westlichen Gesellschaft. Jeder möchte so viel Anerkennung bekommen wie möglich, und das am besten online, denn wir alle wissen: Wenn irgendjemand dir ins Gesicht sagt, dass er deine Arbeit gut findet, bringt das nicht wirklich Mehrwehrt. Virtuelle Likes sind es, die Berühmtheit bringen, und Berühmtheit bringt Geld, Geld bringt Macht, und so weiter und so fort. Außerdem: Wer seid ihr schon, um darüber zu urteilen, was moralisch vertretbar ist und was nicht? Ich kenne euch nicht mal. Und: Wer ohne Sünde ist, solle den ersten Stein werfen. Aber selbst das traut sich ja eh niemand, schon gar nicht ihr, die ihr wahrscheinlich noch nie eine Straftat begangen habt, höchstens mal versehentlich mit dem Fußball eine Fensterscheibe eingeschlagen oder Wimperntusche im Discounter geklaut, darum übernehme ich das jetzt einfach stellvertretend für alle, die mutlos in der Ecke sitzen und sich selber dafür bemitleiden, dass sie unsichtbar sind.

In einem zweiten Schritt organisierte ich mir, wie gesagt, einen unbeobachteten Internetzugang (ich denke, es ist allen klar, weshalb ich nicht über das W-Lan meines Routers arbeiten konnte. Internetcafés waren ebenfalls keine Option, zum einen, weil es in unserer Hinterwäldler-Stadt kaum welche gab, zum andern, weil ich keine Lust hatte, ständig Angst haben zu müssen, dass mir jemand über die Schulter guckte. VPN war definitiv die bequemste Methode.)

Somit würde ich von zuhause ausarbeiten können und damit fing ich auch direkt an, als ich vom Tamarinde zurückkehrte. The Killing Tour. Ich sicherte mir die Homepageadresse und wählte ein ansprechendes, schlichtes Design aus: schwarzer Hintergrund mit blauen Rändern, dazu eine neutrale Typografie – Arial, Schriftgrösse 12 – in einem leicht ins Bräunliche changierenden Schwarz, das Menü platzierte ich auf die linke Seite.

Als dies erledigt war, stellte sich die wegweisendste aller Fragen, und zwar, wen mein allererster Mord treffen sollte. Für mich stand fest, dass ich mich zunächst einmal in mein neues Metier eingewöhnen musste und deshalb langsam hocharbeiten würde, die erste Person sollte also auf jeden Fall jemand Unscheinbares sein. Jemand wie ich, ein ganz normaler Mensch ohne nennenswerte Position in der Gesellschaft, ein Subjekt, dessen Tod zwar für gemäßigtes Aufsehen, aber nicht direkt für einen kollektiven Aufschrei sorgen würde.

Darüber hinaus sollte es keine gänzlich unschuldigen Leute treffen, sondern solche, die sie mich in irgendeiner Weise gekränkt oder verletzt hatten, und davon gab es – in diesem Falle zum Glück – so einige. Auf einem papiernen Zettel fertigte ich eine Liste an mit Personen, die infrage kamen, und landete bei drei Namen.

Meine Ex-Freundin Karine Paals, die mich betrogen und dann verlassen hatte, weil angeblich

sie

diesen Fehltritt nicht hatte verkraften können

Der Verkäufer vom Mini-Supermarkt am Ribachdamm, Murali Paswan, der mich nie zurückgrüßte, wenn ich in den Laden kam, sondern sich durchgehend schlechte Serien auf seinem iPad ansah, von denen er nicht mal aufblickte, wenn er die Einkäufe in die Kasse tippte, was er, richtig gelesen, von Hand tat, weil es kein Scangerät gab, und schon zweimal hatte er mir deshalb mehrere Euro zu viel berechnet

Meine Nachbarin Frau Makosz aus dem vierten Stock, die ungefähr neunundneunzig Jahre alt war und mich einmal im Treppenhaus debil angegrinst und zu sich heran gewunken hatte, worauf ich dachte, sie wolle mich freundlich um einen Gefallen bitten, stattdessen wies sie mich darauf hin, dass ich meine Schuhe nicht auf dem Flur stehenlassen sollte, weil das eine

Stolperfalle

wäre

Unter dieser Liste fertigte ich eine zweite an mit Pro- und Contra-Argumenten für das Umbringen der jeweiligen Leute, und landete schließlich ziemlich rasch bei Nummer zwei.

Muralis Laden war ein Familienbetrieb, schätzungsweise knapp vierzig Quadratmeter groß, mit einem merkwürdigen, überteuerten Sortiment, das vor zwanzig Uhr selten Kundschaft anlockte, abgesehen von mir, der ich nur eine Straße weiter wohnte und nach der Arbeit oft zu müde war, um die anderthalb Kilometer zum ALDI zurückzulegen.

Ja, Murali sollte es werden. Denn obwohl ich für Karine wirklich nichts anderes mehr als Verachtung übrighatte, wollte ich den Gedanken doch nicht ganz aus meinem Kopf streichen, dass es eines Tages, unter welchen Umständen auch immer, wieder einmal zu Geschlechtsverkehr kommen könnte.

Frau Makosz schied aus dem Grund aus, dass ich sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen und ihre Familie sie laut hausinterner Nachbarschaftspropaganda unlängst auf die Warteliste eines betreuten Wohnheims gesetzt hatte, außerdem wäre die auch ein viel zu leichtes Opfer, deren Hinschied wohl niemanden ernsthaft interessieren würde.

So, die Entscheidung stand also fest, also hängte ich mir enthusiastisch die Ledertasche mit den Kameras um die Schulter, stopfte die Strumpfmaske zusammen mit den Handschuhen in die Jackentasche und machte mich auf den Weg zu Muralis Laden.

2

Die Verkaufsfläche beschrieb die Form eines Ls, wobei sich der Kassenbereich am Ende des kürzeren Raumabschnitts befand und aufgrund der vielen Regale von der Straße aus durchs Fenster nicht einsehbar war.

Murali Paswan lebte mit seiner Familie in der Wohnung direkt über dem Laden, und wenn er nicht selber anwesend war, saßen entweder seine Frau, sein Vater, seine Tochter oder einer seiner drei für mich identisch aussehenden Söhne hinter der Kasse, manchmal auch mehrere der genannten Personen gleichzeitig, zu neunzig Prozent war er aber alleine hier.

