Wo die Dünen schimmern - Patricia Koelle - E-Book
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Wo die Dünen schimmern E-Book

Patricia Koelle

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Beschreibung

Nach dem Bestseller »Wenn die Wellen leuchten«: Der zweite in sich abgeschlossene Band der großen Nordsee-Trilogie Der Duft der Insel Jessieanna lebt in Kalifornien. Sie arbeitet in der Kosmetikfirma ihrer Großmutter. Ihr großes Ziel ist es, eine Lotion herzustellen, die nicht nur auf die Haut, sondern auch auf die Seele wirkt. Doch der perfekte Duft dafür will ihr nicht gelingen. Als ihr Vater darauf besteht, dass sich Jessieanna nach einer schweren Lungenerkrankung in seiner alten Heimat auskuriert, ist sie alles andere als begeistert. Was soll sie in der Fremde auf der kalten Nordseeinsel Amrum? Dafür müsste sie ihre Hochzeit mit Ryan verschieben! Doch auf der Insel gibt es jemanden, der ihr zu der fehlenden Komponente für ihre Lotion verhelfen könnte. Doch wie soll sie ihm sein Geheimnis entlocken? Bei ihren Bemühungen hilft ihr jemand, der sie völlig unerwartet in Verwirrung stürzt...

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Patricia Koelle

Wo die Dünen schimmern

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Jessieanna arbeitet in der kalifornischen Kosmetikfirma ihrer Großmutter. Allerdings möchte sie dort einiges verändern: Ihr großer Wunsch ist, eine Pflegelotion herzustellen, die nicht nur auf die Haut, sondern auch auf die Seele wirkt. Doch der perfekte Duft dafür will ihr nicht gelingen.

Als ihr Vater darauf besteht, dass sich Jessieanna nach einer schweren Lungenerkrankung in seiner alten Heimat auskuriert, ist sie alles andere als begeistert. Was soll sie in der Fremde auf der kalten Nordseeinsel Amrum? Dafür müsste sie ihre Hochzeit mit Ryan verschieben!

Doch auf der Insel gibt es jemanden, der ihr zu der fehlenden Komponente für ihre Lotion verhelfen könnte. Aber wie soll sie ihm sein Geheimnis entlocken? Bei ihren Bemühungen hilft ihr Lian, der sie völlig unerwartet in Verwirrung stürzt. Wird es überhaupt eine Rückkehr in ihr altes Leben geben? Und wen liebt sie jetzt wirklich?

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Patricia Koelle ist eine Autorin, die in ihren Büchern ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt. Bei FISCHER Taschenbuch erschienen, neben Romanen und Geschichten-Sammlungen, die Ostsee- und Nordsee-Trilogie sowie die Inselgärten-Reihe. ›Das Licht in den Bäumen‹, ›Das Glück in den Wäldern‹ und ›Das Leuchten der Blätter‹ gehören zu ihrer Sehnsuchtswald-Reihe.

Inhalt

[Widmung]

Jessieanna

1 Solange du etwas bewegst

2 Was in der Luft liegt

Joeys legendärer Meeresfrüchtesalat

3 Das Mischen der Träume

Pinswin

4 Ganz neue Seiten

Jessieanna

5 Überraschung im Dunkeln

Pinswin

6 Schätze und Spuren

Pinswin

7 Flügel im Dunkeln

Jessieanna

8 Alte Träume

9 Farbensturm

Tante Birkes Avocadosalat mit Kokosnussbrot

10 Unter den Mammutbäumen

Pinswin

11 Pinswins Entscheidung

12 Ein Wink aus der Vergangenheit

Jessieanna

13 Die fremde Familie

Feurige Suppe von Rhea

14 Onkel Skems Garten

15 Cousinen

16 Filines Sturmglas

Pinswin

17 Leni

Kirschmarmelade von Lenis Mama

Jessieanna

18 Flugsand

19 Der Geschmack von Gelb

Jessieannas Zitronenbonbons

Pinswin

20 Nachrichten aus dem Norden

Pouding Chômeur

Jessieanna

21 Ein Stück Erde

Pinswin

22 Unter dem Eis

Jessieanna

23 Kniepsandnacht

24 Puzzleteile

25 Besuch

26 Enthüllungen

27 Von Liebe und Gegenwart

28 Alriks Kwaas

29 Nachts im Dünental

Pinswin

30 Pinswins Theorien

Jessieanna

31 Skems Geheimnis

32 Unter der Birke

33 Ryan

Epilog

Danksagung

Leseprobe zu »Was die Gezeiten flüstern«

1 Tagfarben

Für alle, die auf der Suche

nach Hoffnung sind.

 

Und für alle, die sie nie

aufgegeben haben.

Jessieanna

2004

Kalifornien

1Solange du etwas bewegst

»Was fällt Ihnen ein? Ich habe bereits die Polizei gerufen!«

Sie war so in ihr Werk vertieft, dass sie den Hausbesitzer nicht hatte kommen hören. Gerade versetzte sie dem Windrad einen Probeschwung, um zu sehen, ob es leicht genug lief. Es war eines ihrer besten, die Flügel mit bunten Stoffen in den Farben des Sommers bespannt. Dieses Modell war nicht für die Ewigkeit gemacht, aber umso mehr dafür, einen Winter lang Farbe in die grauen Monate zu bringen. Und in diesen Vorgarten, der so langweilig war wie das dazugehörige Gebäude. Nirgendwo ein bunter Fleck, nicht ein einziger Strauch, nur gerade langweilige Linien und lebensfeindliche Ordnung.

»Einbruch, Sachbeschädigung und das Hinterlassen von Müll!«, knurrte die kalte Stimme des Hausherrn hinter ihr. »Da kommt einiges zusammen!«

»Warum denn Einbruch? Sie haben nicht einmal einen Zaun!« Sie drehte sich um und sah erleichtert, wie im Hintergrund Bob Deston gerade aus seinem Polizeiauto stieg. Der Mann, der ihr mit verschränkten Armen und wutrotem Kopf gegenüberstand, konnte nicht wissen, dass Bob ein alter Bekannter war.

»Ich wollte Sie nicht belästigen«, sagte sie höflich, um Zeit zu gewinnen. »Gefällt Ihnen das Windrad nicht? Es ist doch schön und bringt Bewegung in Ihren Vorgarten. Oder vielleicht mag Ihre Frau es?«

»Einbruch, Sachbeschädigung und das Hinterlassen von Müll! Nichts sonst.« Der Mann wies empört auf das kleine Loch, das die Stange des Windrads in seinen Rasen gebohrt hatte.

»Na, ganz so schlimm scheint es mir nicht zu sein. Wir werden uns sicherlich einig.« Bob Deston tippte an seine Uniformmütze. »Guten Tag, Mr Piers.«

»Endlich! Gut, dass Sie da sind. Ich hoffe, Sie werden diesem Unfug ein Ende bereiten und die junge Dame mitnehmen.«

Bob seufzte. »Jessieanna Jessen! Natürlich. Wer sonst?«

»Hallo, Mr Deston.« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

Der erboste Herr blickte von ihr zu dem Polizisten. »Wiederholungstäterin, was? Polizeibekannt, ja?«

»Allerdings. Doch Sie sagten ja selbst, es handelt sich um Unfug. Ich bin mir sicher, Miss Jessen wird das störende Objekt sofort entfernen und sich entschuldigen. Aber wir sprechen hier nicht von Müll, wissen Sie. Miss Jessen ist Künstlerin. Die Stadt Lorisville hat ihr gerade eine Menge dafür bezahlt, ein großes Windrad in ihrem Stadtpark aufzustellen.«

»Ach wirklich?« Der Hausbesitzer musterte das Objekt des Anstoßes und schien zu überlegen, ob er es womöglich zu Geld machen konnte, da es auf seinem Grund und Boden stand.

Jessieanna beeilte sich, die Stange aus dem Rasen zu ziehen und das Loch wieder zuzudrücken. Außer ein paar geknickten Grashalmen sah man nichts mehr. Und die waren von der kalifornischen Sonne ohnehin längst verbrannt. Aufgrund der Dürre war das Gießen im Sommer oft verboten.

»Es tut mir leid, dass ich Farbe in Ihren Garten bringen wollte. Einen schönen Tag noch.«

 

»Also wirklich, Jessieanna.« Bob stemmte die Arme in die Seiten, als sie in der Deckung des Polizeiautos auf der Straße standen. »Du warst zehn Jahre alt, als ich dich das erste Mal aus dem Garten eines Fremden holen musste. Das ist jetzt sechzehn Jahre her, und ich habe aufgehört zu zählen, wie oft es in dieser Zeit vorkam. Bist du nicht endlich zu erwachsen dafür?«

»Ach, Bob. Man kann nie zu alt sein, um ein bisschen Leben und Farbe in der Welt zu verteilen. Du hast doch selbst immer bunte Bonbons in der Tasche, falls jemand Trost braucht.«

»Stimmt. Aber du bekommst jetzt keins! Ich kann das nicht auch noch belohnen.« Jetzt hatte sie ihn endlich zum Lächeln gebracht. »Und nach Hause fahren muss ich dich wohl auch nicht mehr.«

»Nö. Aber danke für das Angebot. Grüßen Sie Ihre Frau, Bob.«

Sie winkte ihm nach und überlegte, wo sie das Windrad jetzt unterbringen sollte. Es war wichtig, eine Stelle dafür zu finden. Je mehr Windräder sie im Städtchen Junco und der Umgegend verteilte, desto mehr stieg die Wahrscheinlichkeit, dass Katriona nicht sterben würde. Zumindest redete sie sich das ein, um sich nicht ganz so hilflos zu fühlen. Es war das Einzige, was sie tun konnte.

