Verhaltet euch unauffällig - Hank Zerbolesch - E-Book

Verhaltet euch unauffällig E-Book

Hank Zerbolesch

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Beschreibung

Drogen. Party. Liebe. Nach zwei Jahren Exzess spuckt die Afterhour Hank wieder aus. Die Bilanz ist ernüchternd: Keine Frau. Kein Geld. Keine Wohnung. Nur ein Berg Schulden und ein Dutzend Gläubiger im Nacken. Um der Beugehaft zu entgehen, zwängt Hank sich in den Nadelstreifenanzug einer kapitalistischen Gesellschaft, sucht sich einen Job, holt sich seine Frau zurück und entwirft einen Tilgungsplan für seine Schulden. Schlafen. Arbeiten. Essen. Schlafen. Arbeiten. Gefangen in der Monotonie merkt er nicht, wie der Knoten der Krawatte immer enger wird. Eine Geschichte über das Scheitern. Das Aufstehen. Das Hinfallen. Das Aufstehen. Das Hinfallen. Und vom Liegenbleiben.

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EPUB

Seitenzahl: 340

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periplaneta

HANK ZERBOLESCH: „Verhaltet euch unauffällig“ 1. Auflage, Oktober 2016, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2016 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Sarah Strehle Covermotiv: Marion Alexa Müller Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-020-5 epub ISBN: 978-3-95996-021-2

Hank Zerbolesch

Verhaltet euch unauffällig

Roman

periplaneta

„Ich gab dir meine Liebe

Ich gab dir mein Geld

Und wo bist du jetzt, Marie?

Ich gab dir die Schlüssel

Zu meiner Riesenwelt

Und wo bist du jetzt, Marie?“

Marie (Tom Novy Remix)

Für Feivel und Vonny

Nach mir die größten Ficker.

Prolog

Es gibt Menschen, die sich so tief in dein Leben einbrennen, dass sie dessen Verlauf auch dann mitbestimmen, wenn sie schon längst kein Teil mehr davon sind.

Das ist meine feste Überzeugung.

Dies ist meine Geschichte. Und die Geschichte derer, die mein Leben beeinflusst haben. Was nicht bedeutet, dass sie für meine momentane Lage haftbar zu machen wären. Denn letztendlich ist jeder Mensch für sich selbst verantwortlich. Auch davon bin ich überzeugt.

Diese Art des Selbstbildnisses ist noch recht jung. Und bedurfte einer Menge Zeit und Selbstreflexion. Zeit habe ich hier drin genug. Und Selbstreflexion ist etwas, das die Zeit mit sich bringt. Aus ihr erwächst Abstand. Und den brauchte es.

Es gab eine Epoche in meinem Leben, in der habe ich immer das getan, was von mir erwartet wurde. Was nicht heißen soll, dass ich es nicht gerne getan habe. Das habe ich. Meistens.

Ich ging zur Schule. Mal mehr, mal weniger regelmäßig. Und als ich alt genug war, eine Ausbildung zu machen, tat ich auch das. Ich hatte lange Zeit dieselbe Freundin. Ein Auto. Und einen mehr oder weniger geregelten Job. All das war zwar durchzogen von den Problemen, die das Leben mit sich bringt, dennoch war es ein schöneres Exemplar, als es die meisten haben. Und trotzdem wohnte in mir ein Gefühl, das ich lange Zeit nicht einzuordnen wusste.

Dann traf ich Marie. Sie hob mein Leben aus den Angeln und gab mir eine völlig neue Sicht auf die Dinge. Ich tauschte mein bisheriges Leben gegen ein neues. Eines, von dem ich meinte, erkannt zu haben, wie es gemeint war. Aus Arbeit wurde Techno. Aus der Wohnung ein Club. Aus dem Alltag eine nie endende Party. Und aus meinem bisherigen Bild der Liebe wurde bedingungslose Hingabe.

Als ich ein paar Jahre später zu mir kam, war von alldem nicht mehr übrig als ein riesiger Haufen Schulden, ein verprelltes Elternhaus und jede Menge verbrannter Erde.

Genau hier beginnt meine Geschichte. Nicht, weil sie ab hier spannender ist. Es geht um das, was passiert, wenn plötzlich das Putzlicht angeht. Wenn sich der Kater in das Fleisch frisst und jeden Muskel brennen lässt, als stünde dein Körper in Flammen. Es geht um Menschen, die immer wieder Hoffnung in eine ausweglose Situation pflanzen, als seien es Setzlinge. Und darum, wie mühselig es ist, diese Saat sprießen zu lassen.

Teil 1

‚Das ist das Problem am Trinken‘, dachte ich mir, während ich mir einen Drink einschüttete. ‚Wenn etwas Schlechtes passiert, trinkt man, um zu vergessen; wenn etwas Gutes passiert, trinkt man, um zu feiern; und wenn gar nichts passiert, trinkt man, damit etwas passiert.‘

Charles Bukowski

1

Sommer 2003

„Die Schicht, in der Sie eingesetzt werden würden, geht von Montag bis Freitag von 17:00 bis 21:00 Uhr. Es kann auch mal früher oder später werden, je nach Volumen. Stoßzeiten sind Weihnachten und nach den Ferien. Das ist eine körperlich sehr anspruchsvolle Arbeit“, sagte er und sah mich genau so an, wie das Sicherheitspersonal am Kennedy Airport Männer mit Gebetsmützen und Bärten ansieht.

Dieser Blick schien hier zum guten Ton zu gehören. Schon am Eingang wurde ich damit empfangen. Meine Taschen wurden durchsucht und ich wurde gründlicher abgetastet, als beim Fußballderby Düsseldorf gegen Köln.

Das Büro als schlicht zu bezeichnen, würde dem hier vorherrschenden Spartanismus in keiner Weise gerecht werden. Der Raum war so klein, dass mein Gegenüber es nur unter Anstrengung um seinen Schreibtisch geschafft hätte. Es gab keine Bilder. Keine Blumen. Der einzige Bonus waren die dunkelbraunen Jalousien, die zur Hälfte heruntergelassen waren. Und das Namensschild auf dem alten Holztisch. Herr Kling stand da aus einzelnen Buchstaben zusammengescrabbelt. Seiner Hautfarbe nach schien er viel Zeit in diesem Zimmer zu verbringen. Das unterschrieb auch sein Moschusduft.

„Im Schnitt verladen wir 17.000 Pakete pro Schicht und knapp 50.000 Pakete am Tag.“

‚Dein arielweißes Hemd sieht mir nicht danach aus, dass du dich in das wir mit einbeziehst‘, dachte ich.

