Wenn Schmetterlinge Loopings fliegen - Petra Hülsmann - E-Book + Hörbuch

Wenn Schmetterlinge Loopings fliegen Hörbuch

Petra Hülsmann

4,8

Beschreibung

Na, das kann ja heiter werden! Als Karo ihre neue Stelle bei einem großen Hamburger Fußballverein antritt, muss sie feststellen, dass sie nicht wie geplant im gehobenen Management anfangen wird, sondern sich ausschließlich um den Spitzenspieler des Vereins kümmern soll - als Chauffeurin und Anstandsdame. Denn Patrick ist zwar ein Riesentalent, steckt seine Energie aber momentan lieber ins ausschweifende Nachtleben als ins Training. Von der ersten Begegnung an ist klar, dass Patrick und Karo sich nicht ausstehen können. Doch irgendwann riskieren die beiden einen zweiten Blick - und das Gefühlschaos geht erst richtig los -

Witzig, charmant und unbeschwert - ein Roman zum Verlieben!

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Zeit:5 Std. 1 min

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

Karos Vanillekipferl-Rezept

Patricks Mix für Karo

Danksagungen

Über die Autorin

Petra Hülsmann, Jahrgang 1976, wuchs in einer niedersächsischen Kleinstadt auf. Nach einem erfolgreich abgebrochenen Studium der Germanistik und Kulturwissenschaft arbeitete sie in Anwaltskanzleien, reiste sechs Monate mit dem Rucksack durch Südostasien und schrieb ihren Debütroman HUMMELNIM HERZEN, der wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand. Petra Hülsmann lebt mit ihrem Mann in Hamburg.

Petra Hülsmann

WENNSCHMETTERLINGELOOPINGSFLIEGEN

Roman

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Copyright © 2015/2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Marion Labonte

Titelgestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © Olga_Angelloz/Shutterstock; Piyapong89/Shutterstock

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-1103-7

luebbe.de

lesejury.de

Für Oma LeniUnd für alle, die ein Ziel haben

1.

Im Leben wie im Fußballkommt man nicht weit, wenn man nicht weiß,wo das Tor (Ziel) ist.

Arnold H. Glasow

Schon Wilhelm Busch hat ja gesagt, dass Ausdauer sich früher oder später auszahlt. Meistens später, hat er hinzugefügt, und da konnte ich ihm nur aus vollem Herzen zustimmen. Es hatte verdammt lange gedauert, bis mein großer Moment endlich gekommen war: der Moment, in dem sich all meine Ausdauer auszahlte und von dem an alles anders werden würde.

In meinen Händen hielt ich einen DIN-A4-Umschlag, auf dessen linker oberer Seite der Stempel der Fernuni Hagen prangte. Ich betrachtete ihn ausgiebig von allen Seiten, holte noch einmal tief Luft und zog mit zitternden Händen drei Seiten hervor. Zunächst das Anschreiben. Mein Blick flog über die Buchstaben, ohne den Text wirklich wahrzunehmen. Lediglich die Worte »gratulieren« und »Drittbeste« blieben in meinem Bewusstsein hängen. Ich legte den Brief zur Seite und widmete meine Aufmerksamkeit nun endlich dem Dokument, für das ich so hart gearbeitet hatte. »Bachelor-Urkunde« – das Wort stach mir als Erstes ins Auge.

Frau Karoline Maus, geboren am 12. Juli 1986, hat gemäß der Bachelorprüfungsordnung mit der Gesamtnote Sehr gut (1,3) ECTS Grade A – excellent bestanden.

1,3. Eins! Komma! Drei! Ich wusste meine Abschlussnote zwar schon seit einiger Zeit, aber erst jetzt, als ich es schwarz auf weiß und hochoffiziell auf der Urkunde sehen konnte, schien es wirklich wahr geworden zu sein. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen, nur um dann doch wieder der magischen Anziehungskraft der Urkunde nachzugeben.

… der akademische Grad Bachelor of Science (B.Sc.) für den Studiengang Wirtschaftswissenschaft verliehen. Hagen, unleserliche Unterschriften, Datum, Stempel.

Unvermittelt sprang ich vom Sofa auf, als mir die Vorbereitungen einfielen, die ich extra für diesen Moment getroffen hatte. Seit mehreren Tagen wartete die Best of Whitney Houston darauf, abgespielt zu werden. Ich drückte auf Play und drehte den Ton auf volle Lautstärke. Anschließend holte ich eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank, öffnete sie mit einem lauten Knall zu den Klängen der ersten Strophe von One moment in time und nahm einen großen Schluck. Als Whitney das erste Mal den Refrain sang, machte sich ein unglaubliches Glücksgefühl in mir breit, und mein Herz drohte fast zu zerspringen.

Lauthals stimmte ich in das Lied ein: »Give me one moment in time, when I’m more than I thought I could be. When all of my dreams are a heartbeat away and the answers are all up to me.« Mir liefen ein paar Tränen über die Wangen, und gleichzeitig musste ich lachen, weil ich ein ziemlich bescheuertes Bild abgeben musste. Nachdem Whitney und ich gemeinsam den fulminanten Höhepunkt des Liedes geschmettert hatten: »I wiiill be, I will be freeeeeeee«, ließ ich mich erschöpft auf die Couch fallen. Diese Nummer von mir bei Deutschland sucht den Superstar, und Dieter Bohlen wäre begeistert gewesen. »Ey, du hast den total gefühlt, den Song. Geile Performance! Dein Gesang klingt allerdings ziemlich alarmanlagenmäßig.«

Aber egal, ich hatte mein Abi am Abendgymnasium ja nicht nachgeholt, um Gesang zu studieren, sondern Wirtschaftswissenschaft. Und das alles zusätzlich zu meinem Vollzeitjob in der Bochumer Kfz-Zulassungsstelle. Insgesamt acht Jahre, in denen ich außer lernen und arbeiten kaum etwas anderes getan hatte. Da war es doch wohl verständlich, wenn ich in dem Moment, in dem alles vorbei war, in Gejaule ausbrach. Und nicht nur das, erst gestern hatte ich die Zusage für eine Trainee-Stelle bei einem Unternehmensberater bekommen! Also Grund genug für ein sirenenartiges Triumphgeheul vom Allerfeinsten!

Ich hörte das Lied noch fünf weitere Male und leerte dabei die halbe Flasche, wobei ich immer wieder verliebt meine Bachelor-Urkunde betrachtete. Doch irgendwann wurde mir bewusst, dass auch die schönsten Momente nur halb so schön waren, wenn da niemand war, mit dem man sie teilen konnte. Und sofort überfiel mich wieder das Gefühl von Wehmut, wie immer, wenn ich an Markus dachte. Noch vor ein paar Wochen wäre er in diesem Moment an meiner Seite gewesen. Doch nun war er mein Exfreund und wahrscheinlich der letzte Mensch auf der Welt, der sich mit mir über meinen Erfolg freuen würde oder überhaupt irgendetwas von mir hören wollte. Verständlicherweise, immerhin war ich diejenige gewesen, die nach sieben Jahren Schluss gemacht hatte.

Doch bevor ich wieder in Grübelei und Selbstvorwürfe verfallen konnte, machte ich mich schnell auf den Weg zu meinen Eltern.

Wenig später stand ich vor dem grauen, in die Jahre gekommenen Reihenhaus, in dem meine Eltern und meine Oma wohnten. Ich klingelte, und als hätte sie auf Besucher gelauert, öffnete meine Mutter nur Sekunden später die Tür.

»Hallo Mama«, begrüßte ich sie strahlend. »Ich hab tolle Neuigkeiten.«

Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, beugte sich zu mir vor, bis sie nur noch Millimeter von meinem Gesicht entfernt war, und schnupperte. »Sachma, hast du wat getrunken? Du hast ’ne Fahne von hier bis Dortmund.«

Ich drückte mich an ihr vorbei in den Flur. »Ja, und ich hatte auch allen Grund dazu. Sind Papa und Oma da? Ich würde es gerne euch allen gemeinsam sagen.«

»Uuuuwe! Omma!«, brüllte meine Mutter, was eigentlich nicht notwendig gewesen wäre, da das Haus nicht besonders groß war. »Die Karo is hier und hat uns wat Wichtiges zu sagen!«

Sie ging mir voraus ins Wohnzimmer, wo mein Vater sich auf der durchgesessenen senfgelben Couch zum gefühlt fünfhundertsten Mal einen WM-Rückblick im Fernsehen ansah. »Püppi!«, rief er bei meinem Anblick. »Wie isses?«

»Stell doch mal die Glotze ab, Uwe«, schimpfte meine Mutter, bevor ich antworten konnte, und setzte sich neben ihn. »Wir sind seit zwei Tagen Weltmeister, langsam wissen wir es. OMMA! Nu komm!«

Seufzend betätigte mein Vater den Aus-Knopf auf der Fernbedienung.

Wenig später erschien meine Oma, gestützt auf ihren Gehstock. »Wat brüllste denn so?«

»Die Karo hat was Wichtiges zu sagen. Komm, setz dich.«

Ich umarmte Oma und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie setzte sich zu meinen Eltern auf die Couch, von wo aus die drei mich erwartungsvoll ansahen.

»Jetzt spann uns nicht so auf die Folter, Püppi. Hast du deine Urkunde gekriegt?«, fragte mein Vater neugierig.

Ich nickte. Das Knistern in der Luft war geradezu physisch greifbar.

