Suche mich nicht - Harlan Coben - E-Book
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Harlan Coben

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Beschreibung

Für Simon wird ein Alptraum wahr, als seine Tochter Paige von einem Tag auf den anderen verschwindet. Hinterlassen hat sie eine Botschaft, in der sie klar macht, dass sie nicht gefunden werden will. Panisch begibt sich Simon auf die Suche, und als er Paige im Central Park tatsächlich entdeckt, erkennt er seine Tochter nicht wieder. Denn diese junge Frau ist völlig verstört und voller Angst. Sie flieht vor ihm, und Simon hat nur eine Chance, wenn er sie retten will: Er muss ihr in die dunkle und gefährliche Welt folgen, in deren Sog sie verloren ging. Und was er dort entdeckt, reißt ihn und seine gesamte Familie in einen Abgrund …

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Buch

Für Simon wird ein Albtraum wahr, als seine Tochter Paige von einem Tag auf den anderen verschwindet. Hinterlassen hat sie eine Botschaft, in der sie klarmacht, dass sie nicht gefunden werden will. Panisch begibt sich Simon auf die Suche, doch als er Paige im Central Park tatsächlich entdeckt, erkennt er seine Tochter kaum wieder: Die junge Frau ist völlig verstört und voller Angst. Sie flieht vor ihm, und Simon hat nur eine Chance, wenn er sie retten will: Er muss ihr in die dunkle und gefährliche Welt folgen, in deren Sog sie verloren ging. Und was er dort entdeckt, reißt ihn und seine gesamte Familie in einen Abgrund …

Autor

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Seine Thriller sind bisher in über 40 Sprachen übersetzt worden und erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Er wurde als erster Autor mit den drei bedeutendsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet – dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award – und gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Harlan Coben lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in New Jersey.

Mehr zum Autor und seinen Büchern unter www.harlancoben.com.

HARLAN COBEN

Suche mich nicht

Roman

Deutsch von Gunnar Kwisinski

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Run Away« bei Gran Central Publishing, New York/Boston.

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2019

Copyright © der Originalausgabe 2019 by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe Juni 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfotos: Getty Images / Xuanyu Han; ILINA SIMEONOVA / Trevillion Images

Redaktion: Anja Lademacher

TH · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22072-3V004

www.goldmann-verlag.de

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Für Lisa Erbach-Vance,Literaturagentin der Extraklasse,in Liebe und Dankbarkeit

EINS

Simon saß auf einer Bank im Central Park – in Strawberry Fields, um genau zu sein – und spürte, wie ihm das Herz brach. Das bemerkte natürlich niemand – zunächst jedenfalls nicht. Erst als die Fäuste flogen und zwei Touristen, ausgerechnet aus Finnland, zu schreien anfingen, während neun weitere Parkbesucher aus den unterschiedlichsten Ländern den ganzen abscheulichen Vorfall mit ihren Handys filmten.

Aber bis dahin sollte noch eine Stunde vergehen.

In Strawberry Fields gab es weder Erdbeeren, noch konnte man diesen knapp einen Hektar großen Parkabschnitt als »Feld« (Einzahl) bezeichnen, und »Felder‹« (Plural) traf die Sache schon gar nicht. Aber der Name spielte auch nicht auf eine aktuelle oder frühere Nutzung dieser Fläche an, vielmehr bezog er sich auf den Beatles-Song Strawberry Fields For­ever. Strawberry Fields ist eine dreieckige Fläche im Central Park West auf Höhe der 72nd Street und ist dem Andenken John Lennons gewidmet, der direkt gegenüber im Dakota Building erschossen wurde. Das Herzstück der Gedenkstätte ist ein rundes Mosaik aus schwarzen und weißen Steinen, die in dessen Mitte ein einzelnes Wort bilden:

IMAGINE

Tief bestürzt blickte Simon vor sich hin, nur gelegentlich blinzelte er. Touristen strömten herbei und machten Fotos mit dem berühmten Mosaik – Gruppenbilder, Selfies, manche knieten sich auf die Steine, manche legten sich darauf. Wie an fast jedem Tag war der Schriftzug IMAGINE mit frischen Blumen geschmückt, heute in Form eines Peace-Zeichens aus den Blütenblättern von roten Rosen, die selt­samerweise nicht wegwehten. Die Besucher warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren – vielleicht weil es eine Gedenkstätte war – und dieses ganz besondere Foto machen konnten, das sie dann auf Snapchat, Instagram oder einer anderen von ihnen bevorzugten Social-Media-Plattform mit einem John-Lennon-Zitat posteten, zum Beispiel ein paar Zeilen aus einem Beatles-Song oder etwas aus jenem Lied, in dem alle Menschen in Frieden lebten.

Simon trug Anzug und Krawatte. Er hatte die Krawatte nicht gelockert, als er sein Büro im World Financial Center in der Vesey Street verlassen hatte, um hierherzukommen. Ihm gegenüber saß eine – wie nannte man sie heutzutage? Obdachlose? Berberin? Drogenabhängige? Psychisch Kranke? Bettlerin? – ganz nah am berühmten Mosaik und spielte für Kleingeld Beatles-Songs. Die »Straßenmusikerin« – vielleicht eine wohlwollendere Bezeichnung – schrammelte auf einer verstimmten Gitarre herum und krächzte mit gelben Zähnen etwas über Penny Lane, die »in her ears and in her eyes« sei.

Eine befremdliche oder zumindest komische Erinnerung schoss Simon durch den Kopf: Simon war ständig an diesem Mosaik vorbeigekommen, als seine Kinder klein gewesen waren. Paige musste etwa neun, Sam sechs und Anya drei Jahre alt gewesen sein, als sie von ihrem Apartment, das nur fünf Blocks von hier entfernt zwischen der Columbus Avenue und Central Park West an der 67th Street lag, regelmäßig über Strawberry Fields zur Alice-in-Wonderland-Statue am Ostrand des Parks spazierten. Was sonst fast nirgends auf der Welt erlaubt war, hier war es kein Problem. Kinder durften auf den gut drei Meter hohen Figuren von Alice, dem verrückten Hutmacher, dem weißen Kaninchen und ein paar scheinbar unpassenden Riesenpilzen herumklettern und -krabbeln. Und Sam und Anya liebten das, sie ­wuselten auf den Figuren herum, wobei Sam irgendwann immer zwei Finger in Alice’ Bronze-Nasenlöcher steckte und Simon zurief: »Dad! Guck mal, Dad! Ich popel in Alice’ Nase!«, woraufhin Sams Mutter Ingrid unweigerlich seufzte und leise »Jungs« murmelte.

Aber Paige, ihre Erstgeborene, war schon damals ruhiger gewesen. Sie setzte sich mit einem Malbuch und unbeschädig­ten Wachsmalstiften auf eine Bank – sie mochte es nicht, wenn ein Stift zerbrach oder sich die Papierhülle löste – und achtete penibel darauf, die vorgegebenen Linien auf keinen Fall zu übermalen, sich also an die vorgegebenen Grenzen zu halten, was auch im übertragenen Sinne typisch für sie war. Als sie älter war – fünfzehn, sechzehn, siebzehn –, setzte Paige sich oft auf eine Bank und schrieb Geschichten oder Liedtexte in ein Notizbuch, das ihr Vater im Papyrus-Schreibwarenladen an der Columbus Avenue für sie gekauft hatte. Allerdings setzte Paige sich nicht einfach auf irgendeine Bank. Wohl an die viertausend Bänke im Central Park waren durch hohe Geldspenden gewissermaßen »adoptiert« worden. Sie waren mit Plaketten versehen, meistens in Gedenken an irgendjemanden, so auch die, auf der Simon gerade saß:

INGEDENKENANCARLUNDCORKY

Paige fühlte sich aber besonders zu jenen Bänken hingezogen, die kleine Geschichten erzählten:

Für C&B, die den Holocaust überlebten, und in dieser Stadt ein neues Leben anfingen …

Für meinen Schatz Anne. Ich liebe dich, ich verehre dich, ich himmle dich an.Willst du mich heiraten?

An diesem Ort begann unsere Liebe am 12. April 1942 …

Die Bank, die Paige allen anderen vorzog, auf der sie mit ihrem neuesten Notizbuch stundenlang saß – und das war vielleicht ein erstes Anzeichen gewesen? –, erinnerte an eine mysteriöse Tragödie:

Für die schöne Meryl, 19 Jahre alt. Du hast etwas viel Besseres verdient und bist so jung gestorben. Ich hätte alles getan, um dich zu retten.

Paige war von Bank zu Bank gegangen, hatte die Inschriften gelesen und sich eine gesucht, die sie als Anregung für eine Geschichte nutzte. In dem Versuch, die Beziehung zu ihr zu vertiefen, hatte Simon probiert, es ihr nachzutun, er besaß jedoch nicht die Fantasie seiner Tochter. Er setzte sich dennoch zu ihr und las Zeitung oder fummelte mit seinem Handy herum, auf dem er die Weltmärkte checkte oder sich Wirtschaftsmeldungen ansah, während Paiges Stift über die Seiten flog.

Was war mit diesen alten Notizbüchern geschehen? Wo waren sie jetzt?

Simon hatte keine Ahnung.

Gnädigerweise endete Penny Lane, und die Sängerin/Bettlerin leitete direkt zu All You Need Is Love über. Ein junges Paar setzte sich neben Simon auf die Bank. Der junge Mann flüsterte deutlich hörbar: »Kann ich ihr auch Geld geben, damit sie aufhört?«, woraufhin seine Begleiterin kicherte. »Das ist ja, als würde man John Lennon noch einmal ermorden.« Einige Leute warfen ein paar Münzen in den Gitarrenkasten der Frau, die meisten blieben jedoch auf Abstand oder wichen mit einer Miene zurück, als hätten sie etwas gewittert, mit dem sie nichts zu tun haben wollten.

