Wie wir Freundschaft finden und bewahren - Marisa G. Franco - E-Book

Wie wir Freundschaft finden und bewahren E-Book

Marisa G. Franco

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Beschreibung

Ein Plädoyer für die wichtigste Beziehung in unserem Leben Wie können wir in einer Zeit der ständigen Ablenkung und der sich immer schneller drehenden Welt Freund:innen finden und halten? Insbesondere in einer Gesellschaft, die die romantische Liebe oft über alle anderen Beziehungen stellt? In ihrem Buch versammelt Marisa Franco die neuesten - oft überraschenden - wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Bindung zwischen Freundinnen und Freunden. Zum Beispiel, warum deine Freundin dir nicht antwortet (es liegt nicht daran, dass sie dich hasst) und sie räumt mit dem Mythos auf, dass Freundschaften ganz natürlich und wie von selbst entstehen (Freundschaften erfordern, wie jede andere Beziehung auch, Anstrengung). Der eigene Bindungsstil - sicher, ängstlich oder vermeidend - ist der Schlüssel, um herauszufinden, was in den eigenen Freundschaften funktioniert (und was nicht). Die gute Nachricht: Mit Francos Tipps können wir in jedem Alter Beziehungen zu anderen aufbauen und unsere Freundschaften vertiefen.

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Wie wir Freundschaft finden und bewahren

Die Autorin

Dr. Marisa G. Franco ist Psychologin und Expertin für Freundschaft. Sie hat jahrelang über Freundschaft und Einsamkeit geforscht und publiziert. Sie ist eine gefragte Expertin, schreibt eine Kolumne für Psychology Today und hält Vorträge für private Unternehmen, die US-Regierung, Universitäten und gemeinnützige Organisationen.

Das Buch

Marisa Franco versammelt die neuesten – oft überraschenden – wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Bindung zwischen Freundinnen und Freunden. Zum Beispiel, warum deine Freundin dir nicht antwortet (es liegt nicht daran, dass sie dich hasst) und sie räumt mit dem Mythos auf, dass Freundschaften ganz natürlich und wie von selbst entstehen (Freundschaften erfordern, wie jede andere Beziehung auch, Anstrengung). Der eigene Bindungsstil – sicher, ängstlich oder vermeidend – ist der Schlüssel, um herauszufinden, was in den eigenen Freundschaften funktioniert (und was nicht). Die gute Nachricht: Mit Francos Tipps können wir in jedem Alter Beziehungen zu anderen aufbauen und unsere Freundschaften vertiefen.

Marisa G. Franco

Wie wir Freundschaft finden und bewahren

Und warum sie so wichtig für unser Lebensglück ist

Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Liebl

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

1. Auflage Juni 2023© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, 2023Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Platonic bei G. P. Putnam’s Sons, einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York© 2022 by Dr. Marisa G. Franco PLLC.Umschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: © GoodStudio / ShutterstockAutorenfoto: © Darren Agboh E-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2969-7

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Vorbemerkung der Autorin

Einführung oder das Geheimnis, wie man als erwachsener Mensch Freunde findet

TEIL I Der Blick zurück

1 Wie die Freundschaft unser Leben verwandelt

2 Wie frühere Beziehungen uns heute beeinflussen

TEIL II Der Blick nach vorn

3 Die Initiative ergreifen

4 Verletzlichkeit zeigen

5 Authentizität wahren

6 Mit Ärger ins Reine kommen

7 Großzügigkeit lernen

8 Zuneigung schenken

Zu guter Letzt

Anhang

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorbemerkung der Autorin

Widmung

Für meine Freunde: meine Lebensadern, meine Seelengefährten, meine Heiler und meine tägliche Freude

Vorbemerkung der Autorin

Die Geschichten über Freundschaft, die Sie in diesem Buch lesen werden, sind alle wahr. Mein Dank gilt hier all den Menschen, die mir ihre Freundschaftsgeschichten erzählt und mir so ermöglicht haben, die dahinterstehende Wissenschaft mit Leben zu füllen. Aus Respekt für sie habe ich die meisten Namen und mögliche Erkennungsmerkmale geändert. Um ihre Privatsphäre zusätzlich zu schützen, habe ich in manchen Fällen mehrere Geschichten miteinander verflochten.

Die Tipps und Ratschläge, die ich in diesem Buch gebe, basieren zum einen auf der Lektüre Hunderter wissenschaftlicher Studien, zum anderen auf Gesprächen, die ich mit vielen Fachleuten geführt habe. Ich glaube an die Resultate dieser Studien, auch wenn ich gestehen muss, dass ihre Aussagekraft begrenzt ist. Denn viele der Forschungsarbeiten, die zur Freundschaft angestellt wurden, sind älteren Datums, wurden in den USA durchgeführt und stützen sich auf wenige Versuchsteilnehmer, bei denen es sich hauptsächlich um Weiße heterosexuelle Studierende handelte. Manche Menschen werden ihre persönlichen Erfahrungen darin nicht wiederfinden. Ihre Kritik an meiner Arbeit ist daher berechtigt. Um Ihnen wissenschaftlich fundierte Tipps und Ratschläge geben zu können, von denen ich selbst überzeugt bin, habe ich viel gelesen und stütze meine Empfehlungen immer auf mehrere Studien und nicht bloß auf eine bestimmte. Dennoch muss das Thema Freundschaft noch viel intensiver erforscht werden, damit wir zu belastbareren und differenzierteren Aussagen kommen, welche die Vielfalt unserer gelebten Erfahrung bestmöglich widerspiegeln.

Es freut mich sehr, dass Sie dieses Buch lesen. Ich hoffe, Sie lesen es mit ebenso viel Gewinn, wie ich ihn beim Schreiben hatte. Ich muss zugeben, dass ich mit dem Schreiben einen Hintergedanken verfolgte: Ich möchte zu einer Welt beitragen, die gütiger, freundlicher und liebevoller ist. Und ich bin sehr stolz auf Sie, verehrte Leserinnen und Leser, dass Sie diese Reise antreten wollen.

Einführung oder das Geheimnis, wie man als erwachsener Mensch Freunde findet

Im Jahr 2015 war ich zutiefst unglücklich, nachdem eine aufkeimende Romanze desaströs geendet hatte. Ich grübelte endlos darüber nach, wenn ich mich morgens auf den Crosstrainer stellte oder wenn ich zwischen zwei Seminaren mit den Tränen kämpfte. Im Grunde eigentlich ständig, sobald mein Geist nichts anderes fand, woran er sich zur Ablenkung klammern konnte. Um aus diesem schwarzen Loch wieder herauszukommen, brauchte es eine ganze Reihe von Offenbarungen. Zuerst musste ich begreifen, warum ich diesen Verlust so schwergenommen hatte, wieso ich derart darunter litt. Ich musste in klare Worte fassen, weshalb romantische Beziehungen für mich einen so hohen Stellenwert hatten, dass von ihnen mein ganzes Glück abhing. So als gäbe es ohne diese Form der Liebe überhaupt keine Liebe in meinem Leben.

Warum maß ich der romantischen Liebe eine so hohe Bedeutung bei, wo sie sich in meinem Leben doch bisher als nicht sonderlich erfüllend erwiesen hatte? Ich hatte einige tief in unserer Kultur verankerte Vorstellungen verinnerlicht. Die wahre Liebe zu finden, ist Sinn und Zweck meines Lebens. Der Tag, an dem ich die wahre Liebe finde, ist der Tag, an dem mein Leben wirklich anfängt. Die wahre Liebe nicht zu finden, heißt, dass einem als Mensch ein grundlegender Makel anhaftet. Und ohne wahre Liebe gibt es überhaupt keine Liebe in meinem Leben.

Um mich von meinem tiefen Kummer zu erholen, trommelte ich schließlich einige meiner besten Freundinnen für eine Wellness-Gruppe zusammen. Wir trafen uns regelmäßig einmal die Woche. Eine von uns wählte etwas aus, womit wir uns selbst etwas Gutes tun konnten, lud uns zu sich ein und sorgte für unser leibliches Wohl. Also versammelten wir uns zum Yoga, zum Kochen, Lesen oder Meditieren. Doch das Heilsamste an diesen Treffen war die Gemeinschaft, das Zusammensein als solches. Unter Menschen zu sein, die mich mochten und die ich mochte, hat mich geheilt. Hatte ich bis dahin Freundschaften immer für weniger wichtig gehalten als die romantische Liebe, so konnte ich nach den Erfahrungen mit unserer Wellness-Gruppe die kolossale Bedeutung von Freunden nicht länger übersehen.