»Zeig doch mal!«

Aus meiner Tasche holte ich den DIN-A4-Umschlag, zog das wertvolle Dokument hervor und hielt es in die Höhe. »Es ist jetzt ganz offiziell. Ich habe mein Studium mit ›sehr gut‹ abgeschlossen! Eins Komma drei, um genau zu sein, aber das wisst ihr ja schon. Was ihr aber noch nicht wisst …« Ich machte eine kleine Kunstpause, um die Spannung ins Unermessliche zu steigern. »Ich bin die Drittbeste in meinem Jahrgang!«

»Die Drittbeste?« Mein Vater lief hochrot an, stand auf und breitete seine Arme aus. In zwei Schritten war ich bei ihm und versank in seiner Umarmung, wobei mir auffiel, dass sein Bierbäuchlein ein bisschen umfangreicher geworden war. »Ich bin so stolz auf dich, Püppi!« Er hatte recht nah am Wasser gebaut und wischte sich verstohlen ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.

Oma nahm mir die Urkunde aus der Hand und warf einen ehrfürchtigen Blick darauf. »Herzlichen Glückwunsch, Karo! Mensch noch mal, ist noch nicht lang her, da hab ich dir die Windeln gewechselt, und nu biste plötzlich ’ne Studierte!«

Schließlich drückte meine Mutter mich so fest an sich, dass mir fast die Luft wegblieb. »Ach, Karo, das …« Es kam nicht oft vor, dass ihr die Worte fehlten, aber in diesem Moment schien ihr nichts anderes einzufallen, als mich nur noch heftiger zu drücken.

»Kannste dir dat vorstellen, Bettina?« Mein Vater stieß ihr in die Rippen. »Wir kleinen Leute haben jetzt eine studierte Tochter!«

»Sag nicht immer, dass wir kleine Leute sind, Papa«, sagte ich zum x-ten Mal in meinem Leben. Meine Mutter war Frisörin, und mein Vater arbeitete im Bochumer Opel-Werk, zumindest noch bis Ende des Jahres, denn dann würde es geschlossen werden. Wir hatten nie im Luxus geschwelgt, aber ich hasste es, dass sie uns als »klein« bezeichneten.

Mein Vater nahm mein Abiturzeugnis ab, das über dem Fernseher gerahmt an der Wand hing, und tauschte es gegen meine Bachelor-Urkunde aus. Zum Glück hatte ich auf dem Weg zu meinen Eltern wohlweislich bereits alle notwendigen Kopien anfertigen lassen. »Das ist wirklich eine super Leistung, Karo. Ich hab doch immer gesagt, dass aus dir mal wat Besseres wird!«

Hach, wie gut es tat, so gehätschelt zu werden! Es war ein tolles Gefühl, dass ich es geschafft hatte, meine Eltern und meine Oma so stolz zu machen. »Da ist übrigens noch was«, sagte ich. »Noch eine tolle Neuigkeit.«

»Bist du wieder mit Markus zusammen?«, fragte meine Mutter hoffnungsvoll.

Na super. Da war ich hierhergekommen, um mich von diesem Thema abzulenken, und nun wurde es mir genüsslich aufs Brot geschmiert. Mit Gürkchen obendrauf. Meine Mutter nahm mir die Trennung extrem übel. Eine Frau trennte sich nicht von ihrem Freund, basta! Und schon gar nicht, wenn sie fast dreißig war und darüber hinaus seit sieben Jahren mit ihm zusammen, doppelbasta!

»Nein, bin ich nicht«, erwiderte ich schlicht.

»Was nicht ist, kann ja wieder werden«, beharrte sie. »Falls er dich zurücknimmt. Dass du ihn nach all den Jahren einfach im Regen stehenlassen hast, verzeiht er dir bestimmt nicht so schnell.«

Diese Vorwürfe hatte ich schon so oft gehört, vor allem von mir selbst. Ich schluckte den dicken Kloß runter, der sich in meinem Hals gebildet hatte. »Mama, ich habe mir diese Entscheidung wirklich nicht leichtgemacht. Wir waren schon lange nicht mehr glücklich miteinander. Ich liebe Markus nicht mehr, und ich kann mich nun mal nicht dazu zwingen, ihn wieder zu lieben! Verstehst du das denn nicht?«

»Glücklich!«, schnaubte sie. »Du bist achtundzwanzig Jahre alt! Wann willst du denn mal anfangen mit der Familienplanung?«

»Nu lass doch dieses Thema, Bettina«, mischte Oma sich ein.

»Nein, Oma, das ist ein gutes Stichwort«, sagte ich. »So etwas wie Familienplanung ist bei mir momentan überhaupt nicht vorgesehen. Im Gegenteil, ich werde mich von jetzt an nur auf mich konzentrieren. Und auf meine Karriere.« Ich atmete tief durch. »Ich habe nämlich einen neuen Job. Das ist die zweite tolle Neuigkeit, die ich euch erzählen wollte.«

»Einen neuen Job?«, stieß mein Vater hervor. »Und das sagst du jetzt erst? Wo denn?«

»Bei einem Unternehmensberater. Ich habe mich dort für eine Trainee-Stelle beworben und gestern die Zusage bekommen. Und das«, fügte ich stolz hinzu, »obwohl normalerweise nur Master-Absolventen in diese Programme aufgenommen werden.«

Mein Vater nickte eifrig. »Ja, aber du warst so gut, dass sie dich einfach nehmen mussten. Das ist ja toll! Herzlichen Glückwunsch, Püppi!« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Unsere Karo wird Unternehmensberaterin!«

Unternehmensberaterin. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie gut das klang. »Ähm, die Firma ist übrigens in Hamburg.«

Für ein paar Sekunden starrten die drei mich mit großen Augen an.

»In … Hamburg?«, fragte meine Mutter schließlich entsetzt.

»Das heißt, du gehst weg?«, hakte Oma nach.

»Ja, hier im Umkreis habe ich nichts gefunden, und die Anzeige hörte sich so toll an, dass ich mich einfach bewerben musste.«

»In Hamburg«, sagte mein Vater. Er war blass um die Nase geworden.

Es brach mir fast das Herz zu sehen, wie schwer sie es nahmen. »Hamburg ist ja nicht aus der Welt«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Ihr wisst doch, dass ich immer schon gerne mal woanders leben wollte. Und an den Wochenenden kann ich ja ab und zu nach Bochum kommen. Oder ihr besucht mich dort.«

Es nützte nichts, die Gesichter wurden länger und länger.

»Und wann geht der Job los?«, wollte mein Vater wissen.

»Am 1. September.«

»Was? Das ist ja schon in sechs Wochen!«, rief meine Mutter. »Muss das denn alles so holterdipolter gehen? Du hast da doch gar keine Wohnung, und in Hamburg findet man auch keine, das weiß man doch!«

»Keine Sorge, Mama. Ich kann zu Saskia ziehen.« Meine beste Freundin Saskia arbeitete in Hamburg als Grundschullehrerin, und es war ein Wahnsinnsglück, dass in ihrer WG ausgerechnet dann ein Zimmer frei werden würde, wenn ich eins brauchte. Im Gegensatz zu meiner Familie hatte sie sich vor Begeisterung fast überschlagen und war überglücklich, dass wir nun bald zusammenwohnen würden.

»Ach, dat verrückte Huhn!« Meine Mutter winkte ab. »Das kann ja heiter werden.«

Ich seufzte tief. »Bitte, versucht doch wenigstens, euch zu freuen. Das ist eine riesengroße Chance für mich.«

Oma kam zu mir und legte mir einen Arm um die Schultern. »Ich hab’s kommen sehen«, sagte sie. »Dass du irgendwann weggehen würdest, war spätestens an dem Tag klar, an dem du als Siebzehnjährige verkündet hast, dass du nach der Ausbildung dein Abi nachmachen und studieren willst. Ich freu mich für dich, Karo. Auch, wenn du uns ganz furchtbar fehlen wirst.«

»Danke, Oma.« Ich lehnte meinen Kopf an ihre Schulter. Es stimmte, mir war während meiner Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten schnell klargeworden, dass ich auf keinen Fall für alle Zeiten in diesem Job bleiben wollte und dass es ein Fehler gewesen war, mein Abitur nicht zu machen. Sicher, ich hätte meine Ausbildung schmeißen und gleich aufs Gymnasium gehen können, aber es hatte mir schon immer widerstrebt, etwas anzufangen und dann nicht zu beenden. Und nach meiner Ausbildung wollte ich endlich in eine eigene Wohnung ziehen, also blieb mir nur eine Möglichkeit: weiter in Vollzeit arbeiten und nach Feierabend und an den Wochenenden büffeln. Ich wollte es unbedingt schaffen: einen Abschluss in Wirtschaft bekommen, einen tollen Job ergattern, Karriere machen, Entscheidungen treffen und jeden Tag aufs Neue herausgefordert werden, anstatt immer nur das zu tun, was andere mir sagten. Und nun war all das zum Greifen nah. Die Zukunft war wild und ungewiss, und ich allein hatte sie in der Hand. Ich löste mich von Oma, ging zu meinen Eltern und umarmte sie. »Los, kommt. Das ist doch kein Grund zum Trübsalblasen. Wir gehen feiern, ja? Ich lade euch ein.«

Wenn ich damals geahnt hätte, wie wild und ungewiss die Zukunft werden würde, hätte ich mich sicherlich nicht so sehr gefreut, sondern mir vor Angst in die Hosen gemacht.