Aber Simon hörte ganz genau zu und hoffte, einen Anflug von Schönheit in der Melodie, dem Song, dem Text oder wenigstens in der Vorführung zu entdecken. Er bemerkte weder die Touristen noch die Fremdenführer noch den Mann ohne Hemd (der besser eins hätte tragen sollen), der Wasserflaschen für einen Dollar verkaufte, den hageren Typen mit dem Unterlippenbärtchen, der für einen Dollar einen Witz erzählte (»Sonderangebot: 6 Witze für 5 Dollar«), die alte ­Asiatin, die John Lennon zu Ehren Weihrauch verbrannte, die Jogger, die Hundeausführer oder die Sonnenanbeter.

Aber in der Musik war keine Schönheit zu finden. Nirgends.

Simons Blick verweilte auf der jungen Bettlerin, die John Lennons Vermächtnis verstümmelte. Ihre Haare waren matt und verfilzt. Die Wangen eingefallen. Das Mädchen war spindeldürr, zerlumpt, dreckig, ramponiert, obdachlos, verloren.

Außerdem war sie Simons Tochter Paige.

* * *

Simon hatte Paige seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen – seit sie das Unverzeihliche getan hatte.

Und Ingrid hatte an diesem Punkt gänzlich mit ihr gebrochen.

»Diesmal lässt du sie in Ruhe«, hatte Ingrid zu ihm gesagt, nachdem Paige aus der Wohnung gerannt war.

»Soll heißen?«

Und dann hatte Ingrid, die wunderbare Mutter, die fürsorgliche Kinderärztin, die sich ganz der Aufgabe verschrieben hatte, bedürftigen Kindern zu helfen, gesagt: »Ich will sie hier im Haus nicht mehr sehen.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Doch, Simon. Bei Gott, das ist es.«

Monatelang hatte er Paige gesucht, ohne dass Ingrid etwas davon wusste. Manchmal war er systematisch vorgegangen, zum Beispiel, als er einen Privatdetektiv beauftragt hatte. Meistens hatte er es jedoch aufs Geratewohl versucht, war unter anderem planlos durch gefährliche, drogenverseuchte Viertel gelaufen und hatte den Zugedröhnten und Unappetitlichen dieser Stadt ihr Foto gezeigt.

Ohne Erfolg.

Paige hatte vor Kurzem ihren 21. Geburtstag gefeiert. (Aber wie? Mit einer Party? Einem Kuchen? Drogen? Hatte sie überhaupt gewusst, dass sie Geburtstag hatte?) Simon überlegte, ob sie womöglich aus Manhattan in die College-Stadt zurückgekehrt war, in der das ganze Elend seinen Anfang genommen hatte. Daher war er an zwei Wochenenden, an denen Ingrid Dienst und daher keine Gelegenheit hatte, allzu viele Fragen zu stellen, in den Norden hinaufgefahren und hatte sich im Craftboro Inn am College einquartiert. Er war auf dem Quad, der großen Grünfläche auf dem Campus, herumgelaufen und hatte daran gedacht, wie begeistert sie alle fünf – Simon, Ingrid, die zukünftige Studentin Paige, Sam und Anya – hier angekommen waren und Paige beim Einräumen ihres Zimmers geholfen hatten. Ingrid und er waren fast absurd zuversichtlich gewesen und hatten diese Uni mit den vielen, großen Grünflächen und den umliegenden Wäldern als echten Glücksgriff für ihre in Manhattan aufgewachsene Tochter betrachtet. Aber er erinnerte sich natürlich auch daran, wie diese Zuversicht allmählich abgenommen hatte und schließlich ganz verschwunden war.

Ein Teil von ihm – den er nie offenbarte und dessen Existenz er sich selbst nicht recht eingestand – hatte die Suche nach ihr schon aufgeben wollen. Das Leben war, wenn auch nicht besser, so doch zumindest ruhiger geworden, seit Paige weggelaufen war. Sam, der im Frühjahr seinen Abschluss an der Horace Mann School gemacht hatte, erwähnte seine große Schwester kaum. Er hatte sich auf seine Freunde, den Highschool-Abschluss und Partys konzentriert – und bereitete sich gerade auf sein erstes Jahr auf dem Amherst College vor. Und Anya, tja, Simon wusste nicht, was sie über die ganze Sache dachte. Sie sprach nicht mit ihm über Paige – und auch nicht über so ziemlich alles andere. Ihre Reaktion auf seine Gesprächsversuche bestand häufig nur aus einem Wort, das wiederum meist nur aus einer Silbe bestand. Es gehe ihr »gut«, alles sei »’kay« oder eben »klar«.

Dann bekam Simon einen eigenartigen Hinweis.

Vor drei Wochen war er mit einem Nachbarn von oben, Charlie Crowley, Augenarzt mit eigener Praxis im Stadtzentrum, im Fahrstuhl nach unten gefahren. Nach kurzem Austausch der üblichen nachbarschaftlichen Höflichkeitsfloskeln hatte Charlie, der, wie fast alle Leute, auf die Anzeige neben der Fahrstuhltür blickte, die die Stockwerke herunterzählte, schüchtern und voller Bedauern gesagt, er »glaube«, Paige gesehen zu haben.

Simon, der auch auf die Anzeige blickte, hatte sich so beiläufig wie nur möglich nach Einzelheiten erkundigt.

»Das könnte, äh, im Park gewesen sein«, sagte Charlie.

»Sie ist durch den Park gegangen?«

»Nein, nicht direkt.« Sie hatten das Erdgeschoss erreicht. Die Tür glitt zur Seite. Charlie atmete tief durch. »Paige … hat Musik gemacht, in Strawberry Fields.«

Charlie musste Simons verblüffte Miene gesehen haben.

»Sie wissen schon, äh, für Kleingeld.«

Simon spürte, wie etwas in ihm zerbrach. »Kleingeld? Wie ein …?«

»Ich wollte ihr erst etwas geben, aber …«

Simon signalisierte mit einem Nicken, dass es schon okay wäre und er bitte fortfahren sollte.

»… aber Paige war so weggetreten, dass sie mich gar nicht erkannt hat. Ich hatte Angst, dass sie es einfach für …«

Charlie brauchte den Satz nicht zu beenden.

»Tut mir leid, Simon. Wirklich.«

Das war alles.

Simon überlegte, ob er Ingrid von der Begegnung erzählen sollte, hatte aber keine Lust auf die Konsequenzen, die das nach sich ziehen würde. Stattdessen ging er in der Pause öfter mal nach Strawberry Fields.

Paige traf er nicht.

Er fragte ein paar der Straßenmusiker, die dort spielten, ob sie sie kannten, zeigte ihnen ein Foto von ihr auf dem Handy, bevor er ein paar Scheine in ihren Gitarrenkoffer warf. Ein paar sagten Ja und stellten weitere Einzelheiten in Aussicht, falls Simon den Betrag im Koffer erhöhte. Simon tat das, doch die versprochene Gegenleistung blieb aus. Die Mehrheit behauptete weiterhin, sie nicht zu kennen, und jetzt, da er sie leibhaftig vor sich sah, verstand Simon auch, warum. Es gab so gut wie keine körperliche Ähnlichkeit zwischen seiner einst hübschen Tochter und diesem ausgemergelten Klappergestell.

Doch wenn Simon so in Strawberry Fields saß – meistens vor einem fast schon auf irrwitzig komische Weise ignorierten Schild mit der Aufschrift:

RUHEZONE – KEINE VERSTÄRKER UND MUSIKINSTRUMENTE

– fiel ihm etwas Seltsames auf: Die Musiker, die alle recht abgerissen und verwahrlost wirkten, spielten nie gleichzeitig oder versuchten sich gegenseitig zu übertönen. Die Wechsel zwischen den Straßengitarristen erfolgten bemerkenswert reibungslos, fast immer zur vollen Stunde.

Als gäbe es einen Terminplan.

Eine Spende von fünfzig Dollar verhalf Simon zu einem Treffen mit einem Mann namens Dave, einem der zerlumpteren Straßenmusiker mit einem riesigen grauen Haarhelm, von Gummibändern zusammengehaltener Gesichtsbehaarung und einem geflochtenen Zopf, der bis zur Mitte des Rückens reichte. Dave, der sowohl ein stark verwitterter Mittfünfziger als auch ein jung gebliebener Siebzigjähriger hätte sein können, erklärte ihm, wie die Sache lief.

»Früher hat ein Typ namens Gary dos Santos … kennen Sie ihn?«

»Der Name kommt mir bekannt vor«, sagte Simon.

»Ja, wenn Sie damals hier spazieren gegangen sind, Junge, Junge, dann erinnern Sie sich bestimmt an ihn. Gary war der selbst ernannte Bürgermeister von Strawberry Fields. Er war groß und kräftig. Hat hier zwanzig Jahre lang für Ruhe und Ordnung gesorgt. Und mit Ruhe und Ordnung meine ich totale Einschüchterung. Der Kerl war irre, verstehen Sie?«

Simon nickte.