2017 dann packte ich meine Habe in einen Koffer und zog von Washington, D.C., wo ich sechs Jahre gelebt hatte, nach Atlanta in Georgia. Ich kannte kaum jemanden in Atlanta, doch meine Freunde in Washington hatten sich fest vorgenommen, dass ich mich auf keinen Fall einsam fühlen sollte, wenn ich dort ankäme. Verstaut in meinen Koffer lag auch ein Schraubglas mit Papierröllchen, Glückskeksen nicht unähnlich. Darauf hatten meine Freunde ihre liebsten Erlebnisse und Erinnerungen aus unserer gemeinsamen Zeit notiert. Und ich hatte eine gerahmte Collage mit Bildern von meinen Freunden und mir, wie wir strahlten, zusammen posierten und uns umarmten. Das Jahr vor meinem Wegzug war eines der schönsten meines Lebens gewesen, und das lag ohne jeden Zweifel daran, dass ich mich mit Menschen umgeben hatte, die mich kannten und liebten.

Im Mai 2017, als ich wusste, dass ich umziehen würde, schmiss ich eine kombinierte Geburtstags- und Abschiedsparty. Wir hatten alle zusammen ein abgefahrenes Konzert in einer Galerie besucht und quetschten uns hinterher in meinem kleinen Apartment zu Kuchen und Sekt zusammen. Ich brachte einen Toast aus auf die Handvoll Leute, die sich im Wohnzimmer versammelten. Der Sekt zeigte bereits Wirkung, und so wagte ich eine Ansprache der verletzlichen Sorte: »Ich möchte, dass ihr alle wisst, dass ich vergangenes Jahr in einem echten Tief steckte. Die Freundschaft von jedem Einzelnen von euch, wie ihr hier sitzt, war Teil der Kraft, die mich da wieder herausgeholt hat.«

Dieser Geburtstag und meine Wellness-Gruppe waren jeweils ein wichtiger Teil meiner Metamorphose. Ich begann allmählich, mich mehr auf meine Freunde zu konzentrieren, sie bewusst anzuerkennen und wertzuschätzen. In den Jahren davor, als ich noch dachte, nur Liebesbeziehungen seien wichtig, versank ich periodisch in Verzweiflung, wenn mal wieder ein verliebtes rosa Wölkchen in schwarzem Rauch aufging. Meine Trauer wurde noch genährt durch das krasse Ungleichgewicht in meinem Denken. Alles, was in meinem Leben nicht stimmte (Liebesbeziehungen), legte ich unter ein gigantisches Vergrößerungsglas. Alles, was gut lief (Freundschaften), übersah ich geflissentlich. Ausgerüstet mit dieser Art von Tunnelblick, fragte ich mich angesichts meiner gescheiterten Liebschaften alsbald, ob ich denn überhaupt imstande wäre, bedeutsame Beziehungen aufzubauen, ob ich die Liebe überhaupt verdiente. Doch dann legte ich dieses Denkmuster Schritt für Schritt ab. Ich wollte mich nicht nur auf eine bestimmte Form von Liebe fixieren und darüber die Liebe vernachlässigen, die mich umgab und immer umgeben hatte. Es gab so viel Liebe in meinem Leben. Und nur, weil sie von meinen Freunden kam, sollte sie weniger zählen?

Auf der Werteskala, auf der unsere Kultur die Liebe vermisst, steht die platonische Liebe auf der untersten Stufe. Meine Erfahrung ist jedoch, dass es für jeden Menschen ein tragischer Verlust ist, sie dort unten zu belassen. Ich habe dieses Buch geschrieben aus dem Wunsch heraus, diese Hierarchie kulturell einebnen zu helfen. Da wir den Wert der Freundschaft nicht immer zu würdigen wissen, fehlt es uns auch an dem Wissen, wie sie sich kultivieren lässt. Wollen wir die volle Bedeutung der Freundschaft für unser Leben erkennen, müssen wir wissen, wie man Freundschaften schließt und sie bewahrt.

Fragen wir eine Person in unserem Bekanntenkreis, wie man denn Freunde gewinnt, so lautet die Antwort meist, wir sollten uns einer Nachbarschaftsgruppe anschließen oder uns ein Hobby zulegen. Aber irgendwie geht dieser Rat am Problem vorbei. Denn er hat nichts damit zu tun, wie wir uns unseren sozialen Phobien stellen, unsere Angst vor Ablehnung aushalten und Nähe zulassen können. Und dabei vielleicht riskieren, dass unser Selbstwertgefühl noch mehr unter die Räder kommt. Freundschaft mit jemandem zu schließen, erfordert, dass wir an uns arbeiten – dass wir uns von Grund auf damit aussöhnen, wer wir sind und wie wir lieben. Das ist die Reise, die wir in diesem Buch antreten. Und die Freundschaft ist diese Mühe wert.

Als Doktorandin im Fach Psychotherapie übertrug man mir die Co-Leitung von Therapiegruppen an der psychologischen Beratungsstelle einer Universität. Die Gruppentreffen fanden in einem großen, hohen Raum statt, so, als sollte es nicht an Platz mangeln für all die Geheimnisse, die hier zum Vorschein kommen würden. Meine Co-Therapeutin und ich saßen uns gegenüber, jede an einem anderen Ende des Raums, damit wir die Gesichtsausdrücke der einzelnen Studierenden mitbekamen und uns auf widerstreitende Dynamiken innerhalb der Gruppe einstellen konnten. Die Studierenden betraten wortlos den Raum und nahmen Platz – entweder nahe bei anderen auf der gemütlichen Couch oder, ihren eigenen Raum beanspruchend, auf einem Stuhl. Sie waren meist ziemlich nervös. Meine Co-Therapeutin und ich mussten hart an unserer Toleranzgrenze arbeiten, um die langen Schweigeminuten auszusitzen. Irgendwann aber durchbrach eine oder einer der Studierenden doch das Schweigen, weil ihnen dieses noch unangenehmer war, als das Wort zu ergreifen.

Für gewöhnlich dauerte es einige Zeit, bis wir genügend Studierende für eine Gruppe zusammenhatten, da viele zögerten, an einer Gruppentherapie teilzunehmen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Ich soll von meinem Kindheitstrauma erzählen – vor lauter Fremden? Was könnte schlimmer sein? Der Normalfall war, dass sie mit einem Psychologen reden wollten, mit jemandem, der individuell auf sie und ihre Probleme eingehen konnte und darin geschult war, das Gehörte nicht zu bewerten (im Gegensatz zu den nicht zu übersehenden Fragezeichen in einer Therapiegruppe). Der Nutzen einer Gruppentherapie erschien den Studierenden nicht naheliegend. Schließlich müssten sie hier die Aufmerksamkeit, die sie in einer Einzeltherapie erfahren hätten, durch sieben teilen.

Waren zunächst auch wir, die künftigen Therapeuten, nicht gerade erpicht darauf, Therapiegruppen zu leiten, so begannen meine Co-Therapeutin und ich sie mit wachsender Erfahrung immer mehr zu schätzen. Die Studierenden wiederholten dieselben problematischen Verhaltensweisen, die sie draußen in der Welt zeigten, hier in der Gruppe. Da gab es beispielsweise einen Studenten namens Marquee, der über seine Trennung von einer chaotischen, selbstzerstörerischen Frau sprach, mit der er lange zusammengeblieben war, weil er glaubte, sie vor sich selbst retten zu können. In der Gruppe legte Marquee immer wieder diesen Helferkomplex an den Tag. Wenn andere von ihren Problemen erzählten, erklärte er ihnen ausführlich, wie sie ihr Leben in Ordnung bringen könnten. Er fühlte sich wohl in der Rolle des Retters. Er brauchte das Gefühl, gebraucht zu werden. Das war vermutlich der Grund, warum ihn selbstzerstörerische Menschen so sehr anzogen. Andererseits war es gerade sein Helfersyndrom, das den anderen Leuten in der Gruppe auf die Nerven ging.