Die Luft im Paswan-Shop roch stets nach altem Leder, Räucherstäbchen und etwas, das ich mit Hühnerkacke in Verbindung bringe, und das Sortiment mutete, wie gesagt, willkürlich und wirr an: Oktopusarme in undatierten Plastikverpackungen teilten sich den Platz in der Kühltruhe mit ausgemergelten Zucchinis und Fertigpizzen, auf den klapprigen Metallregalen reihten sich monströse Kürbisse an Buddhastatuen, fünf verschiedene Sorten Bananenchips lagerten neben verstaubten Wattestäbchenboxen. Unweit der Tür gab es einen Drehständer mit gefälschten Markensonnenbrillen und auf dem Verkaufstresen neben der Kasse einen winzigen Glaskasten, in dem stets drei Samosas mit Kartoffelfüllung lagen, von denen Murali mir mal versichert hatte, dass seine Frau sie jeden Morgen frisch backte, ich aber vermutete, dass die da zur Ladeneröffnung 1995 reingelegt und seither niemals ausgetauscht wurden.

Um 15:10 betrat ich den Supermarkt.

Das erste, das ich hörte, nachdem die Tür bimmelnd hinter mir zugefallen war, war weibliches Gezeter. Für eine Sekunde dachte ich, Muralis Frau sei anwesend, und überlegte, wieder zu gehen, dann realisierte ich anhand seines entspannten Hustens, dass es offenbar lediglich in seiner Lieblingsserie gerade einen Beziehungskonflikt gab.

Ich drehte eine kurze Sicherheitsrunde, während der ich so tat, als sei ich auf der Suche nach einem bestimmten Produkt. Ich hatte fest damit gerechnet, der einzige Kunde zu sein, weil es für die normale Bürgerschaft wirklich keinen Grund gab, samstags um diese Zeit in einem schweineteuren Sonderstore einzukaufen, aber als ich in die Sackgasse mit den Nudeln einmarschierte, musste ich zu meinem Gram feststellen, dass außer mir noch eine überschminkte Teenagergöre anwesend war.

Sie tippte abwechselnd hektisch auf ihrem Handy herum und ließ ihren Blick kritisch über die Regale schweifen.

Ich tat so, als würde ich die dunkelgrauen Scampi begutachten, die in der Kühltruhe zu meiner Linken lagerten. Unfassbar, sowas. Die armen Tiere waren völlig umsonst aus dem Ozean gefischt worden; welcher Mensch mit einem Funken Verstand würde sich Meeresfrüchte in einem Vakuumbeutel kaufen, an dem kein einziges Etikett klebte? Schließlich prallte die bescheuerte Tussi in mich rein. Ich musterte sie gereizt.

»Sorry«, sagte sie, ohne von ihrem iPhone aufzusehen. Mein Blick fiel auf ihr Dekolletee, beziehungsweise, auf den Schmuck, der dort auflag; eine filigrane, goldene Kette mit einem kleinen C als Anhänger.

»Kein Problem«, behauptete ich, und versuchte, Blickkontakt herzustellen, indem ich ihr wieder ins Gesicht starrte. Währenddessen überlegte ich, wie sie heißen könnte: Cornelia, Caroline, Camilla.

Meine Taktik funktionierte, sie sah mich an und ließ nun ihren kritischen Blick an mir hoch- und runtergleiten. Wahrscheinlich wirkte ich auf sie wie ein Alien, so ganz in schwarz gekleidet und ohne ein mobiles Empfangsgerät in der Hand, dafür mit einer Tasche behängt, auf der kein Markensymbol prangte.

»Können Sie mir helfen?«

Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit dieser Frage.

Kurzzeitig zog ich in Erwägung, sie umzubringen anstelle von Murali. Ich stellte mir vor, wie ich ihren schwarzglänzenden Schopf packte und ihre Stirn auf die Kühltruhe donnerte. Stattdessen antwortete ich: »Klar«, und war mir plötzlich ziemlich sicher, dass sie Carmen hieß. Das wäre zwar etwas hochtrabend, aber alles andere passte einfach nicht zu ihrer theatralischen Erscheinung.

Sie lehnte ihre Hüfte gegen die Truhe, verdeckte mir damit die Sicht auf die Scampi, und schnatterte drauflos. »Weil meine Schwester heute Geburtstag hat, habe ich ihr versprochen, dass ich für sie koche. Ich habe sie gefragt, was sie will, und sie sagte, indisch.«

»Aha.«

»Ja, aber ich finde hier irgendwie nichts.«

»Was suchst du denn?«

»Kurkuma. Und Kreuzkümmel. Ich habe versprochen, dass ich Dal kochen werde.«

»Und was soll das sein?«

Carmen seufzte und streckte mir ihr Handy vors Gesicht. Indisches Linsengericht: Dal, stand da.

»Guck dir doch ein Tutorial an«, sagte ich. Sie zog Handy und Hand aus meinem Gesichtsfeld und sah mich an, als hätte ich ihr vorgeschlagen, sich auszuziehen.

»Wozu das denn?«

»Na, damit du weißt, wie man das Gericht kocht.«

»Wie man kocht, weiß ich, dazu brauch ich kein Tutorial. Ich brauche bloß die Zutaten.« Sie wusste also, wie man kocht. Bravo, Carmen.

»Na denn. Warum fragst du nicht einfach den Verkäufer, ob er dir helfen kann? Immerhin ist er Inder.«

Sie zögerte kurz, dann machte sie einen Ausfallschritt nach rechts und streckte sich, um in das kurze Ende des Ls zu blicken, wo Murali sich gerade unbeeindruckt über ein dramatisches Schluchzen hinwegräusperte.

»Nein«, sagte sie dann, »der ist beschäftigt.«

»Beschäftigt? Er guckt sich doch bloß eine Serie an. Es ist sein Job, Kunden zu beraten. Geh hin und frag ihn, ob er diese Gewürze hat.«

Anstatt mir zu antworten, zuckte sie resigniert mit den Achseln und widmete sich wieder ihrem Bildschirm. Ich verspürte Selbstmitleid. Meinen ersten offiziellen Arbeitstag hätte ich mir wirklich geschmeidiger gewünscht. Für mein Vorhaben brauchte ich Fokussiertheit, kein krampfiges Gespräch mit einer Jugendlichen, die ihre Schwester mit einem aberwitzigen Menü beeindrucken wollte.

»Na ja«, sagte ich, »du könntest auch einfach zu diesem indischen Restaurant in der Seebachstraße gehen, das ist nur fünf Minuten von hier, und dort zwei Portionen Dal zum Mitnehmen bestellen.«

Carmen seufzte schon wieder. Ratlos betrachtete sie ihr Handy, dann schob sie es in ihre durchfallfarbene Louis-Vuitton-Tasche und meinte: »Ja.« Ja? Was für eine Antwort. Ja. Was sollte das heißen? War’s das jetzt wenigstens endlich, oder was?