»Dann ist Gary gestorben. 2013. Leukämie. Er war erst neunundvierzig. Und hier …«, Dave zeigte mit dem finger­losen Handschuh in die Runde, »… ist die Hölle losgebrochen. Ohne den Fascho herrschte plötzlich totale Anarchie. Haben Sie mal Machiavelli gelesen? So war das hier. Tag für Tag gab es Streit zwischen den Musikern. Territorialkämpfe, verstehen Sie?«

»Ich verstehe.«

»Dann haben sie versucht, sich selbst zu organisieren, aber Sie müssen sich nur mal umgucken – die Hälfte der Leute hier kann sich kaum selbst anziehen. Na ja, und wenn ein Arschloch zu lange gespielt hat, hat das nächste einfach dagegengehalten, dann haben beide angefangen zu schreien und vor den kleinen Kindern zu fluchen. Manchmal haben sie sich auch geprügelt, und die Polizei ist gekommen. Sie verstehen, was ich meine, oder?«

Simon signalisierte mit einem Nicken, dass er das tat.

»Das hat unserem Ruf geschadet, von der Geldbörse gar nicht zu reden. Aber dann haben wir gemeinsam eine Lösung gefunden.«

»Und wie sieht die aus?«

»Ein Terminplan. Stündlicher Wechsel von zehn Uhr morgens bis sieben Uhr abends.«

»Ehrlich?«

»Ja.«

»Und das klappt?«

»Nicht perfekt, aber ziemlich gut.«

Wirtschaftliches Eigeninteresse, dachte Simon, der Finanzanalyst. Eine Lebenskonstante. »Und wie reserviert man eine Zeit?«

»Per SMS. Fünf Leute spielen hier regelmäßig. Die kriegen die besten Slots. Die anderen können sich für die Zeiten dazwischen anmelden.«

»Und Sie managen den Terminplan?«

»So ist es.« Dave schwoll vor Stolz die Brust. »Wissen Sie, ich weiß, wie man das regelt. Ich achte zum Beispiel darauf, dass Hal nie direkt vor oder nach Jules spielt, weil die beiden sich schlimmer hassen als meine Ex-Frauen mich. Außerdem achte ich auch ein bisschen auf so etwas wie Diversität.«

»Diversität?«

»Schwarze, Tussis, Bohnenfresser, Schwuchteln, und wir haben sogar ein paar Orientalen.« Er breitete die Hände aus: »Wir wollen ja nicht, dass die Leute glauben, dass alle Penner männliche Weiße sind. Denn das ist ein wirklich übles Vorurteil, verstehen Sie?«

Simon verstand das. Er verstand auch, dass es wahrscheinlich hilfreich sein würde, Dave zwei halbe Einhundert-Dollar­scheine zu geben mit dem Versprechen, dass er die anderen Hälften bekommen würde, wenn er ihm mitteilte, wann seine Tochter wieder hier spielte.

Heute Morgen hatte Dave ihm eine SMS geschickt.

Heute 11 Uhr. Aber das haben Sie nicht von mir. Ich bin keine Petze.

Dann:

Bringen Sie mir das Geld um 10. Um 11 bin ich beim Yoga.

Deshalb war er hier.

Simon setzte sich Paige gegenüber, fragte sich, ob sie ihn erkennen würde und was er machen sollte, wenn sie die Flucht ergriff. Im Prinzip hielt er es für das Beste zu warten, bis sie fertig war, die paar Münzen und die alte Gitarre eingepackt hatte, und dann zu ihr zu gehen.

Er sah auf die Uhr. 11:58. Paiges Stunde näherte sich dem Ende.

Simon war im Kopf alle möglichen Sätze durchgegangen. Er hatte schon die Solemani-Klinik im Norden des Staats New York angerufen und einen Platz für Paige reserviert. Sein Plan sah folgendermaßen aus: Erzähl irgendwas, versprich alles, dränge, schmeichle, flehe, setze jedes Mittel ein, das erforderlich ist, um sie zum Mitkommen zu bewegen.

Ein anderer Straßenmusiker in ausgebleichter Jeans und zerfetztem Flanellhemd kam von Osten und setzte sich neben Paige. Als Gitarrenkasten verwendete er eine große schwarze Plastiktüte. Er tippte Paige aufs Knie und dann auf eine imaginäre Armbanduhr an seinem Handgelenk. Paige nickte und beendete I Am The Walrus mit einem ausgedehnten »goo goo g’joob«, riss die Arme in die Luft und rief der Menge, die ihr nicht zuhörte und schon gar nicht applaudierte, ein lautes »Vielen Dank!« zu. Sie raffte die wenigen Münzen und ein paar zerknitterte Ein-Dollar-Noten zusammen und legte die Gitarre überraschend vorsichtig in den Koffer. Diese einfache Bewegung – das Ablegen der Gitarre – traf Simon wie ein Schlag in den Unterleib. Simon hatte dieses Takamine-Instrument mit ihr zusammen bei Sam Ash an der West 48th Street gekauft und es ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt. Er versuchte, die Emotionen wachzurufen, die mit dieser Erinnerung einhergingen – Paiges Lächeln, als sie die Gitarre von der Wand nahm. Ihre Miene, als sie die Augen schloss und sie ausprobierte, das Gefühl, als sie ihre Arme um seinen Nacken schlang und »Danke, danke, danke!« rief, als er ihr sagte, dass sie ihr gehöre.

Doch die Emotionen, so sie denn echt waren, wollten sich nicht einstellen.

Die grausame Wahrheit war, dass Simon das kleine Mädchen nicht mehr in ihr entdecken konnte.

Oh, er hatte es schon seit einer Stunde probiert. Jetzt versuchte er noch einmal, sie anzusehen und sich das Bild des engelsgleichen kleinen Mädchens vor Augen zu führen, das er zum Schwimmunterricht ins 92 Y in der 92nd Street gefahren hatte, das in den Hamptons auf Long Island in einer Hängematte gesessen hatte, während er ihr am verlängerten Labor-Day-Wochenende zwei komplette Harry-Potter-Bände vorgelesen hatte, das darauf bestanden hatte, ihr Freiheitsstatuenkostüm samt grüner Gesichtsfarbe schon zwei Wochen vor Halloween zu tragen, aber – und vielleicht war das ein Schutzmechanismus – es gelang ihm einfach nicht, auch nur eins dieser Bilder heraufzubeschwören.

Paige erhob sich schwankend.

Es ging los.

Also stand auch Simon auf der anderen Seite des Mosaiks auf. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Er spürte einen aufkommenden Kopfschmerz, als würde eine riesige Hand seinen Kopf umklammern und auf beide Schläfen drücken. Er sah erst nach links, dann nach rechts.

Er suchte ihren Freund.

Simon konnte nicht genau sagen, wie sie und damit seine ganze Familie in den Abwärtsstrudel geraten war, sah die Schuld aber bei diesem Freund. Ja, Simon wusste, dass eine Süchtige die volle Verantwortung für ihr gesamtes Handeln übernehmen musste, dass es einzig und allein ihre Schuld war und so weiter. Und die meisten Süchtigen (und damit auch ihre Familien) konnten lange Geschichten erzählen. Vielleicht lag der Ursprung der Sucht in der Schmerztherapie nach einer Operation. Vielleicht führten sie sie auf Gruppenzwang zurück oder behaupteten, dass ein einmaliges Experiment irgendwie zu mehr und Schlimmerem geführt hatte.

Irgendeine Rechtfertigung hatten alle parat.

Aber in Paiges Fall – nennen Sie es Charakterschwäche, schlechte Erziehung oder was auch immer – schien das alles erheblich einfacher zu sein:

Es gab die Paige, die Aaron noch nicht kennengelernt hatte. Und es gab die heutige Paige.

Aaron Corval war Abschaum – unverkennbarer, primitiver Abschaum –, und wenn man Abschaum mit Reinheit vermischte, war die Reinheit für immer beschmutzt. Simon hatte nie begriffen, was sie in ihm sah. Aaron war zweiunddreißig Jahre alt, elf Jahre älter als seine Tochter. In unschuldigeren Zeiten hatte dieser Altersunterschied Simon beunruhigt. Ingrid hingegen hatte ihn mit einem Achselzucken abgetan, aber sie kannte solche Dinge von früher, aus ihren Zeiten als Model. Inzwischen war der Altersunterschied ihr geringstes Problem.

Von Aaron war nichts zu sehen.

Ein winziger Hoffnungsschimmer keimte in ihm auf. War Aaron endlich weg vom Fenster? Hatte dieses Übel, dieses Krebsgeschwür, dieser Parasit, der sich von seiner Tochter genährt hatte, sein Festmahl beendet und war zu einem kräftigeren Wirt gewechselt?

Das wäre zweifelsohne eine gute Nachricht.

Paige ging Richtung Osten zu dem Weg, der quer durch den Park führte. Sie schlurfte wie ein Zombie. Simon folgte ihr und machte sich bereit.

Aber was, fragte er sich, würde er tun, wenn sie sich weigerte mitzukommen? Das war nicht nur eine vage Möglichkeit, sondern das wahrscheinlichste Szenario. Simon hatte früher schon mehrmals versucht, ihr zu helfen, es war aber immer nach hinten losgegangen. Er konnte sie nicht dazu zwingen, mit ihm zu gehen. Das war ihm klar. Mithilfe seines Schwagers Robert Previdi hatte er sogar versucht, eine gerichtliche Einweisung für sie zu erwirken. Auch das hatte nicht geklappt.

Simon war jetzt direkt hinter ihr. Das abgetragene Sommerkleid hing schlaff an ihren Schultern. Die einst makellose Haut ihres Rückens zeigte braune Flecken – Sonne? Krankheit? Misshandlung?