Zu dieser Gruppe gehörte auch Melvin. Seine Mutter war drogensüchtig, und Melvins Art, mit diesem Trauma umzugehen, war, ständig zu behaupten, alles sei super und besser denn je. Woche für Woche beharrte er darauf, dass alles bestens sei, wenn andere Leute erzählten, wie es ihnen ging. Er bewältigte sein Trauma, indem er sich als Menschen darstellte, bei dem immer alles in Ordnung ist, der nie leidet, der die Dinge nimmt, wie sie kommen, selbst wenn diese Dinge Katastrophen sind, die man bewältigen muss. Immer, wenn er in der Gruppe von einem tragischen Ereignis erzählte, lächelte er dabei und hielt den Daumen hoch, als wollte er sagen: »Macht euch keine Sorgen um mich, es geht mir gut. Nix passiert.« Er glaubte, stark und unabhängig zu sein, aber wie sollten ihm die anderen in der Gruppe helfen, wenn er vor sich selbst nicht zugab, dass er Hilfe brauchte?

Und dann war da noch Lauren, eine Studentin mit einem lähmend geringen Selbstwertgefühl. Sie kam, weil ihre Freunde sie ignorierten und ausschlossen. Wenn sie Ausflüge machten, dann ohne sie. Was das Fass schließlich zum Überlaufen und sie in die Therapie gebracht hatte, war, dass ihre Freunde beschlossen hatten, im folgenden Jahr eine WG zu gründen, und zwar ohne sie. Sie war das Gespenst, das über dieser Clique schwebte. In unserer Therapiegruppe spielte sie eine ähnlich ano­nyme Rolle. Tatsächlich war sie so zurückhaltend, dass es jedes Mal ein Kampf war, sie so weit zu bringen, überhaupt etwas zu sagen. Und manchmal vergaßen wir fast, so wie ihre Freunde, dass sie ein Teil unserer Gruppe war.

Diese Studierenden durchlebten die Probleme, die sie in der Außenwelt hatten, in der Gruppe erneut. So wurde deutlich, wie sehr unsere geistige Gesundheit von den Eigentümlichkeiten in der Beziehung zu unseren Mitmenschen abhängt.

Marquee erlebte den Schmerz schlimmer Trennungen, weil er in seinen Beziehungen stets versuchte, die Rolle des »Retters« zu spielen. Daher fühlte er sich einerseits von labilen, egozentrischen Partnern angezogen. Andererseits gab er der Gruppe (und sicher auch anderen Menschen in seinem Leben) das Gefühl, er würde sie bevormunden, was sie gegen ihn aufbrachte.

Melvin – bei dem immer alles super war – war in Wirklichkeit depressiv. Was zum Teil daran lag, dass er andere Menschen auf Abstand hielt und nie seine verletzliche Seite zeigte. Die Gruppe fühlte sich dem wandelnden Smiley nicht eben nahe, und der Smiley fühlte sich umgekehrt allen anderen fern.

Lauren, die unter einem geringen Selbstwertgefühl litt, machte sich in der Gruppe derart klein, dass man leicht vergessen konnte, dass sie da war, was wiederum noch mehr an ihrem Selbstwertgefühl nagte.

Während die Wochen verstrichen, konnte ich beobachten, wie die Leute im sicheren Raum der Therapiegruppe neue Möglichkeiten ausprobierten, sich auf andere Menschen zu beziehen. Ich war so unglaublich stolz, wenn ich sah, wie Lauren trotz ihres geringen Selbstbewusstseins anderen in der Gruppe widersprach, sie aufforderte, mehr von sich zu erzählen, und für sich selbst mehr Raum in der Gruppe beanspruchte. Ich war zutiefst bewegt, als Melvin von seiner letzten Trennung erzählte und dabei sichtlich unglücklich schien. Andere Gruppenmitglieder meinten, das sei bei ihm völlig neu, dass er mehr von sich zeige, sodass sie sich ihm näher fühlten. Und als jemand aus unserer Gruppe erzählte, er hätte Streit mit seinen Eltern wegen Geld, und Marquee es schaffte, einfach nur zu fragen, wie es ihm damit gehe (statt wie üblich mit einem Katalog an Lösungsvorschlägen anzukommen), machte mein Herz einen Freudensprung.

Sowohl Lauren als auch Melvin und Marquee erzielten große Fortschritte, weil sie mit der Gruppe einen Raum hatten, in dem sie sich anderen verbunden fühlten. Das hat ihnen letztlich ermöglicht zu wachsen. Die Gruppe war ein sicherer Raum, nicht nur, weil sie dort über ihre Scham sprechen und sich trotzdem geliebt und akzeptiert fühlen konnten, sondern auch, weil sie ein Ort war, an dem die anderen ihnen aufrichtiges und dennoch einfühlsames Feedback gaben und ihnen so halfen, sich zu entwickeln. Die starke Bande, die sie zu den anderen Teilnehmenden knüpften, half ihnen, dieses Feedback nicht als Kritik zu sehen, sondern als Akt der Liebe zu akzeptieren und zu schätzen.

Verbundenheit bestimmt wesentlich, wer wir sind

Die Gruppe war ein Mikrokosmos, der augenfällig zeigte, wie die Verbundenheit uns verändert. Wir alle kennen den Spruch: »Du musst dich selbst lieben, ehe jemand anderer dich lieben kann.« Aber was genau soll das heißen? Und wie gelangt man zu dieser Selbstliebe? Schaffen Menschen es durch Magie, indem sie sich mit Taschenlampe und Spiegel in eine Höhle zurückziehen und ihrem schwach beleuchteten Spiegelbild beschwörend zuflüstern: »Ich bin wichtig. Ich bin wertvoll. Ich werde geliebt«? Bis sie sich schließlich selbst mögen? Bis ihre Seele ganz davon durchtränkt ist?

Es ist ein bisschen komplizierter. Die Gruppenarbeit machte sichtbar, welche positiven Effekte das Gefühl der Verbundenheit entfaltet, und das ist das Grundthema dieses Buches: Verbunden-Sein beeinflusst, wer wir sind, und wer wir sind, beeinflusst, wie wir uns mit anderen verbinden. Haben wir uns verbunden gefühlt, sind wir menschlich gewachsen. Wir sind offener, mitfühlender und mutiger geworden. Haben wir uns isoliert gefühlt, sind wir innerlich verkümmert. Sind verschlossen, voreingenommen, distanziert geworden, um uns selbst zu schützen. Unsere Persönlichkeit und die Freundschaft, die wir zeigen, werden von unserer Vergangenheit geprägt: Wir halten uns für liebenswert, weil uns jemand wirklich geliebt hat. Wir sind kratzbürstig, weil uns jemand nicht genug geliebt hat. Das sind die Themen, die wir im ersten Teil dieses Buchs erkunden werden. So können wir feststellen, woher bestimmte Stärken oder Schwächen kommen, die wir beim Schmieden freundschaftlicher Bande haben. Wie Lauren, Melvin und Marquee können die Wunden fehlenden Zusammenhalts auch uns Probleme machen, sodass wir andere Menschen von uns stoßen, ohne es auch nur zu bemerken. Als Erstes werden wir uns also ansehen, wie Verbundenheit – oder deren Fehlen – beeinflusst, wer wir sind. Denn der erste Schritt zu bereichernden, wunderschönen Freundschaften ist, herauszufinden, was sie möglicherweise behindert. Oder in den Worten des Schriftstellers James Baldwin: »Man kann Dinge erst ändern, wenn man sich ihnen stellt.«

Und noch etwas zeigte sich in der Arbeit mit dieser Gruppe: Fühlen wir uns akzeptiert und geliebt, so entwickeln wir Qualitäten, die uns weiter auf konstruktive Art auf andere zugehen lassen. (Die Reichen werden immer noch reicher, wie man so schön sagt.) In der Gruppentherapie haben meine Klienten diese Qualitäten entwickelt. Als Marquee ein echtes und sicheres Gefühl der Verbundenheit erlebte, wurde er anderen Menschen gegenüber einfühlsamer. Melvin wurde authentischer im Selbstausdruck und zeigte sich verletzlicher. Lauren ergriff in ihren Beziehungen öfter die Initiative. Stellten die Studierenden sich den Verletzungen, aufgrund derer sie sich vor anderen in ein Schneckenhaus zurückzogen, so bleibt am Ende davon nur noch Liebe. Liebe für sich und für andere, der Stoff, aus dem Freundschaften gemacht sind.

Wir alle kennen den Satz, der Mensch sei ein soziales Wesen. Das stimmt auch. Unsere Spiegelneuronen bilden in unserem Gehirn regelrechte Klumpen, die uns am eigenen Leib erfahren lassen, was andere erleben. Babys weinen, wenn sie andere Babys weinen hören.1 Wir sind liebevoll und fürsorglich, nur verlieren wir diese Tatsache meist aus den Augen, wenn alte Verletzungen uns drängen, uns selbst zu schützen. Für mich heißt das, dass wir von Natur aus die Gabe besitzen, Freundschaften zu schließen.