„Sie sind gelernter Altenpfleger?“ Er machte sich erst gar nicht die Mühe, für diese Frage von meinem Lebenslauf aufzublicken.

„Jawohl“, sagte ich.

‚Jawohl. Wer sagt denn bei einem Vorstellungsgespräch jawohl?‘

„Und warum arbeiten Sie nicht mehr als Pfleger?“

„Das Problem ist doch Folgendes“, begann ich. Überlegte kurz und fuhr fort. „Jede Arbeit beruht auf Erfolgserlebnissen. Das ist genau das, was Sie weitermachen lässt. Was Sie auch durch die schlechtesten Tage zieht. Aber genau diese Erfolgserlebnisse bleiben in der Altenpflege völlig auf der Strecke, denn am Ende sterben sie alle. Und glauben Sie mir: Das ist nicht nur ziemlich frustrierend, das geht auch ganz schön an die Substanz.“

Eine mindestens genau so billige Ausrede wie der erfundene Job an sich. Doch so schnell fiel mir halt nichts Besseres ein. Wer macht sich schon für ein Vorstellungsgespräch Gedanken über seine ehemaligen Arbeitgeber?

„Wie sind Sie denn überhaupt auf uns aufmerksam geworden, Herr Zerbolesch?“, fragte er. Faltete seine Hände wie zum Sonntagsgebet und wuchtete die Ellbogen auf den Tisch.

„Ein Freund von mir arbeitet schon sehr lange hier. Und ich höre immer nur Gutes über Sie. Der PAKETDIENST hier, der PAKETDIENST da, Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, nette Kollegen, nette Vorgesetzte“, log ich.

„Wie heißt denn Ihr Freund?“, fragte Kling.

Mein Blick flackerte über seinen Schreibtisch und blieb an einem Kaffeebecher hängen, der mit einer Landschaft bedruckt war, wie man sie aus alten Karl May Filmen kennt.

„Michael Herbig“, fiel es mir aus dem Mund.

„Der Name sagt mir etwas.“ Er fuhr sich mit der Hand über sein aalglattes Kinn.

„So’n kleiner, schlaksiger Kerl. Immer gute Laune. Immer einen witzigen Spruch auf den Lippen. Ein richtiges Arbeitstier“, sagte ich.

„Ach ja. Richtig. Der Michael. Netter Kerl. Aber lassen Sie sich gesagt sein, dass wir dafür auch einiges erwarten. Es gibt hier klare Vorgaben, die Sie erfüllen müssen. Unser Soll liegt momentan bei 500 Paketen in der Stunde.“

Mein rechter Fuß begann zu zucken.

„Aber Sie sehen recht sportlich aus. Ich denke nicht, dass das für Sie ein Problem wird. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?“

„Wie sind denn die Verdienstmöglichkeiten?“, fragte ich.

„Das kommt ganz darauf an, wie viel Sie arbeiten wollen.“

„Ich hab nichts weiter vor“, sagte ich.

„Na das klingt doch schon mal ganz gut. Voraussichtlich werden Sie von 17:00 bis 21:00 Uhr arbeiten. Sie verdienen anfangs 12,63 Euro die Stunde und nach Ablauf der Probezeit 13,50 Euro. Was die Arbeitszeiten angeht, haben wir des Öfteren Sonderaktionen. Wenn zum Beispiel Kemmer und Kreuz neue Kataloge verschicken, dann brauchen wir ein paar Leute schon ab 14:00 oder 15:00 Uhr.“

Ich überschlug die Information grob im Kopf und landete bei knappen 1.000 Euro im Monat. ‚Müsste zu schaffen sein‘, dachte ich.

„Ist super. Nehm’ ich“, sagte ich.

Kling lehnte sich in seinen Stuhl. Ließ die Hände gefaltet und sah mich an, als hätte ich keinen blassen Schimmer, worauf ich mich hier einlassen würde. „Vertun Sie sich da nicht, Herr Zerbolesch. Das ist eine körperlich sehr anstrengende Arbeit. 50 Prozent geben in den ersten zwei Wochen wieder auf.“

‚50 Prozent haben wahrscheinlich auch eine andere Wahl‘, dachte ich. „Ich bin einiges gewohnt. Ich kann das ab“, sagte ich.

„Das glaube ich Ihnen gerne.“ Der Anflug eines Lächelns deponierte sich auf seine Lippen und Wangen. „Wer alte Leute aus dem Bett heben kann, der sollte bei ein paar Paketen keine Probleme haben.“

„Wann fang ich an?“

„Ich würde sagen, Sie gucken sich erst mal alles an, arbeiten ein paar Stunden mit und dann sehen wir weiter.“

„Super. Wo muss ich hin?“

Er stempelte meinen Lebenslauf. Griff einen Ausweis mit Kette aus seiner Schublade und reichte mir beides. „Aus der Tür raus und die zweite wieder rechts. Die Treppe runter und dann wieder rechts zum ersten Container. Da fragen Sie nach Olli. Der wird Ihnen alles Weitere zeigen. Viel Glück“, sagte er und reichte mir die Hand.

‚Ein bisschen wie auf’m Amt‘, dachte ich. Schlug ein. Und ging.

2

Als ich die zweite Tür rechts aufzog, stand ich in einem Hexenkessel aus blauschwarzem Lärm, Schmutz und getriebenem Kapitalismus. Meine Nase erahnte etwas, das dem Geruch von Metall, Schmierfett und Abgasen nahekam. Ich sah in ein monumentales Wellblechkonstrukt, bei dessen Anblick mir kurz der Atem stockte. Wie damals. Als ich mit meinen Eltern zum ersten Mal in den Urlaub gefahren war und sich dieses gigantische Alpenpanorama vor mir ausgebreitet hatte.

Die Halle war durchzogen von Stahlrahmen und sich bewegenden Bändern, die aussahen, als stecke Leben in ihnen. Beeindruckt von dieser Konstruktion, stieg ich Stufe um Stufe die Treppen hinab. Unten angekommen hatte ich das Gefühl, als wäre ich kopfüber in ein anarchisches Chaos eingetaucht. Hubwagen, mannshoch beladen mit Päckchen, steuerten aus allen Richtungen auf mich zu. Die ersten Minuten verbrachte ich damit, ihnen im letzten Augenblick aus dem Weg zu springen. Ich fühlte mich wie ein Gefangener in einer Slapstick-Nummer. Was mir ein Grinsen entlockte. Bis ich jemanden hinter den Paketgebirgen zu packen bekam.

„Tschuldigung? Ich such den Olli.“ Ich schrie, so laut ich konnte. Und verstand mich selbst kaum.