»Paige?«

Sie drehte sich nicht um, zögerte keine Sekunde, und einen Moment lang gab Simon sich der Hoffnung hin, dass er sich geirrt hatte, dass Charlie Crowley sich geirrt hatte, dass dieses ungepflegte, widerlich riechende Klappergestell mit der kaputten Stimme nicht seine Erstgeborene war, dass diese Frau nicht seine Paige war, dass sie nicht diejenige war, die als Teenager in der Abernathy-Academy-Aufführung von Anatevka die Hodel gespielt hatte, wobei sie den Duft von Pfirsichen und Jugend versprüht und dem Publikum mit dem Song Abschied vom Elternhaus das Herz gebrochen hatte. Simon hatte alle fünf Aufführungen gesehen, und in jeder einzelnen waren ihm die Tränen in die Augen getreten, und mindestens einmal wäre er fast in lautes Schluchzen ausgebrochen, als Paiges Hodel sich an Tevje wandte und sagte: »Papa, Gott allein weiß, wann wir uns wiedersehen«, woraufhin ihr Bühnenvater erwiderte: »Legen wir unser Schicksal in seine Hände.«

Er räusperte sich und näherte sich ihr weiter: »Paige?«

Sie ging langsamer, drehte sich aber nicht um. Simon streckte eine zitternde Hand aus. Sie wandte ihm immer noch den Rücken zu. Er legte ihr die Hand auf die Schulter, spürte nur trockene, von papierner Haut bedeckte Knochen, und startete einen weiteren Versuch:

»Paige?«

Sie blieb stehen.

»Paige, ich bin’s, Daddy.«

Daddy. Wann hatte sie ihn das letzte Mal Daddy genannt? Seit er sich erinnern konnte, hatte sie Dad zu ihm gesagt, genau wie ihre beiden Geschwister, und trotzdem war ihm das Wort einfach rausgerutscht. Seine Stimme brach, und er hörte das Flehen darin.

Sie drehte sich immer noch nicht zu ihm um.

Dann rannte sie los.

Damit hatte er nicht gerechnet. Paige hatte bereits drei Schritte Vorsprung, als er endlich reagierte. Simon hatte in letzter Zeit viel in seine körperliche Verfassung investiert. Gleich neben seinem Büro war ein Fitnessstudio, und der Stress, den der Verlust seiner Tochter verursacht hatte – so sah er es, er hatte sie verloren –, hatte ihn in der Mittagspause in diverse Cardio-Fitness-Boxkurse getrieben, wo er wie besessen trainierte. Er stürzte los und hatte sie schon nach ein paar Schritten eingeholt. Er packte Paiges spindeldürren Oberarm – er hätte den dünnen Bizeps mit Zeigefinger und Daumen umfassen können – und riss sie zurück. Vielleicht hatte er etwas zu heftig zugepackt, aber der Sprung, der Griff, das alles war einfach ein Reflex gewesen.

Paige hatte versucht zu fliehen. Er hatte getan, was nötig war, um sie aufzuhalten.

»Au!«, schrie sie. »Lass mich los!«

Hier waren jede Menge Menschen, und Simon war sicher, dass sich einige von ihnen wegen ihrer Schreie bereits umgedreht hatten. Eigentlich interessierte ihn das nicht, es bedeutete lediglich, dass Eile geboten war. Er musste sie so schnell wie möglich von hier wegbringen, bevor sich ein guter Samariter fand, der Paige »retten« wollte.

»Schatz, ich bin’s, Dad. Komm einfach mit, in Ordnung?«

Sie wandte ihm immer noch den Rücken zu. Simon drehte sie herum, sodass sie ihn ansehen musste, aber Paige hielt sich den Arm vor die Augen, als leuchtete man ihr mit einem grellen Scheinwerfer ins Gesicht.

»Paige? Paige, bitte, sieh mich an.«

Ihr Körper erstarrte, dann entspannte er sich plötzlich. Paige nahm den Arm herunter und blickte langsam auf. Wieder keimte Hoffnung in ihm auf. Ja, die Augen waren tief in den Höhlen versunken, und die Stellen, die weiß sein müssten, waren gelb, aber in diesem Moment – vielleicht zum ersten Mal – sah er kurz noch etwas anderes darin aufblitzen – Leben.

Zum ersten Mal erblickte er etwas von dem kleinen Mädchen, das er von früher kannte.

Als Paige zu sprechen begann, hörte er endlich einen Widerhall der Stimme seiner Tochter: »Dad?«

Er nickte. Er öffnete den Mund, musste ihn wieder schließen, weil er zu überwältigt war, versuchte es noch einmal: »Ich bin hier, um dir zu helfen, Paige.«

Sie fing an zu weinen. »Es tut mir so leid …«

»Schon gut«, sagte er. »Das wird schon wieder.«

Er streckte den Arm aus, um seine Tochter an sich zu ziehen, in Sicherheit, als eine weitere Stimme die Luft im Park wie die Sense des Schnitters zerteilte.

»Was zum Teufel …«

Verzweiflung breitete sich in ihm aus. Er blickte nach rechts.

Aaron.

Paige zuckte zusammen und wandte sich von Simon ab. Simon versuchte, sie festzuhalten. Sofort riss sie ihren Arm los, und der Gitarrenkoffer schlug gegen ihr Bein.

»Paige …«, sagte Simon.

Doch der Anflug von Klarheit, den er vor wenigen Sekunden noch in ihren Augen gesehen hatte, zerbarst in tausend Stücke.

»Lass mich in Ruhe!«, schrie sie.

»Paige, bitte …«

Sie versuchte, sich rückwärts zu entfernen. Wieder griff Simon verzweifelt nach ihrem Arm, als würde er von einer Klippe abrutschen und versuchen, mit der Hand einen Ast zu erwischen. Paige stieß einen durchdringenden Schrei aus.

Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Viele Köpfe.

Simon ließ sie nicht los.

»Bitte, hör einfach zu …«

Dann trat Aaron zwischen sie.

Als die beiden Männer sich Auge in Auge gegenüberstanden, versteckte Paige sich hinter Aaron. Aaron wirkte ausgemergelt in seiner Jeansjacke über dem schmutzigen weißen T-Shirt – der aktuelle Heroin-Chic, allerdings ohne Chic. Er trug zu viele Ketten, einen vermeintlich modischen Dreitagebart und Arbeitsstiefel, was immer dann besonders lächerlich wirkte, wenn sie jemand trug, der ehrliche Arbeit nicht einmal dann erkannte, wenn sie ihm in die Eier trat.

»Alles okay, Paige«, sagte Aaron, der Simon immer noch aalglatt grinsend ansah. »Geh einfach weiter, Puppe.«

Simon schüttelte den Kopf. »Nein, warte …«

Doch es war, als würde Paige sich von Aarons Rücken abstoßen, so plötzlich rannte sie den Pfad entlang.

»Paige?«, rief Simon. »Warte! Bitte, lass uns …«

Sie verschwand. Simon machte einen Schritt zur Seite, um ihr zu folgen, doch Aaron trat ihm in den Weg.

»Paige ist erwachsen«, sagte Aaron. »Sie haben nicht das Recht …«

Simon ballte die Faust und schlug Aaron mitten ins Gesicht.

Er spürte, wie die Nase unter seinen Fingerknöcheln nachgab, und hörte die Knochen mit einem Geräusch brechen, als würde man mit einem Stiefel in ein Vogelnest treten. Blut floss.

Aaron ging zu Boden.

Im selben Moment fingen die beiden finnischen Touristen an zu schreien.

Simon kümmerte sich nicht darum. Er konnte Paige noch sehen. Sie bog links ab, verließ den Weg und verschwand zwischen den Bäumen.

»Paige, warte!«

Er wollte am auf dem Boden liegenden Mann vorbeilaufen und ihr folgen, doch Aaron bekam sein Bein zu fassen. Simon versuchte, sich loszureißen, sah dann aber, dass andere Menschen – wohlmeinende, aber unwissende Menschen – auf ihn zukamen. Es waren viele. Manche hatten ihre scheiß Smartphones in der Hand und nahmen das Ganze auf.

Alle schrien auf ihn ein, dass er sich nicht bewegen solle.

Schließlich befreite er sich mit einem kräftigen Tritt, stolperte kurz, kam wieder auf die Beine und wollte dem Weg bis zu der Stelle folgen, an der Paige abgebogen war.

Aber es war zu spät. Die Menge hatte ihn erreicht.

Jemand sprang mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu und versuchte, ihn zu Boden zu werfen. Simon riss den Ellbogen hoch. Der Angreifer stieß ein »Uff« aus, und seine Umarmung lockerte sich. Jemand anders umschlang ihn an der Hüfte. Simon streifte ihn ab wie einen Gürtel, während er immer noch hinter seiner Tochter herrannte, sich wie ein Footballspieler kurz vor der Endzone bewegte, der von gegnerischen Verteidigern verfolgt wurde.

Aber schließlich waren es zu viele.

»Meine Tochter!«, schrie er. »Bitte … halten Sie sie auf …«

In dem Tumult hörte ihn niemand, oder vielleicht ­achtete auch einfach niemand auf die Worte dieses gewalttätigen ­Irren, der so schnell wie möglich außer Gefecht gesetzt werden musste.

Ein weiterer Tourist stürzte sich auf ihn. Und noch einer.

Als Simon schließlich ins Fallen geriet, hob er den Blick und sah, dass seine Tochter wieder auf dem Weg war. Er schlug hart auf den Boden. Dann prasselten Schläge auf ihn ein, weil er versuchte, wieder aufzustehen. Viele Schläge. Die Ärzte, die später drei gebrochene Rippen, zwei gebrochene Finger und eine Gehirnerschütterung diagnostizierten, nähten ihn außerdem mit dreiundzwanzig Stichen.

Er spürte nichts von alledem, nur, wie sein Herz zerbrach.

Wieder warf sich jemand auf ihn. Er hörte Rufe und Schreie, dann war auch die Polizei mit von der Partie, drehte ihn auf den Bauch, drückte ihm ein Knie ins Kreuz, legte ihm Handschellen an. Er hob noch einmal den Blick und sah, dass Paige halb versteckt hinter einem Baum stand und das Geschehen betrachtete.