Die folgenden Wochen waren geprägt von den Vorbereitungen für meinen Umzug nach Hamburg und meinen neuen Job. Meine Wohnung musste gekündigt und aufgelöst werden, und ich musste mir von meinen letzten Ersparnissen (ein Großteil war für mein Studium draufgegangen) schicke unternehmensberatungstaugliche Bürooutfits kaufen. Darüber hinaus traf ich mich so oft es ging mit meinen Freunden und vor allem meiner Familie, denn so sehr sie mir alle auch manchmal auf die Nerven gingen – sie würden mir furchtbar fehlen.

Sechs Wochen später saß ich schon beim Abschieds-Abendessen mit meiner Familie und wusste kaum, wie mir geschehen war. Zur Feier des Tages waren heute sogar meine zwei Jahre jüngere Schwester Melli und ihr Freund Guido dabei.

Das war ungewöhnlich, denn Melli ging mir ansonsten möglichst aus dem Weg. Meine Schwester und ich hatten uns nie besonders nahegestanden. Und das war noch freundlich formuliert. Melli konnte mich nicht ausstehen und machte auch keinen Hehl daraus. Sie gönnte mir nicht das Schwarze unter den Fingernägeln, und wann immer bei mir etwas gut lief, versuchte sie, es mir madig zu machen. Schon oft hatte ich versucht, mit ihr zu reden oder Frieden zu schaffen, aber nachdem ich mir etliche Male die Zähne an ihr ausgebissen hatte, hatte ich es aufgegeben und mich darauf verlagert, sie bestmöglich zu ignorieren. Heute hatte vermutlich unsere Mutter sie gezwungen, hier anzutanzen.

Wir löffelten gerade unsere Hühnersuppe, als mein Vater zum tausendsten Mal den Kopf schüttelte und sagte: »Hamburg! Da isset doch nur am Meimeln.«

»Statistisch gesehen regnet es dort gar nicht so oft«, behauptete ich, ohne es genau zu wissen.

»Jetzt ist es sowieso zu spät«, sagte mein Vater mit Grabesmiene. »Na ja, immerhin kommste aus’m Pott raus. Hier gehen nach und nach die Lichter aus, in spätestens fünf Jahren is Totentanz, dat sach ich euch!« Seit mein Vater von der Schließung des Opel-Werks erfahren hatte, sagte er das beinahe täglich. Er hatte mit vierzehn Jahren angefangen, in der Fabrik zu arbeiten, und es brach ihm das Herz, dass im Dezember alles vorbei sein sollte. Die Firma hatte ihm eine großzügige Abfindung angeboten, und er hätte in Frührente gehen können – das hatte er jedoch vehement ausgeschlagen, und nun würde er ab dem nächsten Jahr im Opel-Ersatzteillager eingesetzt werden. Er hatte keine Ahnung, was ihn dort erwartete, und ich wusste, dass er Angst vor der neuen Aufgabe hatte.

»Du kannst jederzeit zurückkommen, Karo.« In den Augen meiner Mutter glitzerten Tränen.

»Pff, als würde sie wieder zurück in den Pott kommen!«, warf Melli schnippisch ein. »Die ist doch froh, dass sie endlich in so ’ne schicke Stadt wie Hamburg kommt.«

Das war mal wieder ein typischer Melli-Kommentar! »Na, du musst es ja wissen«, sagte ich nur und schluckte meine Wut herunter.

»Wir besuchen dich mal, Karo«, sagte Guido versöhnlich. »Dann gehen wir auf die Reeperbahn.«

»Reeperbahn!«, sagte meine Mutter verächtlich. »In den Puff gehen kannste in Bochum auch, da brauchste keine Reeperbahn für!«

Kaum hatten wir den letzten Bissen genommen, stand Melli auf und zog Guido am Ärmel. »Wir müssen los.«

Guido sah fragend zu ihr hoch und schien ebenso überrascht zu sein wie wir anderen.

»Was, jetzt schon?«, hakte meine Mutter nach.

»Ja, wir müssen noch zum dreißigsten Geburtstag von Guidos Kollegen«, erwiderte Melli ohne rot zu werden. Lügen konnte das Biest, das musste man ihr lassen.

»Ich bring euch noch zur Tür«, sagte ich und musste mich schwer zusammenreißen, meinen letzten Abend in Bochum mit Anstand und Würde über die Bühne zu bringen.

Nachdem Melli sich ihre Jacke angezogen hatte, standen wir unschlüssig voreinander, taxierten uns wie zwei Boxer im Ring, von denen keiner seine Deckung aufgeben wollte. Als das Schweigen allmählich peinlich wurde, fasste ich mir ein Herz und umarmte sie. »Pass gut auf Mama und Papa auf, ja? Und auf Oma.«

»Muss ich ja wohl, wenn du abhaust«, erwiderte sie und schob mich von sich weg.

»Melli, versteh doch, ich …«

»Schon gut«, unterbrach sie mich. »Das war doch schon längst überfällig. Bochum war dir nie gut genug. Wir waren dir nie gut genug. Du schaust auf uns alle herab, hast du immer schon. Mach’s gut, Karo.« Damit rauschte sie ab, dicht gefolgt von Guido, der entschuldigend mit den Achseln zuckte und mir zum Abschied kurz zuwinkte.

»Hast du sie noch alle?! Das stimmt doch überhaupt nicht!«, rief ich, doch sie ging unbeirrt weiter, ohne sich umzudrehen. Wie konnte meine kleine Schwester so etwas von mir denken? Dass mir meine eigene Familie nicht gut genug war? Fassungslos sah ich den beiden nach, bis Omas Stimme mich aus meiner Erstarrung löste.

»Karo? Kommst du mal?«

Sie ging mir voraus in ihr Zimmer und setzte sich auf ihr kleines Sofa vorm Fenster. Nach dem Tod meines Großvaters war sie zu uns gezogen. Ich war damals zehn Jahre alt gewesen und alles andere als begeistert, weil ich mein Zimmer für sie räumen und zu Melli ziehen musste. Aber schon bald wollte ich Oma gegen nichts und niemanden mehr eintauschen. Wenn ich traurig war oder die ganze Welt sich mal wieder gegen mich verschworen hatte, war ich immer zu ihr geflohen, hatte ihr mein Leid geklagt, Zitronenbonbons genascht und mich trösten lassen. Sie war immer auf meiner Seite, egal, was passierte.

Ich fläzte mich neben sie, zog die Beine an und umarmte das weiße Spitzen-Zierkissen. »Hältst du es wirklich nicht für eine Schnapsidee, dass ich nach Hamburg ziehe?«

Oma winkte ab. »Ach Quatsch. Das ist das Beste, was du machen kannst. Ich find’s toll, dass du deinen eigenen Weg gehst.« Sie öffnete das Nähkästchen, das auf dem kleinen Beistelltisch stand, und holte etwas daraus hervor, das wie ein Autoschlüssel aussah. Feierlich hielt sie ihn hoch. »Und ich möchte, dass du auf deinem Weg einen treuen Begleiter hast. Betrachte dies als deine Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke für die nächsten, na sagen wir mal, zwanzig Jahre.«

Mein Blick wanderte zwischen dem Autoschlüssel und Oma hin und her. »Wie jetzt?«

»Ich hab Paschulkes ihren Mercedes abgekauft und schenk ihn dir.«

»WAS? Du kannst mir doch kein Auto schenken!«

»Und ob ich das kann.« Sie griff nach meiner Hand und legte den Schlüssel hinein.

»Mensch, Oma!« Ich umarmte sie stürmisch. »Vielen, vielen Dank! Aber das geht doch nicht. Ein Auto!«

»Ein Mercedes«, korrigierte sie mich und tätschelte meinen Rücken. »Er steht unten vor dem Haus.«

Fünf Minuten später bewunderten Oma, meine Eltern und ich mein neues Auto. Es sah ein bisschen aus wie ein Leichenwagen – ein riesengroßer, anthrazitfarbener Leichenwagen-Kombi. Ein E 280, wie ich hinten am Kofferraum las. Funkelnd schaute er mich aus seinen eckigen Vorderleuchten an. Es war Liebe auf den ersten Blick.

»Der ist zwanzig Jahre alt, aber noch top in Schuss«, sagte Oma stolz. »Und Hotte Paschulke hat ihn mir zu einem echten Freundschaftspreis verkauft.«

»Mensch noch mal, jetzt fährt unsere Püppi auch noch ’nen Mercedes«, sagte mein Vater nun schon zum dritten Mal.

»Das sitzt sich aber gut hier drin«, sagte meine Mutter, nachdem wir eingestiegen waren, und strich ehrfürchtig über die Polsterung. »Hier sitzte ja besser als auf unserem Sofa.«

Ich bewunderte ausgiebig die Holzarmatur und die Automatikschaltung. Sogar eine Klimaanlage gab es! Und elektrische Fensterheber! »Wow, der hat ja eine richtige Luxusausstattung!«, rief ich. Bislang war ich immer nur Papas Opel oder Markus’ Golf III gefahren. Und nun hatte ich ein eigenes Auto. Mit Klimaanlage!

»Jetzt fahr doch mal ’ne Runde, Püppi«, forderte mein Vater mich auf. »Aber sei vorsichtig, nicht dass du den Benz gleich inne Wicken setzt.«

Ich ließ den Motor an, und er schnurrte wie ein Kätzchen. Ein zugegebenermaßen für mich viel zu großes Kätzchen, aber das war mir so was von egal. Wie auf Wolken fuhr ich eine Runde um den Block, und noch eine, und noch eine. Wir fuhren eine Stunde kreuz und quer durch die Stadt, dann brachte ich meine Familie nach Hause, verabschiedete mich tränenreich und fuhr schließlich zu meiner Wohnung.