Nein, offenbar nicht. Sie betrachtete mich konzentriert, als sei ich ein Verkaufsobjekt, von dem sie entscheiden musste, ob es ihr von Nutzen sein könnte oder nicht, und dann sagte sie, offenbar über jegliche Selbstzweifel erhaben: »Okay, gute Idee, das mache ich. Musst du zufällig auch in die Richtung und kannst mir zeigen, wo das ist?«

Bitte, was? Hatte ich akustische Halluzinationen?

»Du fragst mich, ob ich es dir zeigen kann?«

»Ja.« Schon wieder dieses Ja. Brüsk und präzise wie ein Pfeil, der einem einen Strich durch die Rechnung, beziehungsweise den eigenen Wortschatz, machte. Sie sah mich erwartungsvoll an. Die Kleine schien das ernst zu meinen. Ob das an meinem neuen Job lag? Hatte ich eine andere Aura als sonst? Wirkte ich auf Frauen auf einmal unwiderstehlich, jetzt, wo ich eine klare, unverrückbare Vision hatte? So direkt war ich jedenfalls noch nie nach einem Date gefragt worden und daher zugegebenermaßen erstmal sprachlos. Carmen hingegen starrte mich unverwandt herausfordernd an und klapperte mit ihren manikürten Fingernägeln auf dem Truhendeckel herum. Im Grunde wäre ich tatsächlich sehr gerne mit ihr zu diesem indischen Restaurant gegangen, warum auch nicht, ich war Single und hatte heute noch nichts Anständiges in den Magen bekommen, aber ich wusste, was ich hier zu tun hatte, also sagte ich: »Tut mir leid, ich habe leider keine Zeit.«

Sie nickte, sagte: »Okay, dann nicht«, und im nächsten Atemzug hatte sie ihre Hüfte auch schon von den Scampi gelöst und an mir vorbeigeschoben. Ich hielt instinktiv den Atem an und verspürte den Impuls, irgendeine groteske Bewegung auszuführen, mir zum Beispiel in den Arm zu kneifen oder in den Schritt zu fassen, zwecks Übersprungshandlung, aber ich konnte mich zusammenreißen.

Das Glöckchen über dem Eingang verkündete Carmens Abgang. Ich trat aus dem Nudelgang und sah durch das ranzige Fenster, wie ihr wohlgeformter Körper sich Richtung Park davonbewegte. Gerade als ich mich wieder meiner Arbeit widmen wollte, drehte sie sich nochmals um und blickte zum Laden zurück. Zu mir. Ihre Augen suchten meine und fanden sie. Ein winziges Lächeln, halb herablassend, halb umwerfend, dann war sie weg.

Und da geschah etwas Seltsames mit mir: Von einer Sekunde auf die andere war sämtliche Nervosität wie weggeblasen und stattdessen wallte ein pulsierendes Gefühl der Siegesgewissheit in mir auf. Ein jäher Schwall Glückshormone, die ausgeschüttet wurden, gepaart mit Adrenalin. Ein Gefühl, das ich schon ewig nicht mehr gehabt hatte.

Es musste daran liegen, dass mir in diesem Augenblick bewusstwurde, dass heute eine neue Ära für mich angebrochen war. Eine Ära, von der ich lange geträumt und tief in meinem Innern gespürt hatte, dass sie auf mich wartete. Heute war der Tag meiner selbstgeschaffenen Neugeburt. Ab heute wäre ich nicht mehr der durchschnittliche Hector Fober, der irgendwelchen Idioten eine Garantieverlängerung für ihren Handstaubsauger andrehte und dabei daran denken musste, dass sie alle nach Verlassen des Ladens sein Gesicht wieder vergessen würden, sondern ich war Hector, der Mord-Blogger. Der einzigartige Influencer Hector Fober, den fremde, gut aussehende Mädchen zum Essen einladen wollten.

Von nun an würde mich nie wieder irgendwer verkennen. Seelenruhig schlenderte ich zur Tür, vor der ich noch einen Hauch von Carmens Duft wahrzunehmen glaubte, und wollte gerade das Offen-Schild umdrehen, als mir etwas einfiel.

Ich war ein Trottel. Nein, ich war genial, aber kurzzeitig meines Verstandes beraubt gewesen aufgrund von vergessen geglaubten, niederen Trieben, die Karine in mir abgetötet oder die ich zumindest konsequent verdrängt hatte. Zum Glück hatte ich mich umgehend wieder im Griff und wusste, dass ich jetzt auf gar keinen Fall mein Projekt starten konnte, nachdem Carmen mich hier gesehen hatte. Denn selbst, wenn sie zu doof wäre, um später einen Zusammenhang zu ziehen zwischen meiner Anwesenheit und dem Mord an Murali – oder sie von jenem nichts mitbekommen würde – war das Risiko zu groß, weil sie gewiss ihren Freundinnen von mir erzählte. Voll krass, gestern Nachmittag habe ich meinen Traumtypen im Inderladen getroffen, würde sie sagen, und ihre Freundin Melanie darauf: Ach ja? Dort, wo gestern Nachmittag der Ladenbesitzer ermordet wurde?, und so würde eins zum andern kommen, bis ich im Gefängnis säße. Wer wusste, am Ende hatte die Göre sogar heimlich ein Foto von mir geschossen, so besessen, wie die von mir gewesen war. Ich durfte wirklich nicht leichtsinnig sein, darum kaufte ich mir an diesem Tage lediglich ein Bier – ich an der Kasse:« Das ist alles heute. Schönes Wetter draußen, was?«, Murali: undefinierbares Brummeln – und ging wieder nach Hause.

Somit musste ich also eine ganze Woche warten, bis ich Mord Nummer eins fortsetzen konnte (sonntags war dann einfach doch etwas zu viel los bei ihm und werktags war ich ja immerzu im Elektroladen), was aber gar nicht so schlecht war, weil ich dadurch Zeit hatte, das Menü meines Blogs zu erweitern. Bislang gab es ja nur die Hauptseite mit dem Titel HOME, auf der ich die Videos hochladen würde, und mehr war eigentlich auch nicht unbedingt geplant gewesen, aber nun dachte ich, dass es nicht schaden konnte, meinen Content noch um ein paar Aspekte zu erweitern.