»Paige!«

Aber sie kam nicht zurück. Stattdessen verschwand sie, und Simon wurde bewusst, dass er sie wieder einmal im Stich gelassen hatte.

ZWEI

Die Cops ließen Simon eine Zeit lang bäuchlings mit hinter dem Rücken gefesselten Händen auf dem Asphalt liegen. Cop eins, eine schwarze Polizistin, auf deren Namensschild HAYES stand, beugte sich zu ihm herunter, informierte ihn mit ruhiger Stimme, dass er festgenommen sei, dann las sie ihm seine Rechte vor. Simon trat um sich, schrie und brüllte, dass jemand – wer auch immer – seine Tochter aufhalten sollte, während Hayes ihm einfach weiter seine Rechte vorlas.

Als sie fertig war, richtete sie sich auf und wandte sich ab. Aber Simon hörte nicht auf, hinter seiner Tochter herzuschreien. Niemand hörte ihm zu, vielleicht weil er völlig irre klang, also versuchte er, sich zu beruhigen und einen etwas höflicheren Ton zu wählen.

»Officer? Ma’am? Sir?«

Sie ignorierten ihn und nahmen Zeugenaussagen auf. Mehrere Touristen zeigten den Polizisten Videos von dem Vorfall, in denen er, wie Simon vermutete, keine gute Figur machte.

»Meine Tochter«, sagte er wieder. »Ich habe versucht, meine Tochter zu retten. Er hat sie gekidnappt.«

Der letzte Satz war im Prinzip eine Lüge, aber er hoffte, damit eine Reaktion zu provozieren. Sie blieb aus.

Simon drehte den Kopf nach links und rechts und suchte Aaron. Er war nicht zu sehen.

»Wo ist er?«, schrie er, und klang wieder völlig irre.

Schließlich sah Hayes ihn an. »Wer?«

»Aaron?«

Nichts.

»Der Kerl, den ich geschlagen habe. Wo ist er?«

Keine Antwort.

Der Adrenalinschub flaute langsam ab, und ein Übelkeit erregender Schmerz durchströmte seinen Körper. Endlich – Simon hatte keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war – zogen Hayes und ein großer weißer Cop mit dem Namensschild WHITE ihn hoch und zerrten ihn hinter sich her zu einem Streifenwagen. Sie bugsierten ihn auf die Rückbank, White setzte sich hinters Lenkrad und Hayes auf den Beifahrersitz. Hayes, die seine Brieftasche in der Hand hielt, drehte sich um und fragte: »Also, was ist geschehen, Mr Greene?«

»Ich habe mit meiner Tochter gesprochen. Ihr Freund ist dazwischengegangen. Ich habe versucht, um ihn herumzu­gehen …«

Simon hörte auf zu reden.

»Und?«, hakte sie nach.

»Haben Sie ihren Freund festgenommen? Können Sie mir bitte helfen, meine Tochter zu suchen?«

»Und?«, wiederholte Hayes.

Simon war wütend, aber nicht verrückt. »Es kam zu einer Auseinandersetzung.«

»Eine Auseinandersetzung?«

»Ja.«

»Erzählen Sie davon. Schritt für Schritt.«

»Wovon soll ich erzählen?«

»Von der Auseinandersetzung.«

»Erzählen Sie mir erst, was mit meiner Tochter ist«, sagte Simon. »Sie heißt Paige Greene. Ihr Freund, der sie meiner Ansicht nach gegen ihren Willen festhält, heißt Aaron Corval. Ich wollte sie retten.«

»Mhm«, sagte Hayes. Dann: »Also haben Sie einen Obdachlosen geschlagen?«

»Der, den ich geschlagen habe, war der …« Simon verstummte. Das brachte nichts.

»Wen haben Sie geschlagen?«, hakte Hayes nach.

Simon antwortete nicht.

»Klar, das dachte ich mir schon«, sagte Hayes. »Sie sind voller Blut. Sogar Ihre hübsche Krawatte. Ist die von Hermès?«

Das war sie, aber Simon sagte nichts mehr. Sein Hemd war immer noch bis zum Hals zugeknöpft, die Krawatte mit einem perfekten Windsorknoten gebunden.

»Wo ist meine Tochter?«

»Keine Ahnung«, sagte Hayes.

»Dann habe ich Ihnen nichts zu sagen, bis ich mit meinem Anwalt gesprochen habe.«

»Wie Sie meinen.«

Hayes drehte sich um und sagte nichts mehr. Die Polizisten brachten Simon zur Notaufnahme im Mount Sinai West in der 59th Street in der Nähe der 10th Avenue, wo er sofort geröntgt wurde. Ein Arzt mit Turban, der so jung aussah, dass er wahrscheinlich Probleme hatte, in Filme zu kommen, die nicht jugendfrei waren, schiente Simons Finger und nähte seine Kopfwunden. Bei den gebrochenen Rippen könne man nichts machen, erläuterte der Arzt, aber er solle sich »die nächsten sechs Wochen oder so körperlich schonen«.

Was dann folgte, war ein surreales Chaos: Die Fahrt zum Strafgericht in der Centre Street 100, die Verbrecherfotos, die Fingerabdrücke, die Haftzelle. Genau wie im Film durfte er einen Anruf machen. Zuerst wollte Simon Ingrid an­rufen, dann entschied er sich aber für seinen Schwager Robert, einen der besten Prozessanwälte in Manhattan.

»Ich schick sofort jemanden zu dir rüber«, sagte Robert.

»Kannst du das nicht machen?«

»Ich bin kein Strafverteidiger.«

»Glaubst du wirklich, dass ich einen Strafverteidiger brauche?«

»Ja, das glaub ich. Außerdem bin ich mit Yvonne im Haus an der Küste. Es würde zu lange dauern, bis ich in der Stadt bin. Warte einfach.«

Eine halbe Stunde später stellte sich ihm eine kleine Frau vor, vermutlich Anfang bis Mitte siebzig, mit lockigen grauen Haaren, die früher wohl einmal blond gewesen waren, und einem Blick voller Feuer. Sie begrüßte ihn mit einem kräftigen Händedruck.

»Hester Crimstein«, sagte sie. »Robert schickt mich.«

»Ich bin Simon Greene.«

»Ja, als Spitzenanwältin konnte ich mir das bereits zusammenreimen. Jetzt sprechen Sie mir nach, Simon Greene: ›Nicht schuldig.‹«

»Was?«

»Wiederholen Sie einfach, was ich gesagt habe.«

»Nicht schuldig.«

»Wunderbar, ganz ausgezeichnet, es treibt mir die Tränen in die Augen.« Hester Crimstein beugte sich näher zu ihm. »Das sind die einzigen Worte, die Sie noch sagen dürfen – und Sie sagen sie nur ein einziges Mal, und zwar dann, wenn der Richter Sie fragt, wie Sie plädieren. Verstanden?«

»Verstanden.«

»Müssen wir das noch ein paarmal proben?«

»Nein, ich glaube, das krieg ich hin.«

»Guter Junge.«

Als sie in den Gerichtssaal traten und sie sagte: »Hester Crimstein für die Verteidigung«, ging ein Raunen durch die Menge. Der Richter hob den Kopf und zog eine Augenbraue hoch.

»Rechtsanwältin Crimstein, was für eine Ehre. Was führt Sie in meinen bescheidenen Gerichtssaal?«

»Ich bin nur hier, um einen groben Justizirrtum zu verhindern.«

»Davon bin ich überzeugt.« Der Richter verschränkte die Arme und lächelte. »Es ist schön, Sie wiederzusehen, ­Hester.«

»Das ist nicht Ihr Ernst.«

»Sie haben recht«, sagte der Richter. »Das ist es nicht.«

Hester wirkte erfreut. »Sie sehen gut aus, Euer Ehren. Die schwarze Robe steht Ihnen.«

»Was, dieses alte Ding?«

»Macht Sie schlanker.«

»Das tut sie, nicht wahr?« Der Richter lehnte sich zurück. »Worauf plädiert der Beschuldigte?«

Hester sah Simon an.

»Nicht schuldig«, sagte er.

Hester nickte beifällig, und der Staatsanwalt verlangte eine Kaution in Höhe von fünftausend Dollar. Hester legte keinen Einspruch gegen die Höhe der Summe ein. Nachdem sie das juristische Theater hinter sich gebracht hatten, die Papiere unterschrieben und die bürokratischen Wogen geglättet waren, durften sie gehen, und Simon machte sich auf den Weg zum Haupteingang. Doch Hester stoppte ihn, indem sie ihm die Hand auf den Unterarm legte.

»Nicht da entlang.«

»Warum nicht?«

»Da warten sie.«

»Wer?«

Hester drückte auf den Fahrstuhlknopf, blickte auf die Lichter über der Tür und sagte: »Kommen Sie mit.«

Sie nahmen die Treppe und gingen zwei Etagen hinunter. Hester führte ihn zur Rückseite des Gebäudes und zog ihr Handy heraus.

»Bist du am Eggloo an der Mulberry, Tim? Gut. In fünf Minuten.«

»Was ist los?«, fragte Simon.

»Seltsam.«

»Was?«

»Sie reden immer noch«, sagte Hester. »Obwohl ich Sie aufgefordert habe, das zu unterlassen.«

Sie gingen einen dunklen Flur entlang. Hester übernahm die Führung. Sie bog rechts ab, dann noch einmal rechts. Schließlich kamen sie an einen Mitarbeitereingang. Die Leute zeigten ihre Dienstausweise vor, um reinzukommen, doch Hester drängte sich einfach durch den Ausgang nach draußen.