2.

Toulouse or not to lose, das ist hier die Frage.

Verzeihen Sie mir den kleinen Kalauer.

Heribert Faßbender

Nach einer fast schlaflosen Nacht machte ich mich mit Karlheinz, wie ich den Mercedes getauft hatte, da er mich ein bisschen an einen älteren Herrn erinnerte, auf den Weg nach Hamburg. Paschulkes – oder genauer gesagt ihr Sohn Didi, wie ich vermutete – hatten ein selbst zusammengestelltes Best-of-90ies-Mixtape im Wagen vergessen, das ich in voller Lautstärke hörte. Durch das Dachfenster wehte frische Luft herein, Thomas D rappte Rückenwind, und ich war der festen Überzeugung, dass er dieses Lied einzig und allein für diesen Moment geschrieben hatte. Ich fühlte mich frei, unabhängig und wahnsinnig mutig. Über so etwas wurden Bücher geschrieben und Filme gedreht. Junge Frau zieht aus in die große, weite Welt und macht eine unvergleichliche Karriere. Und ich war mittendrin, Heldin in meinem eigenen Film! Unglaublich, dass ich achtundzwanzig Jahre alt werden musste, um dieses Gefühl zu erleben.

Vier Stunden später parkte ich Karlheinz vor Saskias Wohnhaus in Barmbek. Kurz darauf kam sie aus der Haustür gestürmt und fiel mir um den Hals.

»Karo! Ich freu mich so, dass du da bist!«

Wir führten unser übliches Freudentänzchen auf und sprangen ein paarmal auf und ab, bis ich Saskia auf Armeslänge von mir weghielt. Seit einem halben Jahr hatten wir uns nicht gesehen, denn bei meinem Vorstellungsgespräch in Hamburg war sie auf einem Klassenausflug gewesen. »Lass dich mal anschauen.« Eingehend musterte ich sie von oben bis unten. Sie hatte sich nicht verändert. Nach wie vor strahlten riesige blaue Augen in ihrem hübschen Gesicht, und sie hatte die wunderschönsten längsten, blondesten Haare, die man sich vorstellen konnte.

»Guck nicht so, ich hab wieder zugenommen«, sagte sie.

»Ach, du spinnst doch.«

Heftig schüttelte sie den Kopf. »Drei Kilo! Der Sommer ist schuld! WM gucken, Grillen, Biergarten, Eis. Du weißt schon. Wobei …« Nun war sie an der Reihe, mich eingehend zu mustern. »Nein, weißt du nicht. Du bist immer noch ein kleines, zierliches Püppchen. Na ja, dich päppeln wir schon auf.« Saskia schaute über meine Schulter. »Das ist er also?«, fragte sie ehrfürchtig und deutete auf mein Auto.

Ich hatte ihr gestern Abend natürlich sofort ein Foto geschickt. »Ja, das ist er. Darf ich vorstellen? Karlheinz!«

Sie tätschelte die Motorhaube und sagte wie zu einem jungen Welpen: »Ja, hallo Karlheinz! Du bist ja ein ganz Feiner!«

»Du spinnst«, meinte ich lachend, obwohl ich auch schon das ein oder andere Mal mit ihm geredet hatte – allerdings in respektvollerem Tonfall, schließlich war er für mich ein älterer Herr.

Wir gingen rauf in die Wohnung, die in einem Rotklinkermietshaus lag. Saskia hatte mir mal erzählt, dass diese Bauten typisch für Hamburgs uncoole Stadtteile waren, aber mir gefiel die Gegend. Auch die Wohnung hatte ich schon immer sehr gemocht. Die alten Holzdielen knarrten bei jedem Schritt, von der Wohnküche aus ging es auf einen kleinen Balkon, und die Räume waren hell und sonnig. Saskia führte mich den Flur hinab und öffnete die Tür des Zimmers, in dem vorher Aylin gewohnt hatte. »Das ist deine neue Bleibe. Du kannst natürlich streichen, wenn dir die Farbe nicht gefällt«, sagte sie und deutete auf eine knallgrüne Wand. »Aylin hat zwar gerade erst vor drei Monaten renoviert, aber …«

»Nein, ich find’s super!« Ich sah aus dem Fenster in den großen Gemeinschaftsgarten.

»Komm, ich zeig dir den Rest«, sagte Saskia. »Ich meine, eigentlich kennst du zwar schon alles, aber immerhin bist du jetzt hier zu Hause.«

Wir traten wieder auf den Flur, und sie öffnete die Tür meines Nachbarzimmers, in dem sich außer einer Matratze und einem Schreibtisch kein Mobiliar befand. Auf dem Fußboden lagen zwei große Koffer, aus denen Klamotten hervorquollen, und auf der Fensterbank stand eine halb vertrocknete Topfpflanze. »Hier wohnt seit ein paar Wochen Pekka. Er ist finnischer Austauschstudent und für ein Jahr hier in Hamburg.«

Als Nächstes zeigte sie mir das Zimmer des zweiten männlichen Mitbewohners – Nils, den ich während meiner Besuche bereits ein paarmal getroffen hatte. Sein Zimmer allerdings kannte ich noch nicht. Hier lag nichts am falschen Platz, und der Raum wirkte so steril, dass man sicherlich problemlos vom Boden hätte essen können. Vor allem aber fielen mir die wunderschönen Holzmöbel auf.

»Die hat Nils alle selbst gebaut oder selbst aufgearbeitet«, sagte Saskia, und ich glaubte, einen stolzen Unterton in ihrer Stimme wahrzunehmen. »Er ist Tischler, weißt du das eigentlich?«

»Ja, aber ich wusste nicht, dass er so talentiert ist.«

Sie nickte heftig. »Oh ja, das ist er. Ich zeig dir gleich mal meinen neuen Schreibtisch. Der ist auch von ihm. Hat er mir zum Geburtstag geschenkt.«

Ich warf einen Blick in Saskias Zimmer, einen Mädchentraum in Lila und Weiß, der fast vollständig von einem riesigen Schreibtisch in Anspruch genommen wurde, auf dem sich etliche Schulhefte türmten. »Wahnsinn, der sieht ja wirklich toll aus!«, sagte ich anerkennend.

Schließlich gingen wir in die gemütliche Wohnküche, in der kein Möbelstück zum anderen passte und die gerade deswegen so viel Charme besaß. Ich setzte mich an den großen Esstisch, während Saskia uns einen Kaffee kochte. Sie holte zwei Becher aus dem Regal und gesellte sich zu mir.

Seit der Grundschule waren wir die besten Freundinnen, und obwohl Saskia anschließend das Gymnasium und ich die Realschule besucht hatte, blieb unsere enge Bindung bestehen. Selbst als Saskia nach Hamburg zog und ich mit Vollzeitjob, Studium und Freund mehr als ausgelastet gewesen war, hatten wir nicht den Kontakt zueinander verloren.

Saskia liebte ihren Job als Grundschullehrerin. Mit den Männern hatte sie jedoch nicht so viel Glück. Seit ich sie kannte, war sie von einer unglücklichen Beziehung in die nächste geschlittert, und sie hatte ein schier unglaubliches Händchen dafür, sich in den Falschen zu verlieben. Sie berichtete mir, dass sie sich momentan – wieder mal – auf »intensiver Suche« befand, wofür sie sich bei einem Online-Datingportal angemeldet hatte und ein Blind Date nach dem anderen abarbeitete.

»Und da war bislang noch kein passender Kandidat dabei?«, erkundigte ich mich.

»Nee«, winkte sie ab. »Du ahnst gar nicht, was für gestörte Typen in Hamburg rumlaufen.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Und bei dir? Hast du noch mal was von Markus gehört?«

»Nein, keine Chance. Seit der Trennung haben wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Ich habe ein paarmal versucht, mit ihm zu reden, aber er hat mich jedes Mal abgeblockt.« Ich rührte mit dem Löffel in meiner Tasse herum. Schließlich zuckte ich mit den Achseln. »Na ja, wahrscheinlich ist es am besten so. Sonst komm ich nie von ihm los. Und er nicht von mir.«

Saskia musterte mich nachdenklich. »Und du bist dir sicher, dass du das Richtige getan hast?«

Ich nickte. »Ja. Aber wir waren sieben Jahre lang zusammen, und auch, wenn ich ihn nicht mehr liebe … Er fehlt mir einfach.«

In diesem Moment wurde die Wohnungstür aufgeschlossen, und kurz darauf erschien Nils in der Küchentür. »Hey«, sagte er lächelnd. Dann streifte sein Blick mich, und sofort wurde sein Lächeln ein wenig unsicher.

»Hey Nils. Hier ist unsere neue Mitbewohnerin Karo. Aber was rede ich, ihr kennt euch ja schon.«

Ich stand auf und gab Nils die Hand. Er war zwei Meter fünf groß, und ich musste meinen Kopf weit in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Hallo Nils. Danke, dass ich bei euch einziehen darf.«

»Mhm«, murmelte er.