Als Erstes integrierte ich ein Kontaktformular, das ich mit einer neu erstellten E-Mail-Adresse verknüpfte. Nähe zum Publikum war wichtig, um im Internet Bestand zu generieren, und aus diesem Grund erstellte ich auch noch eine zweite Unterseite, in der ich ein paar persönliche Informationen von mir preisgeben wollte. Die Unterseite taufte ich erstmal mit dem Titel Über mich und suchte dann im Internet nach passenden Vorlagen zum Stichwort Vorstellungstext. Das meiste, was mir vorgeschlagen wurde, war Schrott; zu bürokratisch oder zu konkret, ich wollte schließlich selbstredend nicht meine Identität publik machen, sondern lediglich ein paar Insiderinfos mit meinem Publikum teilen, damit dieses sich ein unverfängliches Bild von ihrem neuen Star machen und eine Bindung zu mir als Person aufbauen konnte.

Nach langer Herumklickerei gelangte ich über irgendwelche virtuellen Umwege zu einem Link, der mich in ein Pferde-Forum führte, dessen Klientel vorwiegend aus dreizehnjährigen Zahnspangenmädchen bestand, und als ich aus lauter Resignation dort etwas herumscrollte, entdeckte ich überraschenderweise im Thread Hallo! prompt einen Steckbrief, der mir zusagte. Ich kopierte ihn, übertrug ihn auf meinen Blog, passte die Typografie an und machte mich ans Ausfüllen.

Name, Alter, Gewicht und Größe löschte ich selbstredend raus, ebenso Lieblingspferderasse und die Frage Voltigieren oder Westernreiten?, alles andere beantwortete ich wahrheitsgemäß. Am Ende war ich überaus zufrieden mit dem, was ich bei Über mich betreffend Hector Fober zusammengetragen hatte:

Lieblingsessen: Trüffelrisotto

Liebster Urlaubsort: Berge

Lieblingsfarbe: blau

Lieblingsbuch: »Der Ekel« von Sartre

Wald, Strand oder Wiese: Wald

Schritt, Trab oder Galopp: Trab

Liebstes Wetter: Regen

Bei dem Satz Das kann ich besonders gut zögerte ich einen Augenblick. Worin war ich besonders gut? Und gab es etwas, worin ich nicht gut war, schlecht sogar? Hatte ich ein besonderes Talent? Irgendwie begann die Frage, mich aufzuregen. Außerdem befand ich, dass es sowieso besser war, nicht zu spezifisch zu werden, also tippte ich Spiele ein; das war in jeder Hinsicht eine zutreffende Antwort, denn ich war ja nicht nur ein geübter Zocker, sondern auch Entwickler, schließlich würde ich hier bald in gewisser Weise gerade zum ersten Mal mein eigenes Videospiel produzieren, und das, ohne dass ich dafür etwas programmieren musste. Und zudem war es unverfänglich genug, um auch noch tausend andere Dinge hineinzuinterpretieren.

Als ich auf Speichern drückte, fühlte ich mich meinen da draußen auf mich wartenden Fans schon deutlich näher. Aber etwas störte mich noch an dem Beitrag, wie ich beim erneuten Durchlesen feststellte. Am Inhalt lag es nicht, es war der Titel. Über mich klang nach lustlosem Grundschulaufsatz, also überlegte ich ein wenig hin und her und ersetzte die zwei Worte schließlich einfach durch einen Smiley. Erst wählte ich einen schallend Lachenden, aber das sah albern aus, also entschied ich mich nach einigem Herumprobieren für einen, der schelmisch grinste. Ja, das war gut; im ersten Moment wusste man nicht, was einen dahinter erwartete, aber nachdem man draufgeklickt hatte, würde man die Symbolik verstehen.

Und weil ich schon mal dabei war, änderte ich auch noch den Titel der Startseite, HOME war immerhin auch nicht gerade aussagekräftig; nach kurzer Überlegung entschied ich mich für Das Geschehen.

Dann war endlich der ersehnte Samstag da und ich konnte um fünfzehn Uhr dort weitermachen, wo ich vor einer Woche hatte aufhören müssen wegen der Ich-will-Dal-kochen-Tante.

Die ich übrigens noch am selben Tag ausfindig gemacht hatte in den sozialen Medien. Sie hieß nicht Carmen, sondern, sehr bizarr, Celeste, und war doch ein wenig älter, als ich angenommen hatte, nämlich zwanzig. Es war nicht schwer gewesen, sie aufzustöbern: da sie ja, wie sie gesagt hatte, wusste, wie man kocht, hatte ich sämtliche lokal angesiedelte Facebook-gruppen durchforstet, die etwas mit Kulinarik zu tun hatten, und dort jeweils alle Personen herausgefiltert, deren Namen mit C begannen.

In einer Gruppe namens Via Vital, die vom Besitzer einer gleichnamigen Salatbar gehostet wurde, fand ich sie dann prompt. Die Gruppe verzeichnete hundertfünfzig Mitglieder und man musste dem Administrator eine persönliche Anfrage schicken, wenn man aufgenommen werden und mit den erlauchten Fans einer speziellen Chopping-Technik, die Via Vital sich per Franchisevertrag von einem ausländischen Unternehmen erkauft hatte, in Kontakt treten wollte. Ich aber wollte nicht aufgenommen werden, sondern klickte auf Celestes Namen und besuchte ihr Hauptprofil, das leider ziemlich verstaubt anmutete – das einzige Foto, das ich sehen konnte, hatte sie vor fünf Jahren gepostet – aber immerhin hatte sie ihren Instagram Account verlinkt, der auf privat geschaltet war. Ich schickte ihr eine Followanfrage.

Okay, nun aber genug von ihr und endgültig zu Murali. Ich war also wieder hier und konnte endlich den legendären Move ausführen: das besagte Schild an der Ladentür umdrehen, so dass die Geschlossen-Seite nach außen zeigte. Dann ging ich zum drittletzten Regal vor dem Kassenbereich, das sich ungefähr zweieinhalb Meter von Murali entfernt befand auf Brusthöhe eine Reihe angelaufener Gläser mit eingelegtem Gemüse beherbergte. Ich drehte dem wie gehabt von einer Serie abgelenkten Murali den Rücken zu, nahm ein Essiggurkenglas in die Hand – fünfhundert Gramm – und zog parallel dazu die Handkamera aus der Tasche, um sie in die entstandene Regallücke zu stellen und die Linse auf den Kassenbereich auszurichten. In Muralis Serie wurde gerade mal wieder leidenschaftlich diskutiert, kurz darauf folgte pathetische, sitarlastige Musik. Murali stieß einen mitgenommenen Seufzer aus. Was für ein jämmerliches Leben der arme Mann führte. Post mortem konnte der mir wirklich dankbar dafür sein, dass ich ihn von dieser niemals endenden Duldungsstarre erlöste.