»Das dürfen Sie nicht«, sagte ein Wachmann.

»Verhaften Sie uns.«

Das tat er nicht. Sekunden später waren sie draußen. Sie überquerten die Baxter Street, gingen durch den grünen Columbus Park, an drei Volleyballplätzen vorbei und stießen auf die Mulberry Street.

»Mögen Sie Eis?«, fragte Hester.

Simon antwortete nicht. Er deutete auf seinen geschlossenen Mund.

Hester seufzte. »Ich erlaube Ihnen zu sprechen.«

»Ja.«

»Bei Eggloo gibt es ein unwiderstehliches Marshmallow-Schoko-Eis-Sandwich. Ich habe meinen Fahrer beauftragt, zwei für unterwegs zu besorgen.«

Der schwarze Mercedes wartete vor der Tür. Der Fahrer hatte die Eiscreme-Sandwiches. Er reichte Hester eins.

»Danke, Tim. Simon?«

Simon lehnte das Angebot mit einem Kopfschütteln ab. Hester zuckte mit den Achseln. »Dann ist es deins, Tim.« Sie biss in ihres und setzte sich auf den Rücksitz. Simon setzte sich neben sie.

»Meine Tochter …«, setzte Simon an.

»Die Polizei hat sie nicht gefunden.«

»Und was ist mit Aaron Corval?«

»Mit wem?«

»Dem Typen, den ich geschlagen habe.«

»Holla … immer langsam mit den jungen Pferden. Das sagt man nicht einmal im Scherz. Sie meinen den Typen, den Sie angeblich geschlagen haben.«

»Egal.«

»Nein, das ist nicht egal. Nicht einmal unter vier Augen.«

»Okay, ich hab’s begriffen. Wissen Sie, wo …«

»Er ist auch abgehauen.«

»Was meinen Sie mit abgehauen?«

»Was ist an ›abgehauen‹ nicht zu verstehen? Er ist geflohen, bevor die Polizei etwas über ihn in Erfahrung bringen konnte. Was gut für Sie ist. Kein Opfer, kein Verbrechen.« Wieder biss sie in ihr Eis und wischte sich die Mundwinkel ab. »Der Fall wird sowieso bald zu den Akten gelegt werden, aber … Hören Sie, ich habe eine Freundin. Sie heißt Mariquita Blumberg. Sie ist eine echt harte Nuss – nicht so ein Schätzchen wie ich. Aber sie ist die beste PR-Kraft in der Stadt. Sie muss sich sofort um die Öffentlichkeitsarbeit in Ihrem Fall kümmern.«

»Eine PR-Kraft? Wozu brauche ich eine …«

»Das erkläre ich Ihnen gleich, im Moment würde mich das von der Arbeit abhalten. Erzählen Sie mir erst, was passiert ist. Alles. Von Anfang bis Ende.«

Simon erzählte es ihr. Hester wandte ihm ihr schmales Gesicht zu. Sie gehörte zu den Menschen, die den Begriff »ungeteilte Aufmerksamkeit« zu einer Kunstform erhoben hatten. Anfangs hatte sich ihre unbändige Energie in Bewegung ausgedrückt. Inzwischen schien sie sich in einem Laserstrahl gebündelt zu haben, der direkt auf ihn gerichtet war. Ihr Mitgefühl schien fast greifbar zu werden, so sehr konzentrierte sie sich auf jedes seiner Worte.

»O Mann, das tut mir leid«, sagte Hester, als er fertig war. »Das ist wirklich scheiße.«

»Dann verstehen Sie mich.«

»Ja.«

»Ich muss Paige finden. Oder Aaron.«

»Ich kann noch mal bei den Polizisten nachhaken, meine aber verstanden zu haben, dass die beiden abgehauen sind.«

Noch eine Sackgasse. Simons Körper fing an zu schmerzen. Sämtliche Schutzmechanismen, sämtliche chemischen Reaktionen, die die Schmerzempfindung abschwächten oder blockierten, schienen auf einmal zu versagen. Der Schmerz wurde nicht langsam stärker, er durchflutete ihn schlagartig.

»Und wozu brauche ich eine PR-Kraft?«

Hester zog ihr Handy heraus und fing an, damit herumzuspielen. »Ich hasse diese Dinger. So viele Informationen und Einsatzmöglichkeiten, aber eigentlich machen sie einem nur das Leben kaputt. Sie haben Kinder, ja? Äh, selbstverständlich. Wie viele Stunden verbringen die am …« Sie verstummte. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für diesen Vortrag. Hier.«

Sie reichte ihm ihr Handy.

Simon blickte auf ein YouTube-Video mit 289 000 Aufrufen. Als er das Vorschau-Bild und die Überschriften sah, wurde ihm schwer ums Herz.

REICHSCHLÄGTARMWALLSTREETWATSCHTWICHSERVAGABUNDENREICHERKNACKERMACHTMITTELLOSENNIEDERBANKERBELEIDIGTBERBERHABENDERHAUTHABENICHTS

Er sah Hester an, die mitfühlend mit den Achseln zuckte. Sie streckte die Hand aus und tippte mit dem Zeigefinger auf PLAY. Das Video war von jemandem mit dem Alias »ZorraStiletto« aufgenommen und vor zwei Stunden gepostet worden. ZorraStiletto hatte von drei Frauen – vielleicht seine Ehefrau und die beiden Töchter? – auf ihn geschwenkt, als der Tumult seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Linse zuckte nach rechts, und im entscheidenden Moment hatte sich auch die Brennweite richtig justiert, um einen anmaßend wirkenden Simon zu erfassen – warum zum Teufel hatte er sich nicht umgezogen oder zumindest die verdammte Krawatte abgelegt? –, als Paige sich gerade von ihm losriss und Aaron zwischen sie trat. Natürlich sah es aus, als würde ein reicher, privilegierter Mann eine viel jüngere Frau belästigen (und vielleicht noch Schlimmeres), die dann von einem furchtlosen Obdachlosen gerettet wurde.

Als die zierliche und verängstigte junge Frau hinter dem Rücken ihres Retters in Deckung gegangen war, fing der Mann im Anzug an zu schreien. Die junge Frau flüchtete. Der Mann im Anzug versuchte, sich an dem Obdachlosen vorbeizudrängen und ihr zu folgen. Simon wusste natürlich, wie die Geschichte weiterging. Trotzdem sah er mit weit aufgerissenen Augen zu, als bestünde noch die Chance, dass der Mann im Anzug nicht so blöd wäre, auszuholen und dem tapferen Obdachlosen ins Gesicht zu schlagen.

Doch genau das geschah.

Es floss Blut, als der hilfsbereite obdachlose Samariter zu Boden ging. Der gefühllose Reiche im Anzug versuchte, über das am Boden liegende Häufchen Elend hinwegzusteigen, doch der obdachlose Samariter packte sein Bein. Als ein Asiate mit Baseballkappe – zweifelsohne ein weiterer guter Samariter – den Streit schlichten wollte, rammte der Mann im Anzug auch ihm einen Ellbogen auf die Nase.

Simon schloss die Augen. »O Mann.«

»Jup.«

Als Simon die Augen wieder geöffnet hatte, missachtete er die Kardinalregel für den Umgang mit Artikeln und Videos im Internet: Niemals die Kommentare lesen.

»Die Reichen glauben, sie könnten mit so etwas durchkommen.« »Er wollte das Mädel vergewaltigen! Was für ein Glück, dass ein Held dazwischengegangen ist.«»Der reiche Knacker sollte lebenslänglich in den Knast wandern. Punkt.«»Ich wette, Richie Rich kommt davon. Wäre er schwarz, hätte man ihn erschossen.«»Der Typ, der die Frau gerettet hat, ist so unglaublich tapfer. Wenn der Bürgermeister es zulässt, dass der Geldsack sich freikauft …«

»Die gute Nachricht ist«, sagte Hester, »dass Sie auch ein paar Fans haben.« Sie nahm das Handy, scrollte runter und zeigte auf einen Kommentar:

»Wahrscheinlich kriegt dieser Obdachlose Lebensmittelmarken. Glückwunsch an den Anzugträger, dass er den Abfall entsorgt.«»Wenn dieser stinkende Crystal-Meth-Penner sich einen Job besorgen würde, statt auf Staatskosten zu leben, bezieht er vielleicht auch keine Prügel mehr.«

Auf den Profilbildern seiner »Unterstützer« waren entweder Adler oder amerikanische Flaggen zu sehen.

»Fantastisch«, sagte Simon. »Die Psychos sind auf meiner Seite.«

»Hey, tun Sie das nicht einfach so ab. Ein paar von denen könnten in der Jury sitzen. Obwohl es natürlich keine Jury geben wird. Nicht einmal einen Prozess. Tun Sie mir einen Gefallen.«

»Welchen?«

»Tippen Sie auf ›Aktualisieren‹.«

Er wusste nicht genau, was sie meinte, daher streckte Hester die Hand aus und drückte oben auf den Pfeil. Die Seite wurde neu geladen. Hester deutete auf die Anzahl der Aufrufe. Die Zahl hatte sich in den gut zwei Minuten von 289 000 auf 453 000 erhöht.«

»Glückwunsch«, sagte Hester. »Sie haben einen viralen Hit gelandet.«

DREI

Simon starrte durchs Fenster ins Nichts, sodass das wohlbekannte Grün des Parks vor seinen Augen verschwamm. Als der Fahrer von der Central Park West in die West 67th Street bog, murmelte Hester: »Uh-oh.«

Simon drehte den Kopf.

Vor seiner Wohnung parkten Übertragungswagen in zweiter Reihe. Rund zwei Dutzend Demonstranten standen hinter blauen Holzabsperrungen mit der Aufschrift:

POLICELINE – DONOTCROSSNYPD

»Wo ist Ihre Frau?«, fragte Hester.