Sie legte das Windrad vorsichtig auf die Rückbank ihres Autos und fuhr los. Zwei Blocks weiter entdeckte sie einen Garten, der auch keinen Zaun hatte, wie es hier üblich war, aber, von Blumenbeeten gesäumt, ein ganz anderes Bild bot als der vorhin. Sie stieg aus und steckte das Rad zwischen ein paar letzte Herbstastern. Der kühle Oktoberwind fing sich sofort darin und wirbelte es fröhlich um seine Achse.

Jessieanna betrachtete es zufrieden und stieg wieder ein. Am Haus öffnete sich ein Fenster. Eine weißhaarige Frau beugte sich heraus. »Wie schön! Vielen Dank!«, rief sie und winkte.

»Geht doch«, sagte Jessieanna zu der schimmernden Schnecke, die in der Mitte ihres Steuerrads klebte. Es war ein Fossil, das ihr Vater ihr geschenkt hatte. Ein versteinerter Ammonit, der sich im Laufe der Jahrmillionen in Opal verwandelt hatte. Er leuchtete in allen Regenbogenfarben, wenn ihn Licht traf.

Jessieanna gab Gas. Ein weiteres Windrad hatte sie noch im Kofferraum. Ein paar Stunden Tageslicht waren übrig, auch wenn es zunehmend grauer wurde und der Wind auffrischte. Dieses Rad musste unbedingt an den Strand. Dafür war es gemacht.

Außerdem war es möglicherweise eine Gelegenheit, nach Katriona zu sehen. Es war genauso ein Tag, an dem sie am Strand sein würde. Weil das ihr Platz war und weil es, wie sie behauptete, wesentlich besser gegen ihre Krankheit half als alle Chemotherapien, mit denen die Ärzte sie bombardierten.

Die Fahrt zum Strand dauerte eine gute halbe Stunde. Während Jessieanna sich durch den dichter werdenden Nebel um die Kurven kämpfte, dachte sie an Bobs Worte. Ja, es stimmte, sie war gerade zehn gewesen, als sie das erste Mal Windräder verteilte. Schief und krumm waren die noch gewesen und hielten meistens nicht länger als ein paar Windstöße, aber gedreht hatten sie sich alle. Sie konnte kaum glauben, dass das schon so lange her war.

 

Sie wusste noch haargenau, wie sie sich gefühlt hatte, damals im Krankenhaus. Ein verschrecktes Kind, das gegen seine Leukämie kämpfte, ohne zu verstehen, was das war. Der unsichtbare Feind im Körper, den man nicht hören und nicht verstehen konnte, füllte sie mit einem Entsetzen, für das es keine Worte gab. Sie hatte die Sorge in den Gesichtern ihrer Eltern gesehen und Schuld gespürt, ohne zu wissen warum und was sie dagegen tun konnte. Sie hatte sich schwach und hilflos und eingesperrt gefühlt, wütend und traurig zugleich.

Und dann kam Katriona.

Katriona setzte sich neben sie auf die Bank im Krankenhausflur und lächelte sie an, und auf einmal fühlte sich Jessieanna leichter und nicht mehr allein. Katriona war viel älter als sie, irgendwo Mitte vierzig. Sie war groß und schlank und hatte kein einziges Haar auf dem Kopf, und sie war so wunderschön, dass Jessieanna in diesem Augenblick die Angst davor vergaß, die letzten ihrer eigenen Haare zu verlieren. Sie wünschte sich nur, dass es bald so weit war und sie dann so schön wäre wie Katriona.

Diese große Frau sagte kein Wort. Sie lächelte nur, und dann zauberte sie eine Handvoll Strohhalme und Zahnstocher aus ihrer großen Tasche und eine Rolle Garn. Aus einer herumliegenden Zeitschrift riss sie einige bunte Seiten heraus. Während Jessieanna gebannt zusah und die eiligen Schritte der Ärzte im Flur und das unerbittliche Licht der Neonlampen um sich herum gar nicht mehr wahrnahm, bastelten Katrionas lange, geschickte Finger ein Windrad. »Hier«, sagte sie schließlich mit einer weichen, melodischen Stimme und drückte Jessieanna ihr Werk in die Hand. »Siehst du, du kannst deinen Arm schwenken oder damit rennen oder einfach pusten. Dann dreht es sich. Dafür musst du nicht auf den Wind warten.« Sie wurde aufgerufen und erhob sich. »Vergiss nie, solange du etwas bewegst, bist du frei und lebendig!«

In den folgenden Wochen gab es keinen Tag, an dem Jessieanna nicht in irgendeiner Form dafür sorgte, dass sich das Rad drehte, egal, wie schlecht ihr war oder wie schwach sie sich fühlte. Es gab ihr das Gefühl, dass etwas weiterging und dass sie nicht völlig hilflos war. Manchmal kam Katriona sie besuchen, oder sie trafen sich im Flur oder sogar im Garten. Sie wurden Freundinnen, und die Jahre, die zwischen ihnen lagen, spielten keine Rolle, denn sie teilten ein Schicksal. Sie teilten auch die Hoffnung, und aus der Hoffnung wurde Wahrheit. Es fand sich ein Knochenmarkspender für Jessieanna, und bei Katriona schlug die Therapie an. Als der Sommer kam, ließen sie beide das Krankenhaus hinter sich, nicht aber ihre Freundschaft. Die Haare wuchsen wieder, dunkelblond bei Jessieanna, schwarz bei Katriona; und auch Jessieanna wuchs. Als Teenager lief sie mit allen Problemen zu Katriona, die man in diesem Alter nicht mit seinen Eltern besprechen möchte. Katriona war die große Schwester, die sie nie hatte, wurde die Vertraute in allen Lebenslagen und gleichzeitig die Freundin, mit der man den besten Unfug treiben konnte.

Niemand hatte kürzlich auf Jessieannas Verlobungsfeier so lange und so ausgelassen getanzt und sich so sehr mit ihr gefreut wie Katriona. Obwohl sie so viel älter war als die meisten der Partygäste, sah sie hinreißend aus. Alle bewunderten sie. Sie füllte den gesamten Raum mit sprühender Energie.

 

Zwei Wochen später musste Katriona wieder in die Klinik. Nach all den Jahren war der Krebs zurückgekehrt. Jessieanna besuchte sie und brachte ihr ein Windrad. Doch Katriona hielt es nicht lange im Krankenhaus. Sie bestand darauf, die Therapie ambulant zu machen, und verbrachte so viel Zeit wie möglich an ihrem Lieblingsplatz. Am Strand.

Jessieanna wollte nicht akzeptieren, dass ihrer Freundin und Ratgeberin diesmal möglicherweise die Zeit ausging. Eine Welt ohne Katriona konnte und mochte sie sich nicht vorstellen. Darum nahm sie sich vor, die Gegend mit Windrädern zu pflastern. Gegen so viel Fröhlichkeit und Bewegung würde der Tod nicht ankommen! Jedes bunte Rädchen war eine Kampfansage, ein Ausrufezeichen der Hoffnung.

Ein Eichhörnchen hüpfte von einem Baum auf die Straße. Aus ihren Gedanken aufgeschreckt, stieg Jessieanna auf die Bremse und atmete erleichtert auf, als das Hörnchen unbeschadet davonsprang.

Zwei Kurven später parkte sie an der Steilküste, zog den Extrapullover über, der auf der Rückbank lag, klemmte sich das Windrad unter den Arm und stieg die Holztreppe zum Strand hinunter. Der Wind schlug ihr den Zopf ins Gesicht, und sie stopfte ihn ungeduldig unter ihren Kragen. Tief sog sie den Geruch nach Nebel, Meer, Sand, Tang und nassen Steinen ein. Sie war ein Geruchsmensch. Unter dem Geruch hatte sie damals als Kind in der Klinik am meisten gelitten. Er erzählte von Schmerzen, Tod und Sterilität. Nur Katriona roch anders, auch dort, nach Geißblatt, Zitrone und Leben. Sie hatte der kleinen Jessieanna ein Fläschchen Parfüm geschenkt, damit sie gegen die tote Luft eine Waffe besaß.

 

In Jessieannas Tasche vibrierte ihr Handy. Mühsam wurstelte sie es unter ihrem Anorak hervor und spähte auf das Display, das in der nassen Luft sofort beschlug.

Sehen wir uns heute noch? Love you, Ryan

Jessieanna steckte das Windrad in den Sand, um die Hände frei zu haben und ihre Antwort tippen zu können.

Klar, um acht bei mir. Pizza! Love, J

Erst als sie am Fuß der Treppe angekommen war, fiel ihr ein, dass sie das Windrad oben vergessen hatte. Aber warum sollte es nicht genau dort bleiben? Wind war da genug, und es mochte die Spaziergänger erfreuen. Dieses war das Modell mit langen Bändern, die knatterten, wenn eine Bö damit spielte.

Jessieanna hatte seit damals nie aufgehört, Windräder zu basteln. Je älter sie wurde, desto ausgefeilter ihre Modelle. Sie benutzte Stoff oder Aluminium, Folie, Papier, Glas oder Drahtgeflecht, klebte, lötete, nagelte, nähte oder schweißte, je nachdem, welche Idee und welcher Zweck ihr gerade in den Kopf kam. Sie meldete unter dem Namen Windfinder ein kleines Gewerbe an und verkaufte ihre Werke erst gelegentlich, dann immer häufiger. Am liebsten aber verschenkte sie sie oder stellte sie an den verrücktesten Orten auf, um Bewegung und Farbe in die Tage zu bringen. An langweiligen und an traurigen Orten, aber auch an den schönen, um sie zu feiern.