»Hast du Lust auf einen Kaffee?«

Nils rieb sich seine etwas zu groß geratene Nase. »Ähm, na ja … Ich will euch nicht stören.«

»Quatsch nicht, Nils, setz dich einfach zu uns«, sagte Saskia. »Du wirst dich schon an Karo gewöhnen. Guck doch nur, wie klein sie ist. Die tut nichts.«

Nils lachte. »Na gut.« Er goss sich Kaffee ein und setzte sich neben Saskia. Seinen Becher umklammerte er so fest, als wäre er seine letzte Rettung vorm Ertrinken, und an mir sah er stets knapp vorbei.

Nach einer Weile wurde ich ungeduldig. Ich wollte endlich auspacken und mein Zimmer einrichten. »Okay, dann mach ich mich mal ans Ausladen«, verkündete ich.

»Wollen wir nicht auf Pekka warten?«, fragte Saskia. »Oder meinste, das lohnt sich nicht?«

Sie und Nils tauschten einen kurzen Blick. Nils verdrehte die Augen und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Wer weiß, ob er heute überhaupt nach Hause kommt.«

»Wie ist dieser Pekka denn so?«, fragte ich. »Mögt ihr ihn nicht?«

Erneuter, bedeutungsschwangerer Blickwechsel zwischen meinen neuen Mitbewohnern. Schließlich sagte Saskia: »Doch, wir mögen ihn. Aber Pekka ist unser Sorgenkind.«

Die beiden zogen so bekümmerte Mienen, dass ich Mühe hatte, ernst zu bleiben. »Wieso? Macht er seine Hausaufgaben nicht, oder ärgert er die anderen Kinder?«

»So ähnlich«, sagte Saskia. »Er verbreitet Chaos, frisst den Kühlschrank leer, ohne für Nachschub zu sorgen, putzt niemals und bringt andauernd Weiber zum Vögeln mit.«

»Oha«, meinte ich. »Das klingt ja nach einem ziemlichen Draufgänger. Ich dachte immer, Finnen wären zurückhaltend und … irgendwie melancholisch.«

Die beiden brachen in Gelächter aus. »Also, unser Finne jedenfalls nicht. Na los, packen wir’s an«, sagte Saskia munter.

Wir luden Karlheinz aus, und mit Nils’ professioneller Hilfe waren meine spärlichen Möbel schnell aufgebaut.

Anschließend gingen wir auf ein Bier in ein griechisches Restaurant, das nur wenige Schritte von unserem Wohnhaus entfernt lag. Wie sich herausstellte, waren Saskia und Nils hier Stammgäste, denn der kleine, rundliche Grieche kam freudestrahlend auf die beiden zu und umarmte sie, als wären sie seine ältesten Freunde. »Endlich seid ihr mal wieder da!«

»Wir waren doch gerade erst vorgestern hier.« Lachend befreite Saskia sich aus seiner Umarmung. »Sieh mal, Costa, wir haben eine neue Mitbewohnerin. Das ist Karo. Und das«, sie deutete auf den Griechen, »ist Costa. Er macht das beste Souflaki der Stadt. Beziehungsweise Naresh, sein Koch. Was bedeutet, dass ein Inder das beste Souflaki Hamburgs macht.« Sie grinste Costa an, und es war deutlich, dass sie ihn schon häufiger damit aufgezogen hatte.

Der schien sich daran jedoch überhaupt nicht zu stören. »Ganz egal, woher der Koch kommt, Hauptsache es schmeckt!«

Ich wollte Costa die Hand geben, doch er zog mich in seine Arme und drückte mir rechts und links einen Schmatzer auf die Wange. »Herzlich willkommen!«, rief er und schenkte mir einen Ouzo ein. »Der geht aufs Haus. Magst du Fußball? Ich habe seit Neuestem Sky!« Er deutete auf den großen Flachbildfernseher, in dem gerade ein Spiel lief. Darunter hingen Poster von der griechischen und der deutschen Nationalmannschaft sowie ein rotgrüner Vereinswimpel mit dem Motto Ein Leben. Eine Liebe. Eintracht Hamburg. »Du kannst hier Fußball gucken, jederzeit, gerne!« Seine Augen leuchteten.

»Danke, das ist nett. Fußball ist allerdings nicht so mein Ding.«

Costa raufte sich seine grauen Locken. »Aber wir sind doch Weltmeister!«

Ich lachte. »Ja, das stimmt. Bei der nächsten WM komme ich zum Gucken vorbei, okay? Jamas!«, sagte ich und kippte meinen Ouzo runter.

Das Restaurant war nicht besonders ansprechend gestaltet und hatte eindeutig bessere Tage gesehen. Die Wandgemälde von griechischen Landschaften waren schon reichlich verblasst, und die rustikalen Eichenmöbel hatten die eine oder andere Macke weg. Trotzdem mochte ich den Laden, denn Costa verbreitete eine Herzlichkeit und Gastfreundschaft, bei der ich mich augenblicklich wohlfühlte. Er servierte uns Bier, und Naresh, ein etwa zwanzigjähriger hübscher Inder, stellte ungefragt den ganzen Abend kleine Leckereien auf unseren Tisch: Oliven, gefüllte Weinblätter, Peperoni, einige Würfel Schafskäse.

»Das ist so fies«, maulte Saskia. »Ich esse doch zurzeit keine Lebensmittel, die mehr als hundert Kalorien auf hundert Gramm haben.«

Mir blieb fast die Olive im Hals stecken. »Was bleibt denn da, außer Obst und Gemüse?«

Sie zog einen Flunsch. »Nicht besonders viel.«

Gegen Mitternacht beförderte uns Costa mit einem letzten Ouzo aufs Haus vor die Tür, und wir machten uns auf den Heimweg.

Was man in der ersten Nacht in einem neuen Zuhause träumt, soll ja bekanntlich wahr werden. Ich träumte wirres Zeug von einem Schwein, das Geige spielte. Na hoffentlich wurde das wahr, das würde ich gerne mal sehen!

Am Samstagmorgen wachte ich in einem mir fremden Zimmer auf und hatte zunächst Schwierigkeiten, mich zu orientieren. Doch dann fiel es mir wieder ein: Ich war in meinem neuen Zuhause. Durch das Fenster sah ich in einen strahlend blauen Himmel, an dem träge ein paar Schäfchenwolken vor sich hin trieben. Ein Blick auf mein Handy zeigte mir, dass es neun Uhr war. Mein erster Weg führte mich ins Bad. Mit einer Hand überdeckte ich ein herzhaftes Gähnen, das auf meinem Gesicht einfror, kaum dass ich die Tür geöffnet hatte (Gott sei Dank war die Hand davor). Das Bad war besetzt. Und zwar von einem splitterfasernackten blonden Mann, der soeben in die Badewanne steigen wollte, die gleichzeitig als Dusche diente. Im Gegensatz zu mir schien ihm die Situation überhaupt nicht peinlich zu sein. Er griff nicht einmal nach einem Handtuch, um seine Blöße zu bedecken, sondern lächelte mich freundlich an. »Guten Tag, ich heiße Pekka«, sagte er mit schwerem, nordischem Akzent. »Ich komme aus Finnland. Wie heißen Sie?«

Ich reagierte nicht sofort, da ich äußerst konzentriert darauf war, meinen Blick nicht an seinem Körper abwärts wandern zu lassen.

Als ich nicht antwortete, fragte Pekka: »Wie geht es Ihnen?«

Mir wurde klar, dass ich immer noch mit der Hand vor dem weit aufgerissenen Mund da stand, während er offensichtlich seine paar Brocken Deutsch zusammenkratzte, um mit mir höfliche Konversation zu betreiben. Ich schloss kurz die Augen, schüttelte den Kopf und löste mich aus meiner Erstarrung. »Hallo!«, sagte ich sehr laut und artikuliert. »Ich«, mit der Hand klopfte ich auf meine Brust, »bin Ka-ro, die neue Mit-be-woh-ne-rin!«

Pekka grinste breit. »Will-kommen in diese schö-ne Woh-nung!«, rief er ebenso laut und deutlich wie ich.

»Du sprichst sehr gut Deutsch!«, lobte ich und streckte meinen Daumen in die Höhe.

»Danke! Du auch!« Er zeigte auf mich, dann rief er: »Möchtest du«, nun zeigte er auf sich, »mit mir«, und nun auf die Badewanne, »duschen?«

Was war das denn für einer? Aber ich wollte nicht unhöflich sein, schließlich war er Gast in unserem Land und hatte es als Ausländer sicher schon schwer genug. »Vielen Dank«, sagte ich daher sehr freundlich. »Aber nein! Danke!«

Pekka lachte. »Schade. Dann bis später.« Er zwinkerte mir zu, drehte sich um und verschwand in der Dusche. Komischer Kauz.

Nachdenklich ging ich in die Küche, wo Saskia und Nils am Frühstückstisch saßen. Nils schlang in einem Affenzahn Cornflakes herunter, während Saskia an einer trockenen Scheibe Knäckebrot knabberte. »Guten Morgen!«, begrüßte ich die beiden. »Darf ich etwas von eurem Frühstück schnorren? Ich geh später einkaufen, versprochen.«

Nils schob mir bereitwillig seine Packung Cornflakes und die Milch rüber.

»Ich habe gerade Pekka im Bad getroffen«, erzählte ich, während ich Cornflakes in eine Schüssel kippte. »Er hat schon ganz gut Deutsch gelernt, oder?«

»Das will ich meinen«, erwiderte Saskia. »Er studiert im zehnten Semester Germanistik.«

Fast wäre mir die Milch aus der Hand gefallen. »Was? Aber eben im Bad, da hat er so gebrochen … Oh Gott, und ich habe …« Hilflos brach ich ab, als Saskia laut auflachte.