Der Kerl zeigte mit dem Finger auf einen kahlgeschorenen Hinterkopf. Und gerade als ich die Hand zum Dank heben wollte, war er schon wieder weg. ‚Der arbeitet wohl schon länger hier‘, dachte ich. ‚Versucht gar nicht erst zu reden. Hat eh keinen Sinn.‘

Ich schlängelte mich um die Hubwagen herum auf Olli zu und tippte ihm von hinten auf die Schulter.

„Hi. Henry. Herr Kling schickt mich. Ich soll Probe arbeiten.“

Olli hielt mir seine Hand hin. Ich schlug in die mit aufgerissener Haut überzogene Pranke und schüttelte sie. Er sah mich irritiert an. Riss mir mit der anderen den Lebenslauf aus den Fingern. Warf einen Blick darüber und bedeutete mir, ihm zu folgen. Wir stiegen ein paar Stahltreppen hoch, und schon stand ich in einem Container, der zu Dreiviertel gefüllt war mit Paketen. Es gab kleine, große, dicke, dünne, runde, eckige; und trotzdem war nicht ein Zentimeter Platz verschwendet. Wie Tetris. Nur in echt.

Olli brüllte dem Entlader etwas ins Ohr, während der sich selbiges zuhielt. Dann drehte er sich um, gab mir den Lebenslauf zurück und ging.

Ich trat zu dem jungen Kerl in den Anhänger. Sein Kopf war gekrönt von einer Haarpracht, die ich einmal in der Cinema gesehen hatte. Da hatten sie einen Flyer abgedruckt, der unter den Walt Disney Mitarbeitern verteilt worden war und genau zeigte, welche Art von Frisur geduldet wurde und welche nicht. Der Typ hier ging mit den kalifornischen Ansprüchen ganz klar konform. Er zog seinen rechten Handschuh aus und hielt mir die Hand hin.

Ich drückte meinen Lebenslauf hinein. Er lachte und zog sich seinen schwarzen Gewichthebergürtel zurecht. Dann deutete er an, dass ich mir die Ohren zuhalten solle. Ich tat es und er lehnte sich zu mir.

„Hi. Sebastian“, rief er.

Ich verstand. Und schlug ein. „Hi. Hank. Was muss ich tun?“ Meine Stimme klang fahl und stumpf. Als stünde ich in einem schallabsorbierenden Raum.

„Alle Pakete von hier drin auf das Band legen“, rief Sebastian.

„Das ist alles?“, fragte ich.

Er lachte wieder. „Das ist alles.“

Getrieben von einer Mischung aus Angst und Eifer griff ich das erste Paket und wurde gleich mal ausgebremst. Dieses kleine Scheißding mit seinen geschätzten 30 mal 20 mal 20 Zentimetern wog mindestens 40 Kilo! Sebastians Perlweiß-Lächeln überstrahlte die Ränder seiner Lippen. Er nahm mir das Paket ab und schmiss es auf das Band, als wäre es ein leerer Pizzakarton. Dann drehte er sich wieder um. Schnappte sich das nächste, schmiss es auf das Band. Drehte sich um, schnappte sich das nächste, schmiss es auf das Band. Drehte sich um …

Als ich noch klein war, gab es in der Fabrik meines Vaters einen Tag der offenen Tür. Ich weiß noch genau, wie abschreckend das alles für mich war. Überall Lärm. Schmutz. Und diese unzähligen Fließbänder. Alle 2 Minuten bremste eine Lenkung vor seiner Nase. Er nahm sie vom Band und spannte sie an seinen Arbeitsplatz. Zog ein paar Schrauben an. Kontrollierte etwas auf einer Tafel und löste die Verankerung. Die Lenkung rutschte weiter und machte Platz für eine neue. ‚Was für eine langweilige Arbeit‘, hatte ich damals gedacht. Und jetzt?

Sebastian drehte sich um, schnappte sich das nächste, schmiss es auf das Band. Drehte sich um …

‚1.000 Euro‘, dachte ich. Und griff zu.

Wenn du jahrelang nichts anderes getan hast, als Bierflaschen mit den Zähnen zu öffnen oder Amphetaminautobahnen zu bauen, kann es mitunter etwas Zeit in Anspruch nehmen, bis auch der letzte Knochen auf Arbeit eingestellt ist. Doch als die Maschine dann einmal lief, war es gar nicht mehr so schlimm.

Nach einer halben Stunde war der Container leer und meine Stimme wieder klangvoll. Sebastian schob die Bandanlage hinaus, und ich wollte mich gerade setzen, um auf einen neuen Wagen zu warten, als er mich am Ärmel zog. Links neben unserem Arbeitsplatz wartete bereits der nächste LKW.

‚Die verschwenden keine Zeit‘, dachte ich. Ging hinein. Schnappte mir ein Paket. Schmiss es auf das Band. Drehte mich um, schnappte mir das nächste, schmiss es auf das Band. Drehte mich um …

Drei Stunden später. Kein Olli in Sicht. Dafür jede Menge Anhänger. Alle beladen nach dem gleichen Mauerbau-Prinzip. Jeder Schritt in meinen Schuhen fühlte sich an, als liefe ich barfuß durch ein Sumpfgebiet, während der Rest des Körpers schrie, als wäre ich gerade von der Streckbank gestiegen.

Und trotzdem fühlte es sich gut an. Ich schmiss ein Päckchen nach dem anderen aufs Band und hatte bei jedem einzelnen das Gefühl, als würde ich ein Stück Ballast von mir werfen.

Der Gedanke an Marie: Zack, weg.

Das Bild von ihr und Ben: Zack, weg.

Die Erwartungen meiner Eltern: Zack, weg.

Die Stapel Briefe. Weiße. Gelbe. Rote: Zack, weg.

Der Gerichtsvollzieher: Zack, weg.

Langsam verstand ich, wie mein Vater so lange so ruhig bleiben konnte.

Nachdem wir eine weitere Stunde zwischen drei Ausladebuchten hin und her gesprungen waren, blieb der Nachschub aus.

„Nicht schlecht“, sagte Sebastian.

Der Lärmpegel hatte sich in einem Bereich eingependelt, der Unterhaltungen in normaler Lautstärke zuließ. Er nahm einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche und reichte sie mir. „Was hast du vorher gemacht?“

„Omas durchs Altenheim geschoben.“ Ich setzte mich zu ihm an die Ausladebucht. Der Wind kühlte den salzigen Schweißfilm auf meinem Gesicht. Und obwohl mir nicht kalt war, zog sich ein Zittern durch meinen Körper.