Katriona trieb währenddessen ihr eigenes Spiel mit dem Wind, doch größer und verrückter als Jessieanna.

 

Die Holztreppe, die in einem endlosen Zickzack von der Uferstraße hinunter zum tiefer liegenden Strand führte, war gleichzeitig eine Brücke über den Towhee River, der hier ins Meer floss. Der war heute ungewöhnlich breit, der Wind hatte Wasser aus dem Meer heraufgedrückt. Jessieanna musste die Schuhe ausziehen, damit sie nicht nass wurden. Amüsiert betrachtete sie ihre Zehen im schweren Sand, deren Nägel sie heute Morgen mit der Farbe »Sunny Strawberry« lackiert hatte. Sie schienen das einzig Bunte in dieser verwischten Herbstlandschaft zu sein. Hier unten war es noch nebliger und windiger.

»Katriona?« Keine Antwort, nur die watteweiche Stille des Nebels, die sich gegen das Brandungsrauschen stemmte. Sie spähte in die wabernden Schwaden. Hier unten konnte man kaum erkennen, wo der Strand aufhörte und das Meer begann. Die Felsen waren undeutliche Schatten, die in Gruppen auf dem Strand und im Wasser standen wie eine unschlüssige Menschenmenge. Hatte sich da nicht eine Gestalt bewegt? Jessieanna kniff die Lider zusammen, als eine Bö ihr Staub ins Gesicht blies.

»Jessieanna hat nicht nur auf der Nase Sommersprossen, sondern auch in den Augen«, hatte ihr Vater einmal gesagt. »Das kommt davon, weil sie immer dort zu finden ist, wo es am meisten Wind und Sand gibt.« Tatsächlich zeigten sich in ihrer graugrünen Iris braune Punkte.

»Daddy, warum sind die Sommersprossen denn auch im Winter in meinen Augen?«, hatte sie gefragt, als sie klein war.

»Weil immer Sommer ist, wenn du lachst«, sagte er und stupste ihr mit dem Finger auf die Nase.

 

Hoffentlich kam Daddy bald von seiner Dienstreise zurück. Jessieanna vermisste ihn. Wenn er da war, fühlte sich nichts so schlimm an. Er war für sie von klein auf die Achse ihrer Welt gewesen, und er hatte diese Welt zu einem magischen Ort für sie gemacht. Vielleicht, weil er mit weit über fünfzig nicht nur ein anerkannter Wissenschaftler war, sondern auch ein Peter Pan, der nie ganz erwachsen wurde. »Das ist die Voraussetzung für einen Wissenschaftler«, pflegte er zu sagen. »Du musst leidenschaftlich neugierig bleiben und dich ewig mit verrückten Theorien und scheinbar nebensächlichen Kleinigkeiten beschäftigen können.«

Jessieanna kämpfte sich einige Schritte vorwärts. Merkwürdig, dieser zähe Nebel bei dem Wind, der ihn eigentlich hätte fortblasen müssen.

Ursprünglich hatte man diesen Strand nach einem Heiligen benannt wie so vieles hier, doch im Volksmund hieß er nur Ghost Beach, Geisterstrand, und das aus gutem Grund. An Tagen wie diesen, die nicht selten waren, drehte der Wind die Nebelfetzen zwischen den Felsformationen oftmals in Wirbel, die Gespenstern ähnelten. Ein Grund, warum hier gern Halloweenparties gefeiert wurden. Jessieanna liebte es jedoch, wenn niemand hier war. So wie jetzt. Weit und breit nur Nebel und das Rauschen des Pazifiks, dessen Wellen im ewigen Rhythmus gegen die bizarren Steine donnerten.

Katriona war wohl nicht hier. Sehr vernünftig bei dem feuchten Wetter. Jessieanna wollte gerade umkehren, als sie hastig beiseitespringen musste.

Wie aus dem Nichts tauchte eine riesige Form aus dem Weiß auf, als hätte sich einer der Felsen vom Boden gelöst und wälze sich mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu. Doch das war kein Felsen. Das war …

»Hope!« Eine von Katrionas drei gewaltigen Windskulpturen, die sich auf ihren vielen Beinen wie lebendige Wesen bewegten.

Wenn Hope weiter so auf die Treppe zuraste, würde sie daran zerschellen. Das würde Katriona nie zulassen. Wo war sie nur?

 

Katrionas Skulpturen waren mehr als mannshoch und bestanden aus leichtem Holz, Kunststoffröhren, Segeltuch und Gummi. Die Idee hatte sie sich bei einem niederländischen Künstler namens Theo Jansen abgeschaut und abgewandelt. »Windwanderer« nannte Katriona ihre Werke, und genau das waren sie, denn der Wind ließ sie über den Strand laufen, als wären es lebendige Wesen. Darum hatten sie auch Namen. Hope, Energy und Tomorrow. Hoffnung, Energie und Morgen. Hope war breit. »Sie wälzt alle Zweifel nieder«, sagte Katriona. Energy drehte sich über den Sand wie eine Art Windmühle. Und Tomorrow war hoch und hatte Flügel, mit denen sie zwar nicht fliegen konnte, aber die sich auf und ab bewegten, als würde sie es jeden Augenblick lernen. »Der Zukunft Flügel verleihen, darum geht es«, war Katrionas Erklärung gewesen.

Sie hatte einen Schuppen am Strand gemietet, in dem sie die Skulpturen gebaut hatte und sie unterstellte, nachdem sie fertig waren. An geeigneten Tagen brachte sie sie hinaus und sah ihnen zu, wie sie über den Strand wanderten. Es war dasselbe Prinzip wie mit den Windrädern, nur größer. Solange du etwas bewegst, lebst du.

Sie waren ein großartiger, majestätischer Anblick. Nur steuern konnte man diese Wesen nicht. Man musste nebenherlaufen oder -joggen, je nach Windstärke, und sobald sie drohten, ins Meer zu geraten oder auf einen Stein zu prallen, musste man ihnen einen sanften Schubs geben, damit sie die Richtung wechselten.

Genau das tat Jessieanna jetzt mit Mühe und folgte dann Hope zurück in die Richtung, aus der diese gekommen war. Sie wusste, was die Windwanderer Katriona bedeuteten. Freiwillig würde sie sie nie in Gefahr geraten lassen!

»Katriona?« Sie brüllte aufs Geratewohl in den Nebel und wurde von einem schwachen Ruf belohnt.

»Hier! Hast du Hope gefunden?«

Katriona lehnte an einem Stein. Sie war blass und außer Atem.

»Was ist? Ist dir nicht gut?« Jessieanna war erschrocken.

Katriona winkte ab. »Geht schon wieder. Der Wind war nur stärker, als ich dachte, und Hope ist mir entwischt. Ich konnte ihr nicht mehr folgen.«

»Komm, wir bringen sie in den Schuppen, und dann fahre ich dich nach Hause. Du bist doch zu Fuß hier, nicht wahr?«

»Natürlich.«

Gemeinsam steuerten sie Hope in Richtung Schuppen und sperrten sie ein.

»Wie froh bin ich, dass du sie gerettet hast!«, sagte Katriona. »Ich hänge an den dreien. Sie sind ein Stück von mir. Wenn ich ihnen zusehe, fühle ich mich frei und gesund. Frei von meiner Sterblichkeit und meinem Körper. Erst an dem Tag, an dem die Ärzte mir keinerlei Hoffnung mehr machen können, werde ich sie freilassen. An einem wundervoll stürmischen Tag, und ihnen zusehen, wie sie an den Felsen zerschellen oder in den Wellen. Es wird ein grandioses Finale! Wie eine Seebestattung, wild und endgültig. Du musst mir nur versprechen, dass du dann die Kunststoffteile aufsammelst, damit sie nicht ins Meer geraten.«

»Versprochen«, sagte Jessieanna und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. »Aber so weit sind wir noch lange nicht!«

»Nein. Ich wollte es nur mal gesagt haben.« Katriona lächelte. In diesem Augenblick kämpfte sich spätes Sonnenlicht durch den Nebel, ließ ihn aufleuchten und traf auf Katrionas Kopf, auf dem sich seit einiger Zeit wieder einmal kein einziges Haar befand. Jessieanna sah ein zweites Mal hin. Etwas glänzte da.

»Kat, was ist das? Das sieht phantastisch aus. Tattoos?«

»Nicht unter der Haut. Das sind täuschend echte Sticker zum Draufrubbeln. Klasse, oder?«

Goldene Blumen und Vögel bildeten ein schimmerndes, trotziges, filigranes Muster und wirkten lebendig, sobald Katriona den Kopf drehte.

»Großartig!« Etwas von Jessieannas Bedrückung verflog in diesem Augenblick wieder, und noch mehr davon, als sie wenig später gemütlich im warmen Auto saßen.

»Weißt du, wovon ich träume?«, fragte Katriona. »Von den Bratäpfeln deiner Mutter zu Weihnachten!«

Jessieanna lachte auf. »Das verstehe ich. Ich freue mich auch schon darauf. Soll ich sie fragen, ob sie uns jetzt schon welche macht?«

»Nein. Auf gar keinen Fall. Die Vorfreude ist fast das Wichtigste daran.«

Jessieanna schmunzelte, als sie an ihre Eltern dachte. Es gehörte zu den Familiengeschichten, die immer wieder gerne erzählt wurden, dass ihr Vater gleich nach seinem Heiratsantrag eine Bedingung daran geknüpft hatte. »Wir können aber nur heiraten, wenn du mir versprichst, dass wir immer Weihnachten in deutscher Tradition feiern.«

Zum Glück hatte ihre Mutter, die auch einen deutschen Elternteil hatte, sich einverstanden erklärt. Und so hatte Weihnachten bei Jessens immer einen Heiligabend und zwei Feiertage statt einem, und es gab echte Kerzen an einem echten Tannenbaum, auch wenn die amerikanischen Freunde die Hände zusammenschlugen über diese Leichtsinnigkeit, die sie für unerhört hielten.