Nils schüttelte den Kopf. »Die Nummer zieht er ganz gerne mal ab.«

»Hm«, machte ich und aß einen Löffel Cornflakes. Blöder Idiot.

Der blöde Idiot betrat wenige Minuten später die Küche, inzwischen vollständig bekleidet mit Jeans und T-Shirt. »Hallo!«, begrüßte er mich, wieder mit schwerem finnischen Akzent. »Ich mag Fruhstuck gern! Magst du Fruhstuck mit mich?«

Ich rümpfte nur die Nase und fragte: »Wie läuft das Germanistik-Studium denn so?«

Ein Schatten der Enttäuschung legte sich auf Pekkas Gesicht. »Ach, Mist. Sie haben es dir verraten.« Er bediente sich großzügig an den Cornflakes.

»Hey«, protestierte Nils. »Wann kaufst du dir endlich mal eigene?«

»Mit Karo teilst du, aber nicht mit mir? Das macht mich traurig.« Sein finnischer Akzent war jetzt tatsächlich viel weniger zu hören. »Sehr traurig.« Er setzte einen entsprechend bedrückten Gesichtsausdruck auf, der in krassem Widerspruch zu seinen fröhlich blitzenden blauen Augen stand.

»Karo geht gleich einkaufen«, warf Saskia ein.

»Streberin«, sagte Pekka zu mir, und ich konnte nicht anders, ich musste lachen.

Nach dem Frühstück führte Saskia mich durch Barmbek, um mir alles zu zeigen, was zum Überleben in dieser Gegend wichtig war: einen Supermarkt, eine Bank, eine Drogerie, einen Kiosk, die S-Bahn-Haltestelle, ihre Stammkneipe, ihren Gemüsetürken und das Gebäude, in dem ihre Weight-Watchers-Gruppentreffen stattfanden, zu denen sie allerdings, wie sie im gleichen Atemzug zugab, seit zwei Monaten nicht mehr ging. Wieder in der WG packten wir die letzten Kartons aus, hängten Bilder und Fotos auf und räumten meine Bücher ins Regal. Schließlich holte Saskia eine Vase mit frischen Blumen aus ihrem Zimmer und stellte sie auf meine Fensterbank. »Die schenk ich dir zum Einzug.«

»Danke!« Ich drückte Saskia an mich und sah mich stolz in meinem neuen Zimmer um. »Sieht doch schon ganz gemütlich aus. Ach, ich find’s toll hier mit euch, Sassi! Jetzt muss nur noch der Job super werden, und alles ist perfekt.« Abgesehen von der Sache mit Markus, die immer noch an meinem Gewissen nagte. Aber daran wollte ich lieber nicht denken.

Den Rest des Wochenendes verbrachte ich damit, mich auf Montag vorzubereiten, meinen ersten Arbeitstag. Ich bügelte meine weiße Bluse und den dunkelblauen Hosenanzug, putzte die schicken Schuhe und fuhr probehalber den Weg ab, damit ich auf gar keinen Fall zu spät kommen würde. Mein Herz klopfte schneller, als ich vor dem ultramodernen, schicken Bürogebäude in der Hafencity stand, in dem die Thiersen Consulting Group, mein zukünftiger Arbeitgeber, ihre Räume hatte. Auf der Elbe zog ein riesiges Kreuzfahrtschiff im Schneckentempo an mir vorbei, und im Gegensatz dazu erinnerte mich die Elbphilharmonie, die in einiger Entfernung zu sehen war, an ein Geisterschiff – ein ziemlich mondänes Geisterschiff, zugegebenermaßen. Touristen schlenderten umher und fotografierten sich die Finger wund, und ich war wahnsinnig stolz, dass ich schon ab morgen ein Teil von alldem sein würde.

Fünfzehn Stunden später, um Punkt acht Uhr fünfundfünfzig, trat ich in der neunten Etage eben dieses Bürogebäudes aus dem Aufzug. Ich trug mein frisch gebügeltes Unternehmensberaterinnen-in-spe-Outfit und sogar eine Aktentasche, die wahnsinnig wichtig rüberkam. Dass sie außer einem Apfel, einem Notizblock und einem Kugelschreiber absolut gar nichts enthielt, konnte man ihr von außen ja nicht ansehen. Meine dunklen, langen Haare hatte ich zu einem strengen Knoten aufgesteckt, und zur Feier des Tages trug ich statt Kontaktlinsen sogar meine Brille, mit der ich besonders seriös aussah.

In meinem Magen flatterte es nervös, als ich vor der Glastür mit dem Firmenlogo der Thiersen Consulting Group stand. »Okay, Karo«, sprach ich mir innerlich Mut zu. »Karriere, Tag eins. Es kann losgehen!« Ich atmete noch einmal tief durch und klingelte.

Summend öffnete sich die Tür, und ich betrat den Empfangsbereich. Schon auf den ersten Blick war mir klar, dass hier etwas nicht stimmte. Überall standen abgekabelte PC-Tower und Kartons mit Akten herum, und es wimmelte nur so von Menschen. Keinen von ihnen erkannte ich wieder.

»Entschuldigung«, sprach ich eine Frau in meinem Alter an, die hinter dem Empfangstresen hektisch auf der PC-Tastatur herumhämmerte. »Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag. Karoline Maus. Was ist denn hier los?«

Sie sah mich prüfend an. »Hat man Sie denn nicht informiert?«

Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Worüber?«

»Hannes Thiersen befindet sich seit letztem Donnerstag wegen des Verdachts auf Betrug und Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft.«

Ich spürte, wie das Blut aus meinem Kopf wich und nach unten sackte. Meine Knie zitterten. »Was?«, fragte ich, doch es war kaum zu hören.

Der strenge Gesichtsausdruck der Frau wurde etwas weicher. »Lesen Sie denn keine Zeitung? Das ist doch das Thema in der Hamburger Klatschpresse.«

»Nein, ich bin erst am Samstag von Bochum hierhergezogen.« Ich gab mir alle Mühe, die Fassung zu bewahren. »Und … Wie lange dauert das denn noch, mit der Untersuchungshaft und so? Ich meine, ab wann läuft denn der Betrieb wieder normal?« Instinktiv wusste ich, dass nichts in diesem Laden jemals wieder normal oder auch nur irgendwie laufen würde, doch ich klammerte mich an diesen Strohhalm wie eine Ertrinkende.

»Ich kann Ihnen leider nicht mehr sagen.« Die Frau drückte mir ihre Karte in die Hand, der ich entnahm, dass sie Hauptkommissarin bei der Kripo war. »Hier. Falls Ihnen später noch etwas einfällt, das Ihnen ungewöhnlich vorkam. Und bitte geben Sie mir kurz Ihre Personalien, damit wir Sie gegebenenfalls kontaktieren können.«

Eine Viertelstunde später befand ich mich wieder an der frischen Luft und ging wie belämmert an der Elbe entlang. Die Sonne spiegelte sich glitzernd im Wasser, der Himmel war strahlend blau, über mir kreischten ein paar Möwen, Menschen in Bürooutfits eilten an mir vorbei und verschwanden in den schicken Gebäuden der Hafencity – und ich mittendrin und doch nicht mal ansatzweise ein Teil von alldem. Meine Karriere als Unternehmensberaterin hatte genau dreißig Sekunden gedauert. Alle Achtung. Ob das schon einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde wert war?

Ich konnte einfach nicht glauben, was da gerade passiert war. Das musste ein schlechter Scherz gewesen sein. Gleich würde irgendein schmieriger Fernsehmoderator mit einem Kamerateam im Schlepptau vor mir auftauchen und sagen: »Da haben wir Sie aber verulkt, was, Frau Maus? Verstehen Sie Spaß?«

Aber das hier war keine Fernsehsendung, das hier war bitterste, finsterste Realität, und ich war soeben nicht von einem schmierigen Moderator verarscht worden, sondern vom Leben.

»Ach du Scheiße!«, rief Saskia entsetzt, als ich ihr am Nachmittag von der Sache berichtete. Sie stellte ihre Kaffeetasse ab und drückte mich fest an sich. »Oh Gott, wie furchtbar, Karo! Und jetzt? Gehst du zurück nach Bochum?«

Ich schüttelte den Kopf. »Welchen Sinn hätte das? Da wartet ja auch kein Job auf mich. Nein, so schnell kriegt diese Stadt mich nicht klein!«, sagte ich trotzig. »Ich bleibe und suche mir eine neue Trainee-Stelle. Das kann doch nicht so schwer sein!«

Insgeheim wusste ich ganz genau, dass es schwer war, vor allem, wenn man keinen Master-Abschluss und keine praktischen Erfahrungen auf dem Gebiet vorweisen konnte, aber ich war fest entschlossen, nicht aufzugeben. Das war mein Ziel, mein Traum, und ich würde alles dafür tun, ihn wahr werden zu lassen. Ich würde schon eine neue Stelle finden.

3.

Fußball ist wie eine Frikadelle.

Man weiß nie, was drin ist.