„Du haust die weg, als hättest du nie was anderes gemacht.“

„Ich hatte auch so einiges zum Wegwerfen“, sagte ich.

Sebastian lachte.

„Und? Wie sieht’s aus.“ Keine fünf Sekunden, nachdem wir uns hingesetzt hatten, hatte sich Olli neben mir materialisiert. So unauffällig, als ob Scotty persönlich ihn hergebeamt hätte.

„Super“, sagte ich. Und was soll ich lügen. Ich fühlte mich großartig! Befreit. Leichter. Was auch daran liegen konnte, dass ich meinen Körper nicht mehr spürte.

„Der hat beinahe alle Wagen alleine ausgeräumt“, sagte Sebastian.

Ich sah zu Olli. Ein Lächeln entglitt mir. Es kam zurück, und ich fand Gefallen an diesem Augenblick.

„Wann kann ich anfangen?“, fragte ich.

„Komm morgen wieder. Bring ein paar Klamotten und eine Flasche Wasser mit. Die kannst du auf dem Klo wieder auffüllen. Und einen Sozialversicherungsausweis und einen Kugelschreiber für den Arbeitsvertrag.“ Er klopfte mir auf die Schulter. Drehte sich um. Und verschwand in den Eingeweiden der gewaltigen Industrieanlage.

„Dann bis morgen“, sagte Sebastian. Winkte mir zu. Und ging.

Ich blieb auf dem Betonpfeiler sitzen. Griff eine fertig gestopfte Kippe aus meinem Metall-Etui. Steckte sie an. Inhalierte den ersten Zug bis tief in die kleinen Lungenbläschen. Genoss den leicht betäubenden Geschmack von Tabak auf meiner Zunge. Und legte den Kopf in den Nacken.

3

‚Hammer. Was für ein bescheuerter Name für ’nen Gerichtsvollzieher‘, dachte ich und klopfte an die Tür.

„Herein“, hallte es dumpf durch Pressspan.

Ich drückte die Klinke und trat ein. „Hallo. Zerbolesch. Ich hab einen Termin.“

„Bitte. Nehmen Sie Platz“, sagte er. Seine Arme steckten in einem babelesken Turm aus Akten.

Ich setzte mich und sah mich um. Die Wände waren kahl. Nur die unzähligen Löcher und die darum gezogenen, farblich leicht unterschiedlichen Rechtecke zeugten davon, dass dieser Raum einmal mit Leben gefüllt gewesen war. Oder zumindest mit Bildern.

Ein Aroma, irgendwo zwischen Moder, altem Kaffee und kalter Asche glitt über meine Nasenhärchen. Auf der Fensterbank stand eine Tonschale, über deren Ränder jetzt Blätter hingen, die für die Photosynthese genau so nützlich waren wie ein Braunkohlekraftwerk für den Klimaschutz. ‚Manchmal muss man Prioritäten setzen‘, dachte ich.

„Ah. Da haben wir Sie ja.“ Hammer zog eine Mappe aus dem Berg hervor, die auch ein Brockhaus hätte sein können. Mit einem Wisch über den Tisch machte er sich etwas Platz. Als er meine Mappe öffnete, setzte er eine Staubwolke in Bewegung, die jedem Allergiker die Bronchien unwiderruflich zugeschnürt hätte. Er zog seine Lesebrille von der Stirn auf den Nasenrücken und blätterte mit dem Daumen durch Anschreiben, deren Briefköpfe mir allesamt nicht fremd waren. Als er beim letzten ankam, hob er den Blick.

Ich sah in ein Gesicht, das so zerfurcht war wie ein syrischer Wüstenboden, der das letzte Mal Wasser gesehen hatte, als er noch zum Römischen Reich gehörte. Die Pigmente in seinen Locken schienen schon vor langer Zeit ausgeflogen und auch der in alle Richtungen abstehende Bart strahlte in hellem Silber.

„Herr Zerbolesch. Was haben Sie denn für mich?“

„Einen Arbeitsvertrag.“ Mit einer nicht zu übersehenden Portion Stolz reichte ich ihm das Original über den Schreibtisch.

Er nahm es. Blätterte zu der für ihn interessanten Stelle. Überflog die Zahlen. Und gab ihn mir zurück.

„Ich verdiene knapp 1.000 Euro im Monat. Damit kann ich Ihnen auf jeden Fall die Raten zahlen.“

„Das mag sein. Aber wir haben hier ein kleines Problem.“ Sein Daumen grub sich wieder durch meine Akte.

„Und das wäre?“

Er blickte zu mir auf. Stemmte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub seine Faust in der linken Hand. Wieder sah er mich ein paar Sekunden stumm an. Dann holte er tief Luft und sagte: „Die Kanzlei Müller und Kuhl will gar kein Geld mehr.“

„Wie jetzt. Nicht mehr?“

„Nein.“

„Das ist doch gut.“

„Das kommt auf die Perspektive an.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte ich.

„Müller und Kuhl wollen, dass Sie in die Beugehaft gehen.“

„Wie bitte?“ Der faustgroße Muskel in meiner Brust stellte das Arbeiten ein. Mein Atem kam, ganz ohne Stauballergie, zum Stocken, und jegliches Blut rutschte der Schwerkraft folgend in Bauch und Beine.

Das blieb meinem Gegenüber nicht verborgen. Sein Tonfall wurde weicher. „Sie haben zwei Jahre auf kein einziges Schreiben der Kanzlei geantwortet.“

„Aber ich hab doch jetzt einen festen Job. Ich kann das alles zahlen.“ Ich hatte Mühe, das Zittern in meiner Stimme unter Kontrolle zu halten.

„Herr Zerbolesch. Woher sollen Müller und Kuhl das wissen, wenn Sie ihnen nicht antworten?“

‚Recht hat er‘, dachte ich.

„Außerdem ist diese Kanzlei nicht Ihr einziges Problem.“

„Das weiß ich. Aber ich verdiene jetzt 1.000 Euro im Monat“, wiederholte ich mein neues Mantra. „Damit sollte ich doch alles bezahlt kriegen.“

Sein Mund verzog sich zu einer ‚Tja hätten Sie mal‘-Miene, während seine Augen leicht aus ihren Höhlen hervortraten. Dann atmete er tief ein und vergrub Blick und Hände wieder in meiner Akte. „Wie schon gesagt. Die meisten wollen gar kein Geld mehr. Die Meisten wollen Sie einfach nur noch bluten sehen.“

„Wie viel genau sind denn die meisten?“, fragte ich.