Ich war höllisch aufgeregt, soviel kann ich euch sagen. Mein erstes Video! Hastig kontrollierte ich das Bild auf dem ausgeklappten Screen. Die Höhe und der Sichtwinkel passten, ich musste lediglich noch eine Chipstüte zurechtrücken, die rechts oben verschwommen ins Bild ragte, denn natürlich wollte ich ein makelloses Resultat erzielen und in dieses zudem auf keinen Fall eine Chio-Schleichwerbung einbauen (zumindest nicht, solange ich von denen nicht gesponsert wurde). Ich klemmte mir das Gurkenglas unter den Arm und zog mir die Strumpfmaske über sowie die Handschuhe an. Ab jetzt musste alles sehr schnell gehen, soviel stand fest. Jede Sekunde zählte. Wenn ich beim weiteren Vorgehen aus irgendeinem Grund ins Zögern geriet, könnte alles schiefgehen. Murali hatte zwar das Gemüt einer Xanaxtablette, aber immerhin auch den deutschen Einbürgerungstest bestanden, wie mir seine Frau mal an einem seiner seltenen freien Tage in arrogantem Tonfall vorgetragen hatte, weshalb er wohl kein kompletter Vollidiot sein konnte und vermutlich nicht ruhig sitzen bleiben würde, wenn er sah, dass sein Kunde sich verhüllt hatte. Ich hatte keine Ahnung, ob und wenn ja, über was für ein Alarmsystem ein Mini-Supermarkt wie dieser verfügte. Wenn die Sicherheitsschulung hier ähnlich ausgesehen hatte wie in unserem Unternehmen, brauchte ich mir keine großen Sorgen zu machen, aber vielleicht hatte Murali ja selbstständig mit irgendwelchen Schutzmaßnahmen vorgesorgt, möglicherweise gab es irgendwo in seiner unmittelbaren Reichweite einen Notrufknopf. In jedem Fall musste ich schnell machen, denn auch gebäudeintern durfte auf keinen Fall Lärm entstehen. Mit den Paswan-Söhnen wollte ich es nämlich ehrlich gesagt ebenfalls ungern zu tun bekommen, denn zumindest einer von denen – das wusste ich ebenfalls aus der hochnäsigen Quelle Frau Paswan – war eins neunzig groß und machte Capoeira.

Nachdem ich bei beiden Geräten die Aufnahmetaste betätigt hatte, schnallte ich mir die Sportkamera an den Kopf. Uff, jetzt ging es los. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Ich hatte das Gefühl, Milliarden von Ameisen würden durch sämtliche Poren meines Körpers krabbeln, außerdem setzte eine Art Tunnelblick ein. Es war, als hätte ich Scheuklappen angelegt. Ich war ein Raubtier, das nur noch seine Beute sah; ich sah nur noch ihn, noch bevor ich mich zu ihm umdrehte, an den Rändern alles schwarz, die Welt war still, beugte sich meinem Willen. Dieser Moment gehörte niemandem mehr auf diesem Planeten außer mir.

Zielstrebig marschierte ich geradewegs zur Kasse und zog das Gurkenglas unter meiner Achselhöhle hervor. Als Murali in Zeitlupe von seinem Bildschirm aufblickte, aber nicht bis zu mir, sondern nur bis zum Tresen, schwebte das Glas schon über seinem Kopf. Er öffnete ganz leicht den Mund, als wolle er zu einem verblüfften Laut ansetzen, und schob währenddessen mit beiden Händen das iPad von sich weg, als hätte er Angst, dass ich es darauf abgesehen hatte. Weil ich wohl doch trotz allem ziemlich nervös war, schloss ich die Augen, als ich das Glas auf seinen Schädel niederkrachen ließ.

Das Erste, was ich dachte, war: Nein, das wird niemals klappen. Verdammte Scheiße. Gleich würde Murali aufspringen und die 110 wählen und ich verhaftet werden, noch bevor ich meinen allerersten Beitrag hätte veröffentlichen können. Was hatte ich getan? Das Glas war zersplittert, meine Tatwaffe dahin. Immerhin hatte ich mich dank meiner Handschuhe nicht verletzt. Als Nächstes dachte ich: was für ein Gestank. Ich machte die Augen auf und sah Blut, das, vermischt mit vermodertem Essigwasser, über das Gesicht meines Opfers lief, in seinen silbernen Haaren und den umfangreichen Augenbrauen verfingen sich diese undefinierbaren roten und weißen Glibberelemente. Zu meiner Verwunderung blieb er zunächst einfach so sitzen, die Hände im Schoß aneinandergelegt, und gaffte mich regungslos, fast teilnahmslos, an, als wartete er darauf, dass ich jetzt ganz normal meine Einkäufe auf den Tresen legte. Aber dann ging auf einmal eine ruckartige Bewegung durch seinen Oberkörper und seine rechte Hand schob sich an der Tischkante entlang, Richtung Kasse, da kriegte ich Panik. Was, wenn er eine Waffe hatte? Einen indischen Säbel in der Schublade? Zuzutrauen war es ihm; stille Wasser waren unberechenbar.

Blitzartig hob ich einen Splitter auf, der neben dem iPad gelandet und ungefähr so lang war wie mein Mittelfinger, und rammte ihn Murali kurzerhand mitten ins Gesicht. Der schrie prompt auf, was selbstredend ungünstig war wegen besagter Wohnung über uns, und sonderlich schalldicht schätzte ich diese seit den Achtzigern nicht mehr sanierte Bude nicht ein, also ließ ich den Splitter fallen, drückte Murali mit dem Ellbogen gegen die Wand, presste ihm die Hand auf den Mund und sagte: »Sei still.« Murali sagte, als ich ihn losließ, zum Glück, wie immer, nichts.