Wer wir sind, bestimmt unsere Bindung zu anderen Menschen

Im zweiten Teil sehen wir uns an, was wir aktiv tun können, um bessere Beziehungen aufzubauen. Denn die Freundschaften, die wir geschlossen haben, sind keine Zufallsprodukte: Sie spiegeln vielmehr unsere innere Verkabelung wider, unsere Fähigkeit, bestimmte Eigenschaften zu entwickeln, die eine Freundschaft nähren. Bei diesen Eigenschaften handelt es sich um ein Bündel von Einstellungen und Verhaltensweisen, die wir ganz natürlich anstreben würden, wären da nicht die tiefen Wunden aus früheren Erfahrungen mangelnder Verbundenheit, unsere Angst vor Zurückweisung, unsere Menschenscheu, unser Misstrauen – kurz: Hätten wir nicht aufgrund all dieser Ängste die Verbindung zu der Liebe in unserem Innersten verloren. Diese Eigenschaften sind: Ini­tiative, Verletzlichkeit, Authentizität, konstruktiver Ärger, Großzügigkeit und Zuneigung. Diese Charakterzüge schützen und bewahren eine Freundschaft während ihres Bestehens. Initiative knüpft die erste Bande einer Freundschaft, Authentizität, konstruktiver Ärger und Verletzlichkeit halten sie am Leben, weil sie uns erlauben, ganz der Mensch zu sein, der wir sind. Großzügigkeit und Zuneigung vertiefen eine Freundschaft, weil sie unserem Freund zeigen, wie sehr wir ihn schätzen. Diese Eigenschaften aktiv zu pflegen, bildet jene goldene Mitte, die uns auf der einen Seite erlaubt, unsere innere Wahrheit auszudrücken, und auf der anderen Seite den Raum schafft, unsere Freunde offen anzunehmen.

Wenn wir uns um diese Eigenschaften bemühen, werden wir ein wenig so, wie David Brooks gute Menschen in seinem Artikel »The Moral Bucket List« für die New York Times beschreibt: »Sie hören dir wirklich zu. Mit ihnen kommst du dir witzig und hochgeschätzt vor. Oft siehst du, wie sie sich um andere kümmern, und wenn sie das tun, ist ihr Lachen melodisch und ihr ganzes Gebaren erfüllt von Dankbarkeit […] Das ist die Art Mensch, die wir sein möchten.« Diese Menschen hätten etwas, schreibt er weiter, das man als »Nachruftugenden« bezeichnen könnte: »Nachruftugenden sind jene, die man bei deiner Grabrede aufzählt – ob du freundlich warst, tapfer, aufrecht oder loyal. Fähig, innig zu lieben?«2 Diese Charakterzüge ermöglichen uns, in Harmonie mit anderen zu leben und sie zu würdigen.

Dies ist die Art und Weise, wie wir als Erwachsene Freundschaften schließen. Wir wachsen – wir werden tapferer, einfühlsamer, gütiger, aufrichtiger, ausdrucksstärker. So wie Marquee, Melvin und Lauren macht uns zu schaffen, dass wir andere von uns wegstoßen oder an ungesunden Beziehungen festhalten und so uns und anderen Schmerz zufügen. In diesem Buch geht es darum, wie man anderen ein besserer Freund wird. Und wie man selbst ein besserer Mensch wird.

Den Kurs Richtung Freundschaft setzen

In diesem Buch werden Sie immer wieder Geschichten von Menschen lesen, die – wie Sie und ich – versuchen, das schwierige Terrain der Verbundenheit zu ergründen. Die meisten wollten anonym bleiben, daher habe ich Namen und Daten zur Person geändert, manchmal auch mehrere Geschichten zu einer verbunden, um ihre Privatsphäre zu schützen. Aber Sie werden auch viele Zitate von Fachleuten finden, die ich der besseren Verständlichkeit halber ein wenig gekürzt habe.

Einige Monate, nachdem ich mit der Arbeit an diesem Buch angefangen hatte, ging ich in New York in einen tibetischen Buchladen, nahm ein Buch über Buddhismus aus dem Regal und schlug irgendwo eine Seite auf. Dort stand, es gebe zwei Arten zu lernen: lernen durch Unterweisung und lernen durch Erfahrung. In diesem Buch werden Sie eine Menge über Freundschaft erfahren, doch Wissen allein kann Ihr Leben nicht ändern. Dieses Buch gibt Ihnen kurze und knackige Praxistipps, die am Ende jedes Kapitels auf den Punkt bringen, wie Sie Ihre Freundschaften verbessern können. Sie finden hier nicht nur Ratschläge, damit Sie die Freundschaft künftig mit anderen Augen sehen können, sondern erfahren auch, wie Sie Dinge in Ihrem Leben anders gestalten können, um Freundschaften zu erleben – und zu leben.

Betrachten Sie dieses Buch als Kompass, der Ihnen hilft, den Ozean der Freundschaft zu erschließen. Ich lade Sie ein, diese Informationen nicht einfach nur einzusaugen, sondern sie auch zu nutzen, um an Ihre Freundschaften künftig anders heranzugehen. Denn was hilft es Ihnen zu wissen, dass es Initiative braucht, um Freundschaften aufzubauen, wenn Sie nicht bereit sind, Ihre Angst vor Zurückweisung zu überwinden und Hallo zu sagen? Was nützt es Ihnen zu wissen, dass sich zu öffnen das Lebenselixier jeder Freundschaft ist, wenn aus diesem Wissen nicht die Bereitschaft wird, Ihre Verletzlichkeit zuzulassen? Und wenn Sie noch so gut wissen, dass Liebe und Zuwendung die Menschen einander näherbringen – wenn Sie immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten, dann wird Ihr Leben sich erst ändern, wenn Sie bereit sind, Ihre Prioritäten anders zu setzen.

Ich habe dieses Buch so angelegt, dass es Wissen und Erfahrung verbindet und unterstreicht, wie wichtig es ist, dass diese Erkenntnisse uns in Fleisch und Blut übergehen. Unser Vorhaben hier ist nicht, einfach nur Wissen über die Freundschaft anzusammeln. Wir wollen dieses Wissen einsetzen, um uns weiterzuentwickeln.

TEIL I Der Blick zurück

Wie wir zu den Freunden wurden, die wir heute sind

1 Wie die Freundschaft unser Leben verwandelt

Der Kontakt zu anderen macht uns zu dem Menschen, der wir sind

»Manche der Leute sitzen zu Hause und sehen für den Rest ihres Lebens fern, nachdem der Partner gestorben ist. Sie sind zwar noch am Leben, aber sie leben nicht wirklich«, sagt die 73-jährige Harriet. Sie meint die Teilnehmenden der Trauer-Selbsthilfegruppe, zu der sie nach dem Tod ihres Mannes ging. Harriet hätte vielleicht das gleiche Schicksal erlitten, wenn da nicht etwas anderes gewesen wäre: Freundschaft.

Dabei wusste Harriet Freundschaft früher gar nicht sonderlich zu schätzen. Bis sie im Alter von 50 Jahren Federico heiratete, waren Freunde für sie nicht wichtig. Harriet war ehrgeizig, arbeitete zwölf Stunden am Tag und war ansonsten auf Reisen, hatte sie sich doch vorgenommen, alle Länder der Welt zu bereisen. Um ihre Karriere voranzubringen, zog sie durchs ganze Land. Sie jagte den Jobs hinterher – vom Nordosten der USA in den Mittleren Westen und schließlich an die Westküste und wieder zurück in den Nordosten. Ihre Freunde ließ sie jedes Mal zurück.

Aber ihr Ehrgeiz hinderte sie nicht daran, einen Ehemann zu suchen. »So hatte ich es in meiner Kultur gelernt – dass man im Leben einen Ehemann finden musste«, sagt sie heute. Sie hatte mehrere Lebensabschnittspartner, und wenn diese Beziehungen ein Ende fanden, ging sie wieder entschlossen auf Partnersuche. Sie erinnert sich noch gut daran, wie sie ihre Kollegin Denise zu Hause besucht und sie um all das beneidet hatte, was Denise offensichtlich besaß: einen beeindruckenden Job, einen Ehemann, wunderschöne Zwillinge. Harriet war mit 40 immer noch Single und hatte mit der Vorstellung zu kämpfen, dass ihr Lebenstraum von Ehemann und Kindern vielleicht nie Wirklichkeit würde. Da sie also keine Verantwortung für eine Familie zu tragen hatte, verschrieb sie sich ganz ihrer Arbeit.