„Zwölf.“

„Zwölf?“

„Zwölf. Zwölf Haftbefehle.“

„Zwölf Ha …“ Affektiert drehte es meinen Kopf in Richtung Tür.

Hammers Tonfall wurde wieder härter. „Die meisten haben Sie über Monate hinweg angeschrieben. Und Sie haben nicht auf ein einziges Schreiben reagiert!“ Er sah mich an. Seufzte tief. „Stellen Sie sich doch mal vor, jemand würde Ihnen Geld schulden. Und egal, wie viele Briefe Sie auch schreiben, wie oft Sie auch den Gerichtsvollzieher schicken, niemand würde sich bei Ihnen melden. Was würden Sie in so einer Situation tun?“

Komischer Gedanke. Dass mir jemand Geld schulden könnte. „Naja. Ich hab gedacht … Ich weiß auch nicht, was ich gedacht hab.“ Meine Körperspannung nahm ab und ich sank in den Stuhl, als könne ich mich darin verstecken.

„Haben Sie gedacht, dass Sie das aussitzen können?“, fragte er.

Meine Schultern erhoben sich zu einem Verlegenheitszucken.

„Haben Sie ernsthaft geglaubt, die würden das irgendwann vergessen? Oder sich denken ‚Ach, der Herr Zerbolesch. Der hat bestimmt noch ganz andere Sorgen. Erlassen wir ihm doch die 4.000 Euro‘? Haben Sie gedacht, Sie müssen nur lange genug von der Bildfläche verschwinden, und alles ist gut?“

„Jetzt wo Sie das so sagen, klingt es ziemlich dumm.“ Meine Füße begannen zu wippen. Ich rieb den Schweißfilm, der sich auf meine Hände gelegt hatte, in die Jeans ein.

„Keine Angst. Ich werde Sie jetzt nicht einsperren. Aber Sie müssen sich bei Ihren Gläubigern melden! Sagen Sie Ihnen, was Sie mir gesagt haben. Dass Sie eine neue Arbeit haben und Ihre Schulden gerne bezahlen würden. Machen Sie konkrete Zahlungsvorschläge. Und bleiben Sie ehrlich! Rechnen Sie denen vor, an wen Sie wie viel zu zahlen haben. Es nützt Ihnen überhaupt nichts, wenn Sie die Raten zu hoch ansetzen und die dann nicht bedienen können. Ich nehme mal an, dass die Gläubiger, die ich hier vorliegen habe, nicht die einzigen sind?“

„Sind Sie nicht“, sagte ich.

„Wie viele sind es denn insgesamt?“

„Keine Ahnung.“

„Bringen Sie das in Erfahrung.“

„Ja“, sagte ich mit Blick auf den Schreibtisch. Dann sah ich Hammer direkt an. „Und was mach ich jetzt?“

„Ich brauche auf jeden Fall eine Anzahlung von Ihnen. Irgendetwas, damit ich die 12 hier ruhigstellen kann.“

„Aber ich arbeite gerade mal ne Woche bei dem PAKETDIENST. Ich muss noch drei Wochen warten, bis das erste Geld kommt.“

Wieder drapierte er seinen Oberkörper auf dem Tisch. Vergrub das Gesicht tief in den Händen. Dann sah er auf und mich erheblich länger an als zuvor. Seine Finger drehten leise knisternd kleine Zöpfe in seinen Bart. „Sind Sie zurzeit irgendwo gemeldet?“, fragte er.

„Nein.“

„Dann belassen Sie es in den nächsten drei Wochen dabei.“ Er schloss meine Akte. Zog eine Schublade auf und warf sie hinein. „Sie waren heute nicht hier. Wenn Sie Ihren Lohn haben, kommen Sie wieder.“

Der Tremor wich aus meinen Füßen, als hätte jemand den Schalter gefunden und auf Off gestellt.

„Danke“, sagte ich. Stand auf.

„Und, Herr Zerbolesch?“

„Ja?“

„Halten Sie sich von Personenkontrollen fern.“

„Danke“, wiederholte ich. Und ging.

4

Ein Arbeitstag bei dem PAKETDIENST ist nicht gerade mit Vielfältigkeit gesegnet. Und daher schnell erklärt.

Den Anfang macht ein sogenanntes Short-Employee-Meeting, kurz SEM. Hier wird schnell klar, von welchem Kontinent diese Firma den Weg auf das europäische Festland gefunden hat. Es hätte mich nicht gewundert, wäre vor Dienstbeginn jemand auf das Dach der Halle gestiegen, hätte das Sternenbanner gehisst und in die Trompete gepustet.

Streng genommen ist ein SEM nichts weiter, als eine exakt auf drei Minuten reglementierte Abhandlung über die enorme Wichtigkeit unseres Tuns, aufgeteilt in drei Akte.

1. Akt: Attention Getter.

Je nach Vorgesetztem schwankt der erste Akt zwischen einem „Guten Tag zusammen“ und einem lautstarken „Ruhe!“.

Meine Supervisorin gehörte zum letzteren Teil.

2. Akt: Company Propaganda.

Hier wird versucht, firmeninterne Propaganda bis in die Tiefen deines Unterbewusstseins zu prügeln. Sätze wie „Gestern haben wir es geschafft 17.537 Pakete umzuschlagen“, oder „Wir müssen heute alle noch mal kräftig dran ziehen. Wir erwarten knapp 2.000 Pakete mehr als gestern“, fallen dann. Überhaupt erklingt hier sehr oft die Bezeichnungwir. Wobei du dann derjenige bist, der seit drei Stunden in einem in der Sonne brutzelnden Anhänger steht und Pakete auf das Band schmeißt. Und sie nur die Kontrollinstanz, die alle fünf Minuten ihr Gesicht in den Wagen schiebt und Sachen sagt, wie: „Du musst mal dran ziehen. Da kommt gleich noch ein Wagen aus Herne.“

Die Bezeichnung „Du musst mal dran ziehen“ schienen die Damen und Herren Vorgesetzten in der Grundausbildung so sehr eingetrichtert bekommen zu haben, dass sie jeden Satz mit dieser Formulierung beendeten.

In mir keimte die Frage, ob das Auswirkungen auf deren Freizeit hatte. Wenn nach Feierabend alle in der Kneipe saßen und ihr Bier tranken.

„Hey, Markus. Hast du den Neuen gesehen? Den Zerbolesch? Komischer Vogel. Immer so still. Muss mal dran ziehen.“

„Ist mir auch schon aufgefallen. Aber eigentlich ist das doch ganz gut. Wer weniger redet, der arbeitet mehr. Hey, Barkeeper. Ein Bier. Und zieh mal dran.“

3. Akt: Climax.

Wie im klassischen Drama läutet der dritte Akt das Finale ein. Und was das angeht, waren sich in der Formulierung alle Supervisors einig. Der Satz „Also. Ran an die Arbeit. Lasst uns ein paar Pakete umschlagen!“, ebnete den Weg für zwei in sich klatschende Hände und eine zersplitternde Masse an Fleisch.