Lag in diesem Fall aber vermutlich daran, dass er benommen war, weil ihm Stirnblut und Gurkensuppe in die Augen lief, worauf er von seinem Stuhl rutschte, der ohnehin schon leicht malträtierte Kopf schlug hart auf dem Boden auf. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaubte, ihn etwas vor sich hinmurmeln zu hören, das nicht an mich gerichtet war. Er schien sich mit sich selber zu unterhalten oder mit irgendeinem der vielen nicht-monotheistischen Götter, an die er glaubte, und sah dabei überhaupt nicht panisch aus, sondern hatte eher den Ausdruck von jemandem im Gesicht, der schon als Kind gelernt hat, dass einem nichts anderes übrig bleibt, als das eigene Schicksal in kontemplativer Demut hinzunehmen, wenn man unbeschadet ins Nirwana kommen oder wenigstens bei der nächsten Familienfeier nicht als verwestlichter Außenseiter dastehen wollte. Ich umquerte den Verkaufstresen und riss die Münzschublade aus der Kasse; es war ein anderes Modell als bei uns im Elektroladen, dennoch fühlte sich dieser Griff vertraut genug an, dass er mir Zuversicht verlieh. Murali wand sich, als ich ihm den schwarzen Kasten überzog. Jetzt sah er nicht mehr entspannt aus. Er versuchte, mit den Armen sein Gesicht zu schützen, was ihm nicht sonderlich gut gelang; schon nach dem zweiten Schlag sanken die Hände auf den Boden. Die Münzen schepperten, Murali wimmerte, ich holte erneut aus und schmetterte ihm den Geldbehälter ein weiteres Mal auf den Scheitel. Es machte mir keinen Spaß ihm wehzutun, aber es fühlte sich auch nicht an, als würde ich eine dramatische Handlung vollziehen. Eigentlich fühlte ich überhaupt nicht viel, abgesehen davon, dass Aufhören jetzt ohnehin keine Option mehr war. Ich drosch lange auf den armen Murali Paswan ein, bis ich wirklich sicher war, dass er das nicht überlebt haben konnte. Alles an ihm war ruhig geworden, bis auf das Blut, das unablässig aus seinem Gesicht und auf sein kariertes Hemd tropfte. Eigentlich erstaunlich, dass diese Flüssigkeit, deren Funktion es war, einen Menschen am Leben zu erhalten, es schaffte, auch nach dem Tod noch derart beharrlich weiterzufließen, fast so, als hätte sie ein eigenes Leben und sei froh darum, endlich frei zu sein.

Ich stellte die Münzschublade auf den Tresen und atmete einmal tief ein und aus.

Dann fiel mir siedend heiß ein, dass diese letzte entscheidende Szene gar nicht hatte eingefangen werden können von der Canon, weil Herr Paswan ja schon seit einer halben Minute auf den Fliesen lag und sich somit außer Sichtweite der Linse befand, die ich auf die Höhe des Tresens ausgerichtet hatte, und dass die Aufnahme der Sportkamera gewiss viel zu ungestüm ausgefallen war, als dass man auf ihr den exakten Hinrichtungsverlauf würde erkennen können. Dumm gelaufen. Andererseits: vielleicht hatte ich ja Glück und diese ungeplante Inszenierung –Mörder, stehend und gut sichtbar, schlägt auf das am Boden liegende, sich nicht im Bild befindende Opfer ein, inklusive aussagekräftiger Geräuschkulisse – würde meinem Video einen künstlerischen Anstrich à la Tarantino verleihen.

Sicherheitshalber schnallte ich die Sportkamera ab und filmte den Toten damit nochmals von Kopf bis Fuß. Ich ging ein bisschen näher ran, zoomte an das halbzugeklappte rechte Auge heran, anschließend das geschlossene linke, dann drehte ich mich um, machte einen Schritt zurück und schwenkte die Linse zum iPad, das immer noch Muralis Serie abspielte und lediglich ein paar Essig-Spritzer abbekommen hatte und auf dem gerade eine bildschöne Dame ihre Sandaletten auszog. Das war das Schlussbild. Geschafft! Ich schaltete die Kamera aus und verstaute sie in meiner Tasche. Gerade als ich zurück zum Konservenregal eilen wollte, fiel mein Blick auf die Überwachungskamera, die links oben an der Decke hing. Klasse. Daran hatte ich ja überhaupt nicht gedacht. Die hätte mein Todesurteil bedeuten können. Jetzt aber dachte ich: Volltreffer. Wenn ich an diese Aufnahmen herankam, hätte ich auch meine Bodenszene zensurfrei auf Band, festgehalten aus einer statischen Totalen, was ich als aussagekräftigen Zwischenschnitt einbauen könnte.

Geistesgegenwärtig kletterte ich also über Muralis Leiche hinweg und stieß die Tür zum Hinterzimmer auf, das an die L-Spitze anschloss. Erstmal stolperte ich über einen riesigen Sack Reis und schlug mir das Knie an einer Holzkiste an. Scheiße, war das unordentlich hier, fluchend und humpelnd kämpfte ich mich zum Schreibtisch vor und suchte nach dem Speichergerät für die Überwachungsaufnahmen. Wonach suchte ich? Monitor? USB-Stick? Morse-Tafel? Ungeduldig stieß ich mit dem Ellbogen irgendwelchen Krempel zu Boden; englische Fachmagazine, einen Pappteller mit festgeklebten Blätterteigfetzen, Quittungen, bis ich schließlich das zuständige Endgerät in den Händen hielt. Es war ein weiteres iPad, auf dem wie erwartet in einer wenig spektakulären Aufsicht-Perspektive zu sehen war, was ich gerade fabriziert hatte: Murali, tot in den Scherben.

Ich schob einen Kleiderberg zur Seite und setzte mich auf die Tischkante. Dabei fiel mein Blick auf ein gerahmtes Foto, das ganz offensichtlich an einer indischen Hochzeit geschossen worden war: Leute in kruden Tanzpositionen und exorbitanter Kleidung vor einem Halbkreis aus Plastikstühlen, im Zentrum ein glückliches Pärchen. Ein schmächtiger Bursche war er gewesen früher, Murali Paswan, schmächtig, aber nicht schwächlich, ganz im Gegenteil; er schien komplett im Reinen mit sich und der Welt zu sein, keinerlei Angst vor der ungewissen Zukunft war in seinen Augen zu lesen angesichts der ihm bevorstehenden Ehe mit einer Frau, die mit Sicherheit seine Eltern für ihn ausgesucht hatten – so lief das meines Wissens in diesen Kulturen jedenfalls ab – stattdessen fixierte er mit entschlossenem, schicksalsbejahendem Blick die Kamera, während sein muskulöser Arm zuversichtlich auf der Schulter seiner herausgeputzten Gattin ruhte, die ebenfalls keinerlei Ähnlichkeit mehr hatte mit der Frau Paswan von heute. Ich versetzte dem Bild einen Stoß, um es auf den Boden zu befördern, weil es mich irgendwie ablenkte.

Dann versuchte ich, zu den Aufnahmen zu gelangen. Fehlanzeige. Das Kamerabild verschwand und wich dem Startbildschirm von Muralis iPad, wo ein Passwort verlangt wurde.