Ingrid. Er hatte überhaupt nicht an sie gedacht oder daran, wie sie auf das Ganze reagieren würde. Außerdem fiel ihm gerade auf, dass er keine Ahnung hatte, wie spät es war. Er sah auf die Uhr. Halb sechs.

»Bei der Arbeit.«

»Sie ist Kinderärztin, stimmt’s?«

Er nickte. »Im New York Presbyterian Hospital in der 168th Street.«

»Wann hat sie Feierabend?«

»Heute Abend um sieben.«

»Fährt sie mit dem Auto zurück?«

»Nein, sie nimmt die U-Bahn.«

»Rufen Sie sie an. Tim holt sie ab. Wo sind Ihre Kinder?«

»Weiß ich nicht.«

»Rufen Sie die auch an. Die Kanzlei hat eine Suite in Midtown. Da können Sie bis morgen bleiben.«

»Wir können ins Hotel gehen.«

Hester schüttelte den Kopf. »Da finden die Sie. Die Suite ist besser, und es ist ja nicht so, dass wir Ihnen das nicht in Rechnung stellen.«

Er schwieg.

»Auch das wird vorbeigehen, Simon, wenn wir das Feuer nicht noch anfachen. Morgen oder spätestens übermorgen werden die Idioten sich auf den nächsten Nachrichtenskandal stürzen. Amerikas Aufmerksamkeitsspanne liegt praktisch bei null.«

Er rief Ingrid an, aber da sie heute in der Notaufnahme arbeitete, schaltete sich sofort die Mailbox ein. Simon hinterließ eine ausführliche Nachricht. Dann rief er Sam an, der schon Bescheid wusste.

Sam sagte: »Das Video ist mehr als eine Million Mal aufgerufen worden.« Sein Sohn wirkte gleichermaßen schockiert und beeindruckt. »Unglaublich, dass du Aaron geschlagen hast.« Dann wiederholte er. »Du.«

»Ich wollte nur zu deiner Schwester.«

»Es klingt aber so, als ob du ein reicher Rambo wärst.«

»So war das nicht.«

»Ja, ich weiß.«

Schweigen.

»Der Fahrer, Tim, wird dich also abholen.«

»Nicht nötig. Ich bleib bei den Bernsteins.«

»Bist du sicher?«

»Ja.«

»Haben die wirklich nichts dagegen?«

»Larry sagt, das ist kein Problem. Ich bin gerade mit ihm vom Training zurück.«

»Okay, wenn du es für besser hältst.«

»Zumindest ist es einfacher.«

»Ja, klingt einleuchtend. Aber wenn du es dir anders überlegst …«

»Ja, schon klar.« Dann sagte Sam leiser. »Ich hab … also, Paige … in dem Video sah sie …«

Wieder schwiegen beide.

»Ja«, sagte Simon. »Ich weiß.«

Dreimal versuchte Simon, seine Tochter Anya zu erreichen. Sie ging nicht ran. Schließlich sah er auf dem Display, dass sie zurückzurufen versuchte. Als er den Anruf annahm, meldete sich allerdings nicht Anya.

»Hey, Simon, hier ist Suzy Fiske.«

Suzy wohnte zwei Etagen unter ihm. Ihre Tochter Delia und Anya kannten sich, seit sie als Dreijährige zusammen im Kindergarten waren, und jetzt gingen sie zusammen zur Schule.

»Ist alles okay mit Anya?«

»Oh, ihr geht’s gut. Ich meine, mach dir ihretwegen keine Sorgen. Sie ist natürlich vollkommen aufgelöst. Wegen des Videos, und so weiter.«

»Sie hat’s gesehen?«

»Ja. Kennst du Alyssa Edwards? Sie hat es allen Eltern gezeigt, als sie vor der Schule standen, um die Kinder abzu­holen. Aber die Kids hatten es … du kennst das ja. Der ganze Klatsch und Tratsch.«

Ja, er kannte das. »Gibst du mir Anya bitte mal?«

»Ich halte das für keine gute Idee, Simon.«

Mir doch scheißegal, was du davon hältst, dachte er, klugerweise – eine steile Lernkurve nach seinem mittäglichen Ausfall? – sprach er es nicht aus.

Suzy konnte schließlich wirklich nichts dafür.

Er räusperte sich und versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen. »Könntest du Anya bitten, ans Telefon zu kommen?«

»Ich kann’s versuchen, Simon, natürlich.« Offensichtlich wandte sie sich vom Handy ab, denn ihre Stimme klang jetzt leiser. »Anya, dein Dad würde gerne mit dir … Anya?« Jetzt klang alles gedämpft. Simon wartete. »Das wird jetzt nichts. Sie schüttelt nur den Kopf. Hör zu, Simon, sie kann so lange wie nötig hierbleiben. Vielleicht kannst du es später noch mal versuchen, oder Ingrid ruft an, wenn sie von der Arbeit zurück ist.«

Es hatte wirklich keinen Sinn, das jetzt zu erzwingen. »Danke, Suzy.«

»Tut mir wirklich leid.«

»Noch mal vielen Dank für deine Hilfe.«

Er drückte auf den »Beenden«-Button. Hester, die mit ihrem Eiscreme-Sandwich neben ihm saß, starrte vor sich hin.

»Ich wette, Sie wünschen sich, Sie hätten das Eis genommen, als ich es Ihnen angeboten habe, oder?« Dann: »Tim?«

»Ja, Hester.«

»Haben Sie das zweite Eis noch im Gefrierfach?«

»Habe ich.« Er reichte es nach hinten.

Hester nahm das Sandwich und zeigte es Simon.

Er sagte: »Sie stellen mir auch das Eis in Rechnung, oder?«

»Nicht ich persönlich, nein.«

»Ihre Kanzlei.«

Sie zuckte die Achseln. »Warum sollte ich Sie sonst so drängen?«

Hester gab Simon das Eis. Er biss hinein, und für einen Moment ging es ihm besser.

Aber lange hielt es nicht an.

* * *

Die Suite der Kanzlei befand sich in einem Bürohochhaus, eine Etage unter Hesters Büro, und das sah man ihr an. Die Teppichböden waren beige. Die Möbel waren beige. Die Wände waren beige. Die Sofakissen … beige.

»Tolle Inneneinrichtung, finden Sie nicht auch?«, fragte Hester.

»Sehr hübsch, wenn man auf Beige steht.«

»Der politisch korrekte Begriff lautet Erdtöne.«

»Erdtöne«, sagte Simon. »Also wie Schmutz.«

Das gefiel Hester. »Ich nenne es Frühe Americana.« Ihr Handy surrte. Sie las eine SMS. »Ihre Frau ist unterwegs. Ich bringe sie rauf, sobald sie hier ist.«

»Danke.«

Hester ging. Simon riskierte einen kurzen Blick auf sein Handy. Es waren zu viele SMS und verpasste Anrufe. Er igno­rierte sie alle, außer die von Yvonne, die sowohl seine Partnerin bei PPG Wealth Management als auch Ingrids Schwester war. Sie musste er informieren. Also schickte er eine SMS:

Mir geht’s gut. Lange Geschichte.

Die kleinen Punkte zeigten ihm, dass Yvonne ihm antwortete:

Können wir irgendetwas tun?Nein. Vielleicht muss morgen jemand für mich einspringen.Kein Problem.Ich erzähl dir so schnell wie möglich, was passiert ist.

Yvonnes Antwort bestand aus ein paar beruhigenden Emojis, die besagten, dass er sich Zeit lassen sollte und alles wieder gut werden würde.

Er überflog die anderen SMS.

Keine von Ingrid.

Er ging ein paar Minuten auf dem beigen Teppichboden des Apartments auf und ab, checkte die Aussicht, setzte sich auf die beige Couch, stand wieder auf, ging noch etwas auf und ab. Er ließ die Mailbox alle Anrufe annehmen, bis er sah, dass Anyas Schule sich meldete. Als er ranging und »Hallo« sagte, wirkte der Anrufer erschrocken.

»Oh.« Simon erkannte die Stimme von Ali Karim, dem Rektor der Abernathy Academy. »Ich hatte nicht erwartet, dass Sie rangehen.«

»Ist alles in Ordnung?«

»Mit Anya ist alles in Ordnung. Es geht nicht um sie.«

»Okay«, sagte Simon. Ali Karim gehörte zu den Akademikern, denen man ihren Beruf äußerlich ansah: Tweed Blazer mit Lederflicken an den Ellbogen, struppige Koteletten, zu lange Haarbüschel am Rand der sich ausbreitenden Glatze. »Was kann ich für Sie tun, Ali?«

»Die Sache ist etwas kompliziert.«

»Mhm.«

»Es geht um den Wohltätigkeitsball für die Eltern.«

Simon wartete.

»Wie Ihnen bekannt ist, trifft sich morgen Abend das ­Organisationskomitee.«

»Natürlich ist mir das bekannt«, sagte Simon. »Ingrid und ich sind stellvertretende Vorsitzende.«

»Ja. Genau darum geht es.«

Simon spürte, dass er das Handy fester umklammerte. Der Rektor wollte, dass Simon etwas sagte, das Schweigen brach. Aber Simon schwieg weiter.

»Einige der Eltern sind der Ansicht, es wäre besser, wenn Sie morgen nicht kommen.«

»Welche Eltern?«

»Das möchte ich lieber nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Simon, machen Sie es mir nicht schwerer als nötig. Sie sind aufgebracht wegen des Videos.«

»Ach«, sagte Simon.