Harriet meint, sie hätte Freundschaften in ihrer Jugend auch nicht als sonderlich erfüllend erlebt. Was allerdings daran liege, wie sie das Ganze angepackt habe. Sie schämte sich ihrer Herkunft, denn sie war auf einer Farm aufgewachsen, in bettelarmen Verhältnissen. Den Sommer über arbeitete sie auf den Farmen der Nachbarn, um das Schulgeld zu verdienen. Da sie einen glänzenden Aufstieg hinlegte, hatte sie bald nur noch mit Angehörigen der wohlhabenden Eliten zu tun, zu denen sie sich nie zugehörig fühlte. Ihre Freundschaften empfand sie als Doppelleben. Sie zelebrierte mit Freunden die Kultur des Wohlstands, an die sie sich nie ganz gewöhnen konnte: Man traf sich bei Immobilienversteigerungen, warf beim Essen im Restaurant mit den Hundertern nur so um sich und diskutierte über Albernheiten wie die Farbnuancen des nachbarlichen Rasens. Unter Freunden konnte Harriet sich nie ganz entspannen, aus Angst, sie könnten sonst herausfinden, woher sie stammte und wer sie wirklich war.

Dann geschahen zwei Dinge, die ihre Auffassung von Freundschaft veränderten. Erstens: Als sie Federico kennenlernte, der ein sehr geselliger Mensch war, gewöhnte sie sich an, regelmäßig Freunde zu Hause zu bewirten. »Die Leute kamen gern zu uns, weil wir glücklich waren«, erzählt Harriet. Von ihm habe sie gelernt, dass es Freude machen konnte, mit anderen Menschen zusammen zu sein, und keineswegs nur eine Belastung war.

Aber erst als Federico starb, entdeckte Harriet den wahren Wert der Freundschaft. Um ihren Kummer zu bewältigen, ging sie zum ersten Mal in ihrem Leben zum Psychologen. Sie musste lernen, sich verwundbar zu zeigen. Und diese Gabe übertrug sie nun auch auf ihre Freundschaften. So erlebte sie alte Freunde auf neue Weise, weil sie endlich nicht mehr so tun musste als ob. Einige Freundschaften trugen ihre tiefe Trauer nicht, andere hingegen vertieften sich. Harriet merkte, dass ihre Verletzlichkeit, die Bitte um Hilfe, das Tor zu tiefer Nähe weit aufstieß.

Im Alter lernte Harriet, Freunde mehr zu schätzen als je zuvor. Eine Freundschaft speziell betrachtet sie sogar als ihre längste Liebesgeschichte überhaupt. Sie hatte Shirleen an der Uni kennengelernt, als sie ein Auslandssemester in Marseille absolvierte. Shirleen war der vorurteilsfreiste Mensch, den Harriet je kennengelernt hatte. Und so konnte Harriet sich ihr gegenüber öffnen. Obwohl die beiden sich nach dem Studium weitgehend aus den Augen verloren hatten, machte Shirleen sie 14 Jahre später ausfindig und rief sie an. Shirleen lebte mittlerweile in London, aber in den nächsten paar Jahren besuchte sie Harriet fünf Mal in Washington. Sosehr Harriet Federico auch liebte, über Gefühle zu sprechen, war mit ihm einfach nicht möglich. Daher war Shirleen ihr Leben lang ihre engste Vertraute. »Damit wir das Gefühl haben, unser Leben sei bedeutsam, brauchen wir jemanden, der daran teilnimmt und diese Bedeutung erkennt. Shirleen war meine Lebenszeugin«, sagt Harriet. Sie telefonieren immer noch einmal die Woche, obwohl der fünfstündige Zeitunterschied das mitunter erschwert. Shirleen überlegt mittlerweile sogar, ob sie nach Washington zieht, um Harriet näher zu sein.

Heute sind Harriet ihre Freunde wichtiger, als ein Mann es ist. Sie hat einen Freund, mit dem sie gern spazieren geht. Und sie ist nicht ganz sicher, ob diese Freundschaft platonisch bleibt oder eine Romanze daraus wird. Aber ihr ist das eine wie das andere recht: »Ich bemesse den Wert einer Beziehung danach, ob wir die gemeinsame Zeit genießen, zusammen etwas unternehmen und Dinge miteinander teilen können. Und die Antwort auf all diese Fragen ist: Ja.« Sie hat es nicht eilig, die Natur ihrer Beziehung festzulegen, denn »Freundschaft ist auch wunderbar und keineswegs die zweite Wahl«.

Mit nunmehr 73 Jahren sieht Harriet ihre veränderte Einstellung zur Freundschaft als Zeichen, dass »ich endlich erwachsen geworden bin«. Sie trifft sich jeden Abend mit Freunden zum Tee, zum Abendessen oder einfach zum Spazierengehen. Freunde helfen ihr, endlich mal langsamer zu machen und im Leben ganz da zu sein. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich zu Hause esse, verschlinge ich die Mahlzeiten immer im Stehen«, erzählt sie. »Mit Freunden hingegen esse ich achtsam.« Aufgrund ihres Alters kann Harriet nicht mehr so viel reisen wie früher. So geht sie ihrer Abenteuerlust in der Begegnung mit ihren unterschiedlichen Freunden nach.

Es gibt nicht viel, was Harriet im Leben bedauert – ganz sicher nicht die Ehe mit Federico, auch wenn er 19 Jahre älter war als sie. Sie hatte ihn einige Jahre lang pflegen müssen, nachdem er dement geworden war. Doch sie wünscht sich, sie hätte den Wert der Freundschaft schon früher erkannt. Nichtsdestotrotz ist sie dankbar, dass sie diese Erkenntnis hatte, bevor es zu spät war. »Wenn Sie aufs Ende des Lebens zugehen, merken Sie, dass jeder einzelne Tag ein Geschenk ist. Und so wollen Sie ihn auf eine Weise leben, die Ihnen wichtig ist. Für mich heißt das, dass ich ihn mit Freunden verbringe.«

Harriets Lebensweg zeigt sehr schön, was uns entgeht, wenn wir die Bedeutung von Freundschaften nicht erkennen. Und wie es uns bereichert, wenn wir sie zu schätzen wissen. Zu Harriets Zeiten – und auch heute noch – galt Freundschaft als die nur zweitwichtigste Beziehung. Freunde waren der Puffer, den man brauchte, wenn man seine Familie verließ und an ihrer Stelle noch keine neue bereitstand. Dabei müssen Freundschaften eben keineswegs die zweite Geige spielen. Wie Harriet erst spät lernte, können Freundschaften stark, tief und liebevoll sein. Ja, sie können uns das Leben retten und uns zutiefst verwandeln. Und etwas Ähnliches ist vermutlich auch in Ihrem Leben bereits geschehen.

Warum Freundschaften wichtig sind

Die Auswirkungen, die Freundschaften auf uns haben, reichen so tief, dass sie meist unterschätzt werden. Die Philosophen der griechischen Antike betrachteten sie als Schlüssel zur eudaimonia, dem Gedeihen.3 Aristoteles zum Beispiel schreibt in der Nikomachischen Ethik, ohne Freundschaft »möchte niemand leben«4. Priester im Mittelalter misstrauten der Freundschaft, denn die Freundesliebe könnte womöglich unsere Liebe zu Gott übersteigen. Im 17. Jahrhundert hingegen redeten die Priester der Freundschaft neuerlich das Wort, weil wir durch sie unsere Liebe zu Gott unter Beweis stellen könnten.5

Heute betrachten wir die platonische Liebe meist so, als würde ihr etwas fehlen. Im Grunde also so etwas wie die Liebe zum Partner, nur ohne den Turbo von Sex und Leidenschaft. Als der italienische Gelehrte Marsilio Ficino im 15. Jahrhundert den Begriff der »platonischen Liebe« prägte, spiegelte er Platons Vision von einer Liebe wider, die so stark war, dass sie über das Physische hinausreichte. Die platonische Liebe war also keineswegs eine romantische Liebe, an der man einige Abstriche vorgenommen hatte. Es war eine reinere, höhere Form der Liebe, eine Liebe für die Seele, wie Ficino schreibt: »Denn sie begehrt nicht diesen oder jenen Körper, sondern ihr Verlangen richtet sich nach dem göttlichen Licht, das durch die Körper hindurchscheint.«6