Ich probierte es erst spontan mit Samosa und anschließend mit 1234, dann kam ich mir lächerlich vor bei dem, was ich hier tat, und realisierte, dass ich keine Zeitverschwendung gebrauchen konnte, sondern hier raus und den zweiten Teil meiner Arbeit in Angriff nehmen musste. Ich stand auf und trümmerte das iPad gegen die Wand, bis es hinüber war. Wenn ich schon nicht an das Filmmaterial herankam, sollte das auch niemand anderem vergönnt sein. Es war ein verboten gutes, regelrecht läuterndes Gefühl. Wie oft hatte ich mir an langwierigen Nachmittagen im Elektroladen vorgestellt, irgendwelche intakten Geräte aus den Regalen zu ziehen und sie zu zerschmettern. Andere Leute brauchen einen Fallschirmsprung, um sich lebendig und befreit zu fühlen, ich brauchte das.

Wieder im Laden, schnappte ich mir Muralis Stuhl, riss die Überwachungskamera runter und machte auch sie dem Erdboden gleich. Dann ging ich zu den Einmachgläsern, nahm meine Handkamera, schaltete sie aus und dann hieß es endgültig: nichts wie weg hier.

Leider ging bei der ganzen Sache – also Mord Nummer eins – etwas Kleines daneben. Ich gebe das offen zu, auch wenn ich sie förmlich hören kann, die ganzen Schadenfreudigen, die jetzt höhnisch auflachen und sagen: Tja, das hätte ich dir gleich sagen können, dass das in die Hose geht, du Versager, aber jene Klugscheißer bitte ich halt einfach, sich kurz zu überlegen, ob sie schon mal in derselben Situation gesteckt haben wie ich, sprich, ein völlig neues, so noch nie da gewesenes Unternehmen komplett alleine aus dem Boden gestampft zu haben, oder nicht. Im Voraus immer an alle möglichen Konsequenzen zu denken ist nahezu menschenunmöglich, und das, was unmittelbar nach meinem Mord geschah, war wirklich einem unvorhersehbaren Scheißzufall und ein paar Deppen geschuldet, mit denen ich nichts am Hut hatte.

Außerdem ließ sich der missliche Zwischenfall ja am Ende aufklären und half mir sogar rückblickend dabei, meine weiteren Mordtouren etwas durchdachter anzugehen. Zu diesem Zwischenfall komme ich aber später, erstmal will ich berichten, wie es direkt im Anschluss bei mir weiterging.

Ich verstaute also alle meine Materialien in der Umhängetasche, verließ Muralis Laden und begab mich gemäßigten Schrittes nach Hause. Dort angekommen wollte ich mir direkt einen Kaffee einflößen, merkte aber, dass ich mich dafür zu aufgewühlt fühlte, so dass ich ihn wegschüttete und stattdessen ins Badezimmer rannte, um mich unter die Dusche zu stellen und unter kaltem Wasser zu masturbieren. Als nur noch lauwarmes Wasser aus der Brause kam, weil dieses bescheuerte Leitungssystem offenbar der Auffassung war, dass kein mündiger Mensch freiwillig länger als fünf Minuten eiskalt duscht, siedelte ich in Boxershorts über in die Küche. Goss mir ein Glas Sprudelwasser ein und stellte mir kurz vor, dass Karine hier wäre, so wie früher, als sie samstagabends vor ihrer Spätschicht im Behindertenheim noch rasch bei mir geklingelt hatte.

Sonderlich berauschend war diese Vorstellung indes nicht, zumal der Sex vor ihrer Arbeit aus Zeitdruckgründen immer sehr unambitioniert vonstattengegangen war, also verdrängte ich sie und ging weiter ins Wohnzimmer, packte meine Tasche aus, warf Strumpfmaske und Handschuhe auf den Boden, um sie später in die Waschmaschine zu stecken, und machte mich schließlich daran, meine Aufnahmen auf den Rechner zu ziehen.

Ich zitterte vor Anspannung. Als ich nach einer halben Ewigkeit – es war die Schuld des Bronzezeitlaptops, meine Internetverbindung war einwandfrei – endlich die Früchte meiner Arbeit begutachten konnte, gelang es mir erstmals, mich ein wenig zu entspannen. Was ich aufgenommen hatte, waren vielleicht noch keine Meisterwerke, aber dass da ein Kamera-Neuling am Werk gewesen war, konnte man nicht sehen, fand ich. Und ebenfalls sah man mir meiner Meinung auch nicht an, dass ich zum ersten Mal jemanden umbrachte; meine Vorgehensweise mochte zwar strategisch nicht übermäßig durchdacht anmuten – Stichwort Tatwaffe – aber meine Bewegungen wirkten dennoch präzise und ergebnisorientiert. Ich war zufrieden und schnitt mein Material zu einem vierminütigen Video zusammen. Die langweiligen Teile – mein Marsch zur Kasse am Anfang und dann am Ende die Szene, in der ich im Hinterzimmer zugange war – warf ich selbstredend raus. Der Film startete da, wo ich den Verkaufstresen erreichte und begann, das Glas anzuheben, und endete, wie schon gesagt, mit dem Close auf die Zehennägel einer mir unbekannten, indischen Filmschönheit.

Ich achtete darauf, die beiden Kameraperspektiven gleichmäßig abzuwechseln, damit meine Zuschauerschaft auch wirklich keinen Grund hätte, sich zu langweilen und – ganz schlimmer Gedanke – frühzeitig weg zu klicken.

Als ich fertig war, war ich stolz auf mich, das kann man nicht anders sagen.

Nachdem ich über das Endergebnis noch einen Filter namens Riverside gelegt hatte, der das Sonnenlicht auf eine düstere, aber keinesfalls splatterhafte Weise abdämmte, speicherte ich das Video unter dem Namen Das Gurkenmassaker in einem neuen Ordner auf dem Desktop ab.

Er, der Desktopbildschirm, wurde übrigens von einem Foto geziert, auf dem jemand eine lebendige Maus an eine Schlange verfütterte. Widerlich, zumal ich nicht daran zweifelte, dass es sich bei jemand um die haarige Hand des Zahnpastatypen handelte. Das Bild würde ich wohl demnächst mal ändern müssen, wenn ich mich während meiner Arbeit nicht ständig ekeln wollte, jetzt aber holte ich erstmal noch ein letztes Mal tief Luft, um den allerletzten und wichtigsten Schritt zu tätigen: meinen Blog aufrufen und das Video hochladen.