 

Als Jessieanna Katriona längst abgesetzt hatte und schon fast zu Hause angekommen war, lag ihr noch immer der Geschmack der Bratäpfel auf der Zunge, und das nur, weil Katriona davon gesprochen hatte. Jessieanna überlegte ernsthaft, ob sie für sich und Ryan nach der Pizza zwei Äpfel in den Ofen schieben sollte. Sie konnte ja das Rezept ein wenig verändern und die Äpfel Spätherbstäpfel nennen statt Weihnachtsäpfel.

Ihr Handy klingelte. Bestimmt Ryan. Ungeduldig fuhr sie an den Straßenrand.

Doch nicht Ryans Name stand auf dem Display. Simon Holloway erschien darauf.

Simon! Der Kollege ihres Vaters. Und ihr Komplize in einer Angelegenheit, auf der ihre ganze berufliche Hoffnung ruhte. Allerdings ruhte sie schon so lange, dass vermutlich nichts zu machen war. Jessieanna hatte aufgehört zu zählen, wie viele langwierige Experimente bereits gescheitert waren. Wenn es Simon nicht gelang, würde es niemand hinbekommen.

Jessieanna starrte auf den Namen. So exzentrisch Simon auch war, sein Feierabend blieb ihm heilig. Er telefonierte niemals nach fünfzehn Uhr.

Ein kalter Klumpen formte sich in ihrem Magen. War etwas mit ihrem Vater?

Hastig drückte sie die Taste. »Simon? Was ist?«

»Jessieanna?« Seine helle Stimme dröhnte ungewöhnlich laut in ihrem Ohr. »Du musst sofort herkommen! Ich habe etwas gefunden! Es könnte sein, dass … du musst es dir ansehen! Jetzt!«

2Was in der Luft liegt

Jessieanna lächelte zärtlich vor sich hin, während sie den Wagen so riskant um die Kurven lenkte, wie es nur jemand wagte, der hier aufgewachsen war. »Du musst es dir ansehen!«, hatte Simon gesagt. Jeder andere hätte von Riechen gesprochen, denn es ging um einen Duft. Doch Simon war nicht nur ein genialer Chemiker, er war auch ihr Patenonkel. Er kannte sie, seit sie ein Baby war, und verstand sie ebenso gut wie ihr Vater. Er war es, der zuerst erkannt hatte, dass sie Synästhetikerin war.

Simon hatte es der kleinen Jessieanna so erklärt: »In deinem Kopf gibt es so was wie Inseln für die verschiedenen Sinne. Für das Riechen, Schmecken, Fühlen, Sehen, Hören. Jeder Sinn hat eine Insel für sich.« Simon malte dabei mit einem Filzstift bunte Kringel auf einen Zettel. Und weil er Simon war, zeichnete er auf die Kringel auch hier eine Palme, dort eine Muschel, da eine Schildkröte. »Aber bei manchen Menschen gibt es eine Brücke zwischen zwei Inseln. Das ist dann eine Verbindung zwischen zwei Sinnen. Bei dir ist es das Riechen und das Sehen. Auf dieser Brücke können die Eindrücke hin und her spazieren und machen feine Dinge miteinander. Du kannst dich darüber freuen, auch wenn es nicht jeder verstehen wird.«

Seitdem freute sie sich tatsächlich und betrachtete als ein Geschenk, was manche als »merkwürdig« oder »Spinnerei« abtaten. Jessieanna konnte einen Sonnenuntergang riechen und den Duft eines Parfüms sehen. Wenn ihr die Verkäuferin eines auf das Handgelenk sprühte, sah sie gelbe, apricotfarbene oder grüne Farbwirbel aufsteigen. Ein Sonnenuntergang roch mal nach Vanille, mal nach Zimt, oder auch wie Chili und Pfeffer.

 

Jetzt platzte sie vor Neugier zu erfahren, ob Simon tatsächlich endlich gefunden hatte, was sie schon so lange suchte. Sie hatte ihr Ziel klar vor Augen, nur auf die richtige Formel waren sie noch nie gekommen. Jessieanna wusste genau, welche Farben dieser Duft haben musste. Als sie mit Schwung auf dem Parkplatz des Wilkie-Westerberg-Insituts einbog, merkte sie, dass sich ihre Finger am Steuerrad vor Anspannung völlig verkrampft hatten. Sie schüttelte die Hände aus, atmete tief durch und hätte dann doch fast vergessen, die Handbremse anzuziehen. Was angesichts der Lage des Instituts am Hang keine gute Idee gewesen wäre. Von hier aus blickte man über die Bucht, in der Jessieannas Vater Pinswin Jessen und sein Lehrer Professor Westerberg einst die Fossilienfunde gemacht hatten, die ihren wissenschaftlichen Ruf begründeten. Professor Westerberg und sein Sponsor Quentin Wilkie hatten das Institut gegründet. Es war klein, aber weltweit anerkannt.

Jessieanna war es so vertraut wie das Wohnzimmer ihrer Eltern. Sie schlüpfte durch eine Kellertür und steuerte direkt auf Simons Labor zu.

Im ganzen Haus herrschte Stille. Außer Simon war niemand mehr hier. Er saß an seinem Tisch und drehte nachdenklich ein Fläschchen hin und her.

»Schön, dass du da bist«, sagte er, rutschte von seinem Stuhl und richtete sich zu seiner ganzen Größe eines Zehnjährigen auf. Seine Augen funkelten. »Putz dir die Nase! Das hier musst du genießen.«

Simon war kleinwüchsig, aber einer der hellsten Köpfe des Instituts. Das Mobiliar in seinem Labor war seiner Körpergröße angepasst. Als Kind hatte sich Jessieanna darin pudelwohl gefühlt, weil sie endlich an alles herankam, was eigentlich ausschließlich für Erwachsene bestimmt war. Als sie dann begann, ihren Patenonkel zu überragen, erschien ihr das Labor immer mehr wie etwas aus einem Märchen, eine filigrane Welt für sich, ein Chor aus Düften und Farben und Möglichkeiten. Eine Hexenküche, und Simon war der Magier, der ihr das Tor zur Zukunft öffnete. Er wusste, was Jessieanna das Riechen bedeutete. Dass es ihre Welt bunt, lebendig und aufregend machte.

Ihre Großmutter Juniper Denton, die Jessieanna als Kind »die Sommeroma« getauft hatte, war da anders. Sie führte eine erfolgreiche Kosmetikfirma und war eine tüchtige, sachliche Geschäftsfrau. Ihr war wichtig, dass sich ein Produkt verkaufen ließ, ganz gleich, wie es roch. Sie lehrte Jessieanna das Handwerk, brachte ihr alles über die Herstellung von Bodylotions bei, von Seifen und allem, was dazugehört. Jessieanna lauschte ihr meist nur mit halbem Ohr, weil die Farben und die Gerüche um sie herum viel zu spannend waren, um sie in ihre sachlichen Einzelteile zu zerlegen. Und doch wollte sie als Erwachsene unbedingt auch damit zu tun haben und studierte Lebensmittel- und Biotechnologie. Seitdem arbeitete sie zeitweise in Junipers Firma und akzeptierte stillschweigend deren Erwartung, dass Jessieanna die Firma eines Tages übernehmen würde.

Juniper war für Jessieanna die Sommeroma, weil sie die Winter meist in Florida verbrachte. Es tat ihren Knochen gut. Der alte Kindername war zur lieben Gewohnheit geworden, schließlich musste man die Omas irgendwie unterscheiden, wenn man von ihnen sprach. Jessieanna hegte den Verdacht, dass Juniper plante, irgendwann ganz in Florida zu bleiben. Hoffentlich nicht allzu bald! Jessieanna war noch lange nicht bereit, sich zu entscheiden, ob sie diese Firma wirklich übernehmen wollte.

Durch ihre Großmütter hatte Jessieanna schon als Kind begriffen, wie unterschiedlich die Sichtweisen der Menschen sein können. Denn Großvater Reinhard war nach seiner Scheidung von Juniper wieder nach Deutschland zurückgekehrt, hatte die Konditorei seines Vaters übernommen und ein zweites Mal geheiratet, nämlich Oma Inga. So hatte Jessieanna auch eine Winteroma. Die wohnte in Deutschland und kam gern im Winter zu Besuch nach Kalifornien, weil sie fand, dass die kalifornische Sonne ihr wohltat. Florida dagegen war ihr viel zu heiß.

Wieder eine andere Meinung zu Temperaturen hatten Jessieannas Großeltern väterlicherseits, Boje und Beeke Jessen. Die waren ihr halbes Leben lang in der Welt herumgereist, von Australien und Afrika bis Südamerika und Kanada. Doch als sie alt wurden, ließen sie sich auf Island nieder.

»Wir wollen unsere letzten Jahre nicht faul im Liegestuhl unter Palmen verbringen. Wir wollen die Nordlichter sehen«, sagte Beeke. Vorher waren sie eine Weile in Kalifornien gewesen, so dass Jessieanna sie kennenlernen konnte. Erst nach ihrem neunzigsten Geburtstag waren sie kurz nacheinander gestorben, so dass sie sich unter den Nordlichtern sicher wohl gefühlt hatten.

Ihre diversen Großeltern blieben für Jessieanna stets ein Beispiel dafür, dass es nicht nur eine Wahrheit gab.