Nach dem SEM geht es zu einer der 28 Ausladebuchten für LKW oder einem der 12 aufgereihten Rollbänder. Ein 150 Meter langes Band, an dessen beiden Seiten 25 Wagen stehen, die bis unter die Decke beladen sind. An jeder Seite des Bandes befindet sich ein im 90-Grad-Winkel angebrachtes, weiteres Rollband. Das lässt sich, je nachdem wie weit du in den jeweiligen Wagen hinein musst, rein- und rausziehen.

Und dann – so will es die Guideline – lädst du in einer Stunde 500 Pakete aus. Was erst mal machbar klingt.

Doch bei genauerer Betrachtung leichte Defizite in der Planung aufweist. Die veranschlagte Stückzahl von 500 nämlich benötigt einen einwandfreien Arbeitsablauf ohne jegliche Störfaktoren. Und die gibt es zuhauf. Leere Wagen, die nicht schnell genug durch volle ersetzt werden, eine kurz vor dem Zerbersten stehende Blase, ein technischer Defekt in der Anlage, und so weiter und so weiter …

Erschwerend schmiegt sich der Umstand sogenannter Fotzenpakete an die Vorgaben. Der Begriff Fotzenpakete übrigens hatte sich lange vor meiner Zeit unter den Mitarbeitern etabliert. Und sich dann, trotz einer enormen Fluktuation, bis zu mir hindurch gehalten. Aber was genau sind Fotzenpakete?

Fotzenpakete sind die Art von Päckchen, die auf den ersten Blick wirken, als könntest du dir fünf von ihnen unter den rechten und zehn unter den linken Arm klemmen, mit ihnen aus dem Wagen rennen und sie im Flug fein säuberlich auf der Bandanlage aufreihen. Doch wenn du deine Finger dann unter ihren Boden schiebst und dein Rückgrat aufrichten willst, verrät dir ein leichtes Knacken, dass du dich gerade an mindestens 50 Kilo verhoben hast. Und es gibt Wagen, die sind bis in die hinterste Ecke gepflastert mit Fotzenpaketen.

Aber noch viel schlimmer als ein Auto voll von Rückgratknipsern sind Mischwagen. Diese bestehen in einem Verhältnis aus 50 Prozent Fotzenpaketen und 50 Prozent Fliegenpaketen. Du weißt also nie, was dich beim nächsten Päckchen erwartet. Es kann immer mal wieder passieren, dass dich dein Rücken anschreit. Oder aber du dir den Kopf an einer Ecke prallst. Je nachdem, worauf du vorbereitet bist, und was du tatsächlich bekommst.

Doch all das war mir egal. Ich war einfach froh und dankbar für die Chance, meinen Arsch vor seiner Entjungferung zu bewahren. Tina, meine Supervisorin, hatte mich an Band 1 abgestellt, mir ein paar genoppte Gummihandschuhe in die Finger gedrückt und wich mir seitdem nicht mehr von der Seite. Voller Ehrgeiz sprang ich in den Hänger und schob alles, so schnell ich nur konnte, auf das Band. Ein Päckchen nach dem anderen landete auf den Rollen und verschwand im riesigen Gewühl der Anlage. Kurze Zeit später streifte ich mir das Gummi von den Händen und drehte die Öffnung nach unten. Schweiß lief heraus wie Wasser aus einem Hahn, den man nicht richtig zugedreht hatte.

„Die Handschuhe wieder an“, rief Tina.

„Das fühlt sich an, als würde ich mit Wasserballons an den Händen versuchen, irgendwas hochzuheben.“

„Das gehört zum Arbeitsschutz. Also. Die Handschuhe wieder an“, sagte sie, fuchtelte mit einer Hand vor meiner Nase herum und mit der anderen klammerte sie sich an ein Klemmbrett.

Ich pellte mir das Gummi erneut über die Finger und machte weiter.

Als ich einen Schluck aus meiner Flasche nahm und den Paketen hinterher blickte, sah es aus, als würde dieses riesige Gestell aus Stahl, Gummi und Kabeln die Päckchen verschlingen, wie die Wäschemangel in Stephen Kings The Mangler Menschen verschlang.

Drei Wagen später klebte mir das erste T-Shirt auf der Haut. Ich tauschte es gegen ein neues.

Beim fünften Wagen war die erste Flasche Wasser leer. Weitere vier Wagen später die Zweite. Wagen Nummer 13 fiel das zweite T-Shirt zum Opfer, und nach weiteren vier neigte sich mein Flüssigkeitsvorrat dem Ende.

Drei Stunden und 18 Wagen später war ich um einen Sack Wäsche und 656 schmerzende Muskeln reicher. Doch nach langer Zeit der Abstinenz hatte ich endlich mal wieder etwas Positives zustande gebracht. Ich stemmte die Arme in die Hüften. Atmete tief ein. Und lächelte.

Ich sah zu Tina.

Sie nickte uninteressiert. Drehte sich um. Und ging.

5

Meine zweite Woche war vorbei und der Freitag läutete das Wochenende ein. Das letzte hatte ich damit verbracht, mich auf meiner Matratze zu verteilen. Ich hatte darauf gehofft, dass das Brennen in den Muskeln nachlassen würde, wenn ich nur still genug liegenblieb. Nach zweieinhalb Tagen machte sich so etwas wie Besserung breit. Dann musste ich wieder aufstehen und arbeiten.

Diesmal war es anders. Nicht weniger unangenehm, aber erträglicher. Also beschloss ich, mich heute ein bisschen unters Volk zu mischen, stieg in die Bahn und fuhr zum Hauptbahnhof.

Wie eingangs erwähnt, hatte ich ein paar Jahre mein Zuhause gegen eine Technobuzze eingetauscht. Obwohl es streng genommen kein Tausch war. Eher ein Umzug. Wenn du dein Wohnzimmer in den Club verlegst, erübrigt sich die leidige Frage, ob du noch auf ein Bier bleibst oder lieber nach Hause gehst.

Über dem Eingang hing der schwarz-weiße Kreisel, auf dem der blau-gelbe Schriftzug prangte: Poison Club.

Und hier war der Name Programm.