Und die Macht der Freundschaft ist keineswegs nur ein Relikt antiken Denkens, sondern wird sogar von der Wissenschaft belegt. Die Psychologie geht davon aus, dass wir Freundschaften brauchen, um funktionieren zu können, ebenso sehr, wie wir Sauerstoff, Nahrung oder Wasser benötigen. Werden wir ihrer beraubt, können wir uns nicht fortentwickeln, was erklärt, warum Freundschaften so wichtig für unsere geistige und körperliche Gesundheit sind. Wissenschaftler haben entdeckt, dass von insgesamt 106 Faktoren, welche eine Depression beeinflussen können, die Tatsache, dass wir jemanden haben, mit dem wir reden können, die Erkrankung am wirksamsten zu verhindern vermag.7 Einsamkeit wirkt sich auf unsere Lebenserwartung genauso schädlich aus wie 15 Zigaretten täglich.8 Eine Studie stellte fest, dass der markanteste Unterschied zwischen glücklichen und unglücklichen Menschen nicht ihre Attraktivität, Religiosität oder ihr Glück im Leben ist. Es ist vielmehr der Grad an sozialer Vernetztheit.9

Freundschaft nimmt den Widrigkeiten des Lebens ihren Stachel. Wenn Männer alleine waren, so stellte sich in einer Studie heraus, schätzten sie die Bedrohung durch einen angeblichen Terroristen deutlich höher ein als in Gesellschaft von Freunden.10 In einer anderen Studie heißt es, dass die Teilnehmenden einen Berg für weniger steil hielten, wenn sie ihn mit Freunden erklommen.11 Ich selbst erinnere mich noch gut an eine Situation, als ich mit einem früheren Chef streiten musste, weil dieser sich weigerte, mir meinen letzten Lohnscheck auszustellen. Dieser Konflikt belastete mich ständig, bis ich meinem Freund Harbani bei einem Chai Latte davon erzählen konnte. Der Chai sprudelte in die Gläser, die Geschichte sprudelte aus mir hervor, und siehe da, schon ging es mir besser. Zum ersten Mal seit Wochen empfand ich inneren Frieden.

Die heilende Kraft der Freundschaft betrifft nicht nur unsere geistige Gesundheit, sondern auch unsere körperliche. In Marta Zaraskas Buch Was uns jung hält untersucht sie die einzelnen Faktoren, die zur Langlebigkeit beitragen, wie beispielsweise Ernährung oder Sport. Doch sie stellt fest, dass der bei Weitem wichtigste Einflussfaktor die soziale Vernetzung ist. Meta-Analysen zeigen, dass Sport unser Sterberisiko um 23 bis 30 Prozent senkt.12 Die Ernährung trägt dazu ungefähr 24 Prozent bei13, ein ausgedehntes soziales Netzwerk aber vermag dieses Risiko um 45 Prozent zu verringern.14

Natürlich kommen wir in den Genuss dieser Vorzüge auch über andere enge Beziehungen, etwa mit Angehörigen oder Partnern. Doch Freundschaften halten einzigartige Vorteile für uns bereit. Anders als beispielsweise unsere Eltern verlangen Freunde von uns nicht, dass wir ihre Hoffnungen und Wünsche erfüllen. Und anders als unsere Partner erwarten unsere Freunde nicht, dass wir alles für sie sind, das letzte Puzzlestück zur Ganzheitlichkeit. Umgekehrt tragen wir bei Freunden, anders als bei Kindern, nicht die alleinige Verantwortung für ihr Überleben. Unsere Vorfahren lebten in Stammesgemeinschaften, in denen sich die Verantwortung füreinander auf mehrere Schultern verteilte. Die Freundschaft offenbart uns eine alte Wahrheit aufs Neue: Es braucht eine ganze Gemeinschaft, um uns vollständig zu fühlen.

Freundschaft ermöglicht uns, Druck aus dem Beziehungsgefüge abzulassen. Daher erfüllt sie uns mit einer Freude, wie es keine andere Beziehung kann. Wir müssen weder die gemeinsame Rente planen noch die sexuellen Bedürfnisse des anderen erfüllen. Wir müssen nicht aushandeln, wer demnächst die Dusche putzt. Und wir können die Freundschaft zum Ort des Vergnügens machen. So stellte eine Studie beispielsweise fest, dass das Abhängen mit Freunden glücklicher macht als das Zusammensein mit Partnern oder Kindern.15 Das liegt wohl daran, dass man mit Freunden einfach Dinge tun kann, die Spaß machen – kegeln, Erdbeeren pflücken oder in den Park gehen, um die Hunde andere Leute zu streicheln. Mit Partnern oder Kindern macht man halt, was man immer macht: den Abwasch, die Rechnungen bezahlen und sich an die Zahnseide erinnern.

Natürlich kann auch die Freundschaft absinken in das, was die Autorinnen Ann Friedman und Aminatou Sow als »intime Banalität« bezeichnen.16 Denn auch im Rahmen einer Freundschaft kann man einkaufen, putzen und über die Rente reden. Wenn die Leute Sex, Romantik und Lebenspartnerschaft auseinanderzuhalten lernen, merken sie meist auch, dass Freunde ganz wunderbare Gefährten sind. Freundschaft ist flexibel. Sie hängt ganz von unseren Bedürfnissen ab. Entweder man trifft sich einmal im Monat zum Essen, oder man findet den lang ersehnten Seelengefährten.

Das Faszinierende an der Freundschaft ist, dass es bei ihr letztlich keine Grenzen gibt. Sie können sehr viele Freunde haben, während andere enge Beziehungen auf wenige Menschen beschränkt bleiben – ein oder zwei elterliche Bezugspersonen, ein Partner (für die monogam Lebenden unter uns), zweieinhalb Kinder. Im Buddhismus gibt es die grundlegende Tugend von mudita, der Mitfreude, die wir erfahren, wenn wir uns buchstäblich für andere freuen. In der Bibel ist es Paulus, der auf Mudita hinweist, wenn er im ersten Korintherbrief über die Jünger Jesu schreibt: »Wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm.« (12, 26) Unser Partner, unsere Kinder, unsere Eltern – alle schenken uns Mudita, aber wenn wir viele Freunde haben, wird unsere Freude grenzenlos.

Ich erlebte die Macht der Freundschaft, als ich einen Verlag für mein Buch fand. Mein damaliger Partner freute sich für mich. Er brachte mir Champagner mit und eine Erdbeertorte, auf der stand: »AUSGEBUCHT«. Wir hatten einen schönen gemütlichen Abend zusammen. Aber als ich meine Freunde anrief, um ihnen die tolle Neuigkeit zu erzählen, erlebte ich diese Freude wieder und immer wieder. Sie sagten mir, wie aufregend das doch sei und wie gern sie mich zum Essen einladen würden, um zu feiern. Und sie hofften, ich würde in Oprah Winfreys Show eingeladen werden.

Wir wählen unsere Freunde, was heißt, dass wir uns mit Menschen umgeben können, die uns die Daumen drücken, uns verstehen und unsere Freude teilen. Kein über uns schwebendes Gelübde, kein Ritual und keine genetische Ähnlichkeit binden uns an die offenen Arme der Freundschaft. Durch die Freundschaft können wir uns selbsttätig in einige der wichtigsten, sichersten und heiligsten Bindungen unseres Lebens einschreiben. Nicht weil wir dem Druck der Gesellschaft gehorchen, sondern weil wir uns das so ausgesucht haben.

Weil wir Freundschaften frei wählen können und diese für gewöhnlich frei von sexueller Leidenschaft sind, handelt es sich dabei um Beziehungen, die rein auf Kompatibilität aufbauen. Der britische Schriftsteller C. S. Lewis meinte einmal: »Der Eros [die leidenschaftliche Liebe] richtet sich auf nackte Körper, die Freundschaft auf die nackte Persönlichkeit.« Die alles verzehrende Leidenschaft der romantischen Liebe treibt uns häufig in unpassende Beziehungen, weil wir diese lodernden Gefühle fälschlicherweise als positiven Lackmustest für Kompatibilität betrachten. Aber wie die bekannte Psychologin Harriet Lerner sagt: »Intensive Gefühle, sosehr sie uns auch verzehren mögen, sind kein Maß für eine echte und andauernde Nähe […] Intensität und Intimität sind nicht dasselbe.« Wenn wir Freundschaften knüpfen, haben wir die Wahlfreiheit, uns für jene Faktoren zu entscheiden, die echte Nähe ermöglichen: gemeinsame Werte, Vertrauen, Bewunderung für den Charakter des anderen oder einfach das angenehme Gefühl, das wir in Gesellschaft des jeweils anderen haben. Allerdings tun wir das nicht immer. Aber damit befassen wir uns später, im Kapitel über Konflikte und Ärger.