 

Die verrückten Experimente, die Jessieanna mit Simon veranstaltete, hielt Winteroma Inga für gefährlich und Sommeroma Juniper für Zeitverschwendung. Doch Jessieanna und Simon waren nie glücklicher, als wenn sie die abenteuerlichsten Dinge zusammenmischen konnten.

Die Düfte waren für Simon nur ein Hobby, das er Jessieanna zuliebe betrieb. Eigentlich war er dafür eingestellt, Mittel zu erfinden, mit denen man die Dinosaurierknochen, die Pinswin und seine Kollegen ausgruben, säubern, flicken und haltbar machen konnte. Simons Erfolge hatten einiges dazu beigetragen, dass das Institut so bekannt war.

Jessieanna beugte sich jetzt zu Simon herab, damit sie auf Augenhöhe waren. Obwohl sie sah, dass er ihre Reaktion kaum erwarten konnte, machte er es feierlich. Er hielt ihr die Flasche vor die Nase, hob den Zeigefinger, wischte sich die Hände noch einmal an einem Taschentuch ab, schraubte den Deckel langsam ab. Jessieanna glaubte fast, einen Trommelwirbel zu hören.

An dem Deckel war eine Pipette. Feierlich ließ Simon einen Tropfen gelbe Flüssigkeit auf einen kleinen Schwamm fallen und reichte ihn Jessieanna. Als sie sich den Schwamm auf der flachen Handfläche unter die Nase hielt, ging es ihr, wie es so unendlich oft draußen in der Natur geschehen war, wenn genau dieser geliebte Duft aus dem aufgerissenen, durstigen Boden aufstieg. Wenn er von den Zehenspitzen bis zur Kopfhaut ein stummes Jubeln durch ihren Körper jagte, eine Glückseligkeit und eine Gewissheit, dass sie lebendig waren, sie und die Erde, und dass genau dies der Duft des Lebens war.

 

Damals, als sie mit elf Jahren als geheilt aus der Klinik entlassen wurde, war genau so ein Tag gewesen. Ein Tag, an dem nirgends mehr ein grüner Grashalm zu sehen war, der heiße Windstaub über den Boden trieb, in dem sich unzählige Risse auftaten. Die Haut der Erde war voller Schorf und wirkte, als würde sie nie wieder heilen. Die Luft war so trocken, dass keinerlei Geruch mehr darin unterwegs war, außer der nach totem Staub. Selbst die Blätter an den Bäumen hingen wie altes Papier und hatten ihre Farbe vergessen.

Und dann, als die Familie auf halbem Weg über den Parkplatz war, fielen die ersten Regentropfen. Sie fielen auf Jessieannas Genick, auf ihre bloßen verschwitzten Schultern und ihre nackten Knie. Sie wuschen den Klinikgeruch endgültig aus ihren Haaren und aus ihrem Herzen und spülten die Hoffnung frei und die Gewissheit, dass sie leben würde. Sie trafen auf die Erde und befreiten diesen Duft, der nach den Monaten im Krankenhaus so einzigartig war, dass Jessieanna für immer süchtig danach wurde. Der Regen heilte den Boden, denn die Risse schlossen sich, und die Haut der Erde wurde wieder jung. Ein Blitz erhellte den Himmel, bevor sie hastig ins Auto sprangen. Jessieanna war es, als ob der Himmel ein Foto machte, ein Bild, das diesen Geruch des Lebens für immer in ihr Hirn und ihr Herz brannte.

Diesen Duft des Lebens wollte sie eines Tages selbst herstellen, denn sie war sich sicher, dass er nicht nur die Erde und ihre eigene Angst heilen konnte, sondern auch allen anderen Menschen helfen. Jenen, die sie in der Klinik hatte zurücklassen müssen, und auch denen, die sich nicht zum Arzt wagten, obwohl ihnen etwas fehlte, manchmal auch an der Seele.

Dieser Duft hatte unzählige unverwechselbare Farben, die sich zusammen mit dem Glück in ihr ausbreiteten, ein Sturm aus Frühlingsblau und Wiesengrün, Erdbraun und Sonnenblumengelb, klar und doch mit Zwischentönen, denen sie erst noch auf die Spur kommen musste.

»Petrichor!«, flüsterte sie andächtig.

»Ja«, bestätigte Simon mit einem triumphierenden Blitzen in den Augen. »Petrichor.«

Das Wort schien in dem stillen Labor von Regal zu Regal zu springen, zwischen den glänzenden Glasflaschen widerzuhallen und einen kleinen Freudentanz aufzuführen, bevor die Ruhe in den Raum zurückkehrte.

 

Petrichor. Als Jessieanna das Wort zum ersten Mal gehört hatte, dachte sie, es ginge um einen frommen Gesangsverein. Wie so oft hatte Simon es ihr erklärt. Petros war das griechische Wort für Steine und Ichor war die Flüssigkeit, die angeblich einst in den Adern der griechischen Götter floss. Zwei australische Forscher hatten den Geruch so getauft, der entsteht, wenn Regen auf trockene Erde fällt. Jessieanna war sehr einverstanden mit dieser Bezeichnung. Sie fand das passend erhaben für ihren Lieblingsduft.

»Aber woraus besteht der Petrichor, Simon?«

»Bestimmte Pflanzen sondern in Trockenzeiten ein Öl ab, das vom Boden aufgenommen wird. In diesem Boden gibt es außerdem Mikroorganismen, die eine bestimmte Art von Alkohol produzieren. Dazu kommen noch Mineralien. Steinstaub. Wenn es dann regnet, werden das Öl, der Alkohol und die Mineralien zusammen in die Luft freigesetzt, und wir nehmen es als Geruch wahr. Menschen sind sehr empfindlich dafür. Schon eine winzig kleine Menge fällt uns auf.«

»Dann müsste es doch ganz einfach sein, ihn in ein Parfüm und eine Lotion einzubauen. Bekommst du das hin, Simon?«

Sie hatte grenzenloses Vertrauen, dass Simon alles erreichen konnte.

Simon zupfte nachdenklich an seinem Ohrläppchen. »Gerade die Dinge, die einfach erscheinen, sind es selten.«

Zwar waren sie, wie sich nach einer Recherche herausstellte, nicht die Ersten, die auf die Idee kamen, diesen Geruch in einem Parfüm zu verwenden. Aber es war noch nie so richtig gelungen.

Petrichor war nur ein Element in Jessieannas geplanter Körperlotion, ein wichtiges zwar, aber nicht das alleinige. Ihr Duft sollte sich über die Seele legen wie eine Creme über gestresste Hände, die Risse darin heilen und alles wieder geschmeidig machen. Auch als es nur eine Hoffnung war, dass Simon erfolgreich sein würde, arbeitete sie an den anderen Faktoren der Zusammensetzung.

 

»Du hast es geschafft, Simon!« Jessieanna sog den Duft tief ein, betupfte mit dem Schwamm ihre Handgelenke und schnupperte erst an dem einen, dann dem anderen, als ihre Haut die Öle wärmte und zur Entfaltung brachte. Sie sprang auf, drehte ein paar vorsichtige Pirouetten zwischen den Regalen mit den Glasflaschen und beugte sich dann wieder hinab, um Simon zu umarmen. »Ich freu mich wie ein Itsch!«

Das war ein alter Familienspruch, den Pinswin aus seiner Heimat mitgebracht hatte. Wenn man sich freute wie ein Itsch, war man glücklicher, als man mit normalen gebräuchlichen Worten ausdrücken konnte. Was genau ein Itsch war, wusste niemand. Jeder stellte ihn sich anders vor. Jessieanna hatte schon als Kind immer einen breit lächelnden, grasgrünen Seehund vor Augen.

»Dann bin ich zufrieden«, sagte Simon.

»Wird es schwer, das in größeren Mengen herzustellen?«

»Nicht einfach, aber auch nicht so kompliziert, wie ich gedacht habe. So, und jetzt fort mit dir, Mädchen, ich versäume noch das Basketballspiel!« Simon wandte sich ab, gerührt über Jessieannas Freude. Sie schmunzelte. Immer musste er den sachlichen Wissenschaftler spielen, dabei war er manchmal von geradezu kindlicher Sentimentalität.

»Hoffentlich kommt Daddy bald nach Hause. Ich kann es gar nicht erwarten, ihn daran riechen zu lassen.«

»Der hält es doch auch nicht lange ohne euch aus. Hier.« Simon drückte ihr ein größeres Fläschchen in die Hand. »Damit kannst du herumprobieren. Es in deine Lotion einarbeiten und schauen, was passiert.«

»Simon, du bist der Beste! Das werde ich zu Hause sofort machen.« Jessieanna konnte es kaum erwarten. In diesem Augenblick piepste ihr Handy.

Wo bleibst du?, schrieb ihre Mitbewohnerin Elaine. Hast du Ryan vergessen? Er wartet hier auf dich, aber ich habe noch anderes zu tun, als ihn zu unterhalten, auch wenn er hinreißend ist.

»Oje.« Jessieanna macht ein schuldbewusstes Gesicht.

»Hast du wieder deinen Traumprinzen vergessen?«, fragte Simon, während er das Institut abschloss.

Sie lächelte ihn an. »Weißt du doch. Mit dir zusammen entfällt mir alles andere. Ich werde Ryan bestechen und auf dem Heimweg etwas von Joeys Meeresfrüchtesalat besorgen müssen. Pizza genügt da nicht. Zum Glück ist er so geduldig. Einer der Gründe, warum ich ihn liebe. Tschüss, Simon, du Zauberer. Ich wusste immer, dass du es kannst!«

Jetzt würde alles gut werden, dachte sie, als sie noch waghalsiger bergab um die Kurven sauste als zuvor, obwohl es inzwischen dunkel war. Das, was sie ihre »Zuversichtslotion« nannte, bis ihr eines Tages das genau richtige Wort dafür einfiel, würde bald fertig werden und Katriona bei der Gesundung helfen. Und wenn alles gut lief, würde das vielleicht die Grundlage dafür sein, dass Jessieanna sich erfolgreich selbständig machen konnte und weder auf ihre Großmutter noch auf den Verkauf ihrer Windräder angewiesen wäre.