Ich klopfte an die Stahltür. In dem kleinen Fenster im oberen Drittel zeigte sich ein bekanntes Paar Augen. Sie sahen nach unten, verdrehten sich kurz und die Tür schob sich nach außen hin auf.

„Hanky! Du alter Nichtsnutz!“ Martin zog den Kopf ein und kam zu mir nach draußen. „Wir haben schon Wetten abgeschlossen, ob du jemals wiederkommst!“ Er lachte und wir gaben uns die Hand.

„Ich hoffe, es hat sich für dich gelohnt“, sagte ich.

„Absolut! Als ob du den Weg nach Hause nicht mehr findest. Komm rein!“ Er klopfte mir auf die Schulter. Wofür er seinen Arm nicht groß heben musste. Und schob mich rein. „Hey, Jungs. Seht mal, wen der Wind hier reingefegt hat!“

„Ach Scheiße“, sagte Oliver und fuhr sich durch das letzte bisschen Haar. „Hättest du nicht bleiben können, wo der scheiß Pfeffer wächst?“

„Es ist auch immer eine Freude, dich zu sehen“, sagte ich.

„Das macht’n Fuffi, Diggah!“, rief Martin an Oliver gewandt und winkte mit der offenen Hand nach seinem Gewinn. Der griff in seine Hosentasche, zog ein dickes Bündel Scheine hervor, arbeitete einen Fünfziger heraus und gab ihn Martin.

„Schön dich zu sehen“, sagte Oliver und steckte den Rest zurück in seine Tasche. „Meld dich, wenn du was brauchst!“

„Danke. Klappt schon“, sagte ich, während ich mich die Stufen hochzog. Oben angekommen wurde ich von 124 BPM in Empfang genommen. Prachtvoll verpackt in wummernde Bässe und knisternde Claps. Ich sah geradewegs auf Mario De Bellis, der das DJ-Pult im Go-Go-Käfig befeuerte. Ließ meinen Blick einmal durch den Saal schweifen. Und sofort legte sich ein Schleier heimeliger Wärme über mein Gemüt. Wie wenn du zu Weihnachten in eine große und intakte Familienfeier trittst. Ich lächelte das ehrlichste Lächeln seit langer Zeit und ging zur Theke.

„Hank! Lang nicht gesehen!“

Ich sah in zwei Augen so grün und funkelnd wie Kryptonit. Itful strahlte wie Tschernobyl. Sein Körper so abgemagert wie eh und je. Und eh ich mich versah, standen Bier und Jägermeister auf dem Tresen.

„Stimmt so“, sagte er.

„Danke!“ Ich nickte ihm zu und griff nach dem Shot. Der ging besser runter als erwartet. Keine Gänsehaut. Kein Schüttler. Nur Wärme, die sich ausbreitete. Ich griff das Heineken und tauchte in ein Meer aus transpirierendem Fleisch. Ich schloss die Augen. Inhalierte den Duft von geöffneten Poren und Nebel-Liquid. Spürte, wie der von der Decke tropfende Schweiß auf meiner Haut knisterte. Legte den Kopf in den Nacken. Und fing an zu tanzen.

Irgendwann beförderte De Bellis ein Vinyl auf den Teller, das eine enorm auf Angriff gebürstete Version von Tomcrafts Loneliness aus den Rillen kratzte. Ich öffnete die Augen und sah, wie die riesige Discokugel aus ihrer Verankerung bis kurz über die Tanzfläche sank. Ein kollektiver Brüllorgasmus schob sich durch den Raum. Jeder hatte jetzt seine Hände in die Luft gerissen. Und gerade als mir wieder einfiel, warum ich so viel Zeit in diesem Schuppen verbracht hatte, sah ich sie auf den Treppen zur Tribüne: Marie.

Meine Füße verharrten. Ebenso Puls und Atmung. Selbst mein Schwanz zog sich zurück.

Tanzend fegte sie ihre Air Max über die Stufen. Ihre dunklen Haare waren so tief in Schweiß getaucht, dass es aussah, als hätte sie die letzten drei Tage in diesem Zustand verbracht.

Marie. Die fleischgewordene Eskalation. Das konnte sie schon immer gut. Tanzen. Und am Rad drehen.

Als ich sie das erste Mal in Bewegung gesehen hatte, fragte ich mich, ob sie sich eine Duracell in den Arsch gesteckt hatte. Ich war jung und hatte noch keine Ahnung, dass Batterien auch durch Pulver geladen werden konnten.

Und direkt neben ihr, steif wie Ken in der Verkaufsverpackung, stand Ben. Dieser schmierige, kleine Pisser. Mister: ‚Ich bin doch dein Freund. Ich würde Marie nie anpacken!‘

‚Blöder Wichser‘, dachte ich. ‚Klebt ihr am Arsch wie ein scheiß Köter.‘ Ich überlegte kurz, ob ich besser nach Hause fahren sollte, als ich plötzlich neben ihr stand.

‚Scheiße‘, dachte ich. Den Weg hatte ich gar nicht mitbekommen. Wie wenn du mit dem Auto über die Bahn bügelst und irgendwann denkst: ,Wo sind die letzten 50 Kilometer hin?‘

„Hi“, sagte ich.

‚Hi‘, dachte ich. ‚Was bist du? Ein scheiß Milchbubi, der nicht weiß, wie man ne Frau anspricht?‘ Aber wie verdammt noch mal spricht man eine Frau an, die einem das Herz raus gerissen, und damit das Wunder von Bern nachgespielt hat?

„Hi.“ Marie schien mit dem gleichen Problem geschultert. Was sagt man zu jemandem, mit dem man sich vor ein paar Wochen noch das Bett geteilt hat, bevor man ihn durch seinen Freund ersetzt hat?

„Was macht ihr hier?“, fragte ich und hätte mich auf der Stelle ohrfeigen können.

„Wir wollten ein bisschen feiern. Und du?“

Ich leerte mein Bier in einem Zug. „Och. Mir ging’s die letzten Tage so gut, da hab ich mir gedacht, zieh ich mir doch mal meine Ex-Freundin rein, wie sie sich mit dem Judas hier begnügt.“

„Hey Hank.“ Ben legte seinen Arm demonstrativ um Maries Schulter.

„Aber du hebst jetzt nicht noch das Bein, oder?“, fragte ich, um Kaltschnäuzigkeit bemüht.

„Was hast du für’n Problem?“, rief Ben. Er ließ von Marie ab und baute sich vor mir auf wie ein Grizzly, der jeden Moment ausholt.