Martin Driller

Ich fand keine neue Stelle. Drei Wochen später hatte ich bereits an die fünfzig Bewerbungen geschrieben und entweder überhaupt keine Rückmeldung erhalten oder Absagen kassiert. Mir war klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde, aber dass ich nachts wachliegen und mir beim Gedanken an meine Zukunft vor Panik die Luft wegbleiben würde, hatte ich nicht kommen sehen. Meine Eltern waren fast vom Glauben abgefallen, als ich ihnen am Telefon von meinem Thiersen-Fiasko erzählte. Erwartungsgemäß hielt meine Mutter es für die einzige vernünftige Lösung, dass ich umgehend zurück nach Bochum kommen und zu ihnen ziehen sollte. Für ein paar Minuten schien mir das angesichts meines inzwischen fast leeren Bankkontos tatsächlich ein verlockender Gedanke zu sein, doch letzten Endes blieb ich meinem Entschluss, mich durchzubeißen, treu.

Aus lauter Verzweiflung bewarb ich mich bei einem privaten Jobvermittler, mit dem ich ein sehr nettes Gespräch hatte und der schon eine Woche später freudig bei mir anrief.

»Frau Maus, es gibt gute Nachrichten«, verkündete er. »Hermann Dotzler, der Geschäftsführer von Eintracht Hamburg, hat uns beauftragt, Verstärkung für das Teammanagement zu suchen. Sie können sich morgen dort vorstellen.«

Ich stutzte. Hatte ich das gerade richtig verstanden? »Eintracht Hamburg?«, hakte ich nach. »Der Fußball-Bundesligaverein?«

»Genau der.«

»Aber ich habe doch gar nicht Sportmanagement studiert. Was wären denn meine Aufgaben?«

»Was die Stellenbeschreibung angeht, war Herr Dotzler relativ zurückhaltend. Eine Tätigkeit bei Eintracht Hamburg würde sich aber wirklich sehr gut in Ihrem Lebenslauf machen. Freuen Sie sich doch über das Interesse!«

»Ich freue mich ja«, sagte ich zögernd.

Er gab mir die Kontaktdaten und die Uhrzeit für das Gespräch durch und verabschiedete sich mit den Worten: »Es ist das erste Mal, dass Eintracht Hamburg uns beauftragt hat. Ich muss Ihnen wohl nicht extra sagen, wie überaus wichtig dieser Kunde für uns wäre. Also blamieren Sie uns nicht.«

Ich legte auf und starrte nachdenklich mein Handy an. Eintracht Hamburg. Fußball. Irgendwie kam mir das merkwürdig vor. Aber andererseits klang eine Tätigkeit im Management eines Bundesligavereins wirklich verheißungsvoll.

Noch mit dem Handy in der Hand stürzte ich in Saskias Zimmer, die mit Nils auf ihrem Bett saß und Star Trek: Enterprise im Fernsehen guckte. »Ich habe morgen ein Vorstellungsgespräch!«

Saskia stieß einen Freudenschrei aus. »Das ist ja großartig! Wo denn?«

»Eintracht Hamburg sucht Unterstützung im Teammanagement. Krass, oder?«

»Ja, allerdings.« Sie sah mich zweifelnd an. »Ähm, Karo, ich will dir ja nicht zu nahetreten, aber … Du hast doch von Fußball überhaupt keine Ahnung. Du interessierst dich noch nicht mal dafür.«

»Ja, ich weiß, das habe ich auch schon gedacht. Aber man wächst da bestimmt rein«, behauptete ich. »Bei der WM habe ich schließlich auch zugeguckt, und ich weiß sogar, was Abseits ist.«

»Auch wieder wahr«, meinte Saskia. »Du solltest aber bis morgen wenigstens die grundlegenden Infos über Eintracht Hamburg drauf haben. Die allernötigsten Basics. Nils, du kennst dich doch aus. Was muss Karo wissen?«

»Hast du was zu schreiben?«, fragte Nils.

»Ja, warte mal«, sagte Saskia. Sie robbte unter das Bett, bis ihr Körper nur noch vom Hinterteil abwärts zu sehen war.

Ich erwischte Nils dabei, wie er interessiert auf Saskias Po starrte.

»Wehe, ihr guckt mir auf den Arsch!«, kam es dumpf unter dem Bett hervor.

»Machen wir doch gar nicht«, log Nils.

Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, doch er wich meinem Blick schnell aus.

Kurz darauf kam Saskia wieder hervor, mit hochrotem Kopf und einer Magnet-Standtafel in der Hand. »Hiermit habe ich als Referendarin immer unterrichten geübt«, erklärte sie, während sie aus einer Schreibtischschublade einen dicken Filzschreiber hervorkramte und sich damit an die Tafel stellte. Eintracht Hamburg, schrieb sie als Überschrift. »Schieß los, Nils.«

»Okay. Also, die Eintracht ist der dritte große Verein in Hamburg, neben dem HSV und St. Pauli, und erst seit ein paar Jahren durchgängig in der ersten Liga dabei. Bislang haben sie immer richtig gut abgeschnitten, immerhin so gut, dass sie Patrick Weidinger verpflichten konnten.«

»Ach, der spielt bei Eintracht Hamburg?«, fragte ich überrascht.

Nils nickte. »Ja. Aber das nützt ihnen momentan auch nichts. In dieser Saison läuft es nämlich ganz beschissen. Die haben noch kein Spiel gewonnen, sind momentan Zweitletzter.«

Saskia notierte eifrig die Eckdaten auf der Tafel.

»Die Spieler bringen überhaupt nichts«, fuhr Nils fort. »Nicht mal Weidi.«

»Echt? Bei der WM war er doch noch einer der Besten.« Ich wollte auch mal etwas von meinem äußerst beschränkten Fachwissen beisteuern.

»Ja, aber jetzt nicht mehr. Stattdessen geht er lieber in schicke Szene-Bars und säuft«, meckerte Nils. »Den Führerschein musste er auch abgeben, wegen wiederholter Raserei.«

»Und der war bei der WM dabei?«, fragte Saskia, nachdem sie Weidinger: säuft, Lappen weg an die Tafel geschrieben hatte.

»Ja, so ein Großer mit mittelblonden Haaren«, erklärte ich. »Kam immer ganz nett rüber. Sexy Figur.«

Saskia fügte auf der Tafel hinter Lappen weg noch groß, sexy hinzu und sagte dann: »Kenn ich nicht.«

»Doch, den kennst du«, behauptete ich. »Der war doch mit dieser Tussi mit der Mörder-Oberweite zusammen, die andauernd im Fernsehen ist, aber keiner weiß, warum. Im Playboy hat sie sich auch schon nackig gemacht. Nina Dornfelder.«

»Ach ja! Hat sie ihn nicht direkt nach der WM für diesen Formel-1-Fahrer sitzenlassen? Üble Geschichte. Kein Wunder, dass er abgesackt ist.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Tja. Diese Promi-Beziehungen gehen doch nie gut. Selbst schuld, wenn man sich auf einen einlässt. Und Möchtegern-Promis sind die Schlimmsten.«

Nils verdrehte die Augen. »Typisch Frauen.« Er referierte noch eine Weile über Eintracht Hamburg. Ich wurde immer aufgeregter – ich im Teammanagement eines Fußball-Bundesligavereins, was für eine Chance! Gut, es würde eine ziemliche Herausforderung sein, und ich hätte einiges zu lernen. Aber aus genau diesem Grund hatte ich doch studiert. Um einen Job zu bekommen, der mich täglich aufs Neue herausforderte.

Trotz meiner positiven Grundeinstellung war ich reichlich nervös, als ich mich am nächsten Tag auf den Weg zum Vorstellungsgespräch machte. Die Geschäftsstelle befand sich in einem Glaskasten an der Rückseite des Stadions, und spätestens, als ich meinen Blick über den überlebensgroßen Slogan Ein Leben. Eine Liebe. Eintracht Hamburg schweifen ließ, fragte ich mich, was in Gottes Namen ich hier eigentlich zu suchen hatte. Doch dann straffte ich die Schultern, reckte das Kinn und ging entschlossen die letzten Schritte auf das Gebäude zu. Die Empfangsdame führte mich in einen großen Besprechungsraum, von dem aus man das Trainingsgelände überblicken konnte, auf dem die Mannschaft offenbar gerade Elfmeter übte.

Meine Hände waren eiskalt und feucht, und mir war übel. Als ich kurz davor war, vor Nervosität in Tränen auszubrechen, öffnete sich endlich die Tür, und zwei Männer und eine Frau betraten den Raum. Ein kleiner, untersetzter Herr mit Halbglatze reichte mir die Hand, und ich war erleichtert, dass er ein ebensolches Schweißproblem zu haben schien wie ich. »Guten Tag«, begrüßte er mich mit dröhnend lauter Stimme. »Ich bin Hermann Dotzler.«

Als Nächstes stellte sich ein sportlich aussehender Mann in den Vierzigern als Andreas Koch vor. Dank Nils wusste ich, dass er der Teammanager war. Schließlich reichte mir die Dame die Hand. Ein anderer Begriff als »Dame« wäre mir für sie im Traum nicht eingefallen. Sie war um die fünfzig, und alles an ihr saß am rechten Fleck, angefangen bei ihrem dunkelroten Hosenanzug über ihr dezentes Make-up bis hin zu ihrer bereits leicht ergrauenden Kurzhaarfrisur. »Ich bin Sigrid von Boulé«, stellte sie sich mit angenehm tiefer Stimme vor.

»Frau von Boulé ist unsere Teampsychologin«, dröhnte Herr Dotzler, als befände ich mich im Nebenzimmer und nicht einen halben Meter von ihm entfernt.

Teampsychologin? Was hatte die denn hier verloren?