 

An Joeys Restaurant hielt sie an und erwarb drei großzügige Portionen seines legendären Salats. Niemand hatte genau entschlüsselt, was für Gemüse, Obst, Gewürze und Meerestiere sich darin befanden, aber Tatsache war, dass nicht nur Ryan ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit essen konnte. Dieser Leckerbissen beruhigte fast jedes gereizte Gemüt. Der Duft ließ Jessieannas Magen knurren. Im Auto breiteten sich chilirote, paprikagelbe und petersiliengrüne Wölkchen aus.

Ihren Wohnungsschlüssel hatte sie wieder einmal verlegt. Elaine rollte mit den Augen, als sie ihr öffnete, doch ihre strenge Miene heiterte sich auf, als Jessieanna ihr die Salatschachteln in die Hand drückte.

Hinter Elaine erschien Ryan im Flur. Jessieanna hüpfte stürmisch in seine Arme. »Stellt euch vor, Simon hat es geschafft!« Sie hielt erst Ryan, dann Elaine die Flasche vor die Nase. »Hier! Riecht mal! Was erkennt ihr?«

Ryan legte den Kopf schief und blickte verwirrt. »Dünger? Kompost?«

Jessieanna runzelte die Stirn. »Nicht ganz.« Na ja. Ryan war ein Mann. Außerdem war der Petrichor in so purer Dosierung natürlich ziemlich intensiv.

»Und du?«, fragte sie Elaine.

»Hmm … Nasser Hund? Na ja, Natur jedenfalls«, beeilte sich Elaine zu korrigieren, als sie Jessieannas vorwurfsvollen Blick sah.

»Es wird ja nur eine Komponente sein. Gemischt mit anderen. Lasst uns essen.«

Die beiden würden schon noch begreifen, worum es ging. Jessieanna ließ sich weder ihre Euphorie noch ihren Appetit verderben. Sorgfältig stellte sie das Fläschchen auf ihren Schreibtisch und machte sich mit den anderen über den Salat her. »Tut mir sehr leid, dass ich so spät bin, Ryan.«

»Nicht schlimm«, sagte er mit vollem Mund. »Immerhin hat mir das diesen Genuss eingebracht. Wollen wir nachher noch in den Club gehen? Heute wird Livemusik gespielt. Die anderen Jungs kommen auch. Roy hat eine tolle Band entdeckt. Sagt er.«

Jessieanna überlegte. Im Grunde hatte sie keine Lust auf Cocktails und einen Haufen übermütiger Basketballer. Sie konnte es kaum erwarten, mit dem Petrichor herumzuexperimentieren. Andererseits war es bei so etwas besser, wenn man ausgeschlafen und konzentriert war. Und es gab schließlich etwas zu feiern. Simon hatte den Duft des Lebens hergestellt! Wenn das kein Grund war, tanzen zu gehen.

»Klar, machen wir. Ich mach mich nur schnell fertig.«

»Warte.« Er streckte einen langen Arm nach ihr aus.

Elaine seufzte und begann, das Geschirr fortzuräumen. »Wenn man euch so sieht, kann man neidisch werden. Da kümmere ich mich lieber um den Haushalt.«

»Nur weil du einmal eine Woche lang keinen Freund hast?«, neckte Jessieanna sie aus Ryans sicherer Umarmung heraus.

Elaine warf lachend eine Serviette nach ihr. »Drei! Es sind schon drei Wochen. Unerträglich.«

»Mehr werden es bestimmt nicht«, sagte Ryan und stibitzte noch ein Stück Ananas vom Teller, als Elaine vorbeiging. »Komm doch mit in den Club, Ben war letztes Mal zutiefst enttäuscht, dass du nicht dabei warst.«

»Ach wirklich? Na sicher doch. Wenn ihr mich mitnehmt.« Sie deponierte das Geschirr in der Spüle und vergaß ihre Haushaltspflichten prompt.

 

Petrichor, Petrichor, Petrichor, klang es zu dem Rhythmus der Musik in Jessieannas Kopf, als sie über die Tanzfläche wirbelte. Sie fühlte sich glücklich und einsam zugleich. Sie kannte sie alle, die Jungs aus Ryans Mannschaft. Die Junco Foxes, die ganz oben in der Landesliga mitspielten. Alle waren Kameraden, Freunde, man konnte sich auf sie verlassen und mit ihnen lachen. Aber keiner von ihnen würde auch nur ansatzweise verstehen, worum es Jessieanna ging. Ihre Träume von Wind und Düften waren ihnen so fremd wie die Vorstellung, dass man einen Sonnenuntergang riechen konnte. Außer Ryan natürlich.

 

Ryan war anders. Ryan war Basketballer, aber er war auch Wissenschaftler. Er hatte einst bei Pinswin ein Praktikum gemacht und war als Assistent im Institut hängengeblieben, weil er sich als unersetzlich erwiesen hatte. Es stellte sich heraus, dass niemand so geschickt Dinosaurierknochen zusammenpuzzeln und zu einem Ganzen zusammenbauen konnte wie er. Ryan hatte einen siebten Sinn dafür, aus einem Haufen kleiner Stücke herauszulesen, in welche Form sie gehörten.

Als Jessieanna ihn das erste Mal sah, stand sie unbemerkt in der Tür des großen Saales und beobachtete ihn dabei. Seine Hände, die so groß waren und doch so geschickt mit den Spuren der Urzeit umgingen, sein Gesicht, das so entrückt war, während er sich konzentrierte. Neunzehn war sie damals gewesen, und er zweiundzwanzig. Er war das einzig Lebendige in dem dämmrigen Raum, geballte Energie im Schein einer kleinen Lampe. Dank ihrer Nase konnte sie ihn riechen, über die ganze Entfernung hinweg, eine Mischung aus Aftershave, Steinstaub, den Gummihandschuhen, die er trug, und dem ihm eigenen Duft. Es war ein Geruch aus warmen Orange- und Erdtönen, die ihn umgaben, sichtbar nur für Jessieanna.

Als er endlich aufsah und sie bemerkte, entstand in genau diesem Augenblick eine Verbindung zwischen ihnen, ehe auch nur ein Wort fiel, haltbarer und glänzender als all die Spinnweben in den Ecken des Instituts. Ryan war so abgelenkt, dass ihm ein Knochen aus der Hand fiel und auf dem schwarzweiß gekachelten Boden zerschellte. Später sagte er, das wäre sicher das erste Urzeitwesen, das sich wegen einer Liebe des 3. Jahrtausends nach Christi den Arm gebrochen hätte.

 

Und nun würden Jessieanna Jessen und Ryan Petersen heiraten, im Mai, wenn Ryan sein Studium abgeschlossen hatte und die Wiesen gerade noch grün waren, nicht von der kalifornischen Sonne verdorrt.

Die Winteroma hatte versprochen, ausnahmsweise der Hitze zu trotzen und im Sommer zu kommen, um die Hochzeitstorte persönlich nach einem alten Rezept der Familienkonditorei zu backen. Und das, obwohl die Torten eher Großvaters Spezialität waren. Oma Inga war auf Bonbons spezialisiert.

Vielleicht konnte sie bei der Hochzeit schon ihre neue Lotion mit dem Duft des Petrichor an ihre Gäste verteilen, fiel Jessieanna mit einem aufgeregten Freudenkribbeln im Bauch ein. Nur an ihre Freunde natürlich, denn bis ein neues Produkt ordnungsgemäß getestet und zugelassen wurde, verging wesentlich mehr Zeit.

Mit Mühe holte sie sich aus ihrem Tagtraum wieder in die Realität zurück, als sie feststellte, dass sie bereits überlegte, welchen Namen sie dem Produkt geben sollte. Vielleicht etwas aus Peter Pan?

Ryan nannte Jessieanna oft zärtlich »Windy«, in Anlehnung an das altbekannte Märchen, in dem Peter Pan dem Mädchen Wendy das Fliegen beibrachte und sie mitnahm in sein Nimmerland, in dem man nicht erwachsen werden musste. Ryan fand, das passe gut auf sie beide, weil das Bauen von Windrädern und das Zusammenpuzzeln kleiner Tierknochen nicht unbedingt als besonders verantwortliche Berufe angesehen werden konnten.

Ryan verstand sie so gut und unterstützte sie, wo er konnte. Jessieanna liebte es, wenn er an einem Haufen Knochen herumbastelte und sie an ihrer Lotion herumkochte und die kameradschaftliche Stille dabei zwischen ihnen lag wie ein Schatz.

Dafür, dass er nicht so eine feine Nase hatte wie sie, konnte er nichts.

Aber tanzen, das konnte er, und sie ließ sich von ihm zu der Musik herumwirbeln, die aus der offenen Tür des Clubs über den Hang hinunter über den Strand in das Meer trieb. Dort schluckte das schäumende Anrollen der pazifischen Wellen die Töne, und Jessieanna stellte sich vor, wie diese Musik ihre Hoffnungen und ihre Träume mit sich hinuntertrug und dem Nachtwind anvertraute.

Joeys legendärer Meeresfrüchtesalat

600 g gemischte Meeresfrüchte

1 EL und 3 EL Olivenöl

1 Prise Cayennepfeffer

1 EL Currypulver

2 EL Zitronensaft

Salz, Pfeffer aus der Mühle

1 gelbe Paprika

2 Tomaten

1 Papaya

glatte Petersilie

 

Meeresfrüchte gründlich waschen und danach trocken tupfen. In einer Pfanne in 1 EL Olivenöl anbraten, bei mittlerer Temperatur immer wieder wenden. Abkühlen lassen.