„Was ich für ein Problem habe? Du bist mein scheiß Problem! Was fällt dir ein, meine Freundin zu ficken!“

„Ex-Freundin!“, berichtigte Ben. „Und soweit ich weiß, warst du derjenige, der sich nicht mehr um sie gekümmert hat.“

„Und du hast nur so lange meine Bettseite warmgehalten, ja? Gut. Ich bin wieder da. Du kannst dich verpissen!“

Marie drängte sich zwischen uns. „Das war so alles nicht geplant. Ehrlich Hank!“

„Natürlich nicht! Niemand hat vor, eine Mauer zu bauen. Echt. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Dass du mich betrogen hast oder dass du mich mit dem betrogen hast. Wir waren wie …“ Ich ließ die Flasche fallen und knallte meine Fäuste aufeinander. „Sid und Nancy! Was seid ihr? Al und Peggy?“

„Ich geb dir gleich Al und Peggy“, rief Ben und versuchte sich an Marie vorbei zu arbeiten.

„Hört auf!“, schrie sie durch die Musik.

Ich stieß sie zur Seite. Das Adrenalin zog Ben meine Faust durchs Gesicht. Er kippte nach hinten. Sein Fuß rutschte von der Stufe. Er fing sich am Treppengeländer ab. Und legte eine Hand auf sein Jochbein.

„Und jetzt schnapp dir deinen Bettvorleger und geh die Couch hüten. Das ist es doch, was du willst, oder? Nen Sitzpisser. Einen, der dir Haus und Hof bereitet. Dem du abends das Essen kochen kannst, und der dir nur zu Weihnachten und zum Geburtstag in den Schritt will. Bitteschön. Musst ihn nur zusammenfegen. Dann kannst du ihn in deiner Gürteltasche mitnehmen. Allzu groß dürfte das Ego ja nicht sein“, sagte ich. Drehte mich um und ging.

„Schön, dich zu sehen. Wo hast du gesteckt, Mann?“ Micha redete zwar mit mir, doch seine Augen trennten sich nicht eine Sekunde vom Koks, das er so gleichmäßig auf den Rand der Plastikschüssel auftrug, als planiere er Ziegelsteine mit Mörtel.

„Hab mir nen Job gesucht“, sagte ich. Sah mich in der Kabine um. Und versuchte den Würgereiz zu unterdrücken, den der Geruch nach kristallisierter Pisse in mir auslöste.

„Scheiße, Mann. So’n richtigen Job? Mit früh aufstehen und so?“

„Genau. Zwei Uhr mittags. Früh aufstehen“, sagte ich, während Micha sich die Nasenschleimhäute zubetonierte.

„Wie kommt’s, dass ausgerechnet du dir nen Job suchst?“, fragte er und drückte mir einen Fünfer in die Hand.

„Was heißt hier ausgerechnet ich?“, sagte ich. Rollte den Schein. Und zog den Rest vom braun befleckten Plastik. Ich riss den Kopf in den Nacken und wartete auf das betäubende Gefühl, das sich durch den Rachen pflastern würde.

„Naja, du bist jetzt nicht gerade der Vorzeige-Arbeitnehmer, von wegen Regeln und so.“

„Die Alternative ist Knast“, sagte ich. Ich wähl also nur das kleinere Übel. Lieber fünf Stunden täglich eins, das mir das Leben schwermacht, als vierundzwanzig.“

„Krass, krass. Dann haste’s ja jetzt geschafft, wah? Gemachter Mann und so.“

Ich sah ihn an. Etwas lief mir von innen die Nase hinunter. Ich zog alles wieder hoch und stellte fest, dass sich mein Geruchssinn verabschiedet hatte. „Richtig. Ich strotz nur so vor Kohle. Ich fahr jeden Tag mit dem Taxi zur Arbeit.“

„Ernsthaft?“

„Natürlich“, sagte ich, stand auf und verschwand aus dem Klo.

„Marie is auch hier“, rief Micha mir hinterher.

„Schon gesehen.“

„Ist ganz schön fett geworden, oder?“, sagte er.

Ich blieb stehen. Drehte um und ging auf ihn zu. Er wich einen Schritt zurück und bremste mit dem Rücken an der Emaille, die einmal weiß gewesen war. „Pass mal auf Fr–“

„Hey.“ Micha legte seine Hand auf meine Schulter, als sei er mein Psychiater. „Ich wollt dich nur ein bisschen aufmuntern. Ehrlich. Die ist gar nicht fett. Sieht voll gut aus. Voll im Saft und so.“

„Du wolltest mich aufmuntern? Wer hat dich erzogen? Die Osbournes?“

„Ehrlich. Tut mir leid, Mann.“

Ich atmete tief ein und aus. „Nein. Mir tut’s leid. Ich bin grad ziemlich daneben. War alles ein bisschen viel die letzten Tage. Tschuldige.“

Ich drückte Micha so fest an mich, als wäre es die erste gefühlvolle Berührung seit Wochen. Er klopfte mir auf die Schulter. Was mich dazu animierte, ihn noch fester an mich zu drücken. Dann wurde mir klar, dass das wirklich die erste gefühlvolle Berührung seit Wochen war.

„Ey. Kein Problem. Ich weiß doch, wie das ist, wenn Sid seine Nancy verliert.“

Ich ließ ihn los und sah ihm in die komplett schwarzen Augen. „Genau das hab ich vorhin auch gesagt! Bevor ich dem blöden Wichser eine gescheuert hab.“

Fünf Bier und ein Gramm Speed später bewegte ich mich zum Sound von Tom Novy auf der Tanzfläche, als Marie die Menge teilte wie Moses das Rote Meer. Sie kam auf mich zu und drückte mir ein Bier in die Hand.

„Wo ist dein Fiffi?“, fragte ich.

„Leckt seine Wunden.“

„Und du?“

„Hier?“ Sie prostete mir zu und warf mir einen ihrer verheißungsvollen Blicke zu. „Hör mal … Das war so wirklich nicht geplant.“

„Das sagtest du bereits.“ Ich wandte mich ab. Nahm einen Schluck aus der grünen Flasche.

„Ich mein ja nur. Es tut mir wirklich leid.“

Durch die Menge hindurch erkannte ich Ben, der sich auf den Weg zu uns machte. Meine Hand schloss sich so fest um das Bier, so dass ich dachte, es würde jeden Moment zerspringen.

„Hey. Es tut mir wirklich leid. Okay?“ Ben reichte mir seine Hand.

„Mir nicht“, sagte ich. Griff dann aber doch in das rot befleckte Fleisch. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.

„Ich weiß. Und das ist in Ordnung. Glaub mir. Das war so alles nicht geplant.“

Ich zog meine Hand zurück. „Was ist los mit euch? Habt ihr euch abgesprochen oder was?“