Die drei nahmen ihre Plätze mir gegenüber ein, und Herr Dotzler zog ein paar DIN-A4-Seiten aus einer Klarsichthülle, die ich als meine Bewerbungsunterlagen wiedererkannte. »So, Frau, äh …«, er warf einen kurzen Blick auf meinen Lebenslauf, »… Maus. Also Sie sind aus Bochum hergezogen?« Er sah von meinem Lebenslauf auf und schien mich mit seinem Blick geradezu zu durchbohren.

»Ja, genau. Ich habe gerade mein Studium der Wirtschaftswissenschaft abgeschlossen, und das war für mich der Anlass, noch mal richtig durchzustarten.«

»Mhm, mhm.« Herr Dotzler studierte erneut meinen Lebenslauf. »Das war ja so ein Fernstudium«, sagte er. Es klang herablassend, und es schwang ganz deutlich ein »nur« in seinen Worten mit.

Nun mischte sich Frau von Boulé ein. »Für ein Fernstudium muss man sehr diszipliniert sein.«

»Das stimmt. Man muss es wirklich unbedingt wollen, sonst schafft man es nicht.« Mir fiel plötzlich auf, dass ich mit übereinandergeschlagen Beinen dasaß. Irgendwo hatte ich gelesen, dass man das in Bewerbungsgesprächen auf gar keinen Fall tun sollte. Ich änderte schnell meine Sitzposition. »Aber wenn ich etwas anfange, ziehe ich es auch durch. Ich finde es wahnsinnig wichtig, ein Ziel zu haben und alles dafür zu tun, es zu erreichen.« Gott, wie hörte ich mich denn an? So redete ich doch sonst nicht!

Nun meldete sich das erste Mal Herr Koch zu Wort. »Und wie sieht es mit Ihrer Durchsetzungsfähigkeit aus?«

»Oh, ich bin sehr durchsetzungsfähig. In meinem alten Job habe ich mich für viele Verbesserungen im Arbeitsablauf stark gemacht, und die wurden auch alle umgesetzt.« Dass es sich dabei lediglich um Flüssigseifenspender und Lufterfrischer auf den Damentoiletten oder ein Radio im Pausenraum gehandelt hatte, wollten sie bestimmt gar nicht so genau wissen.

Die drei schwiegen eine Weile. Herr Dotzler starrte auf meinen Lebenslauf, Frau von Boulé musterte mich eingehend, und Herr Koch rieb sich nachdenklich das Kinn. Er sah aus dem Fenster in Richtung des Fußballfeldes. Unvermittelt drehte er sich zu mir. »Haben Sie ein Auto?«

»Ja, habe ich. Einen Mercedes. E-Klasse«, fügte ich hinzu.

Herr Koch nickte anerkennend.

»Ich denke wir haben genug gehört«, sagte Herr Dotzler.

Was, jetzt schon? Das konnte nichts Gutes heißen.

»Eine Frage hätte ich noch«, sagte Frau von Boulé. »Wie sieht es privat bei Ihnen aus? Leben Sie in einer festen Beziehung?«

Das ging sie überhaupt nichts an! Ich wusste ganz genau, dass ich diese Frage nicht beantworten musste. Aber ich wollte diesen Job, ich brauchte diesen Job. Und es war sicherlich erwünscht, in einer Beziehung zu sein. Damit ich die Finger von den Spielern ließ. »Ja, ich habe einen Freund. Das war einer der Gründe, warum ich nach Hamburg gezogen bin. Wir wohnen jetzt zusammen«, log ich ohne rot zu werden.

Die Reaktion meiner Gegenüber gab mir recht. Sie sahen sehr zufrieden aus.

»Könnten Sie bitte kurz draußen auf dem Flur warten, während wir uns beraten?«

»Äh, okay.« Dieses Bewerbungsgespräch war ja wirklich ziemlich schräg. Ich erhob mich von meinem Stuhl und ging auf den Flur. Zum Glück musste ich nicht lange warten, denn Frau von Boulé steckte bereits nach fünf Minuten den Kopf durch die Tür. »Kommen Sie doch bitte wieder herein.«

Ich setzte mich auf meinen Platz und knetete meine Hände. Dass sie ziemlich zitterten, war von der anderen Tischseite hoffentlich nicht zu sehen.

Herr Dotzler lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Frau … äh …«

»Maus«, half ich.

»Richtig. Maus. Wir möchten Ihnen den Job gerne anbieten. Sie können morgen früh um neun Uhr anfangen.«

Echt jetzt? So einfach? Was hatten die denn hier für ein seltsames Bewerbungsverfahren? Aber egal, ich hatte einen Job! Gerade noch rechtzeitig! Fast wäre ich im Armenhaus gelandet! »Das ist ja toll!«, rief ich, während mir ein Stein vom Herzen purzelte. »Aber … um was für einen Job handelt es sich denn eigentlich genau?« Ich rutschte auf meinem Stuhl ein paar Zentimeter nach vorne und sah erwartungsvoll in die Runde.

»Es handelt sich um eine Tätigkeit von essenzieller Bedeutung im Bereich des Spielermanagements«, erklärte Herr Dotzler mit gewichtiger Miene.

Ja, Wahnsinn! Ich, Karoline Maus, würde im Spielermanagement eines Bundesligavereins tätig sein. Ich würde als Frau die Fußballwelt revolutionieren, jawohl! Heute war es Eintracht Hamburg, in ein paar Jahren die Nationalmannschaft, und von da war es nicht mehr weit bis zum … Weltverein, Weltverband, zur Weltherrschaft, wie auch immer.

»Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass alles, was wir im Folgenden besprechen, der absoluten Verschwiegenheit unterliegt. Das wird natürlich auch noch vertraglich geregelt«, warf Herr Koch ein.

Meine Neugier steigerte sich ins Unermessliche. Fast wagte ich nicht, zu atmen. »Das ist doch selbstverständlich.«

Dotzler nickte zufrieden. »Gut. Also ganz konkret geht es um Patrick Weidinger.«

Hä? Um nur einen Spieler? Meine Management-Tätigkeit bezog sich auf nur einen Spieler?

»Patrick Weidinger ist der wichtigste und beste Spieler, den wir im Kader haben«, erklärte Herr Koch. »Aber wie Sie sicherlich mitbekommen haben, gibt es in letzter Zeit leider Probleme mit ihm.«

»Seit Saisonbeginn ist er mental blockiert«, sagte Frau von Boulé. »Körperlich ist alles okay, aber seine Leistung hat deutlich nachgelassen. Ich habe mehrfach versucht, mit ihm zu reden, aber er lässt niemanden an sich heran.«

Herr Koch blickte bekümmert drein. »Er hat ein Disziplin- und ein Autoritätsproblem. In letzter Zeit ist er immer wieder bis spätnachts in Clubs unterwegs, selbst wenn am nächsten Tag ein Spiel anliegt. Am Sonntag hat er auf einem Sponsorenevent diverse Gläser Champagner getrunken und ist noch vor dem offiziellen Ende von dort verschwunden – mit der Tochter des Sponsors im Schlepptau! Wir haben ihn mehrfach abgemahnt und ihm Geldbußen auferlegt, aber es hilft alles nichts. Daher haben wir uns dazu entschlossen, den Druck deutlich zu erhöhen und drastische Maßnahmen zu ergreifen, um ihn wieder in den Griff zu bekommen.«

»Ich verstehe«, sagte ich, obwohl ich in Wahrheit überhaupt nicht verstand, was zur Hölle ich mit Patrick Weidingers Disziplinproblemen zu tun haben könnte. »Und … wie sieht nun meine Aufgabe konkret aus?«

Herr Dotzler trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte. »Frau Schatz …«

»Maus«, korrigierte ich.

»Ach ja, richtig. Wir brauchen jemanden, der auf ihn aufpasst«, erklärte Dotzler. »Der ihn zum Training fährt und wieder nach Hause bringt. Jemanden, der ihn auf Sponsorenevents und Pressetermine begleitet und darauf achtet, dass er sich benimmt.«

›Tuuuut!‹, machte der große fünfachsige LKW namens Realität, als er auf mich zuraste, und ›Platsch‹ hörte ich eine Sekunde später mein Ego, als es überrollt wurde. Also das war die ›Tätigkeit von essenzieller Bedeutung im Bereich des Spielermanagements‹? Verzweifelt hoffte ich, dass das alles hier ein Riesenmissverständnis war.

»Offiziell werden wir Sie im Verein als Praktikantin führen, denn wir wollen Ihre tatsächliche Funktion natürlich nicht an die große Glocke hängen«, sagte Herr Koch.

Praktikantin. Ich hatte das Gefühl, sämtliches Blut wäre aus meinem Kopf gewichen, so leer fühlte er sich an. Ein fieser Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Der bittere Geschmack der Enttäuschung. »Und was mache ich, wenn Weidinger trainiert?«

»In der Geschäftsstelle gibt es verschiedene administrative Aufgaben für Sie. Sie könnten zum Beispiel der Pressestelle zuarbeiten«, sagte Herr Koch. »Der Vertrag ist bis zum Saisonende befristet. Also bis zum 31. Mai. Und das hier wäre Ihr Gehalt.« Er schob einen Zettel zu mir rüber, auf dem eine ansehnliche Summe stand. Ich würde mehr verdienen als in der Zulassungsstelle oder sogar als Trainee bei dem Kriminellen.

»Und? Nehmen Sie das Angebot an?«, fragte Herr Dotzler.

›Nein, ums Verrecken nicht!‹, wollte ich rufen. Dieser Job war ein Witz, und dafür