Es dauerte ewig. Upload, upload, upload. Mit verkrampftem Gesicht starrte ich den grauen Button an und es kostete mich große Anstrengung nicht nochmal drauf zu klicken, als der Ladebalken immer wieder ins Stocken geriet, aber ich wollte auf keinen Fall aus Ungeduld den Fehler begehen, das File doppelt oder gar mehrfach zu posten, sowas wirkte spammäßig und stümperhaft.

Draußen bellte ein Hund in den angebrochenen Tag hinein, ansonsten war es heute fast schon verdächtig still in der Nachbarschaft.

Meine Finger kribbelten. Da, jetzt. Endlich. Der störrische Balken löste sich auf und machte einem verheißungsvollen Rechteck Platz. Anmutig wie ein Adler, der seine Flügel ausbreitet, entfaltete mein Video seine Pixel vor mir auf dem Screen, bis die vollständige Länge (4 Minuten, 11 Sekunden) im Zeitstrahl sowie das Thumbnail (ich, wie ich das Gurkenglas anhebe) und darüber der Titel angezeigt wurden.

Es positionierte sich schön in der Mitte der Seite, so, wie ich das haben wollte – ein linksorientierter Einzug wäre mir zu reporterhaft gewesen, ein rechtsorientierter zu pseudokünstlerisch- und da war es nun, mein erstes Werk, anklickbar von unserm gesamten Globus und bereit, sich tausendfach auf diesem zu verbreiten. Ich sah mir das Video fünf Mal hintereinander an, und ich gebe zu, ein bisschen befremdlich war das am Anfang schon, mir selber dabei zuzusehen, wie ich einen Menschen töte, aber ich sagte mir, dass es notwendig war, um mich einerseits an den Anblick zu gewöhnen und andererseits Verbesserungsansätze fürs nächste Mal mitzunehmen.

Ehrlich gesagt gewöhnt man sich tatsächlich relativ schnell daran. Jedenfalls dachte ich schon bei Runde Drei kurz darüber nach, was ich zu Abend essen sollte.

Und beim vierten Abspielen dachte ich an meine Mutter, die, als ich fünf Jahre alt gewesen war, mal zu irgendwelchen Leuten auf der Straße gesagt hatte: »Der ist ja so ein braves Kind!« – sie meinte mich – »Neulich war ich zwei Tage lang zum Heilfasten weg, da hatte Hecki eine Babysitterin, und die meinte anschließend zu mir, dass sie ganz überrascht gewesen sei von ihm. Er sei viel wissbegieriger und origineller als andere Jungs in seinem Alter, und viel weniger destruktiv.«

»Toll«, sagten die Leute.

»Ja«, sagte meine Mutter, »und er ist wirklich ein ganz zartes Wesen, das keiner Fliege etwas zuleide tun kann.«

Vermutlich denkt sie noch heute so über mich. Gut, ich habe ihr wirklich nie einen Anlass gegeben, mich für einen durchtriebenen Vandalen zu halten, allerdings habe ich auch nicht den Eindruck, dass meine Mutter über eine sonderlich gute Menschenkenntnis verfügt. Dazu ist sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit ihrer Abkapselung vom Pfad des Leidens, ihrem inneren Tempel, ihren Fragen, deren Antworten sie in gelben und orangefarbenen Büchern findet, auf denen irgendwelche weißen, angeblich auch weisen, alten Männer abgebildet sind, die laut ihr mit der wirklichen Bedeutung des Lebens in Berührung gekommen sind, nachdem sie dem Kapitalismus den Rücken gekehrt haben.

Mich hat dieser angebliche Weg zur Erleuchtung nie interessiert. Sie hat es versucht, aber sie konnte mit ihrer zwanghaften Kontemplation nie zu mir durchdringen. Ich war nicht empfänglich für Sitzkissen und handgepressten Grüntee, ich hatte kein Interesse an der überwältigenden Macht des gegenwärtigen Moments.

Ich wollte nicht meditieren, ich mochte die esoterische Musik und den Geruch ihrer entspannungsfördernden, ätherischen Öle nicht und diese weißen Männer in den handgewebten Tuniken, die in Wahrheit Jean-Pierre oder Ludwig hießen, sich aber Tamosh und Rodi Simpura nannten, waren mir zuwider; mit denen konnte und wollte ich mich nicht identifizieren. Das Einzige, was ich spannend fand, war die Geschichte von diesem Land namens Vietnam, in dem meine Mutter den Ursprung ihrer Ideologien verortete, ohne je dort gewesen zu sein. Darüber hätte ich gern mehr erfahren: die Dynastien im Mittelalter, den Krieg, über den ich bis dahin bloß einen Hollywoodfilm in der Schule gesehen hatte, und die Unabhängigkeit, die darauffolgte. Dies wiederum waren Dinge, die meiner Mutter am Arsch vorbeigingen, darum blieb es dabei, dass wir uns uneins waren, jedenfalls bis ich sechzehn war und sie den Versuch endlich aufgab, aus mir einen dankbaren Nachwuchsmönch zu machen, nachdem Herr Nesto sie darauf hingewiesen hatte, dass man pubertierende Jungs in Ruhe lassen sollte, wenn man nicht wollte, dass sie sich von einem abwandten.

Vielleicht sollte ich sie trotzdem mal wieder anrufen, meine Mutter. Hatte sie seit Anfang des Jahres nicht mehr gesehen.

Zurück zum Thema: Die Arbeit war getan. Dachte ich jedenfalls zunächst im ersten Moment der wohlverdienten Erschöpfung, lag damit aber falsch, wie mir klar wurde, während ich auf den Bildschirm starrte und den Play-Button fixierte, der bislang erst von einer Person, nämlich mir, angewählt wurde. Was ich dann dachte, war nämlich: und jetzt? Der Blog war da, der Mord war da, das Video auch, aber das Entscheidende fehlte noch: Rezipienten. Ein gefesseltes Publikum. Klicks, Kommentare, Likes. Das, worauf es letztlich ankam. Ich dachte: Scheiße, vielleicht hätte ich mich darum früher kümmern sollen. Hätte im Vorfeld auf verschiedenen Kanälen meinen Blog bewerben müssen, auf irgendeine Art und Weise zumindest ein paar Teaser ins Netz streuen sollen. Als ich mir ins Bewusstsein rief, wie viele Blogs und andere Online-Accounts tagtäglich – stündlich! sekündlich! – in den Äther gespuckt wurden und wie gewieft diese ganzen – oftmals blutjungen – Leute vorgingen, um zu viralen Wundern werden, wurde mir kurz schlecht.