»Wie bitte?«

»Ist das alles, Ali?«

»Äh, nicht ganz.«

Wieder wartete er, dass Simon das Schweigen brach. Wieder tat Simon ihm diesen Gefallen nicht.

»Wie Sie wissen, werden beim Wohltätigkeitsball dieses Jahr Spenden für die National Coalition for the Homeless gesammelt. Im Zuge der aktuellen Entwicklungen sind wir der Ansicht, dass Sie und Ingrid als stellvertretende Vorsitzende zurücktreten sollten.«

»Welche aktuellen Entwicklungen?«

»Ach, kommen Sie, Simon.«

»Er ist kein Obdachloser. Er ist ein Drogenhändler.«

»Das kann ich nicht beurteilen …«

»Ich weiß, dass Sie das nicht können«, unterbrach Simon ihn. »Deshalb sage ich es Ihnen ja.«

»… aber das Empfinden ist oft wichtiger als die Realität.«

»Das Empfinden ist oft wichtiger als die Realität«, wiederholte Simon. »Bringen Sie das auch den Kindern bei?«

»Es geht darum, das zu tun, was für die Wohltätigkeits­organisation am besten ist.«

»Der Zweck heiligt die Mittel, was?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Sie sind wirklich ein großartiger Pädagoge, Ali.«

»Ich habe den Eindruck, dass Sie verletzt sind.«

»Eher enttäuscht, aber okay, spielt auch keine Rolle. ­Schicken Sie uns einfach unseren Scheck zurück.«

»Wie bitte?«

»Sie haben uns schließlich nicht wegen unserer einnehmenden Persönlichkeit zu stellvertretenden Vorsitzenden gemacht. Sie haben das getan, weil wir viel Geld für diesen Ball gespendet haben.« Ingrid und er hatten das Geld nicht nur gespendet, weil sie das Anliegen unterstützten. Bei solchen Sachen ging es selten allein um das Anliegen. Das Anliegen war nur ein Nebenprodukt. Es ging darum, den Kontakt zur Schule und den zuständigen Personen wie Ali Karim zu intensivieren. Wenn man ein Anliegen unterstützen wollte, sollte man das Anliegen unterstützen. Oder brauchte man als Anreiz wirklich ein langweiliges Dinner mit gummiartigem Lachs zu Ehren eines beliebigen Superreichen, damit man sich für die gute Sache einsetzte? »Und da wir jetzt keine stellvertretenden Vorsitzenden mehr sind …«

Alis Stimme klang ungläubig. »Sie wollen Ihre Spende an die Wohltätigkeitsorganisation zurückziehen?«

»Ja. Am liebsten wäre es mir, wenn Sie den Scheck per Express schicken, aber wenn er übermorgen hier ankommt, ist das auch in Ordnung. Schönen Tag noch, Ali.«

Er legte auf und warf das Handy auf das beige Kissen auf der beigen Couch. Er würde die Spende der Wohltätigkeitsorganisation trotzdem zukommen lassen – so scheinheilig konnte er nicht sein –, allerdings nicht über den Wohltätigkeitsball der Schule.

Als er sich umdrehte, standen Ingrid und Hester vor ihm und sahen ihn an.

»Ein eher persönlicher als juristischer Ratschlag«, sagte Hester. »Meiden Sie in den nächsten Stunden den Kontakt zu anderen. Menschen neigen dazu, voreilige und dumme Entscheidungen zu treffen, wenn sie so unter Druck stehen. Damit meine ich natürlich nicht Sie. Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«

Simon starrte Ingrid an. Seine Frau war groß und wirkte nahezu majestätisch mit ihren hohen Wangenknochen und den immer modisch wirkenden kurzen, inzwischen leicht angegrauten blonden Haaren. Während des Studiums hatte sie nebenbei als Model gearbeitet, und ihr Typ war als »reservierte, eisige Skandinavierin« beschrieben worden. Das war wohl immer noch der erste Eindruck, den man von ihr hatte, was ihre Berufswahl – Kinderärztin, die Kindern mit Wärme und Herzlichkeit begegnen musste – etwas überraschend erscheinen ließ. Die Kinder fanden sie jedoch nie reserviert. Sie fassten sofort Vertrauen zu Ingrid. Es war fast ein bisschen unheimlich, wie sehr sie sie sofort ins Herz schlossen.

Hester sagte: »Dann überlasse ich das mal Ihnen beiden.«

Sie führte nicht aus, was »das« sein sollte, aber wahrscheinlich war das auch nicht nötig. Als sie alleine waren, reagierte Ingrid mit einem Was-soll’s-Achselzucken, und Simon fing an zu erzählen.

»Du hast gewusst, wo Paige ist?«, fragte Ingrid.

»Das hab ich dir doch erzählt. Charlie Crowley hat mir einen Hinweis gegeben.«

»Dem du dann nachgegangen bist. Und daraufhin hat dir dieser andere Obdachlose, dieser Dave …«

»Ich weiß nicht, ob er obdachlos ist. Ich weiß nur, dass er den Zeitplan für die Musiker macht.«

»Willst du dich jetzt wirklich mit mir um Worte streiten, Simon?«

Das wollte er nicht.

»Dieser Dave … er hat dir also erzählt, dass Paige da sein würde.«

»Er nahm an, dass sie da sein würde, ja.«

»Und du hast mir nichts davon gesagt?«

»Ich wusste es nicht genau. Warum hätte ich dich beun­ruhigen sollen, wenn da im Endeffekt vielleicht gar nichts dran war?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Was ist?«

»Du belügst mich nie, Simon. Das ist einfach nicht deine Art.«

Das stimmte. Er belog seine Frau nie, und in gewisser Hinsicht tat er das auch jetzt nicht, nicht ganz, aber er kaschierte die Wahrheit, und das war schlimm genug.

»Tut mir leid«, sagte Simon.

»Du hast es mir nicht erzählt, weil du Angst hattest, dass ich dich davon abhalten würde.«

»Zum Teil«, sagte Simon.

»Warum sonst?«

»Weil ich dir sonst auch den Rest hätte erzählen müssen. Wie ich nach ihr gesucht habe.«

»Obwohl wir beide vereinbart haben, dass wir das nicht tun?«

Genau genommen war es keine Vereinbarung gewesen. Ingrid hatte die Regeln aufgestellt, und Simon hatte nicht widersprochen, aber es war wohl nicht der richtige Zeitpunkt für solche Feinheiten.

»Das konnte ich nicht … Ich konnte sie nicht einfach gehen lassen.«

»Und was noch? Dachtest du, ich hätte es gekonnt?«

Simon schwieg.

»Glaubst du, dir tut das mehr weh als mir?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Quatsch. Du findest mich kaltherzig.«

Fast hätte er noch einmal »Nein, natürlich nicht« gesagt, aber empfand er es nicht tatsächlich ein wenig so?

»Wie sah dein Plan aus, Simon? Noch einmal in die Reha­klinik?«

»Wieso nicht?«

Ingrid schloss die Augen. »Wie oft haben wir versucht …?«

»Einmal zu wenig. Das ist alles. Einmal zu wenig.«

»So hilfst du ihr nicht. Paige muss von sich aus dahinkommen. Verstehst du das nicht? Ich habe sie nicht ›einfach gehen lassen‹ …«, Ingrid spie die Worte aus, »… weil ich sie nicht mehr liebe. Ich habe sie gehen lassen, weil sie verschwunden ist – und wir können sie nicht zurückholen. Verstehst du das? Wir können es nicht. Sie muss von sich aus zurückkommen.«

Simon sank auf die Couch. Ingrid setzte sich neben ihn. Nach einer Weile legte sie ihren Kopf an seine Schulter.

»Ich hab’s versucht«, sagte Simon.

»Ich weiß.«

»Und ich hab’s verbockt.«

Ingrid zog ihn an sich. »Das wird schon wieder.«

Er nickte, obwohl er wusste, dass es das nicht werden würde, nie wieder.

VIER

DREI MONATE SPÄTER

Simon saß mit Michelle Brady in seinem weitläufigen Büro im 38. Stockwerk gegenüber dem früheren Standort des World Trade Centers. Er hatte die beiden Türme an jenem schrecklichen Tag einstürzen sehen, aber nie darüber gesprochen. Er hatte sich weder die Dokumentationen noch die Berichte oder die Sondersendungen zu den Jahrestagen angesehen. Das hätte er nicht ausgehalten. Rechts in der Ferne, auf der anderen Seite des Flusses, stand die Freiheitsstatue. Hinter den näher gelegenen Wolkenkratzern sah sie klein aus, stand dort einsam im Wasser, wirkte trotzdem entschlossen mit der in die Luft gereckten Fackel, ein grünes Fanal, und obwohl Simon seiner Aussicht größtenteils längst überdrüssig geworden war – so spektakulär eine Aussicht auch sein mochte, wenn man Tag für Tag dasselbe sah, wurde es schal –, tröstete ihn der Anblick doch immer wieder.

»Ich bin Ihnen so dankbar«, sagte Michelle mit Tränen in den Augen. »Sie waren uns wirklich ein guter Freund.«

Er war kein Freund. Eigentlich nicht. Er war Finanzberater und sie seine Klientin. Trotzdem rührten ihn ihre Worte. Es war das, was er hören wollte – so sah er seinen Job. Aber war er dann nicht doch ein Freund?

Vor fünfundzwanzig Jahren, nach der Geburt von Rick und Michelle Bradys erstem Kind Elizabeth, hatte Simon ein Ausbildungskonto eingerichtet, damit Rick und Michelle anfangen konnten, für den Universitätsbesuch ihrer Tochter zu sparen.

Vor dreiundzwanzig Jahren hatte er ihnen bei der Erstellung eines Hypothekenplans für ihr erstes Haus geholfen.