Aus 3 EL Olivenöl, Zitronensaft und Gewürzen eine Vinaigrette bereiten. Obst und Gemüse würfeln, mit Meeresfrüchten vermischen. Vinaigrette darübergeben, mit gehackter Petersilie bestreuen.

3Das Mischen der Träume

Jessieanna wachte davon auf, dass sie husten musste.

Hastig stand sie auf und schloss die Tür ihres Zimmers. Elaine durfte sie keinesfalls hören! Ärgerlich musterte sie ihr Taschentuch und entsorgte es hastig. Die Gefahr, dass Elaine die verräterischen Spuren darin entdeckte, sollte gar nicht erst entstehen.

Sie hätte wohl nicht im Nebel herumrennen dürfen. Eine heiße Dusche mochte helfen, aber dafür war es zu früh. Das würde Elaine erst recht auf den Plan rufen. Draußen war es noch stockdunkel. Jessieanna trank ein Glas Wasser, wickelte sich in die Bettdecke und nahm ihre Ukulele zur Hand. Diesen Trick hatte ihr einmal eine Ärztin beigebracht, die in ihrer Freizeit Musikerin war.

»Abhusten ist gut, aber steigere dich nicht so hinein. Vieles passiert im Kopf. Wenn der Hustenreiz stärker ist als du, musst du ihm mit etwas begegnen, das die Lunge beruhigt. Lenke dich ab. Konzentriere dich auf etwas völlig anderes. Lege deine Finger auf die Saiten, konzentriere dich auf die Griffe. Lausche den Akkorden nach. Atme dabei tief, aber nicht zu tief. Passe deine Gedanken den Tönen an, dem reinen Klang, in dem Ruhe liegt. Wenn er verklungen ist, lege deine Finger auf andere Saiten, spiele einen neuen Akkord. Denke nicht an den Husten, lass ihn einfach nicht wiederkehren! Du hast keine Zeit für ihn. Du bist mit deinem Instrument beschäftigt. Lass dich von den Tönen tragen, und dein Atem wird wieder kräftig. Was in deinem Geist passiert, hilft deinem Körper.«

Jessieanna konzentrierte sich. Der A-Akkord. Einen Finger auf die dritte Saite im ersten Bund drücken. Ein zweiter Finger gehörte auf die vierte Saite am zweiten Bund. Mit der anderen Hand über die Saiten streichen, einmal herunter, einmal herauf. Den hellen Tönen nachlauschen, die klingen wie der Sonnenaufgang, der noch nicht stattgefunden hat. Sie sind ein Versprechen, diese Töne. Ein Versprechen, dass der Tag kommen wird und auch der nächste Atemzug. Jetzt der C-Akkord, ganz leicht. Nur einen Finger auf die erste Saite im dritten Bund. Der D-Akkord, drei Finger, alle im zweiten Bund.

Jessieanna war nicht sonderlich musikalisch, aber die Ukulele war ihr eine Freundin geworden. Sie konnte auch Melodien darauf spielen, doch in der Not halfen die Akkorde am besten.

Der Husten beruhigte sich. An Schlaf war jedoch nicht mehr zu denken. Sie suchte in ihrem Schrank nach einem extrawarmen Pullover. Der Husten hatte sich den allerungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht, denn sie wollte heute unbedingt mit Simons wundervollem Produkt in ihrem eigenen kleinen Experimentierraum im Hause ihrer Eltern arbeiten. Aber wenn ihre Mutter sie husten hörte, würde sie es Pinswin erzählen, und das wollte Jessieanna unbedingt vermeiden. Ihre Mutter neigte nicht zur Hysterie, aber Pinswin machte sich beim kleinsten Anlass Sorgen um seine Tochter.

Seit jener lang vergangenen Zeit in der Klinik war zwar die Leukämie besiegt, aber Jessieanna hatte damals, geschwächt durch Krankheit und Therapie, einen schweren Infekt, der eine chronische Bronchitis zur Folge hatte. Sie ignorierte das meist, doch ihre Eltern, Freunde und Ärzte mahnten sie ständig, vorsichtig zu sein, kein Risiko einzugehen und auf ihre Gesundheit zu achten.

Am Strand im Nebel herumzurennen gehörte nicht zu den Empfehlungen. Wenn sie jetzt jemand husten hörte, würde sie sich überall Schelte einholen. Jessieanna war froh über die Ablenkung, als ihr Telefon klingelte. Es war Katriona. Die war selbst leichtsinnig und würde sie nicht wegen ihres Verhaltens tadeln.

Aber ihre Freundin war in Gedanken und bemerkte Jessieannas kratzige Stimme sowieso nicht. »Ich habe gerade einen hochinteressanten Artikel in der Zeitung gelesen«, sagte Katriona ohne Einleitung. Sie war es gewöhnt, ihre verrücktesten Gedankengänge mit Jessieanna zu teilen. »Zwei Wissenschaftler haben herausgefunden, dass menschliche Zellen und Neutronensterne genau dieselbe Struktur haben! Eine Struktur, die aussieht wie Parkdecks. Ich wusste zwar, dass die Atome in unseren Körpern vor Billionen von Jahren in den Sternen gemacht wurden. Aber ich konnte es mir nicht konkret vorstellen. Endlich habe ich ein inneres Bild dazu! Himmlische Parkdecks. Herrlich.«

»Toll. Und warum beschäftigt dich das gerade?« Jessieanna goss sich ein weiteres Glas Wasser ein und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass sie wieder besser Luft bekam. Vielleicht lag es an der unerwarteten Vorstellung von himmlischen Parkdecks.

»Weil es mir dadurch auf einmal wirklich erscheint, dass wir aus Sternenstaub bestehen. Ich stelle mir vor, wenn ich sterbe, werde ich nicht wieder nur zu Staub, sondern zu Sternenstaub. Ich werde auf dem Strand herumliegen und glitzern, und wenn du im Mondschein spazieren gehst, wirst du mich dort sehen. Und die Sterne am Himmel sind meine Cousins und Cousinen.«

Jetzt fror Jessieanna wieder, trotz des warmen Pullovers.

»Aber du wirst nicht sterben!«, sagte sie streng in den Hörer. »Jedenfalls nicht in den nächsten Jahren.«

»Sicher. Nur für den Fall. Aber du musst nicht so ernst gucken. Ich wollte, dass du über die Parkdecks lächelst.«

»Tu ich ja. Woher willst du wissen, wie ich gucke?«

»Ich kann es hören. Hab einen schönen Tag, ich muss los.«

Nachdenklich legte Jessieanna auf. Es schien dringender denn je, dass sie ihr Projekt zum Erfolg führte.

Stirnrunzelnd betrachtete sie die lange Reihe Nagellackfläschchen im Bad. Sie wählte meist jeden Morgen eine neue Farbe, als Motto für den Tag. Manchmal als Ausdruck ihrer Freude, manchmal als Kampfansage. Sie lackierte nur die Nägel der großen Zehen und selten den Zeigefinger, alles andere dauerte ihr zu lange. Die Farbe war ein Statement, ihre Fahne, die sie hochhielt, egal, was da kam. Heute griff sie erst nach einer rotbraunen Variante namens »Wüstenhitze«. Vielleicht vertrieb das den Husten. Doch dann entschied sie sich für das Fläschchen mit den blausilbernen Glitzerpartikeln. Das war für besondere Tage, und dies war ein besonderer Tag, denn Simon hatte den Duft des Lebens hergestellt, und heute würde sie ihn in ihr Rezept einbauen.

Aber es war wie verhext. Erst rief jemand von der Bank an, und sie musste ewig telefonieren, um eine schiefgegangene Überweisung zu klären. Dann meldete sich eine Kundin aus der Firma, die Juniper an Jessieanna verwiesen hatte. Sie wollte eine Beratung bezüglich einer Pflegeserie und erzählte erst einmal eine halbe Stunde von ihren Enkelkindern. Jessieanna musste sich streng daran erinnern, dass der Kunde immer König ist. Als sie endlich auflegen konnte, klingelte die Vermieterin an der Tür, mit dem Klempner, der nach Monaten unbedingt heute bei einstelligen Temperaturen die kaputte Klimaanlage reparieren wollte.

Als Jessieanna endlich aufbrechen konnte, war es schon spätnachmittags.

 

Das Haus ihrer Eltern stand ein wenig außerhalb des Ortes. Es war modern, aus Holz und viel Glas, und fügte sich gut in die Landschaft ein. Ihre Mutter brauchte jede Menge Licht zum Leben und zum Arbeiten. An diesem dunklen Tag brannten drinnen bereits die Lampen, als Jessieanna vorfuhr. Wie tröstlich erhellt das vertraute Heim zwischen den Eichen lag, als könnte nichts es erschüttern! Sie blieb einen Moment im Auto sitzen, nahm noch einen Schluck Wasser und atmete tief durch. Alles in Ordnung. Kaum ein Hustenreiz. Sie fühlte in ihrer Tasche nach dem kostbaren Fläschchen von Simon. Was ihre Mutter wohl von dem Geruch halten würde? Hoffentlich sagte sie nicht auch etwas von nassen Hunden.