Freunde unterstützen uns nicht nur individuell: Sie tun dem ganzen Kollektiv gut. Wenn wir die Vorzüge der Freundschaft auf der Makroebene untersuchen, erkennen wir, dass diese Art der Beziehung die Gesellschaft stets besser macht. Da die Gesellschaft als Ganzes Gerechtigkeit anstrebt und Vorurteile zu verringern sucht, bietet sich die Freundschaft dafür als probates Mittel an. Die Forschung hat gezeigt, dass es gut ist, einen Freund in einer Fremdgruppe (einem Personenkreis, dem man sich nicht zugehörig fühlt) zu haben. Zum einen ändert dies die Reaktion auf die gesamte Fremdgruppe, sodass außenstehende Freunde sogar politische Maßnahmen für diese Gruppe unterstützen.17 Freundschaften sind möglicherweise nötig (wenn auch vielleicht nicht hinreichend), um einen Systemwechsel einzuleiten. Eine weitere Studie zeigt, dass unsere Feindseligkeit gegenüber Fremdgruppen auch abnimmt, wenn nur einer unserer Freunde mit einer Person aus dieser Gruppe befreundet ist.18 Freundschaften zwischen solchen Gruppen haben einen Dominoeffekt, der sich durch das gesamte Netzwerk zieht. Vorurteile gedeihen ja vor allem in der Verallgemeinerung. Sobald wir aber Freunde werden, wird unser Gegenüber zu einem komplexen Wesen, das Liebe und Schmerz empfindet, genau wie wir. Wie unterschiedlich wir den anderen auch wahrnehmen mögen, wir sehen uns selbst in ihm.

Eine Meta-Analyse von 2013 stellte fest, dass die Freundschaftsnetzwerke in den letzten 35 Jahren kleiner geworden sind.19 Und das hat massive Auswirkungen auf die Gesellschaft. Denn Freundschaften steigern unser Vertrauen in andere, und Vertrauen ist nötig, damit die Gesellschaft als Ganzes funktionieren kann.20 Eine Studie mit Teilnehmenden aus Deutschland, Tschechien und Kamerun ergab, dass Menschen, die sich isoliert fühlen, über alle Kulturen hinweg einen gewissen sozialen Zynismus21 entwickeln, »ein negatives Bild der menschlichen Natur, einen voreingenommenen Blick auf bestimmte Gruppierungen, ein Misstrauen gegenüber sozialen Institutionen und ein mangelndes Interesse an ethischen Problemlösungen«.22 Robert D. Putnam, der Autor von Bowling Alone, betont, dass wir thin trust entwickeln, wenn wir mit jemandem ein soziales Netzwerk teilen. Ein Vertrauensklima, in dem wir auch Menschen trauen, die wir nicht allzu gut kennen. Allerdings gibt er zu bedenken, »wenn das soziale Netz der Gemeinschaft brüchiger wird, kann es die Normen der Ehrlichkeit, der Reziprozität und des Vertrauensklimas nicht mehr aufrechterhalten«.23 Damit Banken funktionieren können, müssen wir darauf vertrauen, dass der Banker sich nicht unser Erspartes unter den Nagel reißt und damit Urlaub in Kathmandu macht. Damit Supermärkte ihren Zweck erfüllen können, müssen wir darauf vertrauen, dass unsere Kumquats nicht voller Arsen sind. Damit die Schulen laufen, verlassen wir uns darauf, dass der Lehrer unsere Kinder nicht bloß Rabattmarken kleben lässt, um mehr (arsenfreie) Kumquats zu bekommen. Aber eben diese Art Vertrauen lässt nach, wenn wir isoliert sind.

Freundschaft ist der Beziehungs-Underdog

Vermutlich hört sich das alles jetzt an, als würde ich Sie auffordern, die Scheidung einzureichen, die Familie zu enterben, Ihre Sachen zu packen und sich auf die Suche nach Freunden zu machen, wenn die Gesellschaft nicht auseinanderbrechen soll. Nein, so ist das nicht gemeint. Was ich sagen möchte, ist vielmehr: Im Gegensatz dazu, wie unsere Kultur die Freundschaft gewöhnlich einschätzt, sind Freundschaften genauso wichtig wie andere Beziehungen, die gesellschaftlich hoch geschätzt werden. Und selbst wenn Sie persönlich Freundschaften hoch achten, haben Sie vermutlich schon mal erlebt, dass man diese Bande als Beziehung zweiter Klasse einstuft.

»Was läuft denn da zwischen euch?« Diese Frage kommt immer wieder, weil die Leute annehmen, dass die platonische Zuneigung allein keine enge Bindung herstellen kann. Haben zwei Menschen keine Paarbeziehung, dann sind sie eben nicht einfach Freunde: Sie sind nur Freunde. Und wenn sie sich dann ineinander verlieben, heißt es: »Wir wollen mehr sein als nur Freunde.« Menschen, deren wichtigste Beziehungen Freundschaften sind, werden unfairerweise als einsam, unattraktiv, unbefriedigt abgestempelt. Als alte Jungfer mit einer Horde Katzen oder als unreifer Junggeselle. Und das, obwohl die Forschung mittlerweile festgestellt hat, dass es die Freundschaft ist, die der romantischen Liebe Stärke und Ausdauer verleiht, nicht umgekehrt.24

Aber wir nehmen nicht einfach nur an, dass die Freundschaft eine nachrangige Beziehung ist. Wir verhalten uns auch so. Verglichen mit der Familie oder dem Partner, investieren wir in Freunde weniger Zeit und Bewunderung. Wir zeigen uns auch weniger verletzlich. Geht es um eine romantische Beziehung, springen wir schnell mal ins Flugzeug, damit wir uns sehen können. Wir halten durch, auch in angespannten Zeiten, oder pflegen den Partner, wenn er krank ist. Wir durchmessen die ganze Republik, damit wir an den Feiertagen unsere Familie sehen können, und bleiben, auch wenn unser schwieriger Onkel sich wie immer als reizbar und Trunkenbold erweist.

Queere und asexuelle Personen haben Begriffe entwickelt wie queer-platonic (Freundschaften, die soziale Normen in puncto platonische Beziehung sprengen) oder Zucchini (die queer-platonischen Partner). Sie belegen, dass unsere Freunde uns zwar üblicherweise nicht so nahestehen wie unser Partner oder unsere Geschwister, dass dies aber durchaus möglich ist. Dass dies nicht so häufig vorkommt, liegt einzig daran, dass der Rest der Menschheit der Freundschaft nur gelegentliche glückliche Stunden und ab und an ein gemeinsames Mittagessen gönnt. Dabei sind es dieselben Faktoren, die allen Beziehungen zum Erfolg verhelfen, seien sie nun familiär, romantisch oder platonisch. Willkürlich trennen wir mit dem Skalpell das Gewebe inniger Nähe aus der Freundschaft heraus und gehen davon aus, dass Freundschaften oberflächliche Beziehungen sind, weil sie eine minderwertige DNA haben. Da unsere Kultur die Freundschaft banalisiert, merken wir gar nicht, dass wir sie der Nähe berauben. Wir halten das einfach für normal.

Aber so war es nicht immer.

Als Abe nach Springfield in Illinois zog, war er so abgebrannt wie ein Eukalyptuswald in den Zeiten des Klimawandels. Mit seinen letzten Kröten hoffte er, ein neues Bett kaufen zu können. Er ging in den Laden, warf seinen Rucksack auf den Tisch und fragte Josh, den Besitzer, wie viel ein Bett koste. Als Josh den Preis nannte, meinte Abe, das könne er sich nicht leisten. Josh spürte, dass Abe verzweifelt war, also machte er ihm ein Angebot. Er wohne über dem Laden und habe ein Bett, das breit genug sei für zwei. Ob Abe nicht etwa bei ihm einziehen wolle? Abe war begeistert. Er ließ sein Gepäck fallen und erklärte sich zum Mitbewohner.