»Hi, Mom.«

»Hallo, Schatz. Schön, dich zu sehen.« Savannah blickte über ihre Brille und lächelte ihre Tochter an. Jessieanna beugte sich zu ihr herunter und betrachtete die Miniaturlandschaft, die unter den geschickten Händen ihrer Mutter entstand. »Woran arbeitest du?«

»Es soll eine Landschaft aus dem Tertiär werden. Was meinst du, sehen diese Bäume glaubwürdig aus? Bitte, sag ja. Dieser Schaukasten für das Kendall-Museum muss übermorgen fertig sein.«

»Besser geht’s nicht. Sind das echte Blätter, die du da angeklebt hast?«

»Ja. Getrocknete Farnblättchen. Jedes einzelne mit einer Pinzette und einem Tropfen Kleber angebracht und hinterher mit Haarspray fixiert, damit sie nicht zerfallen. Aber die Stämme sind aus Modelliermasse. Allerdings mit einem Holzanteil.«

»Die Dinosauriereier auch?«

»Nein. Die sind aus Speckstein.«

»Toll. Das eine sieht aus, als ob es jeden Moment schlüpft. Ich könnte schwören, dass es gerade gewackelt hat.«

Savannah lachte. »Das macht mir Mut. Es liegt wohl daran, dass die Risse darin echt sind. Wolltest du etwas Bestimmtes? Ich wollte mir gerade Kaffee machen und einen Muffin, willst du auch?«

»Gute Idee. Wenn Daddy nicht da ist, vergisst du ja meistens zu essen.«

»Ich verhungere schon nicht. Was gibt es Neues?«

Jessieanna folgte ihrer Mutter in die Küche.

»Hier. Riech mal. Was meinst du?«

Savannah beugte sich über das Fläschchen, Kuchen in der einen und Gabeln in der anderen Hand. »Wow! Jessieanna! Das ist …«

»Sag jetzt bitte nicht ›Nasser Hund‹«, flehte Jessieanna.

Savannah lachte. »Diese Diagnose stammt von Elaine, richtig? Nein, es ist eindeutig der Geruch von Regen auf trockener Erde. Ein warmer Sommertag. Die allerersten Tropfen. Das erlösende Gewitter. Ihr habt es geschafft! Wie wunderbar!«

»Ja, nicht wahr? Ich wollte schnell in meine Hexenküche und mit dem Rezept herumprobieren.«

»Gern. Ich freue mich, wenn es nicht so still im Haus ist. Aber lass uns erst essen. Machst du den Kaffee?«

»Lieber einen Smoothie.« Vitamine, dachte Jessieanna. Es darf keine Erkältung werden.

»Noch besser.«

 

Den gelbgrünen Geschmack von Ananas noch auf der Zunge, sah sie sich in ihrem Reich um. Es war ihr altes Kinderzimmer, aus dem alles Kindliche und Pubertäre längst verschwunden war. Nur ihr Bett stand noch da. Keine Poster von Walfischen, von Leonard Cohen oder Enya mehr an der Wand, sondern solche mit chemischen Formeln. Kein Puppenhaus mehr, stattdessen ein Regal mit getrockneten Kräutern und Samentütchen, Cremedosen, Reagenzgläsern und Mörsern.

Nur eines ihrer kostbarsten Besitztümer stand noch an seinem Ehrenplatz in der dunkelsten Ecke, beleuchtet von einem eigenen dezenten Spotlight. Es war zu persönlich, darum hatte sie es nicht mit in ihre neue Wohnung genommen, als sie mit Elaine in den Ort zog, um selbständig und näher an der Uni zu sein. Sie wollte nicht, dass die Bemerkungen von Fremden, nicht einmal von Elaine und Ryan, den Zauber der Kindheit vertrieben. Jetzt schaltete sie die Lampe ein, stand davor und betrachtete die so seltsam lebendige Miniaturszene mit all der alten Ehrfurcht. Nichts von der Schönheit war verlorengegangen. Ihre Mutter war nun einmal eine Künstlerin, sonst wären ihre Schaukästen in den Museen nicht so beliebt. Wenn ihre Mutter eine Landschaft darstellte, seien es Teepflückerinnen in Indien, Goldsucher in Alaska oder Mikroorganismen aus der Tiefsee, dann konnten Schulkinder und Erwachsene gleichermaßen das Dargestellte nicht nur sehen, sondern geradezu erleben. Es wirkte, als würden sich die Figuren bewegen, als könnte man sie im nächsten Moment sprechen hören oder sehen, wie sie auf nackten Füßen mit ihren schweren Lasten durch die Hügel zogen.

Doch bei diesem Geschenk, das sie Jessieanna zu ihrem siebten Geburtstag gemacht hatte, hatte sich Savannah selbst übertroffen.

Im Hintergrund lagen winzige Inseln auf einem abendlichen Horizont und spiegelten sich im Meer, zusammen mit den flammend rosarot gefärbten Wolken am Himmel. Das Meer war ruhig, nur wenige Schaumkronen brachen sich im Vordergrund am Strand, auf dem Fußabdrücke und einige Muschelschalen zu erkennen waren. Zwei Möwen segelten in einem Aufwind, doch sie waren winzig im Vergleich zu dem riesigen Fisch, der gerade aus dem Wasser sprang. Er war so groß wie ein kleiner Wal, doch er hatte einen langen spitzen Oberkiefer, eine gewaltige, steil aufgestellte Rückenflosse und zwei Seitenflossen fast wie ein Rochen. Er segelte auf diesen Flossen, als wöge er fast nichts. Das Wasser, das von seiner Haut zurück ins Meer lief, funkelte blau und malte Muster auf die stille Oberfläche. Es funkelte deshalb, weil der Fisch große ringförmige Schuppen auf der Haut trug, und jede einzelne davon schimmerte in diesem fremdartigen, magischen Blau. Der Blick aus seinem riesigen dunklen Auge traf den Betrachter genau in den eigenen, sanft und unergründlich und erhaben und doch beinahe mit einem humorvollen Zwinkern.

Der Töveree Fisk.

Wenn Jessieanna als Kind nicht schlafen konnte, erzählte ihr Pinswin die Geschichte vom Töveree, und Jessieanna wurde nicht müde, sie zu hören. Pinswin und Jessieanna waren darum gleichermaßen begeistert von Savannahs Geschenk.

»Ich habe die Geschichte nun auch so oft gehört, dass ich genau gespürt habe, wie der Töveree aussehen muss«, hatte Savannah etwas verlegen gesagt, Pinswin geküsst und durch die kurzen, widerspenstigen Haare gewuschelt, denen er seinen Namen verdankte. Pinswin, der Igel. »Er hat sich geradezu aufgedrängt. Ich bekam das Tier nicht mehr aus dem Kopf, bis ich es aus der Modelliermasse geformt und angemalt hatte.«

»Da siehst du es«, hatte Pinswin gesagt. »Der Töveree macht etwas mit einem. Deshalb kann ich auch nicht aufhören, nach ihm zu forschen.«

»Ich weiß«, hatte Savannah gesagt und sich an ihn gelehnt. »Anfangs dachte ich, du tust es für deine Schwester. Aber das ist es nicht. Nicht nur.«

Genau das war es, was den Töveree auch für Jessieanna spannend machte. Als Tochter eines Wissenschaftlers hatte sie früh gelernt, dass man die Realität von der Phantasie unterscheiden musste. In der Wissenschaft galt nur, was gründlich erwiesen war. Doch beim Töveree schien es anders zu sein. Er war nur eine Geschichte, eine alte Sage, und doch hatte es ihn wohl gegeben. Im Besitz von Pinswins Schwester Filine und ihrer Tochter Rhea befand sich tatsächlich eine Schuppe des Töveree, deren Echtheit allerdings viele anzweifelten. Und in den Aufzeichnungen ihres Urgroßvaters stand, dass er den Zauberfisch persönlich gesehen hatte. Geschichte und Wissenschaft schienen sich hier zu treffen. Pinswin musste es nur noch beweisen.

 

Jessieanna sah in den Schaukasten und träumte sich für einen Augenblick zurück in ihr Kinderbett. Pinswins Gewicht drückte die Kante der Matratze nach unten, auf der er saß und die Decke um sie feststopfte. Sein Blick ruhte ebenso wie Jessieannas auf dem blauschimmernden Fisch im Schaukasten.

»Einer unserer Vorfahren war Steuermann auf einem alten Handelsschiff, als es bei Nacht in einen furchtbaren Sturm geriet«, drang Pinswins tiefe Stimme durch das dämmrige Zimmer. »Das Schiff drohte, auf Grund zu laufen und auseinanderzubrechen. Da sahen der Kapitän, der Steuermann und ein Matrose im Ausguck den riesigen Fisch auftauchen. Er schwamm neben ihrem Schiff her und erleuchtete mit seinem blauen Schimmer das Wasser so tief und so weit, dass sie trotz Unwetter und Dunkelheit sehen konnten, wo sie waren und wo die gefährlichen Felsen lagen. Selbst die Wellen schienen sich zu beruhigen. Als sie wieder auf sicherem Kurs fuhren, blickte ihnen der Fisch noch einen Moment in die Augen und tauchte dann ab. Hätten sie es nicht alle gesehen, hätten sie es für eine Erscheinung gehalten, von Angst und Müdigkeit hervorgerufen. Später stellten sie fest, dass es noch mehr Seeleute gab, auf anderen Schiffen, die den Töveree gesehen haben wollten.«

Jessieanna drehte den Zipfel der Bettdecke zwischen den Fingern und wünschte sich inständig, der große blaue Fisch käme auch einmal an der kalifornischen Küste vorbeigeschwommen.

»Und dann hast du Tante Filine was versprochen.« Ohne diesen Teil war diese Gutenachtgeschichte für Jessieanna nicht vollständig.

»Ja. Meine Schwester war als Kind von dieser Sage fasziniert. Unser Vater nahm sie einmal mit nach Hamburg. Sie kehrten in