Abe und Josh waren in vielerlei Hinsicht ganz unterschiedlich. Abe war ein Hüne, sodass der normal große Josh neben ihm wie ein Zwerg wirkte. Allerdings ging er immer gekrümmt und bewegte sich recht schwerfällig. Das Auffälligste an ihm waren seine strahlend grünen Augen. Josh hingegen sah aus wie ein Dichter. Seine blauen Augen sprühten vor Leben wie auch seine lockige Haarpracht. Abe stammte aus einer armen Familie und hatte die Schule nur kurz besucht. Joshs Familie war wohlhabend, und er hatte studiert, bis er alles hingeworfen hatte. Und doch stellten die beiden bald fest, dass sie mehr Gemeinsamkeiten hatten als auf Anhieb vermutet.

Sie verbrachten jeden freien Moment miteinander. Josh begleitete Abe sogar manchmal, wenn er arbeiten musste. Sie wachten in ihrem gemeinsamen Bett auf und tranken schwarzen Kaffee zu einem leichten Frühstück. Abends aßen sie bei einem Freund, der in der Nähe wohnte. Dann hingen sie in Joshs Laden herum, wo sich noch weitere Freunde trafen, um Abes Geschichten und Witze zu hören.

Aber die Freundschaft hatte auch ihre Herausforderungen. Abe war häufig sehr niedergeschlagen. Nicht der normale Blues, den jeder mal hat, sondern der »Ich komme nicht aus dem Bett, und besser, ich finde nichts mit einer scharfen Klinge«-Blues. Medikamente schienen nicht zu helfen, sondern verschlimmerten seine Stimmung noch. Abe hatte viele Tragödien erlebt. Die schlimmste war ihm widerfahren, als er neun Jahre alt war und seine Mutter urplötzlich an einer Lebensmittelvergiftung starb. »Alles, was ich bin oder je zu sein hoffe, verdanke ich ihr«, sagte Abe einmal. Sein Vater litt selbst unter Stimmungsschwankungen und seine Cousins ebenfalls. Einer von ihnen wurde sogar in die Nervenklinik zwangseingewiesen. Abe hatte Angst, dass ihm das gleiche Schicksal drohe.

Ein Auslöser für Abes Depressionen waren seine verpfuschten Beziehungen. Während sie miteinander befreundet waren, lernten Josh und Abe auch Frauen kennen, doch die Beziehungen gingen schnell auseinander, weil sie die Liebe der Frauen stets zurückwiesen. Abe verlobte sich sogar mit einem Mädchen namens Mary, aber er verließ sie, als die Beziehung jene Angst vor Nähe auslöste, die vermutlich ihre Wurzeln im Tod seiner Mutter hatte. Er fühlte sich schuldig deshalb – so sehr, dass er in die Psychose abglitt: Er bekam Depressionen, Halluzinationen, Suizidgedanken und sprach unzusammenhängend. Der einzige Mensch, den Abe zu jener Zeit an sich heranließ, war Josh. Er plauderte jeden Tag mit ihm und sorgte für seine Sicherheit, indem er alle Rasierklingen unter Verschluss hielt.

Während Abe sich erholte, zog Josh nach Kentucky, wo seine Familie lebte. Dort verlobte er sich nun seinerseits mit einer Frau namens Fanny. Die bevorstehende Ehe belastete Josh mit den gleichen Ängsten, die auch Abe erlebt hatte. Die beiden Freunde schrieben sich, und Abe begleitete seinen Freund durch die Angst vor der Nähe.

Aber in den Briefen ging es nicht nur um Joshs Probleme. Sie drückten auch die Nähe aus, die die beiden Männer zueinander hatten. So schrieb Abe beispielsweise, dass er Joshs Schmerz genauso stark empfand wie seinen eigenen, dass er immer Joshs Freund bleiben wolle, dass diese Freundschaft niemals enden solle. Er unterzeichnete seine Briefe mit »Für immer dein«. Und Abe bat inständig darum, dass Josh seinen Brief gleich beantwortete.

Die beiden schliefen im selben Bett und halfen sich gegenseitig durch die verschiedensten Probleme. Ja, sie schrieben sich regelrechte Liebesbriefe. Die Beziehung zwischen Abe und Jos war so innig, dass man sie schon für eine homosexuelle Liebesbeziehung hielt. Aber die beiden lebten zu einer Zeit, als eine so tiefe Freundschaft eher akzeptiert wurde als heute. Der schicksalhafte Tag, an dem die beiden sich in Joshua Speeds Laden kennenlernten, war der 15. April 1837. Und Abe kennen wir alle recht gut. Sein voller Name war Abraham Lincoln.

In seinem Buch Your Friend Forever, A. Lincoln schreibt der Historiker Charles Strozier: »Es braucht schon ein gerüttelt Maß an Vorstellungskraft, um diese beiden Dinge zusammenzubringen: Einerseits galt der Sex zwischen Männern als widerwärtig und wurde, wenn er entdeckt wurde, streng bestraft oder ausgegrenzt. Andererseits wurden diese Intimität – die so weit ging, dass man ein Bett teilte –, diese Nähe, die gegenseitige Hilfsbereitschaft und der Ausdruck der Liebe ermutigt und als höchst wünschenswert betrachtet.«

Lincoln teilte sich sogar einmal ein Hotelzimmer mit Richter David Davis. Als Lincolns Freund und Berater Leonard Swett hereinkam, stellte er fest, dass die beiden gerade eine Kissenschlacht hinter sich hatten. Lincoln trug nur ein langes gelbes Nachthemd, das am Kragen mit einem Knopf geschlossen wurde. Swett schrieb später, er sei erschauert bei der Vorstellung, »was geschehen könne, wenn dieser Knopf durch ein Missgeschick abgehen würde«.25

Zur Zeit Abraham Lincolns war Homosexualität derart streng sanktioniert, dass die Nähe zwischen Freunden keinerlei Verdacht in diese Richtung erregte. Die Menschen hatten die Freiheit, ihren Freunden so nah zu kommen, wie sie wünschten – solange die Geschlechtsorgane außen vor gelassen wurden. Daniel Webster, Kongressabgeordneter und ehemaliger Außenminister der Vereinigten Staaten, begrüßte seinen Freund James Hervey Bingham in Briefen mit: »Du lieber Junge« oder »Innig Geliebter«. In einem dieser Briefe schrieb er: »Du bist der einzige Freund meines Herzens, der Partner meiner Freuden, Kümmernisse und Zuneigungen. Nur du hast teil an meinen geheimsten Gedanken.« Sollte die Ehe für sie beide nicht funktionieren, so Webster, hoffe er, dass »wir, sobald wir uns die Hörner abgestoßen haben, den Mantel der alten Junggesellen überwerfen, einen Traueranzug anlegen, einen runden Hut aufsetzen und, mit einem Stock aus hartem Hickoryholz bewaffnet, gemeinsam auf das Ende des Lebens zuhalten, fröhlich pfeifend wie die Rotkehlchen«.26

Natürlich möchte ich keineswegs die alten Zeiten wiederaufleben lassen, in denen gleichgeschlechtliche Beziehungen noch stärker stigmatisiert waren als heute. Joshua Speed versklavte Menschen, was deutlich zeigt, dass damals keineswegs das Goldene Zeitalter der mitmenschlichen Beziehungen herrschte. Aber ein Blick auf diese Zeit macht deutlich, wie tief Freundschaften tatsächlich gehen konnten.

Wenn wir die Freundschaft vernachlässigen, ersticken wir poten­zielle Beziehungen, die so innig sein können wie jene, die Josh und Abe erfahren haben. Doch ganz egal, wie alt wir sind, vermutlich hat jeder von uns schon einmal eine Zeit erlebt, in der der Freund oder die Freundin der Mensch war, der uns am nächsten stand. Doch mit zunehmendem Alter erliegen wir einem kollektiven Gedächtnisverlust, der uns vergessen lässt, welche Wirkung unsere Freundschaften auf uns haben. Wir tun so, als hinge das Erwachsenwerden davon ab, dass wir unsere Freundschaften abstreifen wie eine Schlange ihre alte Haut. Als müssten wir uns künftig auf die wirklich wichtigen Beziehungen konzentrieren. Dies aber widerspricht allen Forschungsergebnissen, die tatsächlich Harriets Meinung stützen: Wenn wir älter werden, sind Freunde noch wichtiger für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden.27 Dabei haben unsere Freundschaften uns längst geprägt. Sie haben uns zu dem gemacht, was wir sind, und zeichnen vor, wer wir einmal sein werden.